Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2023

Himmels- und Hirtenklang

Predigt zum 1. Christtag
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

das berühmte Weihnachtsevangelium bei Lukas besteht aus drei etwa gleich großen Teilen. Sein erster Teil, der vom durch die kaiserliche Steuerschätzung aufgezwungenen Weg des jungen Paares nach Bethlehem, von der vergeblichen Suche nach einem Dach über dem Kopf und der Geburt unter dürftigsten Umständen in einem Viehstall erzählt, ist der Inhalt der 1. Kantate des Weihnachtsoratoriums, die hier gestern in der Christvesper zu Gehör gebracht wurde. Die 2. Kantate, die den Christtag in der Frauenkirche prägt, setzt mit dem zweiten Teil der Weihnachtsgeschichte ein: „Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde“. Vom Stall geht es zum Hirtenfeld bei Bethlehem. Es zeigt das theologische Gespür von J. S. Bach, dass er in dieser 2. Kantate, der Hirtenkantate, uns ganz anders auf die Weihnachtsbotschaft einstimmt als in Kantate 1. Konnte das Wunder, dass der große Gott ein kleiner Mensch wird, dort mit dem „Jauchzet, frohlocket!“ gar nicht mächtig und jubelnd genug intoniert werden, so ist das jetzt ganz anders. Keine Pauken und Trompeten, kein machtvoller Chor. Sondern Flöten und Streicher, und nicht zuletzt Oboen, die an die Schalmeien der Hirten erinnern sollen. Damit wird der Ton der Kantate gesetzt, ihr Hirtenton. Während der ganzen Kantate begleiten vor allem die Oboen das Streicherensemble.

I.

Die einleitende Hirtensinfonie, die wir ganz zu Beginn gehört haben, hat Bach nicht in der für Hirtenmusiken typischen weichen F-Dur-Tonart komponiert – berühmtes Beispiel: Beethovens 6te, die Pastorale –, sondern im glanzvolleren, strahlenderen G-Dur. Schon das lässt ahnen: hier geht es nicht nur um Hirtenmusik. Hier geht es um ein hochheiliges himmlisch-irdisches Geschehen. Vor allem aber: Diese Hirtensinfonie ist im Weihnachtsoratorium etwas Einzigartiges: sie ist das einzige rein instrumentale Stück, das in den sechs Kantaten überhaupt vorkommt! Damit ist die 2. Kantate die einzige, die nicht mit einem Chorstück beginnt. Auch das ist kein Zufall. Ich denke, es geht Bach darum, vor der buchstäblich welt-bewegenden Konfrontation der Hirten mit dem Engel, die jetzt kommen wird, zunächst noch die friedliche Ausgangslage auf dem Feld von Bethlehem musikalisch zu inszenieren. Gleichwohl hat Bach in diese Pastorale bereits das hineingewickelt, was in der Folge offenkundig wird: die Begegnung zwischen der himmlischen und der irdischen Welt. Streicher und Flöten stehen dabei für die himmlische, die Oboen als die Hirtenklänge für die irdische Welt. Gleich mit den ersten Klängen werden wir hineingenommen in das wechselseitige Musizieren beider Sphären. Die göttliche Dreiheit verbindet sich in dem für eine Pastorale typischen schwingenden 12/8-Takt mit der irdischen Vier, die durch vier Oboen repräsentiert wird. Ohne dass wir es so genau begründen könnten, spüren wir bei dieser himmlisch-irdischen Musik etwas von dem, was in einem Lied unserer Zeit so ausgedrückt ist: „Da berühren sich Himmel und Erde, dass Friede werde unter uns.“

Aber wo ist der Ort dieser Berührung? Es ist nicht der Palast des Herodes zu Jerusalem. Es ist nicht die Schaltzentrale des Kaisers Augustus in Rom. Nicht die Burg des Statthalters Quirinius in Judäa. Es ist ein Feld wie tausend andere vor den Toren von Bethlehem. Zwar die Herkunftsstadt des großen Königs David, aber doch ein Ort, den wir ein Kuhdorf nennen würden. Der mächtige Augustus, Herrscher über den gesamten Erdkreis, der korrupte und brutale Herodes, der Satrap Quirinius: sie alle kommen im Stall von Bethlehem nicht vor. An den Herren dieser Welt geht die Geburt des Herrn vorbei – außer, dass sie später dieses Geschehen mit Gewalt ungeschehen zu machen versuchen. Nicht ihnen, die Lobhudeleien gewohnt sind, wird ein himmlischer Lobgesang angestimmt, sondern den Hirten: Leuten, die emblematisch für die Namenlosen der Weltschichte stehen. Es wird ja auch keiner von ihnen in der weihnachtlichen Geschichte beim Namen genannt. Sie werden für würdig befunden, die ersten Hörer der unglaublichen Botschaft von der Geburt des Erlösers zu sein. So gerät die Welt an Weihnachten aus den Fugen – in einem sehr anderen, hocherfreulichen Sinn, als wenn wir heute von einer Welt aus den Fugen sprechen. Nicht das ist gefragt, was sich als machtvoll und potent inszeniert, sondern Bedürftigkeit, die um ihr Angewiesensein weiß. Um das, was wir Gnade nennen.

Dass wir auch unsere irdische Welt inzwischen als so aus den Fugen geraten empfinden, hat ja auch die Seite an sich, dass vieles, was wir bisher für selbstverständlich und unangreifbar hielten, inzwischen in seiner Anfälligkeit, Bruchstückhaftigkeit zutage getreten ist. Die Vulnerabilität des Menschen. Die Robustheit unseres Wirtschaftssystems. Das Völkerrecht als ordnende Kraft, die die Welt so einigermaßen in einer Kräfte- und Friedensbalance hält. Alles, wenn nicht hinfällig, so doch sehr zweifelhaft geworden. Manches droht sich als Scheinwelt zu entpuppen, in der wir uns zu lange kommode eingerichtet hatten. In diese Konfusion hinein sagt uns Weihnachten: Gott kommt nicht in eine Scheinwelt, sondern er kommt an einem unscheinbaren Ort zu unscheinbaren Menschen. Unwahrscheinlich, aber wahr.

II.

Der eingangs von den Instrumenten angestimmte Grundton bestimmt nun die ganze Kantate. Das strahlende G-Dur der Hirtensinfonie wird in fast allen Sätzen der Kantate aufgenommen. Besonders strahlend im Choral „Brich an, du schönes Morgenlicht“, was für mich zu den Liedern gehört, mit denen wirklich Weihnachten kommt. Mit diesem Choral, der auf die dann folgende Botschaft des Engels vorbereitet, wird uns die himmlische Botschaft so ins Herz gesungen, dass sich Licht im Dunkeln ausbreiten kann: „Denn dieses schwache Knäbelein / soll unser Trost und Freude sein, / dazu den Satan zwingen / und letztlich Frieden bringen.“ Prägnanter kann die Botschaft der Weihnacht kaum ins Wort gebracht werden. Das Böse wird nicht das letzte Wort behalten in dieser Welt und in uns selbst – auch wenn der Lauf dieses Jahres uns weiß Gott das Gefühl geben konnte, als wäre das Böse übermächtig, ja als wäre der Mensch selbst abgrundtief verdorben und korrumpiert. Nein, dieser wie alle Neugeborenen brüllende Säugling wird Frieden bringen, weil er selbst unser Friede ist. Deshalb hat sein späterer Apostel Paulus Recht, wenn er seine Erfahrung so ausdrückt: „Lass dir an seiner Gnade genügen, denn seine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (1. Kor 12,9). Gott ist nicht zuerst in den Zentren der Macht zu finden, weder den militärischen noch den wirtschaftlichen. Er begibt sich an die untersten Orte, um Menschen zu ermächtigen.

Nun folgt bei Bach die Verkündigung der Weihnachtsbotschaft durch den Engel an die Hirten. Ihr himmlischer Ursprung wird schon dadurch deutlich, dass Bach den Engelsopran, als der von der großen Freude spricht, bis aufs hohe A raufschickt. Vom Kommen des Höchsten ganz nach unten, davon kann man nur in den höchsten Tönen reden! Deshalb ist dieses hohe A auch der höchste Ton im gesamten Weihnachtsoratorium.

Was macht das nun mit den ersten Hörern der Weihnachtsbotschaft? Als Hirte unterwegs zu sein war damals kein Zuckerlecken. Einheimische gaben sich dafür selten her. Man stellte als Aufseher für die Schafherden Wanderarbeiter ein, die sich in der Fremde ihr Geld verdienten. Hartgesotten und abgebrüht waren sie, manche sicher mit dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit. Es ist ein Zeichen für das Wunderbare, all unser Verstehen Übersteigende der Weihnacht, dass diese Figuren nicht die Schotten dicht machen gegenüber dem, was sie da aus der Höhe zu hören bekommen. Sie lassen sich auf die unglaubliche Mitteilung aus Engelsmund ein. Freilich, und darin sind sie uns Heutigen durchaus auch nah, ein Stück moderner Skepsis hat den Hirten auch der Engel nicht austreiben können. Ich glaube nur, was ich sehe: dieses Credo unserer Zeit scheint irgendwie auch das der Hirten zu sein. Mit eigenen Augen sich überzeugen wollen sie schon, ob da was dran ist. Sie machen die Probe aufs Exempel und ziehen los. Bach hat das in die Tenorarie „Frohe Hirten, eilt, ach eilet“ übertragen, deren halsbrecherische Koloraturen dem Sänger viel abverlangen. Anspannung, Neugier auf etwas noch nie Dagewesenes bringt in Bewegung, macht die Beine flott. So macht Bach mit 32teln hier den Hirten Beine. Aufbruch ist angesagt, wo Gottes Anruf mich trifft. Nachfolge ist angesagt, nicht langes Verharren. „Geht, die Freude heißt zu schön!“

Nach dieser Arie lässt Bach interessanterweise den Engel durch den Evangelisten, also den Tenor weitersprechen. Bei den Worten „und in einer Krippe liegen“ lässt er ihn auf einem tiefen Ton enden. Die Krippe: ganz unten! Und der anschließende Choral „Schaut hin, dort liegt im finstern Stall, / des Herrschaft gehet überall“ bildet die Mitte der Kantate und damit der gesamten ersten Hälfte des Weihnachtsoratoriums. In ihm erreichen wir mit C-Dur den harmonischen Tiefpunkt der Kantate. Tiefer kann Gott nicht herabsteigen. Bis in einen kalten, finsteren Viehstall erniedrigt sich Gott, um Menschen aus ihrer Erniedrigung rauszuholen.

Und nun erklingt in einem demonstrativen Kontrast zur beschwingten, freudebewegten Hirten-Arie jene wunderbare Alt-Arie, die Schlummer-Arie, die dem Kind in der Krippe gilt. Eine Männerstimme könnte diese Zärtlichkeit wohl kaum ausdrücken, wie sie die Altstimme in ihr Schlaflied hineinlegt. „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh“. Der Text ist arg barocksüßlich, aber musikalisch ist diese Arie vielleicht die schönste im ganzen Weihnachtsoratorium. Sie wirkt auf uns wie ein meditierendes Innehalten in all der Bewegung, die der Engel da unten auf dem Feld ausgelöst hat und die auf das Krippenkind zukommen wird. Die Ruhe, die die Arie verströmt, bringt Bach durch ganz lange, über mehrere Takte gehaltene Noten der Altistin zum Ausdruck.

III.

Aber dies ist erst nur ein Vorausblick zur Krippe, denn noch sind wir nicht im Stall. Es folgt in unserer Kantate der große Lobgesang der himmlischen Heerscharen. Endlich kommt jetzt auch der Chor zu seinem Recht, den Bach am Anfang ja zum Schweigen verurteilt hat. Jetzt darf er ran – und wird von Bach mit dem anspruchsvollsten Chorstück des gesamten Oratoriums auch kräftig rangenommen. Erregt, fast rauschhaft das als Fuge komponierte „Ehre sei Gott in der Höhe“. Verhalten, fast still wird dann die Folge dieses Gotteslobs in Töne gebracht: „und Frieden auf Erden“. Frieden, wenn er sich ausbreitet, lässt uns tief aufatmen und zur Ruhe kommen. In einer mich immer wieder berührenden Weise meditiert Bach mit diesem Chor, dass das Gotteslob und die Arbeit am irdischen Frieden keine Spannung bilden, sondern unauflösbar ineinander verwoben. Nur wer gegen das Recht des Stärkeren und für die Stärke des Rechts eintritt – und genau das ist konkrete Friedensarbeit –, nur der ist glaubwürdig im Gotteslob. Kampf und Kontemplation.

Und schließlich folgt zum wunderbaren Schluss der Schlusschoral der Engel, die noch einmal als himmlische Dolmetscher dessen fungieren, was unser Verstehen übersteigt, und uns eine Deutung anbieten: „Wir singen dir in deinem Heer / aus aller Kraft Lob, Preis und Ehr, /dass du, o lang gewünschter Gast, / dich nunmehr eingestellet hast.“ Erneut auf die Melodie von Martin Luthers Weihnachtschoral „Vom Himmel hoch“ nimmt dieser Schlusschoral Motivik und Rhythmus der Pastorale des Kantatenbeginns wieder auf, aber nun kommen die Flöten als die Instrumente des Himmels und die Oboen als die der Hirten endlich zueinander, indem sie im Oktavenabstand dieselbe Melodie spielen. Das Musizieren der Engel und der Menschen verschmilzt.

Mit diesem Zusammenspiel hat die Kantate ihr Ziel erreicht. Nun ist es ein Selbstläufer, dass die Hirten in der folgenden Kantate 3 ihr Ziel, die Krippe erreichen. Musikalisch ist die Begegnung zwischen Himmel und Erde in der 2. Kantate jedenfalls schon vollzogen. Menschen- und Engelgesang werden eins, und wir bekommen einen Vorgeschmack darauf, was uns einmal erwartet, wenn Gottes neue Welt anbricht für immer. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Sinfonia sein wird, die dann erklingt. Aber Hirtenklänge werden bestimmt dabei sein!

Amen.

»Weihnachten wird von selbst«

Predigt am Heiligabend
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

„Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben“, haben wir gerade gesungen. Trifft das auch uns? Haben wir uns schon zum Stall aufgemacht, stehen wir an der Krippe? Wir haben uns zur Kirche aufgemacht, und es ist schön, wie viele immer noch alle Jahre wieder an diesem unvergleichlichen Abend in die Kirchen strömen. Aber jetzt in der Frauenkirche zu sein, und innerlich schon an der Krippe zu stehen: das ist dann doch noch nicht dasselbe.

Die alte und doch nie veraltende Weihnachtsgeschichte des Lukas kann uns eine Hilfe sein, uns in Bewegung via Krippe zu bringen. Sie bietet uns Identifikationsmöglichkeiten an, Motive, in die wir vieles von uns selbst eintragen können. Das Weihnachtsevangelium stellt uns, die wir Jungfernsohn und Krippenkind noch aus der Distanz in einer Mischung aus Faszination und Skepsis, vielleicht auch einfach nur Gewohnheit ansehen, Gestalten vor Augen, die uns helfen, wirklich mit „Geist und Sinn“, mit „Seel und Mut“ an der Krippe zum Stehen zu kommen.

I.

„Und es waren Hirten in derselben Gegend, die hüteten des Nachts ihre Herde“. Diese nüchterne Angabe sagt uns zunächst einmal: Es waren genauso wie heute Abend auch damals in der Heiligen Nacht Menschen bei der Alltagsarbeit. Die Weihnachtsgeschichte malt uns Leute vor Augen, die mitten in einem anstrengenden Alltag gar keine Festtagsstimmung empfinden. Sondern müde und vielleicht eher trübe gestimmt um ihr Feuer hocken. So zauberhaft uns der Bericht des Lukas über die Geschehnisse jener Nacht sein mag, so nüchtern und realistisch ist er eben auch. Weihnachten beginnt mitten im prosaischen Arbeitsalltag von Leuten, denen Steuerschätzung, der Kaiser Augustus und dessen Stadthalter Quirinius herzlich egal sind. Und weil das so war, kann es jetzt auch Weihnachten werden an so prosaischen Orten wie den Notfallambulanzen, den Rettungsdiensten, den Redaktionsstuben, bei der Polizei – überall, wo Menschen auch heute Nacht für uns arbeiten.

Und wir ahnen: Diese Hirten hätten rein gar nichts von den grundstürzenden Geschehnissen im nahen Bethlehem erfahren, sie hätten die Heilige Nacht am Lagerfeuer verdämmert, die Ankunft des Retters verpasst, die Geburt des Kindes, des Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst gar nicht wahrgenommen – wenn, ja wenn es ihnen nicht gesagt worden wäre! „Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr“. Diesen auf den ersten Blick so verwunderlichen Zug der Weihnachtsgeschichte finde ich sehr tröstlich und realistisch. Man kann an die Krippe eben nicht einfach aus eigenem Antrieb gehen, so, als würde man sich selber ermahnen oder von anderen dazu ermahnt werden: „Nun freu Dich doch mal auf Weihnachten!“ So funktioniert das nicht. Aber Gottseidank müssen wir uns an Weihnachten nicht selbst einen Ruck geben. Die wunderbar tröstliche Botschaft des Weihnachtsevangeliums ist: Und wird erzählt, uns wird gesungen, wir sind eingeladen, werden zur Krippe mitgenommen. Und deshalb brauchen wir uns um Weihnachten keine Sorgen machen! Auch die vielen – in Deutschland ist es inzwischen die Mehrzahl –, die mit Kirche und Christentum nichts mehr am Hut haben, geraten alle Jahre wieder in seinen Bann. Dass wir so viel Freude haben am Schenken und Beschenktwerden, das birgt als Tiefenschicht die Sehnsucht, unser Leben nicht selbst meistern zu müssen, sondern als das zu erfahren, was es doch ist: ein Geschenk.

II.

Zu den Motiven bei Lukas, die nah an uns herankommen, gehört nun auch die Rede von der Reaktion der Hirten auf die Botschaft des Engels: „und sie fürchteten sich sehr“. Mögen uns die Bibelwissenschaftler sagen, dass Furcht und Schrecken zu den natürlichen Reaktionen auf die Erscheinung der Heiligkeit Gottes oder der Engel gehört – für uns gilt die kleinere Münze. Die Furcht der Hirten erinnert uns daran, dass Weihnachten immer auch mit Befürchtungen, für nicht wenige auch mit Angst verbunden ist. Mit den kleinen Ängsten, dass das Weihnachtsessen nicht gelingt oder dass ich beim Aufsagen des Gedichts unterm Christbaum steckenbleibe. Und mit der großen Angst vor der Einsamkeit, die viele in dieser Nacht, die so anders ist als alle anderen Nächte, besonders überfallen kann. Oder davor, wie das Miteinander in der Familie, die nach langer Zeit wieder zusammenkommt, wohl sein wird. All denen, die sich mit ihrer kleinen oder großen Angst vor dieser Weihnacht fürchten, wird gesagt: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.“

Wir brauchen also keine Angst zu haben, denn uns ist ein Kind geboren. Das könnte prima vista ein bisschen lächerlich klingen. Aber alle von uns, die als Eltern oder Geschwister schon mal mit Staunen und Glück einem Neugeborenen ins Gesicht geblickt haben, wissen: nichts ist daran lächerlich. Alle Furcht, alle Sorgen, die vor der Geburt da waren, fallen ab, wenn das Neugeborene uns anbrüllt oder vielleicht sogar anlacht. Wenn ein Kind zur Welt gekommen ist, entdecken die Eltern, die Familie die Welt nochmal neu. Vor einigen Jahren hatte ich den seltsamen Traum, meine alten Eltern hätten noch einmal ein Kind bekommen, ich hätte also noch einmal ein Geschwisterchen. Das war ein ganz wunderbarer Traum, ich war schwer enttäuscht, als ich erwachte. Kinder, deshalb rühren sie uns so an, sind ja Wesen des Anfangs. Tag für Tag tun sie etwas Neues. „Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Gott kann uns gar nicht näherkommen, um unsere Welt auf Neues hin zu verwandeln, denn als Kind. Weihnachten rührt uns so an, weil es diese Verwandlung in Gang gesetzt hat.

III.

Gott fängt ganz klein an. Das Geschenk, das er uns mit dem Kind in der Krippe macht, fragt nicht nach würdigen Empfängern. Sonst wäre er im Palast zu Jerusalem zur Welt gekommen, wo man nicht im schmutzigen Hirtengewand Einlass gefunden hätte. Gott kommt deshalb als Kind zur Welt, damit wir begreifen: Er fragt nicht nach Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Hilflos und schreiend sind wir alle zur Welt gekommen – ob wir Europäer wurden oder Araber, Männer oder Frauen oder Queere, Gläubige oder Atheisten, „Biodeutsche“ oder Migranten. Im Anfang sind wir alle gleich – und für Gott bleiben wir es bis zu unserer letzten Wegstrecke, wo wir dann auch untereinander wieder sehr gleich werden: darin, dass wir wie in der Kindheit nicht mehr aus uns selbst leben können, sondern hautnah erfahren, wie angewiesen wir sind.

Und weil wir für und vor Gott, nach dessen Bild wir geschaffen sind, alle gleich sind und bleiben, kann es nicht sein, dass Menschen Menschen aufgrund bestimmter Merkmale auf- und abwerten. „Unsere Herzen sind weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“, lautete der wohl meistzitierte Satz unseres früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck, gesagt vor acht Jahren in 2015. Das war und ist richtig und wichtig. Damals lag der Akzent stärker auf der Weite der Herzen, heute mehr auf der Begrenztheit der Möglichkeiten, Menschen, die von anderswoher kommen, hier aufzunehmen und zu integrieren. Ja, wir brauchen genauere Zuwanderungsregeln. Das ist das eine. Das andere ist, dass auch Menschen, die nicht hier bleiben sollen und können, keine Un-Menschen sind. Dass zu viele sie in der Art, wie sie über sie reden, zu Unmenschen machen, ist zu beklagen. Und wenn bei manchen die Abwertung von Menschen wegen ihrer Herkunft und Religion auch noch ausdrücklich unter Berufung auf das „christliche Abendland“ geschieht: dann ist das ist ein offen erklärter Widerspruch zu allem, wofür Weihnachten steht. Das „christliche Abendland“ hat doch seine Wiege nirgendwo anders als in der Krippe, zu der zu gehen uns die Lieder dieses Festes auffordern. Wenn es eine kulturelle DNA des Abendlandes und seiner Traditionen gibt, dann ist es vor allem anderen die Kultur der Barmherzigkeit. Denn nur durch diese wurde aus der anfänglichen kleinen Sekte der Christen eine Religion, die die Weltgeschichte geprägt hat.

Und vollends finster wird es in unserem Land, wenn sich dieses Menschenbild gegen Mitmenschen jüdischen Glaubens richtet – ausgerechnet bei uns. Was wir seit bald drei Monaten erleben, an Explosionen von wüstem Antisemitismus – es hat uns scheinbar unerwartet getroffen, und hätte doch keine Überraschung sein dürfen. Zu Recht, denn Antisemitismus ist in sich gleich. Es spielt keine Rolle, ob er von Rechten oder Linken oder von Migranten kommt. Es ist immer gleich böse. Weihnachten feiern wir die Geburt dessen, der ein Kind seines Volkes, also ein Jude war. Die Weihnachtsgeschichte erinnert nicht ohne Grund ausdrücklich daran: „weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war“.

IV.

Liebe Schwestern und Brüder,

Weihnachten wird, wie gesagt, nichts verlangt und gefordert, sondern wir werden eingeladen wie zu einem großen herrlichen Fest. „Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nur gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, wie uns der Herr kundgetan hat.“ So werden mit den Hirten auch wir eingeladen, zur Krippe zu gehen, vielleicht nur tastend oder stolpernd, die große Geschichte zu sehen, mit eigenen Augen. Und dann dürfen wir einfach einmal alles abstreifen, loslassen, was wir an Lasten auch hierher in die Frauenkirche geschleppt haben, und es dort an der Krippe liegen lassen. Und dann einfach tief durchatmen, und hoffentlich doch ins Staunen kommen. So wie die Kinder, wenn sie nachher endlich ins vorher verschlossene, nun strahlend leuchtende Weihnachtszimmer rein dürfen: „Ich sehe dich mit Freuden an / und kann mich nicht satt sehen; / und weil ich nun nichts weiter kann, / bleib ich anbetend stehen“.

Wenn wir uns dafür die Augen öffnen lassen, dann wird uns Weihnachten nicht schwer, sondern ein Glück. Das wünsche ich uns allen.

Amen.

Seins Herzens Tür uns offen ist

Predigt am 2. Advent
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Eure Herren, die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt!“ Dieser Satz stammt von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten. Als er ihn sprach, war er das aber noch lange nicht, sondern Innenminister im ersten Kabinett Adenauer. Als Präsident des Evangelischen Kirchentags 1950 in Essen hat er dies bei der Schlussversammlung als letzten Satz seiner Ansprache den erstaunten Zuhörern zugerufen. Am Tag darauf wurde offenbar, was da mitschwang. Gustav Heinemann trat als Minister zurück, weil er die Politik Konrad Adenauers, die er als schädlich für eine Wiedervereinigung ansah, nicht mehr mittragen konnte.

I.

„Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt!“ Das ist eine durch und durch adventliche Aussage. Doch welches Kommen ist gemeint? Die Adventszeit trägt ja ein doppeltes Gesicht. Sie hat beides im Blick: die freudige Erwartung des menschwerdenden Gottes in Bethlehem – und die ernste, „bußfertige“ Erwartung des Weltenrichters am Ende der Zeiten. So sehr in unserem Adventsgefühl das Kommen des Krippenkinds im Vordergrund steht, so wenig kann man das andere beiseite schieben. Und eigentlich geht das ja auch gar nicht. Wie sollte ich Advent feiern und dabei die apokalyptischen Erfahrungen verdrängen, die unsere Gegenwart prägen? Die apokalyptischen Reiter unserer Tage, die statt auf Pferden mit Raketen, Drohnen und Kampfbombern unterwegs sind; Reiter, die sich ein Amt anmaßen, das ihnen keiner übertragen hat: ungebetene Boten einer apokalyptischen Lage.

Da rührt es uns an, wenn uns in der Adventszeit apokalyptische Texte wie heute dieser Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes entgegentreten – Texte, die das Kommen des Weltenrichters am Ende der Zeiten in den Blick nehmen. Unser Predigttext ist eines von sieben geheimnisvollen Sendschreiben an sieben Gemeinden im vorderen Teil Kleinasiens, die im zweiten und dritten Kapitel der Offenbarung enthalten sind. Jeder dieser Briefe ist so gehalten, dass Christus selbst als der Absender erscheint, der durch die Stimme des Heiligen Geistes zu den Adressaten redet. Und für jeden Brief wird der greise Seher Johannes als Schreiber in Dienst genommen. Zur Zeit der ersten richtigen Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Domitian war er auf die Insel Patmos in der Ägäis verbannt. Durch ihn erfahren wir aus diesen Briefen, wie Gott selbst die Gemeinden wahrnimmt.

So sind diese sieben Sendschreiben gewissermaßen göttliche Visitationsbescheide. Der Herr der Kirche hat das Leben dieser Gemeinden, die durch die heilige Zahl sieben für das Ganze der Kirche stehen, genau beobachtet. Seinen Augen entgeht nichts, weil sie durch bis auf den Grund sehen. Durch diese Visitationsbescheide Christi sollen die Gemeinden erfahren, wie es wirklich um sie steht, damit sie nicht unvorbereitet in die Zeit hineinstolpern, in der sich alles entscheidet. Ehe Christus als der Richter kommt, kommt er als Visitator. Seine Ankunft am Ende der Zeit soll nicht zur unheilvollen Überraschung, zur gnadenlosen Abrechnung werden.

Aber nun gibt es da eine Merkwürdigkeit. Der Adressat der sieben Sendschreiben ist nämlich nicht die Gemeinde direkt, sondern jeweils ein sog. „Engel der Gemeinde“. Hier in Philadelphia, aber auch in Smyrna, Ephesus und weiteren vier Orten. Dieser „Engel der Gemeinde“ gehört zu den vielen Rätseln dieses letzten Bibelbuchs. Wer ist damit gemeint? Eine Antwort könnte sein: Der „Engel der Gemeinde“ ist eine Art himmlischer Doppelgänger der jeweiligen Gemeinde. Und er hat eine doppelte Funktion: Er ist ein Botschafter von oben nach unten – und ein Fürsprecher von unten nach oben. Vorausgesetzt wird, dass jede der in den Sendschreiben angesprochenen kleinen, schwachen Gemeinden einen eigenen Engel hat. Und jede dieser Gemeinden ist Gott so wichtig, dass sie ein eigenes Sendschreiben, einen eigenen himmlischen Visitationsbescheid erhält. Kein Brief gleicht dem andern. Ich stelle mir vor: Jede der 500 Gemeinden unserer Sächsischen Kirche erscheint mit einem eigenen Engel vor Gottes Thron. Und so geht das weiter über die ganze Welt. Das wäre ein schönes Engelsgewimmel! Vor allem aber heißt das: Jede Gemeinde ist in Christi Augen wichtig. Sei sie klein oder groß, pietistisch oder liberal, freikirchlich oder landeskirchlich. Sei sie eine verschworene Gemeinschaft oder eine zufällige sonntägliche Versammlung, wie es hier in dieser Kirche üblich ist. Jede Gemeinde wird von Gottes Geist in ihrer Besonderheit wahrgenommen.

II.

Im Reigen dieser sieben Sendschreiben fällt unser Text allerdings aus der Rolle. Die Gemeinde in Philadelphia erfährt nämlich nur Lob. Kein kritisches Wort bekommt sie zu hören. Es geht ihr nicht wie der Gemeinde in Sardes, der die heftige Diagnose gestellt wird: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot“. Oder die in Laodicea, die sich anhören muss: „O dass du warm oder kalt wärest! Aber du bist lau“. Für die Gemeinde in Philadelphia dagegen nur Lob und Anerkennung. Dass sie so gut wegkommt, liegt indes nicht an besonders bemerkenswerten Leistungen. Da wird keineswegs, wie wir das aus kirchlichen Visitationsbescheiden kennen, in wohlgesetzten Worten ein Zeugnis ausgestellt für kräftiges Gemeindewachstum, für nachhaltigen Umgang mit den Finanzen, für fantasievolle Jugendarbeit, für engagierte Quartiersarbeit, für lebendige Gottesdienste. Im Gegenteil: „Du hast eine kleine Kraft“, heißt es da. Es wird klar benannt, dass die Gemeinde begrenzte Ressourcen hat. Aber dass sie einfach diese kleine Kraft eingesetzt hat, um Christi Wort zu bewahren und seinen Namen nicht zu verleugnen – mehr ist von dieser Gemeinde nicht zu sagen. Aber das genügt auch. Deshalb: „Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“

„Kleine Kraft“ – wenn man den Text beim Wort nimmt, könnte man das auch so wiedergeben: Um diese Gemeinde steht es eher suboptimal. Sie zeichnet sich durch eine „begrenzte Dynamik“ aus. Es ist nicht überwältigend viel, was in ihr läuft. Genau darin finden wir uns gut wieder. Machtvoll und mit mitreißender Dynamik treten die Kirchen bei uns ja nicht auf. Die seit 200 Jahren unaufhaltsam sich ausbreitende Säkularisierung in der nördlichen Erdhälfte überfordert uns mit ihrer Wucht und macht uns fast verschämt. Wer traut sich noch, in einem atheistischen Umfeld sich unbefangen als Christ zu outen? Als Gemeinden tragen wir die Spuren dieser Geschichte an uns; sie hat uns kleiner werden lassen, auch an Selbstbewusstsein und die Stimmung ist oft etwas depressiv getönt. Gerade in den letzten Wochen, nach den für die Kirche(n) niederschmetternden Befunden der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, ist die Stimmung mal wieder auf dem tiefsten Tiefpunkt, wie Rudi Völler sagen würde, angelangt. Aber Krisen bergen auch Chancen in sich. Ich sehe die Chance, dass wir da, wo wir nicht mehr die (finanziellen) Mittel haben, manches, was schon früher etwas angefault war, mit irgendeiner flotten, hochglänzenden Substanz zu übertünchen, sondern dass wir gezwungen sind, uns wieder stärker auf das zu konzentrieren, was uns zur Kirche macht.

Im Klartext: Wir sind aufgefordert, genauer auf das Wort Jesu zu hören, nicht zu verbergen, dass wir uns nach ihm orientieren wollen, auch da, wo wir dafür belächelt oder gar als „Gutmenschen“ verachtet werden. Wir sollten wieder ein Stück fröhliche Unbekümmertheit entwickeln, das festzuhalten, was uns anvertraut ist: die Nähe Gottes in dem Kind in der Krippe, in dem Mann am Kreuz, in dem Herrn, der zu denen ging, die für die Herren dieser Welt nur eine Verfügungsmasse sind. In einer Zeit, in der viele nur fragen, ob die Kassen klingen, können wir couragierter erklären, warum eigentlich die Glocken süßer nie klingen als in der Weihnachtszeit. Auch uns gilt doch die Ermutigung unseres Sendschreibens: „Halte, was du hast“.

Liebe Gemeinde, aus der Bibel können wir lernen: Das langsame Verdorren und Absterben einer Gemeinde kommt letztlich nie von außen, sondern immer von innen. Das war ja bewegende Erfahrung vieler Christen früher zu DDR-Zeiten. Von außen, durch die aggressive Religionspolitik des SED-Regimes, wurden die Gemeinden natürlich kleiner und kleiner. Aber sie waren eben nicht totzukriegen! Ohne die Saat, die dort über Jahrzehnte von Wenigen ganz treu ausgeworfen wurde, unter oft kargen Bedingungen, wäre der Sog nicht entstanden, der dann im Herbst 1989 die vielen in die Kirchen gezogen und ihnen Mut und Selbstachtung zurückgegeben hat. „Halte, was du hast“: die Gemeinden in der DDR haben das beherzigt. Dagegen haben sich manche Gemeinden im Westen, bei aller Betriebsamkeit und öffentlicher Präsenz, wahrscheinlich doch eher in der Nähe des Gottesurteils über die Gemeinde von Laodicea bewegt: „O dass du warm oder kalt wärest! Aber du bist lau“.

III.

Und dann heißt es noch: „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen.“ Liebe Freunde, wenn uns von diesem zweiten Adventssonntag nicht mehr im Gedächtnis bleibt als dies, dann ist das genug. Das gehört ja zum Zauber der Adventszeit, dass sie voll ist von Symbolen für diese langsam, aber unaufhaltsam sich öffnende Tür. Nicht wir öffnen sie mit unserer Kraft, sie öffnet sich von innen her. Deshalb hängen wir unsere Adventskalender auf. Mir bleibt da unauslöschlich das Bild aus der Kindheit von der Tür zu unserem „Weihnachtszimmer“ vor Augen. Unsere Eltern schlossen sie immer am 23. gegen Abend hinter sich zu, wenn sie den Baum herrichteten. Und dann blieb sie 24 Stunden hermetisch abgeriegelt. Für uns eine exponentielle Steigerung des Weihnachtsgeheimnisses. Dann an Heiligabend, wenn wir aus der Kirche zurück waren, mussten wir uns erstmal in die Kinderzimmer trollen und dort klopfenden Herzens warten, während die Eltern im Wohnzimmer den Baum entzündeten. Nach einer gefühlten Ewigkeit dann das erlösende Klingeln einer kleinen hellen Glocke, darauf stimmte unsere Mutter am Klavier „Ihr Kinderlein kommet“ an und durch die endlich weit geöffnete Tür durften wir in das christbaumstrahlende Weihnachtszimmer einmarschieren. „Heut schließt er wieder auf die Tür / zum schönen Paradeis; / Der Cherub steht nicht mehr dafür, / Gott sei Lob, Ehr und Preis“ (EG 27,6). Eine Liedstrophe mit hoher, steiler Theologie. Aber solchen Kinderaugen bleibt sie nicht mehr abstrakt.

Liebe Schwestern und Brüder, das ist das Geheimnis der Adventszeit, dass sich in ihr diese Tür zu Gottes Herrlichkeit öffnet. Aber diese Pforte ist nicht irgendwo, sondern in unserer Welt. Denn Gott wird Mensch. Und sie öffnet sich nicht nur für wenige Feiertage im Jahr, sie will immer für uns offen stehen. Deshalb hatte der große Theologe Karl Barth Recht, der gerne sagte: „Für Christen ist immer Advent“. Wir haben es am 1. Advent hier bedacht: Unser Leben ändert sich, wenn wir diese Tür nicht zuschlagen, sondern es vor der offenen Tür leben, wenn wir Gott Zugang in unser Leben gewähren. Porta adest, cor maius – Die Tür steht offen, das Herz noch mehr! So lautet der alte, schöne Gruß der Benediktiner. Er ist erst recht Gottes Gruß an diese Welt, mit dem er uns in diesen Wochen seine Reverenz erweist. Und wir erwidern diesen Gruß nun singend:

Komm, o mein Heiland, Jesu Christ,
meins Herzens Tür dir offen ist!

Amen.

Deus ante portas

Predigt am 1. Advent  
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der Advent ist die Zeit des Wartens im (Kirchen)Jahr. Zeit, die für das steht, was uns das Leben noch vorenthält. Warten ist in der Regel von Sehnsucht umwoben. Die Sehnsucht nach Wärme in frostiger Jahreszeit. Die Sehnsucht nach Heilung dessen, was in die Brüche gegangen ist. Die Sehnsucht nach Licht in immer dunkler werdenden Tagen. Nach einer Lichterfülle, die das Kommen dessen ankündigt, der von sich selbst gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Advent, das ist die Zeit der Anbahnung des Größeren, das unser Vermögen übersteigt.

Zwei Texte gibt es, die ganz untrennbar mit dem Advent verbunden sind. Einer aus der Bibel und einer aus dem Gesangbuch. Beide wirken prima vista gar nicht so adventlich, weil sie nicht verhalten und leise daherkommen. Vielmehr tragen sie Züge einer festlichen Ouvertüre und scheuen auch Fanfarenklänge nicht. Zum einen der Sonntagspsalm 24, den wir, wie an jedem 1. Advent, eingangs gebetet haben. Zum anderen die Nachdichtung dieses Psalms in das wohl populärste Adventslied: „Macht hoch die Tür“, die Nr.1 im Evangelischen Gesangbuch. Das singen wir nach der Predigt. Der Psalm zum Advent und das ihm nachempfundene Lied, sie klingen zusammen und werden zum Ausdruck christlicher Willkommenskultur. Da werden keine Grenzzäune errichtet. Da werden keine Aufnahmeobergrenzen festgesetzt. Wie sollte das auch gehen?

I.

Im Herzen Berlins steht das Brandenburger Tor. Genau da, wo die Stadt bis November 1989 in zwei getrennte Teile zerrissen war. Vor dem Tor verlief die Mauer. Null Chance, sich zu begegnen. Wer es versuchte, riskierte sein Leben. – In Jerusalem gibt es das Mandelbaumtor am westlichen Rand der Altstadt. Bis 1967 war es verrammelt. Es stand genau auf der sog. grünen Linie, die das damals jordanische Ostjerusalem vom israelischen Teil der Stadt trennte. Das berühmte Foto mit Verteidigungsminister Mosche Dajan und Generalstabschef Jitzchak Rabin, wie sie am Tag der Eroberung Ostjerusalems durch die Israelis im Sechstagekrieg 1967 durch das endlich offene Mandelbaumtor gehen und sich zur Klagemauer begeben, ist in Israel ikonisch. Jedes Kind kennt es. – Beide Tore waren weltbekannte Symbole dafür, wie es ist, wenn zwei Welten aufeinander stoßen. So standen sie für die vielen ungenannten Tore und Türen aus Stein oder Stahl, aber auch aus Fleisch und Blut, an denen sich im Kleinen dasselbe geschieht wie dort im Großen.

 

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ Der Psalm des Advents sagt uns: Vor den versperrten Toren und Türen dieser Welt steht ein König, der da hindurch will. Denn sie sind ja dazu da, dass man durch sie durchgehen kann: in die Stadt, ins Haus oder ins Zimmer. Sie sind aber nicht immer und für jeden gleichermaßen geöffnet. Sie können auch verschlossen sein, und wenn Gefahr im Verzug ist, verriegelt und verrammelt werden. „Hannibal ante portas!“, das hieß einst für Rom: Allerhöchste Gefahr! Die Tore der Stadt werden dann zum Bollwerk, damit die fremde Welt, die da naht, keinen Eingang findet.

Gott vor den Toren, Deus ante portas! Ist das auch ein Alarmruf? Stoßen auch hier zwei Welten aufeinander, die wie Feuer und Wasser sind? Nein – unser Psalm sagt unmissverständlich: hier stoßen nicht zwei Welten, hier stoßen vielmehr die Welt und ihr Herr aufeinander. Dem „die Erde gehört und was darinnen ist, der Erdkreis und die ihn bewohnen“, der steht vor der Tür. Der 24. Psalm beginnt mit dem Lob Gottes als des Herrn der Welt, um dann in den folgenden Versen für ihn Einlass in die Welt zu begehren. Genauer, in das Zentrum der Welt, in das Heiligste für Israel damals: den Tempel. Gott nicht im Tempel, wo er doch wohnen soll, sondern auf dem Weg dorthin. Ein Heiligtum im Zentrum der Welt, und Gott nicht darin, sondern draußen vor dem Tor. Das wirkt seltsam. Ein Tempel ohne Gott ist doch kein Tempel. Aber nun lenkt der Psalmist unseren Blick nicht auf das Heiligtum ohne Gott, sondern auf Gott vor dem Tor. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf dorthin. Es ist das Tor, das jeder passieren muss, der ins Heiligtum will. Dort am Tor muss er sich ausweisen, ob er denn auch würdig ist, den heiligen Raum zu betreten: „Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“ Dann werden einige klare charakterliche Bedingungen genannt. Nur wer die erfüllt, darf rein. So ist der Weg des Menschen zum Heiligen: Er muss sich gleichsam reinigen, um des Heiligen würdig zu sein.

II.

Und hier nun das: gerade auf diesem Weg des Menschen kommt Gott daher! Der ewige Gott ist auf irdischen Wegen, auf unseren Straßen unterwegs. Er unterwirft sich den menschlichen Regeln und begehrt Einlass am Tor. Klettert nicht über die Mauer, kommt nicht senkrecht von oben, wie es einer Gottheit ja ein Leichtes wäre, sondern macht sich den Vielen gleich und steht Rede und Antwort am Tor. Und ist doch der König der Ehre! Er weist sich ja aus am Tor: „Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit“. Also einer, der jedes Tor der Welt zum Triumphbogen verwandeln könnte, um in allen Ehren hindurchzuziehen. Der Gewaltige kommt – doch ohne gewaltige Taten. Der Mächtige braucht keine Machtmittel, um in sein Eigentum einzuziehen. Wie alle anderen steht er den Torwächtern Rede und Antwort.

Der Herr vor den Toren: Das ist also ein anderer Sound als der Schreckensruf „Hannibal ante portas!“ Vielmehr ist es so: Es wartet einer darauf, dass ihm von innen aufgetan wird. Wie schon gesagt, Advent ist Wartezeit. Aber es ist eben nicht nur die Zeit des Wartens auf das Kommen Gottes. Es ist auch und wohl noch mehr Gottes Wartezeit: die Zeit des auf seine Welt wartenden Herrn. Der einziehen will durch unsere Tore und Türen, und der darauf wartet, dass sie ihm von innen, also von uns geöffnet werden. Nun ist das ja so eine Sache mit dem Öffnen und Schließen von Tor und Tür. Unsere Haustüren verschließen wir sorgfältig. Und wenn der Familiensegen schief hängt, werden auch mal Zimmertüren von innen verriegelt. Einer Bank ohne stählerne Türen zu ihren Safes würde ich mein Geld nicht anvertrauen wollen. Eine ordentlich verwaltete Welt diesseits von Eden braucht Tore und Türen, die sich öffnen, und auch schließen lassen. – Aber mehr noch als Staaten, Wohnungen, Tresore brauchen wir in uns selbst eine Tür. Eine Tür, die uns aufgeschlossene oder verschlossene Menschen sein lässt – jedes zu seiner Zeit. An dieser Tür in uns, da, wo wir ganz wir selbst sind, in unserem Herzen, an dieser Tür fallen unsere Entscheidungen fürs Leben. „Dû bist mîn, ih bin dîn / des solt dû gewis sîn. /dû bist beslozzen / in mînem herzen, / verlorn ist das sluzzellîn: / dû muost ouch immêr darinne sîn“ – lautet das älteste deutsche Liebesgedicht aus dem Hochmittelalter. Dort, in meinem Herzen entscheide ich, wer zu meinem Leben gehören soll, wem ich die Tür zu meinem Herz aufschließe und wem nicht.

An diese Tür in jedem von uns, liebe Gemeinde, klopft unser Adventspsalm. Auch diese Tür bricht Gott nicht auf, obwohl es ihm als der Starke, Mächtige ein Leichtes wäre. Nein, er redet mit uns, und bittet darum, dass wir uns ihm öffnen. Dass er unser Leben bereichern darf mit sich selbst. Der König der Ehre gibt uns die Ehre. Und wer ohne Ehre ist unter den Menschen, der hat den König der Ehre an seiner Seite.

III.

Wenn es aber so sein soll, wie wir es nachher singen: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist“ – dann sollen auch die Tore und Türen dieser Welt, vom Brandenburger Tor bis zu unserer Haustür, ihm nicht verschlossen bleiben. Der Gott, der in unsere Herzen Einlass begehrt, der will auch dort sein Wort mitreden. Wem der König der Ehre die Ehre gibt, von dem erwartet er auch etwas. Ja, Gott fordert – aber er überfordert nicht. In seinen Forderungen sind immer auch Schätze verborgen. Das ist ja das Letzte und Wichtigste, was uns unser Adventspsalm sagt: Der König der Ehre – das ist „der Herr Zebaoth“. Gleich zweimal, als ob er daran zweifelte, fragt der Psalmbeter: Wer ist denn das, der König der Ehre? „Es ist der Herr, stark und mächtig im Streit“ – diese erste Antwort überzeugt ihn noch nicht. Erst als er nicht mit wuchtigen Attributen bedacht, sondern bei seinem Namen genannt wird, erst dann öffnet sich das Tor: „Es ist der Herr Zebaoth, er ist der König der Ehre.“

Zebaoth, das hebräische Wort meint die himmlischen Streitkräfte, nicht die irdischen Machtmittel. Wenn er zu uns kommt, heißt das, dass die Himmelstore offen sind. Und der Himmel, das ist keine Gesellschaft hinter verschlossenen Türen, sondern die offene Gesellschaft Gottes, in der er sein Leben mit uns teilt. Der Herr Zebaoth vor den Toren der Welt, das will sagen, dass seines Herzens Tür für uns sperrangelweit offen steht. Jeder, wirklich jeder ist eingeladen, da durch zu gehen, wenn er denn möchte. Jeder darf zu Gottes Leben dazugehören. Jeder hat in seinem Reich Stimmrecht. Es ist das Stimmrecht der Liebe, das Gott uns einräumt. „Er ist gerecht, ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt, / sein Königskron ist Heiligkeit, sein Zepter ist Barmherzigkeit; / all unsre Not zum End er bringt, derhalben jauchzt, mit Freuden singt“: Das ist der Herr, mächtig im Streit. Für die Liebe streitet er und dass sie sich auf dem Erdkreis und unter allen, die darauf wohnen, durchsetzt.

Deshalb ist es so gut, dass jetzt wieder Weihnachten kommt. Wir brauchen diese Zeit im Jahr, so in der zumindest manchmal ein hoffnungsvolles Gefühl in uns auflodert, als würde sich die Welt der um sich greifenden Dunkelheit, dem Hass und der Gewalt entgegenstemmen, und das kleine Licht der Hoffnung auf die ohnmächtige Macht der Liebe am Leuchten halten. In einem kleinen, schwachen Kind, schutzlos in einer Krippe liegend, kommt der Herr, mächtig im Streit, in diese Welt. Wer soll das verstehen? Und doch ist es die Wahrheit. Nur durch die Liebe, die dieses Kind auf sich zu ziehen und in aller Menschen Herz zu wecken vermag, öffnen sich unsere Türen.

Und wir, wir können und sollen mitbestimmen, wie Gottes Liebe weiter geht. Von der einen, die sie erfahren hat, weiter zum anderen, der sie noch nicht spürt. Von uns zu den Nächsten und nicht zuletzt von der Kirche zur Welt. Denn Gott will nicht in die Welt kommen, um da, wo er hinein geht, zu bleiben, sich behaglich einzurichten. Er will weitergehen: von Tor zu Tor. Und wo immer sich Tore verschließen und Türen versperren, schlägt uns das offene Herz des wartenden Gottes entgegen. Keiner wartet gern umsonst. Auch Gott nicht.

Deshalb: Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!

Amen.

 

 

Goldenglanz der Ewigkeit

Impuls zur Geistlichen Sonntagsmusik am Ewigkeitssonntag  
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Heute ist Totensonntag. In der Sache treffender, aber womöglich weiter weg von dem, was viele Menschen heute empfinden, nennen wir ihn inzwischen Ewigkeitssonntag. In den Gottesdiensten an diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr stehen die sog. „Letzten Dinge“ im Mittelpunkt. Es geht darum, dass das Leben endlich ist. Mitten im Leben sind wir vom Tod umgriffen, Media vita in morte sumus – sagt ein alter Hymnus. Das ist die Erfahrung vieler, die heute um einen Menschen trauern, den sie in diesem Jahr verloren haben.

Brocéliande heißt der mystische Wald in der Bretagne. Angeblich ist hier das Grab des Zauberers Merlin und der Fels, in dem das Schwert des Artus steckte. Ein Weg führt an einem See vorbei. Dort soll der Ritter Lancelot aufgewachsen sein. Und dann steht man plötzlich vor einem goldenen Baum! Der Baum ist echt. Echt tot. Vor rund 30 Jahren hat hier ein Brand gewütet und unzählige Bäume zerstört. Inzwischen sind viele neue Bäume gewachsen. Sie tragen im Sommer grüne Blätter und werfen sie im Herbst vielfarbig ab. Aber zwischen ihnen steht unübersehbar ein goldener Baum. Mit Ästen, an denen keine Blätter mehr wachsen. Die toten Äste ragen in den leeren Raum hinein. Und glänzen golden.

Ein Künstler hat den Baum mit Goldfarbe bestrichen. Für manche ist er ein Mahnmal: Waldbrände sind verheerend. Lasst uns die Wälder schützen. Für andere ist er ein Kunstwerk: Kunst kann Natur und Mensch verbinden. Für mich, als ich ihn vor einigen Jahren bei einem Bretagne-Urlaub sah, wurde er eine Glaubensaussage: was wir tot nennen, ist vielleicht nur tot für uns. Gott verleiht ihm einen neuen, besonderen Glanz. Einen Glanz, gegen das selbst der Goldglanz der Künstlerfarbe nur ein schwacher Abglanz ist. Der Dichter Gottfried Benn hat kurz vor seinem Tod geschrieben: „Ich habe mich stets mit dem Gottesglauben schwergetan. Aber dessen bin ich sicher: Der letzte Augenblick wird ohne Schrecken sein. Wir werden nicht fallen, sondern steigen“. – Unsere Erfahrung „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ ist nicht der Schlusssatz im Buch unseres Lebens. Der lautet umgekehrt: Media morte in vita sumus – Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen. Und so ist dieser Arbre d’or, der Goldbaum in der Bretagne, für mich tatsächlich ein Lebensbaum! In echt!

Ich schließe mit Worten des berühmten Hamburger Theologen Helmut Thielicke. Seine Autobiographie mit dem Titel „Zu Gast auf einem schönen Stern“ hat er mit diesen Sätzen beschlossen:

„Warum wage ich es trotzdem, diese gefährdete Erde als schönen Stern zu rühmen und mich ihrer Gastfreundschaft zu freuen? Immer wieder, wenn der Blick sich in die verhangene Zukunft bohren will, denke ich an das Wort, das Gott nach der Sintflut-Katastrophe über unsere Erde gesprochen hat: ‚Wenn es denn kommt, dass man Wetterwolken über die Erde führe, dann soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.‘ Dieser Bogen soll Zeichen einer Zuwendung sein, die uns durch alle Zeiten treu bleibt. Ich habe ihn in meinem Leben immer wieder gesehen – jedenfalls dann, wenn ich aufhörte, monoman ins Dunkel zu starren und meine Augen erhob, um ihn zu suchen. Ja, mir ist noch keine Finsternis begegnet, über der er nicht leuchtete und kein noch so dunkles Tal, wo mich nicht einige Grüße Gottes erreicht hätten.

Nur um dieses leuchtenden Bogens willen rühme ich unsere Erde als schönen Stern und gehe dem Kommenden getrost entgegen. Wir sind freilich nur Gäste auf diesem schönen Stern. Bewohner auf Abruf mit versiegelter Order, in der Tag und Stunde des Aufbruchs verzeichnet sind. (...) Doch als Christen sind wir gewiss, dass die uns zugemessene Lebenszeit nur die Adventszeit einer noch größeren Erfüllung ist. Das Land, in das wir einmal gerufen werden, ist ein unbekanntes, ja unvorstellbares Land. Nur eine Stimme gibt es, die wir wiedererkennen werden, weil sie uns hier schon vertraut war: die Stimme des guten Hirten.“

 

Amen.

 

Christus der wahre Prophet         

Predigt am Buß- und Bettag
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der Prophet Hesekiel war ein hochemotionaler Typ. Mancher Kommentator sieht ihn an der Grenze zum Pathologischen. Mit einer für ihn typischen düsteren Radikalität entwirft der Mann in dem eben gehörten Abschnitt ein Portrait seiner Zeit, das einem Horrorgemälde gleichkommt. Da werden nicht nur Missstände benannt und Versäumnisse aufgedeckt. Hesekiel malt nicht weniger als das Bild einer Hölle auf Erden. Er sieht eine Welt, in der im wörtlichen wie im übertragenen Sinn Blut fließt. In der gewollt Leben zerstört wird, leiblich wie auch sozial.

I.

Diese Prophetenworte kommen von weit her zu uns. Gesprochen wurden sie vor 2.600 Jahren. Damals zerbricht sich Israels Oberschicht den Kopf, warum Jerusalem, die Heilige Stadt, vom babylonischen Herrscher Nebukadnezar brutal geschleift und sie nach Babylon zwangsverschleppt wurden. Hesekiel, der Prophet, sieht es so: Totalversagen aller gesellschaftlich relevanten Gruppen und Stände! Fürsten, Priester, Beamte, Propheten – die ganzen Eliten. Die Knechtschaft in Babylon ist für Hesekiel Gottes Strafe. Da meldet sich in uns Widerspruch. Sollen wir an einen Gott glauben, der sein Volk in ein so grausames Schicksal stößt, um es zu züchtigen? Gott als Big Brother mit der Peitsche: solch archaische Religiosität haben wir doch längst überwunden!

Nur: Was der Prophet da brandmarkt, das haben wir doch heute täglich vor Augen. Das Flüchtlingskind, das tot an den Mittelmeerstrand geschwemmt wird. Verstümmelte Leichen nach einem russischen Raketenangriff auf einen Kindergarten, in einem israelischen Kibbuz. Verzweifelte Menschen, die in Nordafrika durch Naturkatastrophen geliebte Angehörige verloren haben. Fürchterliche Bilder, eigentlich kaum auszuhalten, wenn man sich ihnen aussetzt. Deshalb legen wir uns auch eine innere Hornhaut dagegen an. Das ist menschlich, denn nur Mit-Leiden geht nicht, es macht krank.

Mir geht es schon so, dass ich diese Suada des Propheten zwiespältig empfinde, wenn ich daran denke, was bei uns so los ist auf den Straßen und Plätzen. Gerade hier in dieser Stadt, und leider immer wieder direkt vor dieser Kirche. Irgendwie scheint sich der Prophet Hesekiel prächtig als Kronzeuge zu eignen für die zeitlos gültige Devise: Schuld ist immer die der anderen. Wir wissen nicht nur, was wahr und falsch, gut und böse ist. Wir haben auch die Wahrheit auf unserer Seite, wir sind die Guten. Da kann man prima mit dem Finger auf andere zeigen. Flüchtlingspolitik, Krieg vor der Haustür, Klimaschutz – wir wissen, was zu tun oder was zu lassen ist. Prangern die an, die anders denken. Was da zu hören und in zahllosen Internet-Blogs zu lesen ist, ist immer wieder dasselbe. „Die da oben“, die ihr Zerstörungswerk gegen das eigene Volk betreiben. Von „geheimen“, in den USA verorteten und stark jüdisch bestimmten „Mächten“ gelenkt. Laut Umfragen glaubt bereits ein Drittel der Deutschen solchen Unsinn. Das ist verstörend, aber die Realität. Schon die uralte Geschichte vom Sündenfall zeigt, dass es eine Lieblingsbeschäftigung des Menschen ist, auf andere zu zeigen. In Deutschland besonders. Vor allem, wenn Politik im Spiel ist. Dann schießen sie wie Pilze aus dem Boden, die unfehlbar urteilenden Moralisten. Ob von rechts oder links, in einem sind sie sich dann immer einig: Schuld ist immer die der anderen! Vor allem die des „Systems“ und seiner Repräsentanten. Vom Kanzleramt bis zum Rathaus um die Ecke. Und natürlich „die Juden“. Wenn es gegen die geht, finden Rechte, Linke und Muslime mühelos zueinander, wie wir seit dem 7. Oktober wieder erleben.

II.

Der Buß- und Bettag, ich sagte es eingangs schon, ist ein sehr politischer Feiertag. Auch wenn die allermeisten gar nicht mehr wissen, was dieser Tag ist, leider. Aber ein Tag, an dem wir auch als Kirche in dieser Gesellschaft und mit der Gesellschaft auf unser Land schauen und unsere Rollen bedenken, hat schon seinen Sinn. Hesekiel spricht in unserem Text davon, dass auch die geistlichen Eliten versagt haben. Die Priester haben Gott entheiligt. Die Propheten, die damals zum engsten Beraterstab am Jerusalemer Königshof gehörten, streichen nur religiöse Tünche über die gesellschaftlichen Missstände. In Dauerschleife erklingt eine beruhigende Botschaft von einem lieben und harmlosen Gott, der am Ende alles gut werden lässt. Da wird für mich dieser ferne Text erst recht aktuell und nah. Gerade auch die Kirche, wir Pfarrer*innen haben nicht das Recht, uns auf Hesekiels Seite zu stellen und uns über andere zu empören. Eine Kirche, eine Verkündigung, die sich „seelsorgerlich“ auf das Individuum, auf die Einzelseele orientiert und die Dauermelodie anstimmt „Gott liebt uns und nimmt uns an, wie wir sind“, lockt niemand hinter dem Ofen vor. Denn diese Melodie beherrschen Psychotherapeuten, Coaches, Supervisoren viel besser.

Aber was kann uns weiterhelfen? Ich denke, am ehesten, dass wir versuchen vom Propheten Hesekiel weg und auf Christus zu schauen, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Er, und nicht die düstere Faszination dieser prophetischen Brandrede, zeigt uns die Richtung zu wirklicher Buße und Erneuerung. Wir hören von Hesekiel über mörderische Machthaber – und wir sehen auf Christus, den wahren König. Wir hören von Priestern, die das Heilige verraten – und wir sehen auf Christus, den wirklichen Priester. Wir hören von Propheten, die Gott instrumentalisieren – und wir sehen auf Christus, den eigentlichen Propheten, in dem das Himmelreich anbricht. Weil wir auf Christus sehen, begreifen wir, wie anders er ist als die Könige, Priester und Propheten, die wir kennen oder vielleicht sogar manchmal selber sein wollen.

III.

Zuerst schauen wir auf Christus den König. Er ist König, indem er dient. Er wäscht seinen Leuten die Füße. Er zieht auf einem Esel in Jerusalem ein. „Gegrüßet seist du, König der Juden“, verhöhnen ihn die Soldaten, die ihn foltern. König ist der Christus, der eine Krone nicht aus Edelsteinen, sondern aus Dornen trägt. Wir sehen auf ihn und auf Pilatus und die johlende Menge - und dann wird klar: Die Worte des Hesekiel gelten nicht nur der bösen Welt da draußen. Die Fürsten, von denen er spricht, sie stecken in jedem von uns. Er hält auch uns den Spiegel vor. Wir hören, was Jesus seinen Jüngern sagt: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20,25-26). Königlich ist es, die Gier nach immer mehr zu überwinden. Königlich ist die Freiheit, eigene Grenzen einzugestehen. Königlich ist es, gerne Ja zu sagen zu dem Dienst, den jede an ihrem Platz leisten kann. Das ist das königliche Christsein, zu dem uns Gott ruft, durch Christus und in seinem Licht durch Hesekiels Rede.

Es heißt dann weiter: „Die Priester tun Gottes Geboten Gewalt an, sie machen keinen Unterschied zwischen heilig und unheilig“. – Christus, der wahre Priester, betet im Vaterunser: „Geheiligt werde dein Name.“ Und er macht Ernst damit. Riskiert Kopf und Kragen, als er die Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt. Vielleicht sind wir gar nicht so weit weg von jenen Priestern zu Hesekiels Zeit. Gibt es das noch, Heiliges in unserem Leben? Der Theologe Gerhard von Rad nannte das Heilige „den großen Fremdling in der Welt der Menschen“. Es tut uns gut, diesem Fremden Raum zu geben und vor ihm in die Knie zu gehen, zumindest innerlich. Der Respekt vor dem Heiligen, dem Unantastbaren, tut uns nicht nur emotional und auch körperlich gut. Er stellt Christus als den in die Mitte, der „der Welt Gott gebracht“ hat (Joseph Ratzinger). Der uns mit dieser göttlichen Kraft sagt: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16,33). Priesterlich ist es, sich von Christus trösten, stark machen zu lassen. Priesterlich sind wir Christen, wenn wir uns bewusst machen, was uns heilig ist, was unantastbar sein sollte.

Und schließlich sehen wir auf Christus den Propheten. Er ist, jedenfalls in unserer evangelischen Kirche, seit langem konkurrenzlos beliebt. Viele reklamieren mit Pathos das „prophetische Amt“ der Kirche. Hesekiels Diagnose kommt da wie gerufen: „Sie bedrücken die Armen und Elenden und tun den Fremdlingen Gewalt an gegen alles Recht.“ Die Situationen, wo sich das bestätigt, liegen ja auch heute quasi auf der Straße. Was liegt näher, als eine „politische Predigt“ zu halten, zumal am Buß- und Bettag, dem politischsten Feiertag im Kirchenjahr?! Anlass gäbe es genug. Aber Hesekiel selbst rät zur Vorsicht, wenn wir mit dem Naheliegenden liebäugeln. Er erinnert an die Propheten, die sagen „So spricht der Herr“, wo der Herr doch gar nicht geredet hat. Am erfolgreichsten, so schrieb Karl Barth, ist der trügerische, also der falsche Prophet, wenn er sich als „eifriger Schüler Jesu“ gibt. Er organisiert „Wahrheitsfronten“, „Wahrheitswochen“ und „Wahrheitsfeldzüge“. Heute sind solche Feldzüge zum Beispiel Aufmärsche, die beanspruchen, das „christliche Abendland“ gegen Angehörige anderer Religionen zu verteidigen.

Aber Christus, der wahre Prophet, ist kein Volkstribun, der die Leute zu Wahrheits-Demos aufruft. Er hat die Menschen mehrheitlich verstört, weil er sich nicht in eindeutige Schubladen sortieren ließ. Er fordert Verzicht auf Reichtum – und lässt sich von wohlhabenden Frauen unterstützen. Die Friedensstifter spricht er selig – und sagt von sich, nicht den Frieden, sondern das Schwert zu bringen. Christus, der wahre Prophet, lässt sich nicht auf einen glatten Nenner bringen wie eine mathematische Formel. Schon gar nicht lässt er sich vereinnahmen. In seiner Nachfolge darf sich auch die Kirche nicht instrumentalisieren lassen, weder von rechts noch von links, weder von oben noch von unten. Keine Nation, kein Volk, keine Partei, keine Bewegung darf sich, wie anno 1914 die Soldaten, ein „Gott mit uns!“ aufs Panier setzen. Wir sollen Salz der Erde sein. Wir sollen der Welt durchaus einen kritischen Spiegel vorhalten – aber dabei auch wissen, dass wir selbst Teil dieser Welt sind. Prophetisches Christsein erfordert Demut und Selbstkritik, Sachkenntnis und Diskursfähigkeit. Christus selbst und nur er ist die Wahrheit.

IV.

Zum Schluss noch einmal zurück zu Hesekiel. Auch er redet Tacheles ja nicht nur mit „denen da oben“. Ein populistischer Wutprophet ist er dann doch nicht. Denn Schuld ist für ihn nicht nur die der anderen. Auch die „breite Masse“ kriegt ihr Fett ab. „Und ich forderte von euch einen Mann, der eine Mauer errichten und sich in die Bresche stellen würde vor mir um des Landes willen, aber ich fand keinen.“ Gott schien geradezu darauf gewartet zu haben, dass wenigstens einer in Jerusalem sich seinem Zorn in den Weg stellt. Aber da war keiner. Alle haben versagt. Das ist gerade heute am Bußtag wichtig: In einem demokratischen Gemeinwesen darf es keine einseitigen Schuldzuweisungen geben, nach dem Motto: die einen sind die Sündenböcke, die anderen die Unschuldslämmer. Die Bibel hält immer wieder sehr nüchtern fest: Uns allen liegt ein gemeinschaftsgefährdender Egoismus im Blut, eine tiefsitzende Angst, zu kurz zu kommen.

„Aber ich fand keinen“. Das ist der desillusionierte Schlussakkord des Hesekiel. Aber das ist eben auch der Auftakt der Erlösung. Christus selbst, der Gottessohn, tritt in die Bresche. In ihm berühren sich Göttliches und Menschliches. Ja, das Böse, gegen das wir Mauern errichten sollen, ist vielfältig da in der Welt. Aber es ist immer zuerst ein Teil von uns. Der Widerstand dagegen beginnt mit unserer Umkehr. Und diese Umkehr wiederum beginnt mit der Dankbarkeit für Christus, der uns nicht auf unsere Schuld, auf das Böse in uns festlegt. Gleich feiern wir diese Dankbarkeit, wenn wir an seinem Tisch die Vergebung empfangen: Für dich gegeben für dich vergossen!

Die Zukunft, auf die wir hoffen, leuchtet uns vom Ostermorgen her. Mit Hesekiel, mit allen, die vor und nach ihm Gott groß machen wollten, können wir im Osterlicht Buße tun und erleichtert aufschauen zu Christus. Zu Christus, dem König, Priester und Propheten, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der uns vorausgegangen ist zu unserem Heil.

Amen.

 

Wo ist dein Bruder Abel?

Predigt am Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres      
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!
Diese Frage bleibt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Der Theologe Helmut Gollwitzer, der viel für den Dialog zwischen Juden und Christen getan hat, hat einmal gesagt, diese Frage werde uns Deutsche bis ins Jüngste Gericht begleiten. Die Stimme des jüdischen Blutes, das deutscher Rassenwahn millionenfach vergossen hat, wird nicht aufhören, von der Erde zum Himmel zu schreien. Man kann sich die Ohren davor verstopfen. Man kann sein Herz dagegen verhärten, und viele tun das ja auch, wie in diesen Wochen weltweit zu erleben ist. Aber ersticken können wir diese Stimme nicht. Nicht noch einmal. Und selbst wenn kein Mensch mehr danach fragen sollte, wird der Gott, zu dem das vergossene Blut von der Erde nach oben schreit, nicht aufhören zu fragen: Wo ist dein Bruder Abel? Was hast du getan?

I.

Kein anderer Mord, auch kein anderer Völkermord kann je den Völkermord relativieren, der von uns Deutschen an den Juden begangen wurde. Wir verharmlosen all die anderen grausamen Verbrechen – von den Türken an den Armeniern, was die Nazis als Vorbild nahmen, bis hin zu den Völkermorden in Ruanda oder heute, von der Welt wenig wahrgenommen, an den Uiguren in China –, wir verharmlosen diese Verbrechen nicht, wenn wir den Völkermord an den Juden in besondere Weise als Sünde, als deutsche Sünde benennen und eingestehen. Denn wie bei keinem anderen Volk wurden den Angehörigen dieses Volkes das elementarste aller Rechte bestritten und beiseite geräumt: das Recht zu leben. „Kollektivschuld“ ist kein passendes, eher ein falsches Wort, weil es die Verantwortung des Einzelnen verharmlost. Auch Worte wie „Scham“ oder „Schande“, wie wir Deutsche oft benutzt haben, um über das Unsagbare sprechen zu können, können nicht wirklich ausdrücken, warum wir Deutschen an diese Vergangenheit gebunden bleiben, auch wenn sie zeitlich immer weiter zurück liegt. Die Ausmaße, die Dimensionen der Gräuel von damals lassen sich auf kein „damals“ begrenzen. Auch das erleben wir verstört in diesen Wochen. Letztlich gibt es keine Kategorie, kein Wort für das Ausmaß der Sünde, die dem Tod gleichsam noch eine neue, eine deutsche Dimension des Schreckens hinzugefügt hat. Seither jedenfalls gilt, was Paul Celan gedichtet hat: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“

Vor drei Tagen war der 9. November. Vor 85 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, brannten nicht nur die Synagogen in Deutschland, wie auch hier die prächtige Semper-Synagoge gleich hier um die Ecke. Es brannten nicht nur jüdische Gemeindehäuser und Friedhofskapellen. Es wurden nicht nur Tausende von jüdischen Geschäften verwüstet. Es wurden in jener Nacht auch mehr als 30.000 Juden verhaftet und an unbekannten Ort verschleppt. Das war noch nicht der Beginn der sog. Shoa. Aber spätestens jetzt war weithin sichtbar, was das NS-Regime mit den Juden vorhatte. Spätestens seit jener Nacht, die dann jahrzehntelang unter dem verharmlosenden Namen „Reichskristallnacht“ in die Geschichte eingegangen ist, hätte jeder in Deutschland wissen können, was da die Stunde geschlagen hatte. Es war die Stunde, in der konkrete, unverwechselbare Menschen zum gespenstischen Abstraktum erniedrigt, in der „der Jude“ im bösesten Sinn des Wortes zum Sündenbock gemacht wurde. Von da an war nichts mehr unmöglich und undenkbar. „Wie man im Schlaf aufschrickt, das sagt genug“, notiert der damals sehr prominente Dichter Jochen Klepper in sein Tagebuch. (Vier Jahre später ging er mit seiner jüdischen Frau und deren Tochter, deren bevorstehende Deportation er nicht mehr hatte verhindern können, in den gemeinsamen Freitod.) Von nun an spätestens war nahezu jeder ein Augenzeuge. Von nun an wuchs die Schuld auch dadurch, dass man nicht davon zu reden wagte.

Man wusste – und schwieg. Manche waren sicher bedrückt, entsetzt, auch beschämt – und schwiegen doch. Nur wenige wagten zu helfen, so gut es irgendwie ging. Und noch weniger wagten, für die Juden zu schreien. Schon wenige Wochen später proklamierte Hitler ganz ungeniert und öffentlich „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ als sein politisches Ziel. Offene Auflehnung dagegen hat es nirgendwo gegeben. Man schwieg nicht nur, man glaubte auch, schweigen zu können, als jene Maschinerie des industriellen Massentötens mit systematischer Effizienz in Gang gesetzt wurde, mit der der Antisemitismus der Nazis seinem Ziel so schrecklich nah kommen sollte. Man schwieg, als unabweisbar konkret die Frage da war: Wo ist dein Bruder Abel? Wo ist der jüdische Hausarzt, dem man bisher die eigenen Kinder vorbehaltlos anvertraut hatte? Wo ist der jüdische Kaufmann um die Ecke, bei dem man gestern noch gerne seine Lebensmittel besorgt hatte? Wo ist die jüdische Schauspielerin, der man lange begeistert im Theater zugejubelt hatte? „Wo ist dein Bruder Abel?“: Konkreter, brennender konnte diese Frage in Deutschland nicht sein.

II.

Und doch gab es einen Ort, wo diese Frage noch brennender, wo sie unabweisbar hätte sein müssen. Nämlich die Kirche, also die Gemeinschaft derer, die den Juden Jesus von Nazareth als Gottes Sohn und als ihren Grund und Herrn bekennt. Hier hätte unter keinen Umständen geschwiegen werden dürfen, als die Juden – der erstgeborene Bruder, wie Paulus sagt – zum Sündenbock wurden in Deutschland. Als die Synagogen in Flammen aufgingen, hätte diese Frage in den Herzen der Christen buchstäblich brennen müssen: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Was hast du getan?

Die ehrliche und deprimierende Antwort ist: Nichts haben die Kirchen getan. Oder so gut wie nichts. Mutige Taten Einzelner wie die Aktionen von Propst Heinrich Grüber oder Dietrich Bonhoeffers, der einsam den Weg in den politischen Widerstand ging, mutige Worte wie die Buß-Predigten von Helmut Gollwitzer in Dahlem blieben einsame Ausnahmen. Es war opportun zu schweigen. Mochte es auch nicht wenigen innerlich gegraut haben vor dem, was man sehen konnte, man sagte sich doch: Was geht es uns an? Sieh weg, es ist nicht unser Schicksal! Die Ehrlichkeit gebietet es, hier in dieser berühmten Kirche nicht zu verschweigen, dass das auch hier nicht anders war. Der eine Frauenkirchenpfarrer, Artur Schuknecht hieß er, war Vertreter der „Deutschen Christen“, die das christliche Bekenntnis kompatibel zum braunen Zeitgeist gemacht hat-ten. Der andere, Hugo Hahn – nach dem Krieg sächsischer Landesbischof – war Chef der Bekennende Kirche in Sachsen, die sich dem entgegenstellte. Darüber war die Gemeinde an der Frauenkirche tief gespalten. Aber auch Hugo Hahn, für seinen Bekennermut von vielen verehrt, konzentrierte sich ganz auf den innerkirchlichen Widerstand gegen die „Deutschen Christen“. Die Juden und was ihnen geschah, waren kein Thema. Man wollte auch in der verdienstvollen Bekennenden Kirche nicht wahrhaben, was ihr theologisches Haupt, Karl Barth, drei Wochen nach jener Nacht erklärte: „Wie ist es möglich, dass uns Christen nicht die Ohren gellen? Was wären wir denn ohne Israel? Wer die Juden verfolgt, der verfolgt den, der für die Sünden der Juden und erst damit auch für unsere Sünden gestorben ist. Wer ein Feind der Juden ist, der gibt sich als Feind Jesu Christi zu erkennen. Antisemitismus ist Sünde gegen den Heiligen Geist.“

Das war gute, klare Theologie. Aber die Kirche blieb unklar. Sie hatte selber viel zu lange, teils offen, teils unterschwellig, Antisemitismus transportiert. Während der Kreuzzüge hatte sie die ersten Judenpogrome auf deutschen Boden ins Werk gesetzt. Und später aus der Feder des „alten Luther“ schlimme antisemitische Ratschläge empfangen. Das prägte über Jahrhunderte. Der katholische Dichter Reinhold Schneider schrieb: „Am Tage des Synagogensturmes hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, dass das nicht geschah.“ – Seither tragen auch wir Christen das Kainszeichen. Die Frage „Wo ist dein Bruder Abel?“, wie gesagt, sie bleibt. Sie ist so wenig auszulöschen wie es damals nicht gelungen ist, die Juden auszulöschen. Manchmal denke ich: Wenn es vielleicht doch so etwas wie einen Gottesbeweis gibt, dann das Wunder, dass nur drei Jahre nach der Shoa die Juden nach 2.000 Jahren der Diaspora, der Zerstreuung über die ganze Welt und der Erfahrung, überall unerwünscht und verachtet zu sein, ihren eigenen Staat bekommen haben. Am einzigen Ort auf dieser Welt, wo sie überhaupt leben können, weil man sie dort leben lässt.

III.

Aber stimmt das denn? Lässt man jüdische Menschen in Eretz Israel, dem Land Israel leben? Was wir seit dem 7. Oktober erleben, aus der Ferne mit Blick auf Israel, aus der Nähe angesichts der Explosion an wüstem Antisemitismus auch hier zulande, ausgerechnet – es hat uns scheinbar unerwartet getroffen, und hätte doch keine Überraschung sein dürfen. Dem Staat Israel, der ja nicht durch Landraub entstanden ist, sondern durch einen rechtmäßigen Beschluss der höchsten völkerrechtlichen Instanz, der Vereinten Nationen, ist ja seit dem Tag seiner Gründung damit konfrontiert, dass seine Nachbarn ihm das Recht absprechen, da zu sein, zu existieren. „Die Juden ins Meer werfen“: diese schreckliche Losung ist nur drei Jahre nach der Shoa entstanden, sie knüpft bewusst an die Shoa an und ist bis heute stehende Rede bei vielen nicht nur arabischen Menschen. Und viel zu viele bringen, wenn sie nach Europa migrieren, diesen abgrundtiefen Judenhass mit. Wie ansteckend dieses böse Virus ist, erleben wir nicht erst jetzt. Es ist gespenstisch, wie an dieser Stelle Milieus einträchtig zueinander finden, die ideologisch eigentlich durch Welten getrennt sind. Rechtspopulisten, Linke, und viele Migranten. Wenn es gegen Juden geht, gibt es mit einem Mal eine breite Schnittmenge. Und in zahllosen Internetportalen wird gegen die sog. „Systemparteien“, gegen die Regierung als „Marionette der zionistischen USA“ vom Leder gezogen. Regierungen mancher EU-Länder wiegeln ihre Völker auf und gewinnen Wahlen mit Kampagnen gegen einen jüdischen Mäzen, der Bildungs- und Gesundheitsprojekte finanziert. Das ist bedrückend.

Aber was tun? Was immer wir sagen, unsere Worte können und dürfen nichts anderes als die Frage unter uns wach halten: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Wo ist das jüdische Mädchen, das seit Wochen nicht mehr in die Kita kommt? Was ist mit ihm, mit seiner Familie? Was wir auf jeden Fall brauchen, ist historisches Wissen, ist sorgfältiger Unterricht über die deutsche Vergangenheit: Wissen, das Fragen weckt und wachhält, statt sie überflüssig zu machen. Auf „Auschwitz“ gibt es nämlich keine Antwort. Auch keine theologische. „Eine Antwort versuchen heißt höchste Blasphemie begehen“ (Abraham Heschel). Diese Wunde am Leib der Menschheit bleibt offen.

IV.

Aber wer könnte denn mit der Frage „Wo ist dein Bruder Abel?“ auf Dauer leben? Wer hält das aus? Man kann diese Frage so stellen, dass das Leben damit unerträglich, dass kein freier Schritt nach vorne mehr möglich wird. Die Zumutung, man müsse sein Leben lang im Büßerhemd unterwegs sein, das hält wirklich kein Mensch aus, und auch kein Volk. Auch das wäre im Grund eine Verharmlosung der Frage nach Abel, wenn sie einfach bloß eine anklagende Frage aus der Vergangenheit für die Vergangenheit bliebe. Wie also können wir die Frage nach dem ermordeten Bruder so stellen, dass wir mit dieser Frage nach Millionen Toten leben können?

Für den christlichen Glauben werden Sünde und Schuld erst da, wo sie vergeben werden, in ihrer ganzen Tiefe erkannt und bejahbar. Erst dann können wir uns mit ihnen so auseinandersetzen, dass es jetzt für uns nützlich ist. Dann gewinnen die Millionen Toten noch einmal Kraft, indem sie uns diesmal, bevor es zu spät ist, fragen lassen: Wo ist mein Bruder, wo ist meine Schwester? Wo und wer ist heute der andere, der einfach, weil er anders ist, Verfolgung droht? Sehen wir ihn? Und natürlich: Wo sind unsere jüdischen Schwestern und Brüder, und was ängstigt sie? Und schließlich: Wo drohen wir, als Deutsche, und vielleicht auch als Christen, heute bequem zu schweigen?

Wer die Frage nach Abel so hört, liebe Gemeinde, der wird mit ihr leben können. Soll unser Erinnern an jene Nacht vor 85 Jahren einen guten Sinn haben, dann den, dass sich die uns von Gott gestellte Frage „Wo ist dein Bruder, was hast du getan“ wandelt in die heilsame und höchst aktuelle Frage, die sich nun jeder selber stellt: Wo ist mein Bruder, was soll ich tun? – „Seht das Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh 1,29): so weist der Täufer auf Christus hin. In ihm, Jesus Christus, erkennen wir den Wolf, den Kain in uns. Aber erst recht erkennen wir – uns in Christus. In ihm können wir ungeniert aus unserer Tiefe und Ohnmacht nach Gott rufen, der sich über Abel und Kain erbarmt. Sein Evangelium, schreibt Luther, „ist ein Wort für Menschen mit dem Kainszeichen“. Es ist ein Wort für uns.

Amen.

 

„Dir sind deine Sünden vergeben!“

Predigt am Reformationstag
gehalten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke

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Verlesung von Markus 2,1-12

Nach etlichen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.

Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.

Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen.

Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.

Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:

Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?

Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?

Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin?

Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:

Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!

Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.

 

Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen

„Ich bin zum ersten Mal in der Kirche.“ Sichtlich bewegt steht der Mann nach dem Mittagsgebet hier in der Frauenkirche vor mir. „Zum ersten Mal in dieser Kirche?“, frage ich, weil ich das oft von Gästen höre. Doch als ich sein Zögern bemerke, schiebe ich nach: „Zum ersten Mal in der oder in einer Kirche ... seit wie vielen Jahren?“ – „Zum ersten Mal seit meinen 63 Jahren als alter DDR-Atheist. Und was ich hier gerade höre und erlebe, das beschäftigt mich sehr.“

Für mich war diese Begegnung vor einigen Wochen ein heiliger Moment. Sie hat mich tief berührt und lässt mich dankbar sein dafür, dass dieser Ort Frauenkirche das Eintreten leicht macht, jedenfalls leichter als manch andere Kirchen. Dass dieser Ort ins Reden bringt, dass er ins Wort bringt, was, wie bei diesem Besucher, jahrzehntelang ungelebt und ungesagt blieb.

Heiliger Moment – heiliger Ort? Rumpelt es jetzt in Wittenberg, weil sich Martin Luther wegen der Bezeichnung „heiliger Ort“ gerade im Grabe umdreht?

***

Langsam legt sich die Staubwolke. Ein paar Leute husten, andere klopfen sich Lehmbröckchen und Stroh von den Kleidern, noch viel zu überrascht von der Unterbrechung, von dem Einbruch und Durchbruch von oben. Jesus und die, die sich dicht um ihn gedrängt hatten, blinzeln in die Sonne, die durchs geöffnete Dach hereinstrahlt. Oben herrscht noch immer viel Bewegung, bevor sich der Raum unten noch einmal verfinstert. Etwas wird durchs Dach herabgelassen, jemand – ein Mensch auf einer instabilen Liege. Bewegungslos, nur sein Blick irrt unsicher umher. Die erschrocken und empört Zurückgewichenen – ebenfalls in ihren Bewegungen erstarrt...

Uns wird eine Geschichte erzählt von Tod und Leben, von Gefangensein und Befreitwerden, von Hinabsenken wie in ein Grab und Aufgerichtetwerden. Und –- eine Geschichte von der Kraft des Glaubens. Glaube, der trägt – im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich in Gestalt der vier Menschen, die ihren gelähmten Freund zu Jesus tragen. Glaube, der buchstäblich die Möglichkeit hochhält, dass diesem Freund durch Jesus Heil und Heilung geschieht. Glaube, der Raum greift. Die vier Träger werden zu Hoffnungsträgern, oder anders gesagt: zu Pfeilern, die einen Raum für einen Neuanfang stützen. Eine richtige Auferstehungsgeschichte!

Jesus sieht den Glauben der vier, der sich so phantasiereich zeigt und dem Platz gemacht wird inmitten der erstarrten Menge. Völlig unvermittelt sagt Jesus zum Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ In diesem Moment erzählt die Geschichte nicht mehr allein von der Kraft des Glaubens, sondern sie zeichnet ein Bild von – ja, von Kirche: Kirche als Ort, als Raum, da Menschen auf Gottes Wort hin neu anfangen können. Oft wird heutzutage gefragt: Braucht der Mensch die Kirche eigentlich noch? Braucht er die vielen kirchlichen Immobilien, die meist zu groß, zu kalt, zu teuer sind? – Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten legt eine Spur... Zu allen Zeiten hat es die Sehnsucht nach Heilsein und nach Gottesbegegnung gegeben. Der Gelähmte ist keine Ausnahme.

In der Nähe Gottes ist jede und jeder willkommen. Eine bunte Menschenmenge versammelt sich bei Jesus. Raum hat sich aufgetan, frei von Wertungen, Klischees und Vorurteilen. Dort darfst du sein, so wie du bist – du musst dich nicht selbst rechtfertigen, dich nicht beweisen. Diese Einsicht hat auch Martin Luther grundlegend verändert. Bis heute ist allein das schon wunderbar heilsam in Zeiten der vorschnellen Urteile, der Sternchensammlerei, Daumen-rauf- und Daumen-runter-Bewertungen im Internet, des Sich-gut- oder -schlecht-Verkaufens auf dem Arbeitsmarkt oder in Singlebörsen. Aber nicht allein darin ist der Raum der Gottesbegegnung anders als andere Räume, die wir kennen.

„Und er, Jesus, sagte ihnen das Wort“. Kein Geplapper, kein Geplauder – nein, ganz konkret: Das Wort, die eine Botschaft von Gottes barmherzigem Tun und seiner Liebe zu jedem seiner Geschöpfe. Gott sprach: Es werde! – Und es wurde ... Und siehe, es war sehr gut! Gottes Wort ist schöpferische Kraft. Dort, wo es vernehmbar wird, entsteht unweigerlich Neues – Himmel und Erde, heilige Sphären, neue Sympathien, neues Leben.

Darin wirkt es auch fremd, anstößig gar oder unzeitgemäß: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ – Sünde leitet sich sprachlich her von „Sund“. „Sund“ beschreibt einen großen Graben, der Festland von Festland trennt. Im Blick auf den Glauben ist der Graben zwischen Gott und Mensch gemeint - vom Menschen gemacht, indem er sich abwendet von Gott. Wie heilsam ist es doch, wenn jemand sagt: Ich verzeihe dir, ich vergebe dir deinen Fehler! Chance zum Neuanfang! Das geschieht durch das Wort Jesu. „Dir sind deine Sünden vergeben“. Damit weist Jesus auf den, der ihn gesandt hat, auf seinen himmlischen Vater, in dessen Vollmacht er redet und handelt.

Ja, gerade das soll in den Kirchen auch sein: Raum des vollmächtigen Redens und Handelns, Raum des Vergebens, der Ent-Schuldung, Ent-Lastung. Ein Raum, in dem wir nicht eloquent sein müssen – ich erinnere: Weder die vier Träger noch der Gelähmte, ja, nicht mal die Schriftgelehrten sprechen. Ein Raum, in dem wir einfach nur da sein können und uns Vergebung zusprechen lassen, der uns aufnimmt, in den wir uns hinabsenken lassen können, um wieder aufgerichtet zu werden. Nahezu täglich oder in 63 Lebensjahren zum ersten Mal.

Gestärkt und aufrecht geht der Mann davon, dreht sich nicht mal mehr um. Das Bett nimmt er mit. Vielleicht, weil er sich daheim etwas von dem Heils-Raum, dem heiligen Raum bewahren will, der sich ihm eröffnet hat. Auch in die Menge kommt Bewegung. Sie macht Platz. Die Zeugen sind erstaunt, verwirrt, hin- und hergerissen zwischen Überraschung und Gotteslob. Ich glaube, dass sich all das, was in der Wunder-Erzählung geschehen ist, auch in unseren Räumen der Gottesbegegnung, in unseren Kirchengebäuden ereignen kann. Es ist ein Schatz, dass wir diese definierten Räume haben, die für Besucherinnen und Besucher zu heiligen Räumen werden können. Freilich, wenn wir uns Kirche so anschauen, stellen wir ernüchtert fest: Vieles gleicht eher einer Zukunftsvision, einem Traum denn der Realität.

Und trotzdem, – oder vielmehr gerade deshalb: Als Kirche schulden wir einer traum-losen Gesellschaft solche Träume. Träume, die wir versuchen, wahr werden zu lassen. Alle Voraussetzungen dafür wurden uns geschenkt – damals in Kapernaum, dann in Wittenberg, Zürich und Genf, heute in jedem Haus, da Gott uns begegnet: Dir sind deine Sünden vergeben. Steh auf!

Amen.

 

„Seht, wie so mancher Ort hochtröstlich ist zu nennen“

Impuls zur Geistlichen Sonntagsmusik
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Zum 18. Mal inzwischen feiern wir heute unser Kirchweihfest, den Weihetag der wiederaufgebauten Frauenkirche am 30. Oktober 2005. Es war ja zunächst alles andere als selbstverständlich, dass dieses berühmte Gotteshaus wieder im alten Glanz aus seinem jahrzehntelangen Trümmerberg erstehen würde. Die Ruine der Frauenkirche war ja auf ihre ganz andere, eigene Weise auch sehr, sehr eindrucksvoll. Viele hätten sie damals, vor über 30 Jahren, als der sog. „Ruf aus Dresden“ zum Wiederaufbau in die Welt ging, gerne als Ruine bewahrt – als stummes, aber starkes Mahnmal gegen Krieg und Gewalt. Und überhaupt: Wozu brauchen wir in einem Land, wo der Atheismus sich so breit durchgesetzt hatte und nicht mal mehr jeder fünfte einer Kirche angehört, so einen Prachtdom? So haben damals in Dresden und in Deutschland anfangs viele gefragt.

Und überhaupt, wozu brauchen wir eigentlich Kirchen? Ich frage das jetzt einmal ganz losgelöst von den damaligen Debatten um den Wiederaufbau der Frauenkirche. „Ich glaube an meinen Herrgott, aber dazu muss ich nicht in die Kirche rennen; ich erfahre ihn mehr am Sonntag in der Sächsischen Schweiz“ – kriege ich manchmal zu hören. Protestanten sind eher coole, rationale Leute, religiös in der gemäßigten Zone beheimatet. Wir kennen keine sog. Sonntagspflicht, und die Kirche ist für uns kein Heilsmittler, keine sakramentale, sondern eher eine funktionale Größe. So gesehen ist dieser pragmatische Spruch von wegen nicht jeden Sonntag in die Kirche rennen durchaus protestantisch. Ein Theologe hat einmal den Satz geprägt: „Kirchliche Sitte im Protestantismus ist es, nicht zur Kirche zu gehen.“ Und zugegeben, schon Luther hat gesagt: „Wo Gottes Wort klingt, sei es im Wald oder im Wasser, da ist ein Bethel, ein Gotteshaus“.

Ja, Gott begegnet uns nicht nur in den Kirchen. Aber im Gotteshaus will er uns begegnen, dort dürfen wir ihn ganz gewiss erwarten: da, wo wir sein Wort hören, mit ihm im Gebet sprechen, seine Geheimnisse in Liedern feiern können. Natürlich: Er, den alle Himmel nicht fassen, braucht keine festen Orte und festen Zeiten. Aber wir, gehetzt, zerrissen wie wir oft sind, wir brauchen sie. Es ist ein Segen, dass wir diese festen, schönen Orte und festen Zeiten haben. Ohne sie hätten wir Gott längst verloren. Serva ordinem et ordo te servabit – Halte die Ordnung ein, und die Ordnung wird dich halten und tragen: heißt es geistlich und psychologisch sehr weise in der alten Regel der Benediktiner. Ein Dichter hat einmal gesagt: „Als der Mensch den ersten Altar baute, wurde er Mensch. Wenn er den letzten abreißt, wird er wieder zum Tier“. Gott ist überall da, sonst wäre er nicht Gott. Aber er ist nicht überall für uns offenbar und erfahrbar. Im Gegenteil, Gott kann uns zusetzen und quälen, wenn er uns rätselhaft und unheimlich bleibt. Wir ertragen den Gott nicht, der für uns dunkel bleibt, in Katastrophen, Schicksalsschlägen verborgen, weil wir nicht wissen, ob er für uns oder gegen uns ist.

Gott weiß das. Und deshalb weiß er auch, dass uns nur geholfen ist, indem er sich uns an bestimmten Orten zu erkennen gibt und sich dort finden lässt. Der freie, himmlische Gott bindet und „erdet“ sich, vom Bau des Tempels über die Sendung Jesu in diese Welt bis zum Ausgießen des Geistes und eben den Bau von erhabenen Domen und winzigen Dorfkirchen. Und dann tun wir gut daran, uns eben dort an ihn zu wenden. In einem alten Adventschoral heißt es: „Seht, wie so mancher Ort / hochtröstlich ist zu nennen, / da wir ihn finden können / in Nachtmahl, Tauf‘ und Wort“. Sicherlich gibt es manche unter uns, für die ihre Heimatkirche zu so einem hochtröstlichen Ort geworden ist.

Last but not least: dass ich wieder aufatmen kann, weil mir Schuld vergeben wird, dass ich Verbindung zu anderen finde, die auch zu glauben versuchen: das habe ich im Elbsandsteingebirge so noch nicht erfahren. Dazu brauche ich den Gottesdienst, deshalb bleibt er unverzichtbar.

Amen.

 

„…dass du weiter wächst“          

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis

gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Der von der Liturgie für dieses Kirchweihfest vorgesehene Predigttext ist ganz kurz, nur drei Verse lang. Ein kleines Gleichnis, das einen großen Horizont aufreißt. Wenn Jesus ein Gleichnis erzählt, nimmt er immer uns vertraute Alltagserfahrungen als Material, um uns damit eine neue, unbekannte Erfahrung zuzuspielen: eine Erfahrung mit Gott! Gerade an dem, was wir aus dem ff kennen, sollen wir neu und überraschend entdecken, was es mit diesem Gott auf sich hat. Wie des Öfteren in seinen Gleichnissen verwendet Jesus hier ein Bild aus der agrarischen Kultur seiner Zeit. Er knüpft im Markusevangelium direkt an das vorangehende Gleichnis vom Sämann und der selbstwachsenden Saat an und führt es gewissermaßen weiter. Wir hören auf Jesu Worte aus dem 4. Kapitel des Markusevangeliums.

I.

Das ist das Bild: Ein Senfkorn, winzig, grade mal ein Millimeter breit, hat das Potential, in nur einem halben Jahr sich zu einer Staude von über zwei Meter Höhe auszuwachsen, aus der der schwarze Senf, die Brassica Nigra gewonnen wird. Sein Anbau war im antiken Palästina weit verbreitet. Vor allem rund um den See Genezareth, also im Kernland Jesu. Man hat aus dem schwarzen Senf Öl gewonnen und sogar Medikamente gemacht. Aus dem winzigen Samen wächst rasend schnell ein ansehnlicher Baum, in dem sogar Vögel nisten. Das ist zum Staunen.

Nun ist das Staunen nach Aristoteles nicht nur der Beginn der Philosophie (und, nur nebenbei, hoffentlich auch der Theologie!), sondern es ist auch ein fruchtbarer Nährboden für die Dankbarkeit. Wo ich etwas entdecke, das mein Erklärungsvermögen übersteigt und darüber ins Staunen gerate, da verströmt sich Dank in mir. Das geht uns auf einem Gebirgsgipfel beim Rundblick nicht anders als beim Aufwachsen unserer Kinder oder Enkel. Das ist so beim Staunen über menschlichen Erfindungsgeist und beim Staunen über Zeiten im Leben, wo es hätte böse werden können, wir aber bewahrt geblieben sind. Und es geht vielen Dresdnern immer noch so, wenn sie auf die Kuppel der Frauenkirche schauen, die 60 Jahre lang verschwunden und womit dem weltberühmten Stadtbild gleichsam das Herz herausgerissen war. „Es bleibt ein Wunder“, höre ich nach wie vor Menschen sagen, wenn sie über die wiedererrichtete Frauenkirche sprechen, deren Kirchenweihfest wir heute zum 18. Mal feiern.

Aber mit dem Bild vom Senfkorn will Jesus nicht nur zum Staunen über die Grammatik der Natur und zum Danken gegen Gott als ihren Schöpfer verlocken. Jesus nimmt dieses Bild vor allem als ein Hoffnungsgleichnis. Er will, angesichts der kümmerlichen Anfänge seines Wirkens, die Hoffnung stark machen und wach halten auf das, was er predigt: Gottes kommendes Reich. Obwohl davon jetzt erstmal noch so gut wie nichts vor Augen ist. Jesus will die Menschen Staunen machen, indem er ihnen nahebringt: Gott lässt aus allerkleinsten, kaum sicht- und messbaren Anfängen Großes erwachsen! Eigentlich eine Binse, denn alles Große hat ja mal ganz klein angefangen. Wahrscheinlich hat das ganze Universum im Anfang dessen, was wir Zeit nennen, auf einer Nadelspitze Platz gehabt. Bei Gott indes legen wir da irgendwie andere Maßstäbe an: im ganz Kleinen, Unscheinbaren können wir uns ihn schwer vorstellen. Aber wie in der Person Jesu unterwirft sich Gott auch in dessen Gleichnissen den irdischen Bedingungen: ganz klein, unscheinbar nimmt sein Reich seinen Anfang. Hier im Niemandsland rund um den See, beginnt in der Westentasche, was einmal die Welt umstülpen wird. Seht doch, will Jesus hier sagen: Was jetzt so klein beginnt, mit ein paar Menschen ohne Rang und Klang, die mir nachfolgen, mit meiner Predigt, die jetzt nur wenige anzieht und von vielen nicht verstanden wird, in all dem steckt schon der Keim von etwas Großem. Schaut genau hin: Was ich aussähe, wird noch die Welt verändern! So ist Jesu Senfkorngleichnis ein Staun-, Dank- und Hoffnungsgleichnis. Es reißt einen großartigen Horizont der Hoffnung auf, der Hoffnung auf ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit für alle Welt.

II.

Eben diese Hoffnung war damals, vor über 33 Jahren, als der „Ruf aus Dresden“ laut wurde, eine hochfliegende Perspektive, die irgendwie in der Luft lag. „Das Ende der Geschichte“: Der Titel des damals viel gelesenen Buches eines amerikanischen Historikers war Programm. Es spiegelte das Zeitgefühl der frühen 1990er Jahre. Nach der Zeitenwende 1989 schien es vielen, als breche mit dem Ende des „Kalten Krieges“ ein noch nie dagewesenes Zeitalter von Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand an. Längst wissen wir es besser und wundern uns über den euphorischen Utopismus damals. Der sog. Westen, und wofür er steht – Liberalismus, Demokratie, Rechtsstaat, Gleichberechtigung – ist unter Beschuss wie noch nie. Nicht nur buchstäblich von außen, durch Putins Raketen. Auch von innen, wie wohl noch nie seit 1945.

Aber das alles erschien damals unvorstellbar. Es war im Februar 1990, noch in der Euphorie von Wendeherbst und Mauerfall, wohl einfach das Momentum, der Kairos da, mit dem „Ruf aus Dresden“ eine Vision mit Leben zu füllen, die ja nie ganz erstorben war, die in den Herzen nicht weniger Dresdner auch die 40 Jahre DDR überdauert hatte. Es war eine „Zeit zwischen den Zeiten“: die Revolution, die unblutig ein diktatorisches Regime abgeräumt hatte; in den Köpfen mancher gerade noch die Hoffnungen auf eine andere, bessere DDR; zugleich standen die ersten freien Wahlen bevor, aber die Wiedervereinigung schien doch noch weit entfernt. Wenn nicht jetzt, wann dann? – mögen sich die 22 Männer (es waren nur solche!) gedacht haben, die damals zum 13. Februar ihren „Ruf aus Dresden“ raus in die Welt schickten. Da war, im Bild des Gleichnisses gesprochen, die Zeit dem Glauben günstig, dass das Senfkorn jenes Stück Papiers sich zum großen Baum der wiederaufgebauten größten protestantischen Barockkirche Europas auswachsen würde.

III.

Aber das ist nur die eine Seite. Es wurden dann ja, bald nach der Wiedervereinigung, noch andere, düsterere Zeitzeichen sichtbar. Die wurden von vielen so gedeutet, dass sie einen deutlichen Kontrapunkt zum Jahrhundertprojekt des Wiederaufbaus darstellten. Umstellung im Crash-Tempo auf ein völlig neues Wirtschaftssystem, Treuhand, Massenarbeitslosigkeit. Das Aufkommen des Rechtsradikalismus mit der Gewalt gegen Ausländer. Der Balkan-Krieg mit den vielen von dort Geflüchteten. Viele in der Kirche, aber nicht nur dort, empfanden ein Unbehagen dem Wiederaufbauprojekt gegenüber. Steht uns das an, in diesen Zeiten, wo den Menschen in Ostdeutschland so viel „Blut, Schweiß und Tränen“ abverlangt werden, als evangelische Kirche mit barocker Pracht verbunden zu werden? Wird dadurch nicht verdunkelt, was doch Kern und Stern des Protestantischen ist: Einfachheit, Bescheidenheit, Knappheit, Solidarität mit den Schwachen? Geben Blattgold, Gloriole und Barockputten eine stimmige Kulisse dazu ab? Manche sprachen sehr kritisch von „Verherrlichung des Dresdner Stadtbildes“, von „Luxuspalast“ gar. Das waren unangebrachte Zuspitzungen, die aber die Zerrissenheit der damaligen Zeit spiegeln. Ernsthafter, und sehr ernst zu nehmen war die damalige Frage: Wäre der Erhalt der Ruine nicht die eindringlichere Botschaft gewesen, näher dran auch an dem, wofür die Evangelische Kirche gerade in der DDR friedensethisch stand und was dann zu der wunderbaren Rolle geführt hat, die sie im Wendeherbst 1989 spielte? Sind wir als Protestanten nicht Kirche des Kreuzes, einer theologia crucis verpflichtet und weniger der theologia gloriae, deren steinerne Zeugin die Frauenkirche war?

Es muss eine durchaus dramatische Debatte gewesen sein, die in der sächsischen Landessynode im März 1991 in den mit knapper Mehrheit getroffenen Beschluss mündete, dem Wiederaufbau der Frauenkirche zuzustimmen. Eine mitentscheidende Rolle, dass es dann doch zu dieser Entscheidung kam, spielte sicherlich der damalige Bischof, der noch heute unvergessene Johannes Hempel. Seit 1972 im Amt und geprägt durch die Repressionserfahrungen in der DDR, war er selbst skeptisch gegenüber dem Wiederaufbau gewesen. Aber dann gab er vor der Synode ein Votum ab, das in seiner Aufrichtigkeit immer noch beeindruckend ist. Ich zitiere daraus: „Da das Geld weder für den Wiederaufbau noch für die Erhaltung von der Kirche aufgebracht werden muss; da das Geld für andere Zwecke weder gewinnbar noch verwendbar wäre; da die Baumaßnahmen sich arbeitsplatzmäßig für Dresden jahrzehntelang günstig auswirken werden; da die Frauenkirche – international anerkannt – als klassisches Bauwerk evangelischen und lutherischen Gemeindeverständnisses anzusehen ist und ausdrücklich aus Gotteshaus wiederhergestellt werden soll; da Wunden-Heilen ebenso biblisch ist wie Wunden-Offenhalten; da nach meiner subjektiven Auswertung knapp 2/3 dafür, reichlich 1/3 dagegen sind, vermag ich meine früher geäußerten Einwände nicht mehr aufrechtzuerhalten.“ Das brachte wohl den Meinungsswing bei manchen, die bis dahin kritisch gesinnt waren. Vielleicht gerade weil diese bischöflichen Worte so völlig unpathetisch waren, ohne Dresden-Gefühligkeit, ohne triumphalistischen Sound, sondern lutherisch nüchtern und knapp. Vorbildlich. Und mit einem einfachen, und einfach wahren biblischen Hinweis: Wunden Schließen ist mindestens so wichtig wie Wunden offen halten.

IV.

So wurde aus dem am 13. Februar 1990 ausgesäten Senfkorn knapp 16 Jahre später der Baum der wiedererrichteten Frauenkirche. Es ist ja eigentlich gegen alle Erfahrung, dass etwas so total Zerstörtes wieder heil werden kann. Dass das möglich wurden durch eine so große gemeinsame Initiative derer, die einmal erbitterte Feinde waren, das muss sich noch aus anderen Quellen gespeist haben als dem Wunsch, Dresden den „Canaletto-Blick“ zurückzugeben. Und seither, seit 18 Jahren, versuchen alle die, die die stumme sandsteinerne Predigt dieses Hauses mit Worten, Tönen und Bildern füllen, die vielen, die hierher kommen, spüren zu lassen: diese Kirche, bei aller barocken Pracht, sie ist zuerst und zuletzt ein Trost- und Hoffnungsort. Nach sechs Jahrzehnten, in denen der Mensch vergöttert wurde, sagt sie uns: Nein, du musst dir nicht selbst das Maß aller Dinge sein! Du bist heilsam durch einen Anderen, Größeren begrenzt, und das tut dir gut. Ein Teil in der großen Wachstumsgeschichte von Gottes Reich. Ein Senfkorn-Ort.

So ist Gottes Zukunft unter uns immer schon da. Leise, unspektakulär versteckt in kleinen Senfkörnern. Sie erinnern uns daran: es sind die kleinen Zeichen, aus denen unser Glaube die Kraft schöpft, das Leben in dieser schönen, schrecklichen Welt zu bestehen. Eine Kastanie, die Sie aufheben und sich in die Tasche stecken, oder der bronzene Engel, den ich dann und wann einem Menschen mitgebe, der einen schwierigen Schritt vor sich hat. Oder ganz andere Senfkorn-Erinnerungen. Der heutige Kirchweih-Festtag macht uns wieder dankbar bewusst: Gott kann, wo wir nur noch Trümmer und Scherben sehen, auch daraus etwas Neues, Gutes machen. Und ein Bauwerk, dessen Geschichte die Größe, aber auch die Schrecken erzählt, zu denen Menschen fähig sind, erzählt uns eine Hoffnungsgeschichte: Aus Trümmern erwächst Wiederaufbau. Hass weicht der Versöhnung. Vergänglichkeit wird durch Schönheit ergänzt. So ist die Schönheit dieser Kirche auch ein Gleichnis für Gottes neue Welt, die keine Tränen mehr kennt.

In meiner Jugend wurde in vielen Gemeinden gerne das Lied vom „Senfkorn Hoffnung“ gesungen. Das tun wir jetzt hier nicht, weil es für eine Orgelbegleitung nicht so geeignet ist. Aber sein Textnimmt die Botschaft des Gleichnisses auf, und dieses Lied will uns anstecken, zur Dankbarkeit für die bisherigen Jahre gelebter Hoffnung in dieser Kirche.

Kleines Senfkorn Hoffnung, mir umsonst geschenkt,

werde ich dich pflanzen, dass du weiter wächst,

dass du wirst zum Baume, der uns Schatten wirft,

Früchte trägt für alle, alle, die in Ängsten sind?

Möge Gott aus dem kleinen Senfkorn Hoffnung auch an diesem Ort Früchte wachsen lassen für alle, alle.

Amen.

Das Verbindliche an der Freiheit          

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

haben Sie mal den Namen Ernie Chambers gehört? Der ist ein inzwischen hochbetagter amerikanischer Politiker. Er war über Jahrzehnte parteiloser Senator im Bundesstaat Nebraska. Ernie Chambers bemühte sich nie um eine Präsidentschaftskandidatur, er gab keine großen Stellungnahmen zum Irakkrieg, zum Klimawandel oder zur Finanzkrise ab. So weit, so langweilig. Im Jahr 2007 tat Ernie Chambers aber etwas total Ungewöhnlicheres, um nicht zu sagen Bizarres: Er erstattete vor dem Obersten Gerichtshof seines Bundesstaats Strafanzeige gegen Gott! In der Anzeige stand, dass Gott für Naturkatastrophen, Terroranschläge, Vernichtungskriege verantwortlich sei, weil er als der „Allmächtige“ die Welt und den Menschen so geschaffen habe, wie sie sind. Diese Übel müssten per einstweiliger Verfügung gegen ihren Urheber unterbunden werden.

Man kann das für gute oder schlechte Satire halten. Man kann es naiv finden oder auch gotteslästerlich. Was wollte Ernie Chambers damals? Nun, er verband mit dieser Initiative ein sehr ernsthaftes Anliegen. Er wollte seinen Landsleuten die Augen öffnen: für das amerikanische Justizwesen und über die im Übermaß verrechtlichte Gesellschaft. In den USA kann jeder an jedem Ort zu jeder Zeit alles und jedes vor Gericht klären lassen. Im Glauben daran, dass hergestellt wird. Das selbsterklärte „Land der Freien“, das sich selbst gern als das in der Bibel verheißene „Neue Jerusalem“ sieht, erstickt aber an seinen eigenen Regelwerken. In diese Wunde wollte Ernie Chambers seinen Finger legen.

Als Theologe finde ich aber etwas anderes noch interessanter an dieser Geschichte. Nämlich das Gottes- und das Menschenbild, was hinter dieser Klage von Ernie Chambers steckte. Sind Menschen hilflose Kinder, unselbstständige Marionetten in einem undurchsichtigen, bösen Spiel, dessen Regeln von außen aufoktroyiert werden? Und ist Gott der oberste Spielleiter, gleichzeitig der Garant für Recht und Ordnung? Und konsequent weiter gefragt: Ist – ein solches Gottes- und Menschenbild vorausgesetzt – die Einhaltung von Regeln eine Garantie für ein gelingendes Leben? Ist die Aufrichtung strenger Werte und deren lückenlose Überwachung Bedingung für ein Leben in Freiheit? Und schließlich: Ist Gott wirklich der Garant dieser Lebensordnung?

I.

Im Blick auf die 10 Gebote könnte man‘s wohl glauben. Du sollst dieses und jenes tun, du sollst dieses oder jenes lassen! Gott der Gesetzgeber. Gott der Übervater. Gott der Big Brother, der alles sieht und weiß. Aber mal eins nach dem anderen. Ernie Chambers mag kein allzu religiöser Mensch sein blöd ist er nicht. Er ist Politiker, nicht Theologe. Es lohnt sich, den Ball mal aufzunehmen, den er vor 16 Jahren ins Spiel gerollt hat. Denn was ihm an der amerikanischen Rechtsordnung zu viel war, kann man bei den 10 Geboten zu wenig finden. Sie sind arg kurz, und es fehlt ihnen jeweils eine Art Durchführungsverordnung. Und, vor allem: es fehlt bei jedem Gebot der Hinweis auf die Folgen einer Übertretung. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen?

Stellen wir uns mal vor, die Regelwerke unseres Alltags hätten keine Konsequenzen festgeschrieben. Wer über eine rote Ampel fährt, käme ohne Bußgeld davon. Wer beim Fußball einem Gegenspieler den Ellenbogen ins Gesicht rammt, bekäme keine rote Karte. Wer sich bestechen lässt und jemand einen lukrativen Auftrag zuschanzt, käme ungeschoren davon. Solche Dinge passieren, viel zu oft. Aber es ist nicht recht. Die STVO, die Spielregeln der FIFA, das zivile wie das Strafrecht kommen ohne Verweise auf fällige Sanktionen nicht aus. Die Regeln und deren Befolgung sollen gewährleisten, dass es in einem Gemeinwesen wenigstens annähernd gerecht zugeht. Wir leben Gottseidank in einem Rechtsstaat, da werden die Regeln nicht willkürlich angewendet, sie sind demokratisch durch Mehrheitsentscheidungen zustande gekommen.

Der sog. Dekalog, die 10 Gebote sind wahrlich nicht durch Mehrheitsentscheidung zustande gekommen. Und: bei Nichteinhaltung werden keine Konsequenzen genannt! Das ist auch in der Bibel ein Alleinstellungsmerkmal, bei allen anderen biblischen Rechtsordnungen ist das ganz anders. Ganz detailliert ist an vielen Stellen im AT geregelt, welche Konsequenzen es hat, wenn jemand Eigentumsdelikte begeht, wenn jemand die Intimsphäre eines anderen Menschen verletzt oder wenn jemand die Gottesdienstordnung stört. Bis hin zu grauenvollen Sanktionen wie die, dass Homosexualität dem Herrn ein Gräuel ist und mit dem Tod bestraft werden muss (Lev 18,22). Nur die 10 Gebote stehen da sozusagen ohne Konsequenzen. Warum ist das so?

Eine mögliche Antwort: Die 10 Gebote gelten eben nicht für den Alltag. So ähnlich sehen das viele auch mit der Ethik der Bergpredigt von Jesus: Die gelte halt nicht für alle Menschen, sondern nur für Mönche oder katholische Priester, oder wenn, dann nur im Privatleben und nicht im Beruf oder in der Gesellschaft. – Eine andere Antwort: Die 10 Gebote sind so heilig, so grundlegend, so universal – auf der ganzen Welt und für alle Zeit gültig –, dass sie sich von selbst verstehen und keiner näheren Ausführung bedürfen.

II.

Aber diese Erklärungsmodelle gehen letztlich daneben. Es ist anders. Der Dekalog ist weder ein Bruchstück noch Blaupause für das „Projekt Weltethos“, an dem Hans Küng arbeitete. Und schon gar nicht ist er zeitlos. Der Schlüssel liegt nämlich nicht in den vielen „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ sondern im allerersten Satz: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Das ist der Schlüssel. Wer sich ein wenig in der Geschichte Israels auskennt, der steht jetzt mit den Israeliten am Ufer des Schilfmeers. Die Füße und der Saum der Gewänder noch nass von der Feuchtigkeit des Meeresbodens, durch den sie gerade gewatet sind. Die Haare noch klebrig vom Schweiß nach der hektischen Flucht. Der Atem beruhigt sich langsam und der Blick geht immer wieder zurück übers Wasser: Nicht zu glauben, dass die ägyptischen Häscher verschwunden, dass die Flucht geglückt ist. Nicht zu fassen, dass die elende Sklaverei wirklich ein Ende hat. Endlich frei, los geht’s! Weg von hier! Sie haben ja ein Ziel, das Gelobte Land. Es wird eine Weile dauern, aber echte Freiheit hat immer ihren Preis.

Und dann kommt, was kommen muss. Sie beginnen nachzudenken: Wie geht das eigentlich, frei sein? Was heißt das: in Freiheit leben? Das ist ja Neuland für uns. Wir kennen doch nur die Unfreiheit. Wir hatten uns an die Regeln der Sklaventreiber gewöhnt. Wir konnten doch bloß die kleinen Freiheiten nutzen, die wir uns ermogelt hatten. Es war immer nur eine gnädig gewährte Freiheit, wenn der Pharao mal einen guten Moment hatte. Oder eine eingebildete Freiheit nachts im Lager im Traum. Aber jetzt ist es die echte Freiheit. Die Freiheit der Kinder Gottes. Das ist das Wesen der 10 Gebote: Der Gott Israels gibt sich zu erkennen und schenkt seinen Kindern, was sie zum Leben in dieser neuen Sphäre benötigen. Die 10 Gebote sind vor allem anderen: Lebens-Mittel. Sie sind Gottes Angebot zur Gestaltung der Freiheit. Und eben darum sind sie ohne Androhung von Sanktionen formuliert: weil sie von Gott nicht als Mittel des Strafrechts erlassen wurden, sondern als Wegweiser der Freiheit.

Diese Befreiung ist der Urgrund des Dekalogs. „Ich, euer Gott, habe euch aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt“: das ist der wichtigste Satz der 10 Gebote. Und zugleich der, der am meisten überlesen und darum vergessen wird. Diese Urerfahrung der frühen Israeliten können wir auf andere Weise ganz gut nachvollziehen. Auch wir haben Befreiungen erfahren: die sehr Alten aus dem Wahn der Tausend Jahre. Die Mittelalten aus der „Diktatur des Proletariats“ und aus der Teilung Deutschlands. Aber vielleicht auch aus heillosen persönlichen Verstrickungen. „Ich habe dich herausgeführt“. Nicht eine unerbittliche Macht legt uns Gesetze auf, die wir in Kadavergehorsam zu befolgen hätten. Gott als Person nimmt zu uns eine Beziehung auf, er kümmert sich um uns, interessiert sich für uns. „Ich habe euch in die Freiheit geführt.“ Ohne diese „Präambel“ sind die 10 Gebote nicht vollständig, funktionieren sie nicht oder eben falsch. Nicht: ihr werdet frei sein, wenn ihr die Gebote haltet. Sondern: die Gebote halten euch, damit ihr frei bleibt, eure Freiheit durch euer Tun auch würdigt, beglaubigt.

Übrigens: Die Sprache, in der die Zehn Gebote einmal aufgeschrieben wurden, das Hebräische, kennt den Ausdruck „Du sollst“ gar nicht. Sie sind dort nämlich im Indikativ formuliert: Du wirst das tun, gleichsam wie von selbst, ohne angestrengte moralische Kraftakte. Einfach als Würdigung deiner Freiheit. Du kannst das tun – als Dank für das Leben auf weitem Raum, das Gott dir schenkt. Das ist der Atem der biblischen Sprache. Ich habe euch in die Freiheit geführt, und darum braucht ihr nicht mehr zu ackern wie die Tiere. Ihr dürft mal Pause machen, die Sklaventreiber sind nicht mehr hinter euch her, ihr seid frei. Ihr werdet nicht mehr daran gemessen, wie viele Steine ihr aufeinandertürmt. Ihr seid mehr wert als das, was ihr schafft. Also: macht Pause: „Du wirst den Feiertag heilig halten.“ – Oder: Ihr braucht nicht mehr neidisch aufeinander zu sein, weil ihr von euren Vorarbeitern ungleich behandelt werdet. Ihr braucht euch nicht gegenseitig zu verleumden, um euch Vorteile zu verschaffen. Ihr braucht euch auch nichts wegzunehmen – ich kümmere mich um jeden von euch. Ich weiß, was ihr zum Leben braucht. „Du wirst nicht falsches Zeugnis ablegen“. Du wirst nicht begehren.“ Ich, der Gott Israels kümmere mich, weil ich euch liebe, weil ich mit euch Großes vorhabe. Darum braucht ihr euch auch nicht nach anderen Göttern oder anderen Instanzen umzuschauen, bei denen ihr Heil und Bestätigung sucht. Ihr braucht auch nicht meinen Namen zu verwenden, um mehr aus euch zu machen als ihr in meinen Augen längst seid: Geliebte Freigelassene!

III.

Liebe Gemeinde, wären wir Juden, wir würden heute Simchat Tora feiern. Das ist einer der ausgelassensten Feiertage des jüdischen Kalenders. Es ist ein sehr schöner Zufall, dass dieses Fest in diesem Jahr just auf heute, den 8. Oktober fällt. Simchat Tora heißt nämlich auf Deutsch: Freude am Gesetz. Für uns klingt das befremdlich. Aber da tanzen die jüdischen Menschen mit den Torarollen, auf denen die fünf Bücher Mose aufgezeichnet sind. Erst in der Synagoge, dann draußen auf den Straßen und Plätzen. Simchat Tora, ein ausgelassener Jubel über die Gabe der Tora, darüber, dass Gott die Regeln des Lebens verkündet und in ihnen sich selbst mitgeteilt hat.

Wir sind keine Juden. Aber wir sind ihre jüngeren Geschwister, Kinder desselben Gottes. Und von unseren älteren Geschwistern könnten wir lernen und unser Bild von Gott korrigieren. Und manchmal kann dazu auch ein Querdenker wie Ernie Chambers nützlich sein, uns auf die richtige Spur zu bringen. Unser Gott ist kein freudloser Moralwächter wie für die Ajatollahs mit ihrer Sittenpolizei. Er ist kein Schiedsrichter, kein Staatsanwalt, sondern ein Liebhaber. Der Gott der Bibel steht nicht für ewige, unveränderliche Werte, die zu befolgen oder zu verachten uns den Weg in den Himmel oder in die Hölle ebneten. Das erzählen die religiösen Fanatiker – zu Unrecht.

Der Gott der Bibel ist ein Befreier, ein Wegbegleiter. Und wir sind keine Schachfiguren, sondern Umworbene, Freigelassene, denen Gott zutraut, diese Freiheit zu gestalten. Wenn wir Gott und uns selbst so ansehen können, dann können wir für die Gestaltung unseres Alltags begreifen, dass z. B. der Straßenverkehr für uns Freigelassene kein Kampfplatz ist. Dass wir uns in den Sporthallen und in den Stadien so verhalten können, dass zum Ausdruck kommt: es geht hier nicht um Leben und Tod, sondern es ist und bleibt ein Spiel. Die Zehn Gebote nehmen nicht alle Möglichkeiten des Lebens vorweg. Aber sie markieren das Terrain, sie sagen, wo wir uns gewissermaßen auf „heiligem Boden“ befinden. Dort, wo es um Leben und Tod, Gemeinschaft von Menschen, Fürsorge in der Abfolge der Generationen geht, um Aufrichtigkeit, um Besitz, um Arbeit und Ruhe, um Respekt vor dem Heiligen – dort begegnen wir Gott.

IV.

Zum Schluss: Thanks, Mr. Chambers aus Nebraska! Danke für Ihre ungewollte Korrektur und die Nachhilfe in Sachen Gottes- und Menschenbild. Sie hat uns an unsere Verantwortung erinnert. Wir können, dürfen und sollen diese Welt gestalten. Wir brauchen weder Gott noch uns gegenseitig etwas beweisen. Wir sind mehr wert als das, was wir hinkriegen oder auch als das, was uns misslingt. „Ägypten“, die Welt, in der wir nach Maßstäben beurteilt wurden, an denen wir immer nur scheitern konnten, liegt hinter uns. Wir sind frei, Kinder Gottes mit offenem Horizont, und die 10 Gebote sind nicht die Bedingung für diese Existenz in Freiheit, sondern die Bestätigung. Nicht die Hypothek, die wir einlösen müssen, sondern der Vorschuss, vom wir zehren können.

Und dann können wir – naja, vielleicht nicht ausgelassen tanzen wie die Juden, aber – uns freuen wie der Psalmist: „Ich freue mich, nach deinen Vorschriften zu wandeln, mehr als über jeglichen Reichtum. Über deine Befehle will ich sinnen und auf deine Pfade schauen. An deinen Satzungen habe ich meine Lust, ich vergesse dein Wort nicht" (Ps 119,14-16).

Amen.

 

 

Wir leben von Gegebenem         

Predigt an Erntedank

gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Die Rende is‘ sischä!“ Klingt Ihnen – jedenfalls den Älteren – dieser Satz auch noch im Ohr? In seinem unverwechselbaren beruhigend klingenden hessischen Sound hat der über 16 Jahre amtierende Sozialminister Norbert Blüm seinerzeit diese vier Worte unter die Leute geträufelt. Als dann irgendwann immer klarer wurde, dass unsere Renten keineswegs so sicher sind, waren viele empört, dass man ihnen falsche Tatsachen vorgespiegelt habe. – Es war wohl beides unangebracht. Einmal die ständigen Beruhigungsformeln vieler Politiker. Aber ebenso die bequemen Schuldzuweisungen vieler Leute an „die da oben“, die sowieso nur lügen und betrügen. Dabei kommen diese Dynamiken, dass „die da oben“ die Bevölkerung gerne beruhigen und in Sicherheit wiegen, ja nicht zuletzt daher, dass bittere Wahrheiten, dass „Blut-, Schweiß- und Tränen-Reden“ hierzulande von den Menschen nicht respektiert, sondern bei den nächsten Wahlen abgestraft werden. Überbringer schlechter Nachrichten mag man hierzulande nicht. Daraus erwächst die Angst vieler Politiker, Realitäten beim Namen zu nennen.

I.

Der Predigttext für das diesjährige Erntedankfest ist auf seine Weise ein Kommentar zu dieser gesellschaftlichen Misere. Diese Geschichte vom „reichen Kornbauer“ erzählt davon, dass da auch einer überzeugt war: Die Rente ist sicher! Und wie sich das als fatale Fehlkalkulation entpuppt. Es geht dem Text um ein unangebrachtes Sicherheitsdenken. Also um etwas, was sehr zum deutschen Wesen gehört. Sagt man uns doch nach, dass wir, anders als die angelsächsischen Menschen, vor allem das Bedürfnis nach Sicherheit in unserer DNA haben, weniger nach Freiheit. Und in diesen Zeiten, wo man aus notorischen Gründen nicht mehr so ungebrochen wie früher über eine üppige Ernte jubeln kann, könnte ein Text wie dieser den Empfindungen an diesem Erntedanktag ohnehin näher sein als einer, der ganz auf Jubel und Dank gestimmt ist.

Die Botschaft dieses Gleichnisses erscheint zunächst simpel und klar. Niemand lebt nachhaltig und erfüllt davon, dass er viel Besitz hat! Eigentlich eine Binse, auf die man auch ohne die Bibel kommen kann. Dass Geld zwar beruhigt, aber nicht glücklich macht, weiß ja auch jeder. Außerdem, trotz gelegentlicher Spitzen in Richtung Reichtum und Reiche, meinte Jesus nicht, dass man nicht viel Besitz haben darf. Und im Übrigen sagt das auch nichts gegen die Vergrößerung oder den Neubau von Scheunen, wie dies der Bauer im Gleichnis angesichts seiner prächtigen Ernte tut. Getreidesilos, Kühlhäuser sind ja nötig, um die Ernährung der Bevölkerung zu gewährleisten. Viele Menschen in afrikanischen Ländern erfahren ganz unmittelbar – und wir zumindest indirekt durch die gestiegenen Preise –, was es bedeutet, wenn das durch Russlands Krieg nicht mehr garantiert werden kann. Der Kornbauer handelt also so klug und vorausschauend wie seinerzeit Joseph als Ernährungsminister in Ägypten in Erwartung der sieben Dürrejahre. Er hat die Klarsicht, eine kommende Rekordernte früh zu erkennen und in kürzester Zeit die nötigen Lagerräume und Silos hochzuziehen. Ein richtig guter Geschäftsmann. Und was ihn dabei auch noch sympathisch macht: Das Traumsaldo unter seiner Jahresbilanz verleitet ihn nicht dazu, jetzt auf Biegen und Brechen zu expandieren. Er hält sich lieber an die uns Deutschen fremde, aber sympathische orientalische Devise: Man arbeitet, um zu leben! Anhand der eingebrachten Mengen überschlägt er, wie viele Jahre er davon ruhig und genussvoll leben kann.

Das Problem dabei: Er hat eben doch nicht alles bedacht, kalkuliert. An die Möglichkeit eines plötzlichen Herzinfarkts hätte er, bei seinem bisherigen stressigen Managerdasein, ja durchaus auch mal denken und was für seine Gesundheit tun können. Dann hätte er sich auch nach dieser Seite hin besser abgesichert, soweit man das als Mensch überhaupt kann. Ist es das, die an der Stelle doch fehlende Umsicht, weshalb er von Gott mit einem harschen „Du Narr!“ bedacht wird?

II.

Die Frage ist natürlich nur rhetorisch. Nein: Würde dieses Gleichnis auch noch eine frühzeitige Gesundheitsvorsorge dieses Bauern notieren – das Urteil über ihn fiele nicht anders aus. Der Kornbauer sieht nur die Dinge, die er durch Fleiß und Cleverness sich erarbeitet hat und womit er – meint er – sich jetzt für lange Zeit ein Rundum-sorglos-Paket zusammengestellt hat. Woher aber all diese segensreichen Dinge kommen, dass sie noch mehr sind als das logische Ergebnis seiner Anstrengungen auf dem Feld: das sieht der Mann nicht. Das wird deutlich an einem Detail, das man in dem kurzen Gleichnis leicht übersieht. Der Kornbauer redet, kommuniziert zwar – aber nur mit sich selbst. „Und er dachte bei sich selbst und sprach…“ Beziehungen zu anderen sind für ihn offenbar nicht weiter bedeutsam. Er geht mit Sachen um. Mit den gehorteten Vorräten. Mit dem Geld, das er durch die Verkäufe erlöst. Mit dem, was auf den Tisch kommt und womit er sich, wie er meint, ein schönes Leben machen kann. Er ist ein Materialist, denkt in Geld- und Sachwerten. Was er offenbar nicht gemerkt hat: dass der reiche Ertrag seiner Felder ein Geschenk ist, dass da jemand hintersteht, der ihm sein Gutes hat zukommen lassen. Oder anders gesagt: Er weiß, dass alle seine Güter ihren Preis haben – aber er weiß nichts von ihrem Wert.

Mag schon sein, dass er, wie das so war in der Antike, sich als religiös ansieht und Gott nicht bestreiten würde, fragte man ihn danach. Mit dem uns ja auch nicht fremden Stolz derer, die wissen, dass sie es „geschafft“ haben. Dass sie sich in einer Welt, die aus ihrer Sicht ein Haifischbecken ist und aus lauter potentiellen Konkurrenten und Neidern besteht, durch ihrer eigenen Hände Werk durchgesetzt haben. „Es wird einem nichts geschenkt im Leben“: das ist wohl die Grundhaltung, die auch diesen reichen Bauern geprägt hat. Schon deshalb ist es ein Segen, dass es Erntedank gibt, damit wir diesen Tag als Aufforderung sehen, diesen furchtbar falschen, trostlosen Satz zu widerlegen. Da ist dann die Qualität der Jahresernte auch nicht mehr so entscheidend. Denn auch der Ertrag unserer Felder ist ja vor allem ein Gleichnis: Dafür, wie viel uns in Wirklichkeit doch geschenkt wird im Leben! Und nicht zu vergessen: Dass vor allem das Leben selbst nichts als ein Geschenk ist. Dass es ein letztlich unfassliches Wunder ist, da zu sein in dieser Welt. Als ich zur Welt kam, setzten meine Eltern auf die Geburtsanzeige den Vers von Matthias Claudius: „Ich danke Gott und freue mich / Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Dass ich bin, bin! / Und dass ich Dich / Schön menschlich Antlitz! habe“. Dieser einfache Vers ist mir auch eine Mahnung gegen den Kornbauern in mir selbst.

III.

Reich ist er, keine Frage. Die Sorgen, die in dieser Inflationszeit vielen schlaflose Nächte bereiten, muss er sich nicht machen. Aber er ist und bleibt mit seinem Reichtum allein. Seine Welt besteht aus dem Ich und des Es: aus sich selbst und lauter materiellen Gütern. Das, was einem Leben erst Reichtum und Farbe gibt, das hat er nicht entdeckt. Dass das Ich, wie der Philosoph Martin Buber gesagt hat, erst durch ein anderes Du wirklich zum Ich wird: das ist ihm fremd. Er hat nicht bemerkt, was für eine große Liebe hinter dem steht, was ihm da alles zugewachsen ist. Dass, was da in seinen Scheunen lagert und täglich auf den Tisch kommt, Gaben sind, hinter denen ein Geber steht. Gaben sind ja aus sich heraus unbeweglich. Die Welt: für ihn funktionierend wie ein komplexer Apparat. Aber in diesem Apparat ist keiner, der sich etwas gedacht, etwas beabsichtigt hat und dem er darum einen Dank schuldig wäre. Der reiche Kornbauer verkörpert mitten in der tiefreligiösen Zeit der Antike einen ganz modernen Säkularismus. Leben als ob es Gott nicht gibt.

Dabei wäre es doch auch heute nicht schwer zu entdecken, wie sehr wir alle von Gegebenem leben, von Voraussetzungen leben, die wir selbst nicht garantieren können. Da gibt es letzten Endes auch keinen so großen Unterschied zwischen landwirtschaftlicher und industrieller Produktion. Es scheint ja nur so, dass Gott die Dinge in der Natur direkter in der Hand hätte als in den Fabriken und Laboren. Hier wie dort gegen wir mit Gaben des Schöpfers um. Steine, Metalle, Chemikalien, Chips – was wir auch verarbeiten, es kommt aus Gottes Hand. Aus nichts kann keiner etwas machen. Wir können nur in die Hand nehmen, wo Gott zuvor etwas hingelegt hat. Im Prozess von Saat, Wachstum und Ernte wird nur besonders anschaulich, was aber überall gilt. Erntedank, das heißt: sich bewusst sein oder wieder bewusst werden, dass wir in allem, was wir anfassen und wovon wir leben, auf Gottes Spur kommen. Nicht die Güter geben und erhalten unser Leben, sondern Gott tut es – durch die Güter. Die Gaben, die heute die Altäre schmücken, sind uns ein Fingerzeig: Die Dinge, die wir oft nur unter ihrem Sach- und Gebrauchswert sehen, sind Gottesgeschenke. Wir empfangen nicht nur die Kalorien, die uns gesund und fit halten, sondern darin empfangen wir viel Liebe. Dass wir uns dessen bewusst machen, darin liegt der Sinn des Tischgebets, das inzwischen leider immer mehr Menschen fremd oder peinlich geworden ist. Das kurze Gebet am Essenstisch ist gleichsam der Erntedank unseres Alltags.

IV.

Ein Letztes. Jesus erzählt dieses Gleichnis ja zwei Brüdern, die sich wegen des Erbes zoffen und sich ratsuchend an ihn gewandt haben. Ich stelle mir vor, jemand aus der Generation unserer Enkel oder Urenkel käme zu Jesus und sagt: „Meister, mir und meiner Generation ist das Erbe unserer Vorfahren zu schwer. Du gebietest ja auch über Raum und Zeit. Geh hin und sage meinen Vorfahren in der Gegenwart der 2020er Jahre, sie mögen ihr Erbe doch nicht allein auf uns abladen, sondern es mit uns teilen. Das klimatische Erbe, das Erbe der angehäuften und neu aufgenommenen Schulden, das Erbe ungelöster Konflikte. Unsere Vorfahren fragten sich, was sie tun sollten. Sie ahnten, dass sie ihr Lebensmodell nicht mehr wie gewohnt weiterführen konnten. Die Pandemie hatte ihnen die Verletzlichkeit ihrer Globalisierung gezeigt. Der russische Krieg ließ sie schmerzhaft spüren, wie abhängig sie von vergänglichen Energieträgern waren. Die zunehmenden Dürre- und Unwetterkatastrophen, das Aussterben der Arten ließen sie ahnen, dass sie bisher zu halbherzig etwas gegen die menschengemachte Erderwärmung unternommen hatten. Und sie reagierten wie der Kornbauer, indem sie versuchten, sich die Ressourcen zu sichern, Speicher zu füllen, um sich ihre „Ruhe“ zu erhalten. Aber wir gehören auch über Generationen hinweg in deiner Schöpfung zusammen. Wir wollen, dass dieses Erbe geteilt wird.“ – Was würde Jesus antworten? Würde er auch uns heute, wie den Kornbauer im Gleichnis mit einem harschen göttlichen „Ihr Narren!“ bedenken? Ich weiß es nicht. Zumindest das ist deutlich, dass Jesus meint: wenn wir so wie der Kornbauer denken, leben und agieren, dann machen wir uns zu Narren.

Wie aber hätte der reiche Kornbauer handeln sollen? Wie hätte seine Rede gelautet, wäre er so klug gewesen wie er reich war? Vielleicht wäre sie zu einem Gebet geworden. Etwa so:

„Ich danke dir, mein Gott, dass du mich so reich gesegnet hast. Du hast mir einen Ertrag geschenkt, über alle meine Erwartungen. Habe ich das verdient? Ach, darüber will ich nicht spekulieren! Ich will dich einfach bitten, mich davor zu bewahren, dass ich alles daran hänge. Lass mich nicht vergessen, dass meine Arbeit und was sie mir einbringt, nicht mein Leben, meine Identität ausmacht. Sondern dass mein Lebenssinn bei dir ist, der du mich liebst und einmal noch ein ganz anderes, unverlierbares Erbe für mich bereithältst. Und hilf mir, dass ich mir dem, was du mir jetzt gegeben hast, dankbar und achtsam umgehe, auch zum Wohl anderer. Und dass ich es ohne Bitterkeit loslassen kann, wenn du es mir einmal wieder nimmst.“

Amen.

Karabinerhaken-Glauben

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis

gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Vertrauen ist der Anfang von allem“ – lautete vor etlichen Jahren ein Werbeslogan der Deutschen Bank. Ob das so toll zusammengepasst hat, der Slogan und die Firma, sei dahingestellt. Was indes unstreitig ist: dass dieser einfache Satz „Vertrauen ist der Anfang von allem“ einfach wahr ist. Ein Leben ohne Vertrauen wäre ein tief beschädigtes Leben. Zwei einfache Beispiele. Wir sitzen jetzt alle sehr gelassen hier in diesem eindrucksvollen Kirchenraum und vertrauen selbstverständlich darauf, dass die Architekten, Statiker und Bauleute des Wiederaufbaus dieser Kirche damals einen richtig guten Job gemacht haben. Aber natürlich wissen wir, dass immer wieder Gebäude zusammenbrechen. Es gibt Pfusch am Bau, falsche Berechnungen, Materialfehler, es gibt viele Faktoren, die ein Gebäude instabil werden lassen. Sogar bei Kirchen kann das passieren. Wir können diese Dinge niemals alle überprüfen. Wir vertrauen auf die Fachleute, dass die ihre Arbeit gut und gewissenhaft gemacht haben. Vertrauen ist der Anfang von allem.

Oder: Wenn ich beim Einkaufen bar zahle, vertraue ich darauf, dass man meinem Geld vertraut. Ein 50-Euro-Schein ist ja zunächst mal nur ein Stück Papier. Die Sache mit dem Geld funktioniert nur auf der Basis des Vertrauens, dass dieser Schein auch den Wert hat, der draufsteht. Wenn dieses Vertrauen schwindet, ist das nur noch ein Fetzen Papier. Wenn sich Misstrauen auf eine Währung legt, kann das zur Katastrophe für ein Land werden. Vertrauen ist der Anfang von allem. Misstrauen ist das Ende von allem. – Unser Leben bewegt sich im Grunde immer zwischen diesen Polen. Zwischen Vertrauen und Misstrauen, Gewissheit und Zweifel, Hoffnung und Verzagtheit. Genau davon handelt der vorhin gehörte Predigttext dieses Sonntags.

I.

Was für ein Abraham wird uns da präsentiert? Alles andere als der große Glaubensheroe, als der er immer so firmiert. Sondern ein Verzagter, Niedergedrückter. Nach jener ersten Begegnung mit dem ihm unbekannten Gott hatte er sich auf dessen Anruf hin in Bewegung gesetzt In hohem Alter nochmal alles auf Anfang gesetzt. Viel Bewegendes hat er mit diesem Gott erlebt. Aber über all den Jahren, die seither vergangen sind, ist eine Frage in ihm immer bedrückender geworden. Nämlich: Was wird aus mir? Gottes Verheißung, die am Anfang seines Weges stand, war ja eine dreifache: Land, Segen, Volk. Land hatte er mittlerweile, Segen auch, jedenfalls materiell. Aber Volk? Fehlanzeige. Keine Nachkommen. Und über dem Warten darauf war Abraham steinalt geworden.

Und diese Leerstelle war für ihn eine Frage buchstäblich von Leben und Tod, eine Ewigkeitsfrage. Das hört sich jetzt dramatisch an. Wir haben uns ja längst daran gewöhnt, dass etliche aus unterschiedlichsten Gründen keine Nachkommen haben. In manchen Fällen wird das als schmerzhaft, ja tragisch erlebt. Aber eine Lebenskatastrophe derart, dass das Leben dann gefühlt keinen Sinn mehr hätte, ist das heute nicht mehr. Aber so war es für Abraham! Nachkommen waren in der damaligen Zeit das, was einem Leben Zukunft und damit Sinn gab. Abraham kannte keine Hoffnung über den Tod hinaus. Eine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod gibt es im Alten Testament so gut wie nicht. Der Mensch damals war ganz darauf ausgerichtet, auf dieser Erde in seinen Nachkommen weiterzuleben. Deshalb waren für die Israeliten Kinder zwar nicht alles, aber ohne sie alles andere nichts. In ihnen lebten sie weiter. Eigene Kinder garantierten, nicht vergessen zu werden, sie bewirkten eine Art Kontinuität des eigenen Lebens. Moderne Philosophen sprechen diesbezüglich von „objektiver Unsterblichkeit“ (A.N. Whitehead). Das meint: es geht nicht darum, „subjektiv“, im eigenen Bewusstsein fortzuleben, sondern dass all das, was einen Menschen ausgemacht hat, ein Nachleben durch Nachkommen hat. Das ist Abraham versagt geblieben. So steht er am Abend seines Lebens als reicher Mann, aber doch mit leeren Händen da.

Deshalb übrigens sind im Alten Testament Stammbäume so wichtig. Es sind dort jede Menge Stammbäume verzeichnet. Darin drückt sich Ewigkeitshoffnung aus. Jeder Jude musste seinen Stammbaum kennen. Bezeichnenderweise sind die beiden Stammbaumregister von Jesus in den Evangelien von Matthäus und Lukas die letzten in der Bibel. Im Neuen Testament gibt es dann keine mehr. Weil sie für die frühen Christen ihre Bedeutung verloren hatten. Denn mit Jesus und seiner Auferstehung kam die Hoffnung auf Auferstehung in die Welt. Diese Hoffnung ließ die Stammbäume belanglos werden. Abraham aber konnte von Jesus noch nichts wissen. Von daher sehr verständlich seine Zweifel, sein Angefochtensein in dieser Nacht: Wird mein Name vergessen werden? Wird mein Leben am Ende des Tages nur ein flüchtiger Moment gewesen sein, vom Winde verweht? Was wird aus mir? So fern sind sie uns nicht, Abrahams Fragen. Meine Jahre zerrinnen gefühlt immer schneller. Gibt es einen roten Faden? Gibt es irgendeine Linie, die weiter über mich hinaus geht?

II.

Abraham will’s nun wissen und stellt Gott die taffe, fast unwirsch klingende Frage: „Was willst du mir geben?“ Das ist die Frage, die Teenies und Konfis erfrischend direkt und ehrlich auf den Tisch legen. Die Was-bringt-mir-das-Frage. Jesus – Glaube – Kirche: was bringen sie mir? Das ist die Abrahamsfrage! Und es ist unsere Frage, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind. Und nicht erst, wenn mich eine lebensbedrohende Krankheit ereilt, nicht erst, wenn ein lang gehegter Traum zerplatzt. Das ist eine Frage, die mich auch mitten im ganz Alltäglichen überfallen kann. Einfach diese Frage: Wo erlebe ich greifbare Früchte dessen, was ich so tue, im Beruf, Zuhause, im ehrenamtlichen Engagement? Wo habe ich Erfolgserlebnisse? Viele Menschen – auch uns Pfarrer*innen – treibt diese Frage um. Die Frage nach Erfolg ist ganz menschlich, sie gehört zum Leben dazu. Auch zum Leben mit Gott. Aber vor Abrahams Frage nach den Früchten, dem Erfolg in seinem Leben, hat Gott ja erst einmal die Aufforderung gestellt: „Fürchte dich nicht!“ Das ist der häufigste Satz in der Bibel. Daraus lässt sich schon schließen, dass die Angst wohl die größte Herausforderung unseres Lebens ist. Wir tun uns deshalb so schwer mit Schritten zum Vertrauen und zum Glauben, weil wir Angst haben. Uns zu blamieren. Von anderen nicht ernst genommen oder gar verachtet zu werden. Angst vor dem sozialen Absturz. Angst vor dem Scheitern. Und immer wieder die fieseste aller Ängste: die Angst zu kurz zu kommen gegenüber anderen. Im Letzten sind das alles Variationen der einen Grundangst des Menschen: der Angst vor dem Tod. Eben das war die Angst von Abraham: dass der bald erwartbare Tod sein Leben definitiv als zukunfts- und damit sinnlos besiegeln würde.

Das biblische Gegenteil der Angst ist nicht der Mut, sondern die Hoffnung. Nur: Solange unsere Angst größer ist als unsere Hoffnung, wird sich kaum etwas verändern. Aber in dem Moment, in dem die Hoffnung größer wird als die Angst, kann sich ganz viel verändern. Aber wie geht das, dass die Hoffnung größer wird als die Angst? Erinnern Sie sich noch, als Sie klein waren? Bei Kindern gibt es viele Ängste, einfach weil sie vieles noch nicht können. Und es hilft nicht viel, wenn Papa oder Mama es vormachen, weil die sowieso alles können und deshalb andere Wesen sind. Nein, die Hoffnung, die den Mut hervorbringt, etwas zu wagen, Vertrauen zu investieren, die wächst nur, wenn wir den Kindern Vertrauen zusprechen, Mut machen, wenn wir ihnen ein Wort geben gegen ihre Angst. Was ihnen das Gefühl rüberbringt: Yes, we can! Hoffnung, biblisch verstanden, ist die Überzeugung, dass diese Welt, so wie sie ist, nicht festgefahren ist. Vaclav Havel hat einmal gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat ohne Rücksicht darauf, dass es gut ausgeht.

Gott aber will uns Grund zur Hoffnung geben, dass er es am Ende gut ausgehen lässt. Mit der Hoffnung ist es nämlich wie mit allem, was von Gott kommt: Indem Gott spricht, schafft er auch schon. Den garstigen Graben zwischen Reden und Tun gibt es bei Gott nicht, bei ihm werden sie eins. Gott schuf diese Welt, indem er sprach: „Es werde“ – und es ward. Und so schafft Gott auch bei Abraham, indem er spricht: „Fürchte dich nicht!“ Ich sehe, wie deine Jahre dahin gegangen, wie deine Zweifel gewachsen sind. Ich sehe das alles – und arbeite schon längst gegen deine Hoffnungslosigkeit an. Deshalb: „Ich bin dein Schild, und ich werde deinen Lohn sehr groß machen.“ Aus Filmen, die in der Antike spielen, kennen wir die Bilder, wenn die Legionäre in die Schlacht ziehen mit ihren Schildern überm Kopf, um sich vor dem feindlichen Pfeilregen zu schützen. Manchmal kann mir mein Leben ja auch wie so eine Schlacht vorkommen, wo mir feindliche Pfeile um die Ohren fliegen. Gott sagt nun: Ich werde dein Schild sein, zieh ruhig los.

III.

Und so macht sich Gott nun sehr aktiv daran, Abraham buchstäblich vor Augen zu führen, was er für ihn im Sinn hat. Er weiß, dass Menschen nicht nur gute Worte und Verheißungen, sondern auch Bilder brauchen. „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne“: Er nimmt Abraham an der Hand, führt ihn hinaus vor sein Zelt und zeigt ihm den nächtlichen Sternenhimmel. Was Abraham in dieser Nacht gesehen hat, muss überwältigend gewesen sein. Wir kennen so einen richtig atemberaubenden Sternenanblick ja nur noch, wenn wir in einsamen, dünn besiedelten Gegenden Urlaub machen. Bei uns und fast überall werfen Städte und Dörfer so viel Streulicht, dass nur noch ein Bruchteil des Himmels und seiner Sterne sichtbar sind. Und dann sagt ihm Gott: „So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“ Was für Abraham die Zahl der Nachkommen war, die Gott ihm an der Zahl der Sterne gezeigt hat, ist für uns Christen die Verheißung neuen, ewigen Lebens in Gottes neuer Welt. Paulus schreibt: „Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns einmal offenbart werden soll“ (Röm 8,18). Wenn das wirklich so ist, dann heißt das, dass wir, wie alt wir auch sind, unsere beste Zeit immer noch vor uns haben.

In unserem Text heißt es: „Abraham glaubte Gott, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.“ Der bestirnte Himmel über ihm hat Abraham also zum Glauben, zum Vertrauen gebracht – so wie er 3.000 Jahre später auch Immanuel Kant, den großen Denker der menschlichen Vernunft, mit tiefer Ehrfurcht erfüllte. Das hebräische Wort, das Luther hier mit „glauben“ übersetzt hat, lautet: häämin. Das heißt, sich in etwas oder jemandem festmachen. Als Bergsteiger denke ich dabei sofort daran, wenn ich meinen Karabinerhaken in das Sicherungsseil meines Bergkameraden einklinke. Für mich ein starkes Bild: mich so in Gott und seinem Wort festzumachen, im Blick auf das, was mir gerade eine schwere Last ist. Klinken Sie sich mit dem Karabinerhaken Ihres Lebens bei Gott ein, und dann lassen Sie sich im Vertrauen auf ihn und das Sicherungsseil seines Wortes fallen. Gott verspricht uns jedenfalls, dass wir dann erfahren, wie er hält und beschützt, wie er das gibt, was wir wirklich brauchen.

Wie eingangs gesagt: Vertrauen ist der Anfang vom allem! Das ist das Geschenk und das Wagnis unseres Lebens, beides, dass wir uns immer neu in Gottes Versprechen festmachen, um dann zu erleben, dass dieser Gott glaubwürdig ist. Und wenn Sie einmal wieder irgendwo weit weg einen richtig überwältigenden Sternenhimmel erleben und bestaunen, dann denken Sie dran: Du wirst so viel Leben, Zukunft, Ewigkeit haben wie du Sterne am Himmel siehst.

Amen.

Sich anders singen

Impuls zur Geistlichen Sonntagsmusik
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Ein wunderbares Portfolio von Liedern aus diversen Epochen und unterschiedlichsten Charakters präsentiert uns die Meißener Domkantorei heute Nachmittag. Anlass, mir einfach einmal einige elementare Gedanken zum Singen an sich zu machen. Das Wichtigste zuerst: Singen tut nicht nur gut, es ist aus sich selbst heraus gut. Weil es Hoffnung und Lebendigkeit bewirkt. Martin Luther King sagte: „Der Glaube ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ King hatte natürlich die Erfahrungen seiner versklavten Vorfahren 150 Jahre früher im Rücken. Irgendwann fingen sie an, unter der gleißenden Sonne des amerikanischen Südens während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern sich gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage Glaubenslieder zuzusingen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern der Bibel. Das war die Geburt der Gospels, deren Melodien und Texte uns das Herz anrühren. „When Israel was in Egypt’s Land, / let my people go“. „Böse Menschen kenne keine Lieder“, lautet das Sprichwort, und da ist etwas dran. Wer singt, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. Weil er im Tiefsten weiß und darauf seine Hoffnung setzt, dass die Todesmächte und ihre menschlichen Handlanger am Ende doch den Kürzeren ziehen.

Einen bewegenden Beleg, wie das Wirklichkeit werden kann, war die Befreiung der drei baltischen Länder 1990 von fünf Jahrzehnten russischer Fremdherrschaft. Es ist ein erstaunliches Phänomen in diesen drei kleinen Ländern, dass das Singen dort seit Jahrhunderten ein so selbstverständliches Allgemeingut ist wie anderswo Skifahren oder Skatspielen. Überall im Baltikum gingen damals die Menschen mutig auf die Straßen. Gegen die Panzer und Gewehrläufe setzten sie die Kraft ihrer Lieder – und sangen. Deshalb hat diese historische Umwälzung den Beinamen „singende Revolution“ bekommen.

Diese eigene, unvergleichliche Kraft des Singens. Ihr viel zuzutrauen, ist auch etwas durch und durch Protestantisches. Denn das Singen gehört zur DNA der Reformation. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Ohne Martin Luther gäbe es keinen Gemeindegesang im Gottesdienst. „Das Lied ist die Predigt der Gemeinde“, hat Luther gerne gesagt. Man muss gar nicht besonders sangesfreudig sein, um zu spüren, dass wir, wenn wir singen, auf eine eigenartige Weise verwandelt werden. Lieder, Chorwerke berühren uns nicht nur durch ihre Melodien, sondern auch, weil in ihnen Grunderfahrungen des Lebens gebündelt sind, unsagbar schöne wie abgrundtief schmerzliche. Und indem wir vieles, was uns in der Tiefe bewegt, im Singen versammeln, sammelt das Singen auch uns und lässt uns selbst uns ein Stück weit vergessen. Das gilt für die alten Volkslieder ebenso wie für viele Choräle des Gesangbuchs. Selbstvergessenheit, Außer-mir-Sein: einer der schönsten, intensivsten Daseinsformen! Und besonders schön ist es, dass das quasi unmerklich geschieht. So bin ich im Singen immer beides: selbstvergessen, und doch ganz konzentriert, gesammelte Existenz. Das ist ja dieselbe Erfahrung, die wir in der Liebe machen. Lieben und Singen, das ist wie ein Zwillingspaar. Es ist kein Zufall, dass das Schönste und Tiefste über die Liebe in Liedern gesagt worden ist.

Jetzt gleich hören wir die Vertonung des Magnificat, dem Lobgesang der Maria, nachdem sie von dem Engel die umwerfende Nachricht bekommen hat, dass sie den Erlöser der Welt zur derselben bringen soll. „Magnificat dominum anima mea - Meine Seele erhebt den Herrn“: so beginnt Maria ihr Lied. Das meint: Maria singt sich über sich selbst hinaus, sie macht Gott groß, und damit wird ihr auch das eigene Leben anders und groß. Manchmal geht der Dank langsam, und er kommt in der Sprache daher, die schon alle kennen. Das aber ist nicht seine eigentliche Sprache, denn dann wird der Dank formelhaft. Die Muttersprache des Dankes ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Denken Sie an David aus der Bibel, den späteren großen König Israels: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel. Deshalb sind Musik und Lieder viel wichtiger und heilsamer als alle Predigten und Lehren.

Amen.

„Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“      

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Sag mir, wo die Geheilten sind, wo sind sie geblieben? Sie waren alle gekommen. Aber zurückgekommen sind sie nicht. Oder fast nicht. „Sind nicht die zehn rein geworden? Wo aber sind die neun?“ Jesus ist verärgert. Das ist seiner Frage abzuspüren. Zehn an Aussatz Leidende und deshalb ins soziale Off Gezwungene haben eine wunderbare Heilung erfahren. Aber nur einer von ihnen kommt zum Urheber dieses Wunders zurück, um Danke zu sagen. Das ist schwer nachvollziehbar. Wenn etwas so Umwerfendes passiert, was nicht nur körperlich, sondern eben auch sozial und damit seelisch eine solche Kehrtwende zum Guten bedeutet: da kann man doch gar nicht anders als dem danken, der das vollbracht hat. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über – hat Jesus doch selber so gesagt! Aber nur einer tut, was sich gehört.

I.

Und dann gleich noch eine zweite Irritation: Dieser eine Dankbare ist ausgerechnet ein Samaritaner. Also ein Angehöriger jener Volksgruppe, um die Jesu Glaubensgeschwister, die Juden, eigentlich einen großen Bogen machen. Deren Gebiet Samarien war für sie „unreines Land“. Die Samariter gehörten nämlich weder zu den „Kindern Israels“ noch zu den „Heiden“. Sie waren eine Art Hybrid: Nachkommen von Juden und von heidnischen Kolonisten, die die Assyrer im Norden Israels angesiedelt hatten. Der Glaube der Samaritaner gründete sich zwar wie bei den Juden auf die Tora, die fünf Bücher Mose, aber die Psalmen und die Prophetenbücher waren für sie ohne Belang. Auch mit dem Jerusalemer Tempel wollten sie nichts zu tun haben. Sie hatten ein eigenes Heiligtum. So war Samarien eine von den Juden gemiedene Gegend. Und das Wort „Samariter“ war für das Gottesvolk ein Schmähwort. Etwas früher berichtet Lukas, dass, wenn Leute auf dem Pilgerweg nach Jerusalem durch Samarien mussten, ihnen dort die Unterkunft verweigert wurde. Die darüber empörten Jünger wollten dafür wie weiland der Prophet Elia Feuer vom Himmel fallen lassen. Kurzum, man ist einander wie drüben in innigster Abneigung verbunden, seit Jahrhunderten schon. Ausgerechnet ein Samaritaner, ein fremder Halbheide, tut, was doch von allen zu erwarten gewesen wäre. Undank ist der Welt Lohn: Ist das die triviale Moral von dieser Geschichte?

Diese Geschichte von den zehn Aussätzigen war in meiner Kindheit durchaus ein Bestandteil der religiösen Erziehung meiner Eltern. Dankbarkeit ist nicht nur eine Empfindung, sollten wir lernen, sie muss vor allem gelebt, ausgedrückt werden. „Wie sagt man?“: Die leicht genervte Frage von Mama oder Papa, wenn wir beim Metzger von der netten Verkäuferin ein Stück Lyoner über die Theke gereicht bekamen, kennen wir alle. Und ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo mir meine Eltern ein Geschenk der Nachbarin wegnahmen, weil ich mich in einer Anwandlung von Trotz nicht bedanken wollte. Was immer man über solche mehr oder weniger glückliche Pädagogik denken kann, ich glaube schon, es ist wichtig, Kindern zu vermitteln, wie bedeutsam der Dank und das Danken für ein gelingendes Miteinander ist. Das ist ganz bestimmt nicht das gedankenlose Eintrichtern einer überflüssigen Sekundärtugend. Was wir an Gutem erfahren, wird zu einer stärkenden Wegzehrung fürs Leben erst durch den Dank. „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1. Kor 15,10), sagt Paulus einmal so schlicht wie eindringlich von sich. Das betrifft gerade nicht nur die großen, lebenswendenden Erfahrungen, wie sie dieser Predigttext erzählt. So vieles, was wir von Kindheit an erleben, gehört in die Haltung der Dankbarkeit. Weil wir es nicht gemacht, uns verdient haben, sondern weil es uns ohne unser Tun zuteil wurde. „Ohn‘ all mein Verdienst und Würdigkeit“, wie es Luther in seinem Katechismus so einprägsam formuliert hat. Auch der sog. Generationenvertrag, auf dem unser Sozialsystem fußt und der durch die demografische Entwicklung immer mehr ins Kippen gerät, beruht im Grunde auf dieser Erkenntnis. Die heute alt werden, sind ja die Generation, die gearbeitet hat, als die Jungen aufgewachsen sind. Da stehen die Jungen in einer Dankesschuld. Wer ein langes Arbeitsleben mit seinen Steuern und Beiträgen für das Gemeinwesen gesorgt hat, darf im Alter nicht fallen gelassen werden, wie es angeblich bei den alten Eskimos war, die man auf eine Eisscholle verfrachtete, damit die Sippe überleben konnte.

II.

Die Zehn, an denen das Wunder geschieht, leiden an Aussatz. Das griechische Wort dafür, lepros, meint nicht die schlimmen Symptome, die wir heute mit dem Begriff Lepra verbinden. Aussatz damals meinte eher auffällige Hautkrankheiten wie Schuppenflechte oder sonstige Hautveränderungen. Zwar mit uangenehmen Beschwerden verbunden, aber nichts Lebensbedrohendes. Umso härter aber die sozialen Folgen. Auch Aussatz machte die Betroffenen in den Augen der Mitwelt „unrein“ und grenzte sie aus der Gemeinschaft der Gesunden aus. Sie mussten zwangsweise social distancing praktizieren. Das haben, vor allem in der Zeit vor gut drei Jahren, auch bei uns fast alle erlebt. Etlichen stecken die damaligen Gefühle von Einsamkeit, Trauer, Angst vor einer ungreifbaren Bedrohung irgendwie immer noch in den Schuhen.

Aber natürlich ging es uns beim durch Corona erzwungenen Rückzug in Private noch wunderbar im Vergleich zu den vom Aussatz Befallenen zur Zeit Jesu. Wir konnten uns in unsere Häuser und Wohnungen zurückziehen. Manche Familien haben das sogar als Segen erlebt, weil sie endlich einmal richtig Zeit miteinander hatten. Die Aussätzigen damals dagegen wurden aus ihren Häusern verbannt, in denen das Glück wohnt. Sie vegetierten weitab der Städte und Dörfer in Höhlen und unbenutzten Gruften. Wenn es gut ging, wurden sie von ihren Verwandten mit Essen versorgt, aber sie hatten sich fernzuhalten von vertrauter Gesellschaft, mussten schon von weiten rufen: „Unrein, unrein!“, wenn Gesunde sich näherten. Wer den berühmten Hollywoodstreifen „Ben Hur“ mal gesehen hat, erinnert sich an diese Szenen. Hinzu kam auch noch, dass Rabbiner damals lehrten, dass Aussatz eine göttliche Strafe für besonders schwere Schuld sei. Ein Leben ohne Freude und Trost. Uns Heutigen erscheint das unfassbar gnadenlos. Aber Furcht vor Ansteckung ist bei bestimmten Krankheiten auch heute weit verbreitet. Wenn jemand mit HIV infiziert ist, erfährt er in der Regel immer noch ausgrenzende Reaktionen seiner Umwelt. Und manche Formen von geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung bewirken auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft unverändert Isolierung und Ablehnung. „Inklusion“ ist für viele ein Wort, das Aggressionen auslöst.

Die zu einer Schicksalsgemeinschaft der Stigmatisierten gewordenen Zehn eint nicht nur ihr Leid, sondern auch das Vertrauen, dass der, der sich irgendwie in ihr Gebiet verirrt hat und von dessen Ruf als Wundertäter sie schon gehört haben werden, helfen kann. So rufen sie, aus der gebotenen Distanz: „Jesus, erbarme dich unser!“ Sie bedienen sich der geprägten Sprache, die sie aus den Psalmen kennen und die mit dem Kyrie eleison wiederum in unsere Liturgie eingegangen ist. Ihr gemeinsames Schicksal hat den Unterschied unter ihnen zwischen den Juden und dem Samaritaner bedeutungslos gemacht. Aber nicht nur die Not verbindet sie. Noch wichtiger: Jesus verbindet! Dass unter den Zehn ein Halbheide ist, dazu fällt kein Wort, man erfährt es erst hinterher. Jesus sieht nicht nach dem Gesang- oder Parteibuch. Er sieht einfach die Menschen und ihre Not. Unterschiedslos. Und schickt sie los, zu den Priestern, wo sie sich, wie es damals Usus war, als Geheilte zeigen müssen. Und als sie sich dorthin in Bewegung setzen, verlieren sie ihren Aussatz.

III.

So sollten sie, unterschiedslos, auch eins sein im Dank für die Heilung. Aber da reißt die Einigkeit ab. Merkwürdig: Die Jesus am nächsten sein müssten, als Angehörige des Gottesvolks, dessen Teil auch er ist, weisen ihn ab, indem sie offenbar nicht auf die Idee kommen, dass hinter der wunderbaren Gabe auch ein Geber steckt. Die Fernstehenden, in Gestalt des Samariters, nehmen ihn an. Liebe Gemeinde, darin steckt etwas ganz Grundsätzliches. Die Kirche ist immer in einer Versuchung, vor lauter Um-sich-selbst-Drehen, vor lauter selbstverständlich überkommener „Kirchlichkeit“ sich nicht mehr auf die lebendige Begegnung mit Jesus einzulassen, die überraschend sein kann und eben nicht nur auf dem gewohnten kirchlichen Terrain stattfindet. Auch wir an dieser Kirche sind nicht immun gegen diese Versuchung, obwohl wir keine eigene Gemeinde haben. Und umgekehrt: Für die Distanzierten, die sog. Fernstehenden ist es die Chance, dass das, was altgedienten Christen längst zum geistlichen Inventar wurde und in ihnen nichts mehr in Bewegung bringt, dass das für sie ein Wunder, eine beglückende Entdeckung werden kann, die ihr Leben umstülpt. Gerade hier in Ostdeutschland, wo der Glaube bei so vielen erfolgreich ausgemerzt wurde, gibt es berührende Geschichten, auf welchen Wegen Menschen wieder oder überhaupt erst Christen geworden sind. Jedenfalls: Diese Geschichte von den zehn Aussätzigen zeigt, was zu allen Zeiten die Gefahr der Kirche und die Chance der Nicht-Kirche ist.

Denn, das ist ja wichtig bei dieser Geschichte: Auch wenn alle zehn geheilt sind, aber nur der eine, Fremde, den Geber hinter der Gabe, also in dem Wunderarzt aus Nazareth seinen Gott entdeckt hat – gottlos sind die anderen neun deshalb nicht! Gott wird in ihrem Leben schon eine Rolle gespielt haben, die einer gewissen landläufigen Normal-Frömmigkeit entspricht. Und als sie alle miteinander riefen „Herr, erbarme dich!“, und auf Jesu Wort hin zu den Priestern aufbrechen, da greift ihre Frömmigkeit über das Konventionelle hinaus. Aber zu einer wirklichen Wende in ihrem Leben, zu dem, was Jesus in seiner Predigt immer wieder „Umkehr“ nennt, kommt es bei den neun eben nicht. Sie konnten ihn gut brauchen, als es elend um sie stand. Aber als es gut wurde, als sie die Gabe empfangen hatten, interessierte er sie als Geber nicht. Aber: bloß nicht mit dem Finger auf die neun zeigen! Hand aufs Herz: Wie wäre es bei mir, wenn Gott mir nicht gibt, worum ich ihn bitte, wenn ich in elender Lage bin? Hätte ich dann noch den Glauben, den der Beter des 73. Psalms ins Wort bringt: „Dennoch bleibe ich stets an dir. (…) Wenn mich auch Leib und Seele verschmachtet, bist du, Gott, doch allezeit mein Trost und mein Teil“ (Ps 73,23.26). Da werde ich dann schnell leise.

IV.

Und dann noch der letzte Satz unserer Geschichte. Kurz, aber wichtig. „Dein Glaube hat dich gerettet.“ Glauben heißt am Ende genau das, worum es hier geht: Hinter der Gabe den Geber entdecken, hinter Gutem, das uns widerfährt, kein zufällig glückliches, anonymes Schicksal, sondern eine Person wissen, die mir so oder so gut ist. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“: die Aufforderung aus dem 103. Psalm ist nicht zufällig der Wochenspruch heute. Eigentlich, so denke ich, können wir von dieser Geschichte leicht zu unserer eigenen Lebensgeschichte finden. Es werden ganz bestimmt welche unter uns sein, die ähnlich Überwältigendes erlebt haben, als sie aus hoffnungslos erscheinender Lage buchstäblich erlöst wurden. Und darin Gottes Handschrift in ihrem Lebensbuch entziffert haben. Aber auch, wo das Leben ohne wundersame Erlösung von Krankheit oder Krise verlief, gibt es eine Kette von nicht selbst verdientem Guten, von Jugend auf. An allererster Stelle natürlich die Menschen, und zuallererst den einen Menschen, der mich unbedingt liebt. Wenn ich Liebe erfahre, ist das immer „ohn‘ all mein Verdienst und Würdigkeit“. Das erkannt zu haben, unterscheidet den einen, den „dankbaren Samariter“ von den neun anderen, die genauso gesund geworden sind wie er. Aber gerettet, im tiefen Sinn des Wortes, ist nur er. So wird seine Heilung ihm zum Heil. Er wird wachsen, weil er bei der Quelle des Segens, bei dem Gottesgeschenk aus Nazareth angekommen ist. Er hat erkannt, wer der ist, von dem wir jetzt mit Paul Gerhardt singen:

Ich weiß, dass du der Brunn der Gnad

und ewge Quelle bist,

daraus uns allen früh und spat

viel Heil und Gutes fließt.

(EG 324,2)

Amen.

Sich anders singen

Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis

gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Ein wunderbares Portfolio von Liedern aus diversen Epochen und unterschiedlichsten Charakters präsentiert uns die Meißener Domkantorei heute Nachmittag. Anlass, mir einfach einmal einige elementare Gedanken zum Singen an sich zu machen. Das Wichtigste zuerst: Singen tut nicht nur gut, es ist aus sich selbst heraus gut. Weil es Hoffnung und Lebendigkeit bewirkt. Martin Luther King sagte: „Der Glaube ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ King hatte natürlich die Erfahrungen seiner versklavten Vorfahren 150 Jahre früher im Rücken. Irgendwann fingen sie an, unter der gleißenden Sonne des amerikanischen Südens während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern sich gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage Glaubenslieder zuzusingen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern der Bibel. Das war die Geburt der Gospels, deren Melodien und Texte uns das Herz anrühren. „When Israel was in Egypt’s Land, / let my people go“. „Böse Menschen kenne keine Lieder“, lautet das Sprichwort, und da ist etwas dran. Wer singt, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. Weil er im Tiefsten weiß und darauf seine Hoffnung setzt, dass die Todesmächte und ihre menschlichen Handlanger am Ende doch den Kürzeren ziehen.

Einen bewegenden Beleg, wie das Wirklichkeit werden kann, war die Befreiung der drei baltischen Länder 1990 von fünf Jahrzehnten russischer Fremdherrschaft. Es ist ein erstaunliches Phänomen in diesen drei kleinen Ländern, dass das Singen dort seit Jahrhunderten ein so selbstverständliches Allgemeingut ist wie anderswo Skifahren oder Skatspielen. Überall im Baltikum gingen damals die Menschen mutig auf die Straßen. Gegen die Panzer und Gewehrläufe setzten sie die Kraft ihrer Lieder – und sangen. Deshalb hat diese historische Umwälzung den Beinamen „singende Revolution“ bekommen.

Diese eigene, unvergleichliche Kraft des Singens. Ihr viel zuzutrauen, ist auch etwas durch und durch Protestantisches. Denn das Singen gehört zur DNA der Reformation. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Ohne Martin Luther gäbe es keinen Gemeindegesang im Gottesdienst. „Das Lied ist die Predigt der Gemeinde“, hat Luther gerne gesagt. Man muss gar nicht besonders sangesfreudig sein, um zu spüren, dass wir, wenn wir singen, auf eine eigenartige Weise verwandelt werden. Lieder, Chorwerke berühren uns nicht nur durch ihre Melodien, sondern auch, weil in ihnen Grunderfahrungen des Lebens gebündelt sind, unsagbar schöne wie abgrundtief schmerzliche. Und indem wir vieles, was uns in der Tiefe bewegt, im Singen versammeln, sammelt das Singen auch uns und lässt uns selbst uns ein Stück weit vergessen. Das gilt für die alten Volkslieder ebenso wie für viele Choräle des Gesangbuchs. Selbstvergessenheit, Außer-mir-Sein: einer der schönsten, intensivsten Daseinsformen! Und besonders schön ist es, dass das quasi unmerklich geschieht. So bin ich im Singen immer beides: selbstvergessen, und doch ganz konzentriert, gesammelte Existenz. Das ist ja dieselbe Erfahrung, die wir in der Liebe machen. Lieben und Singen, das ist wie ein Zwillingspaar. Es ist kein Zufall, dass das Schönste und Tiefste über die Liebe in Liedern gesagt worden ist.

Jetzt gleich hören wir die Vertonung des Magnificat, dem Lobgesang der Maria, nachdem sie von dem Engel die umwerfende Nachricht bekommen hat, dass sie den Erlöser der Welt zur derselben bringen soll. „Magnificat dominum anima mea - Meine Seele erhebt den Herrn“: so beginnt Maria ihr Lied. Das meint: Maria singt sich über sich selbst hinaus, sie macht Gott groß, und damit wird ihr auch das eigene Leben anders und groß. Manchmal geht der Dank langsam, und er kommt in der Sprache daher, die schon alle kennen. Das aber ist nicht seine eigentliche Sprache, denn dann wird der Dank formelhaft. Die Muttersprache des Dankes ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Denken Sie an David aus der Bibel, den späteren großen König Israels: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel. Deshalb sind Musik und Lieder viel wichtiger und heilsamer als alle Predigten und Lehren.

Amen.

 

Es kommt darauf an, auf wen man wartet

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

hätte Helmut Schmidt den oder die Verfasser dieses Predigttextes aus dem Jesajabuch getroffen, es wäre wohl keine herzliche Begegnung geworden. Der Altkanzler hätte ihm vermutlich nahegelegt, zum Arzt zu gehen. Denn so lautet ja das - leider - berühmteste Diktum von Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“ Schmidt hat zwar im Alter die beispiellose Karriere dieses Ausspruchs, die ihm selbst unangenehm war, wieder einzufangen versucht, indem er sagte: „Das war einfach eine pampige Antwort auf eine saublöde Frage!“ Genützt hat ihm das nichts mehr. Sein Satz hat es in jedes Zitatenlexikon geschafft.

I.

Bei den großen Propheten der Bibel geht es allerdings immer wieder um Visionen. Der heutige Predigttext malt das Bild von der neuen, vollkommenen Welt Gottes. Wenn Gott im Spiel ist, geht es immer um Ganzheitlichkeit, um Vollkommenheit. Um Vollkommenheit als Hoffnung auf Veränderung. Als Ausdruck unserer Sehnsucht. Weil es zum Wesen Gottes - jedenfalls unseres Bildes von ihm - gehört, dass er in sich vollkommen, ganzheitlich ist. Im Unterschied zur jenseits von Eden in jeder Hinsicht unvollkommenen Welt. Wohl auch deshalb zieht es so viele in diese Kirche, weil ihre eigentlich unprotestantische barocke Pracht, der Blattgoldglanz einen Vorgeschmack auf die himmlische Herrlichkeit macht, die wir mit Gottes neuer Welt verbinden. Und eben weil die Welt, wie sie ist und wie wir in ihr sind, alles andere als vollkommen ist, ist es die Kraft dieser Sehnsucht, die uns am Leben hält. Es sind die Bilder verheißungsvoller Perspektiven, die unseren Hoffnungen Flügel verleihen. Nicht zu glauben irgendwie, aber doch faszinierend, wie alles sein könnte! Und je umdunkelter die Wirklichkeit, desto heller die Gegenbilder dazu.

Im 29. Kapitel des Jesajabuches wird eine Sammlung unterschiedlicher Gerichtsworte gegen das Gottesvolk, aber auch gegen seine Nachbarn, die Großmächte Ägypten und Assyrien überliefert. Gegen diesen düsteren Kontext hebt sich der Abschnitt unseres Predigttextes ab. Er entfaltet ein solches Gegenbild, er malt ein Hoffnungsgemälde. Es spiegelt die Zeit seiner Entstehung vor etwa 2.500 Jahren wider. Prima vista liegt ein breiter Graben zwischen damals und heute. Dass diese neue Welt nur eine sein kann, in deren Zentrum die Beziehung zu Gott steht, war für die damaligen Hörer selbstverständlich. Dass man Vollkommenheit auch jenseits von Gott denkt, ist erst ein Ergebnis der Moderne, die die Autonomie des Menschen entdeckt hat. Und doch sind diese Bilder unserer Zeit näher, als wir ahnen.

Als ich diese Wortgemälde auf das innere Auge einwirken ließ, kam mir der Satz in den Sinn: „Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen man wartet.“ Er kommt aus dem berühmten Film von Billy Wilder „Some like it hot“. Dieser ins Drehbuch noch hineinkomponierte kleine Satz ist eine liebevolle Anspielung des Regisseurs auf die notorische Unpünktlichkeit der Hauptdarstellerin Marilyn Monroe bei den Dreharbeiten. Auch in ihrer Rolle als Sängerin Sugar kommt sie wieder einmal zu spät - und der, der auf sie wartet, kommentiert ihre Entschuldigung mit eben diesem lebensklugen Satz: „Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen man wartet.“ - Oder auch worauf! Das schöne Bild des Predigttextes vor Augen müsste sich das Warten doch eigentlich aushalten lassen. Zumal das lange Warten sowieso bald zu Ende zu sein scheint. Beginnt der Text doch mit den Worten: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile.“ Bei so einer Aussicht kann die Hoffnung doch gut leben.

II.

Gleich mehrfach dreht diese angekündigte Wende die Wirklichkeit einfach um. Und jedes Mal geht es um mehr als nur um eine leichte Retusche. Die Welt, wie sie ist, wird nicht verbessert oder neudeutsch: optimiert. Sie wird verwandelt. Ganz grundlegend. Gottes Vollkommenheit ist nicht die Perfektionierung dessen, was noch unvollkommen ist. Sie ist eine Überwindung des Bestehenden, um etwas ganz Neues zu schaffen. Verwandelt wird im Bild unseres Textes die Natur: Ödes, karstiges Land wird zu einem Naturparadies in Gestalt eines vor Leben strotzenden Waldes. Der Libanon mit seinen schroffen, kargen Bergen wandelt sich zu einem blühenden Obstgarten. Auf unsere Zeit übertragen: Das ist, wie wenn wir beim Schnorcheln in einem abgekühlten, sauberen Meer die Korallenriffe wieder farbenfroh und unzerstört sehen, und um uns herum wimmelt es von bunten Fischarten. Die jungen Leute, die angesichts der unaufhaltsam erscheinenden Erderwärmung, Extremwetterlagen, Artensterben, Tauen der Permafrostböden von einer apokalyptischen Verzweiflung beherrscht werden und sich hoffnungslos zur „letzten Generation“ ernannt haben, würden bei dieser Vision nur bitter abwinken und den alten Marx bemühen: Religion als Opium fürs Volk! Zumal die Verwandlung, von der unser Text spricht, ja ohne menschliche Mitwirkung geschehen soll. Ein zutiefst antizyklisches Hoffnungsbild zu unserer Zeit.

Verwandelt wird auch der eingeschränkte, nicht in jeder Hinsicht funktionstüchtige Mensch. Seine Sinne sind wieder in die Lage versetzt, ihre Aufgaben zu erfüllen. Taube können wieder hören. Blinde können wieder sehen. 500 Jahre später wird Jesus dieses Bild als Gleichnis für Gottes neue Welt aufnehmen. Daran, dass das Wort „Behinderung“ fragwürdig ist und dass auch körperliche oder seelische Beeinträchtigungen den unendlichen Wert eines Menschen in keiner Weise in Frage stellen, hat man damals noch nicht gedacht. So wenig wie an die Optimierung des Menschen zur effizienteren wirtschaftlichen Nutzung als „Humankapital“.

Verwandelt werden auch himmelschreiende soziale Ungleichheiten. Denen, die unter dem Strich existieren müssen, wird eine gute Zukunft versprochen. Sie werden, heißt es hier, „fröhlich sein in dem Heiligen Israels“. Und verwandelt werden diktatorische politische und zersetzende gesellschaftliche Verhältnisse. Beschrieben wird dies mit einer Formulierung, mit der unser Text vollends in unserer Jetztzeit angekommen ist: „Es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.“ Schon damals war der Mensch dem Menschen mehr ein Wolf als ein Bruder. Nur dass heute die Wölfe noch viel mehr und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, noch viel größer ist. - Nur eine kleine Weile noch, ehe all das wirklich wird, was wir uns von einer besseren Zukunft erhoffen. Nur eine kleine Weile noch, ehe die Vollkommenheit der Verhältnisse den trostlosen Zuständen ein Ende macht. Sagt der Prophet.

III.

Nur: Die kleine Weile dauert. Sie dauert seit den Tagen Noahs bis zum Vorabend des Tages, an dem diese Welt definitiv an ihr Ende kommt. Sie dauert seit den ersten Seiten der Bibel, als Kain den Abel erschlägt, bis zur Zukunftsvision der Johannesoffenbarung auf ihren letzten Seiten. Wo es heißt, dass Gott aller Gewalt und aller Krankheit, allen Tränen, ja sogar dem Tod selber einst den Garaus machen und sagen wird: „Siehe, ich mache alles neu!“ Die kleine Weile dauert seit den Tagen um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr., als dieser Text geschrieben wurde, bis heute, bis zum 27. August 2023. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Wohin man schaut, hat es die Hoffnung schwer. Zwar stirbt sie bekanntlich zuletzt. Aber sie scheint alt und älter zu werden, schleppt sich oft nur noch mühsam in Zeitlupe voran. Wir erleben in vielen Teilen der Welt, wie ein autoritärer Potentat nach dem anderen zur Macht kommt, und die viele bejubeln das. Auch wenn Grundrechte auf der Strecke bleiben. Und was das Bild der realisierten Gerechtigkeit angeht, das unsere Vision zeichnet: Davon sind nicht nur die entfernten Winkel dieser Erde meilenweit weg. Gerade in unserem Land, im globalen Maßstab unverändert reich, stark und intakt, ist es so, dass das Bildungssystem soziale Verhältnisse einfach reproduziert, statt Chancen neu zu verteilen. Und was die Erderwärmung angeht, deren Folgen längst auch massiv bei uns angekommen sind: Was wir dagegen investieren müssten, liegt offen zutage, und wird bis auf populistische Vereinfacher an den Rändern von niemandem mehr bestritten. Aber die Einsichten kommen nicht an gegen die Sachzwänge, in denen unsere politisch Verantwortlichen manchmal wie in einer Zwangsjacke stecken. Sie kommen auch nicht an gegen die mühsame Nötigung zu Kompromissen, die nun mal der Preis dafür sind, dass wir Gottseidank eine Demokratie und keine Diktatur sind.

Und doch ist dies eben nur die einer Seite. Gegen die Hoffnungslosigkeit der sog. „Letzten Generation“ muss doch auch daran erinnert werden: So vieles ist zum Guten verwandelt worden über die Jahrhunderte und Jahrtausende. Wir haben sehr wohl ein Gespür entwickelt für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist längst weltweit im Blick. Und nicht nur im Überleben der eigenen Sippe und Familie. Wir haben hierzulande das sozialste, demokratischste, rechtsstaatlichste Gemeinwesen, das es jemals in Deutschland gab. Und um nur einmal eines unter vielem, was da zu nennen wäre, anzuführen: Dass viele Krankheiten ihren Schrecken verloren haben, dass die Lebenserwartung heute immer weiter steigt, ist doch eine echte eine Erfolgsgeschichte, bei der medizinische Errungenschaften und vielfache Einsichten in die Zusammenhänge des Lebens Hand in Hand gearbeitet haben. Aber bei allem, was Menschen, die die ihnen gegebenen Gaben nicht vergraben, sondern sie ausbilden und einsetzen, zuwege bringen - das Ziel einer Welt in der Vollkommenheit Gottes lässt auf sich warten. Die große Wende, die Menschen seit eh und je mit ihrem Gottesglauben in Verbindung bringen: sie ist ein Hoffnungsbild immer noch ohne festes Datum.

IV.

„Wohlan, es ist noch eine kleine Weile.“ Doch wie lange, Gott, müssen wir noch warten? Auszuhalten ist dieses Warten doch allemal nur, weil es eben am Ende nicht darauf ankommt, wie lange, sondern worauf und auf wen wir warten. Und erst hier treffen wir auf den Kern des Textes, kommen wir zum Ziel seiner Botschaft. Unsere Hoffnung richtet sich eben nicht einfach auf die Veränderungen der Verhältnisse. Verwandelt wird zuallererst und zuallerletzt die entscheidende Beziehung, die unser Dasein wirklich trägt. Die Beziehung zum Ursprung all dessen, worauf sich unsere Hoffnungen richten und woraus sich unsere Sehnsüchte speisen. Der Prophet sieht diesen Ursprung in dem Gott der Befreiung. Dem Gott, der Richtungen weist in Wüstenzeiten. Der Nahrung gibt in der Zeit der Dürre. Der ein Ziel hat mit dieser Welt. Weil er Gedanken des Friedens und nicht des Leides über sie hat. Und der darin sein Wesen offenlegt. Dass Blinde sehen und Lahme gehen: dieses Bild aus unserem Text wird zu seinem bleibenden Merkmal. Die Vollkommenheit bei Gott, sie kommt ans Ziel nicht in der Perfektionierung der menschlichen Natur, sondern in der Wahrheit des Lebens in all seiner Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit. Gott wird Mensch, wahrer Mensch. Verletzlich, angreifbar, ohnmächtig am Ende. Er gibt sich nicht damit zufrieden, sich vor der Unsauberkeit dieser Welt in Sicherheit zu bringen in unerreichbarer himmlischer Höhe und hinter der schützenden Mauer seiner himmlischen Sphäre.

Was bleibt und was trägt, das ist die Lebendigkeit, die in uns und um uns herum inmitten dieser von so vielen Todesspuren gezeichneten Welt immer wieder aufleuchtet und ihre Wirkung hat. Sie verweist auf den, den der Text selber „den Heiligen“ nennt: Gott. Nahbar und uns zugewandt. Unaussprechlich und doch nicht ohne Ort in dieser Welt. Gott, der große Verwandler, damit, wie Jesaja hier sagt, auch „die, die irren, Verstand annehmen“.

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile! Warten - nicht auszuhalten, wüsste ich nicht, worauf, auf wen ich warte. Gott selbst in unserer Mitte! Und nichts ist mehr wie es war. Diese Welt vollkommen anders. Nicht auszudenken. Aber doch zu glauben. Denn: Am Ende wir alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.


AMEN.

Redebeitrag anlässlich der Kundgebung
»Alle zusammen für Glaubensfreiheit und gegen Islamfeindlichkeit«
am Freitag, dem 25. August 2023 auf dem Neumarkt
von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Seit einigen Jahren gibt es hier im Freistaat Sachsen die sich selbst so nennenden „Freien Sachsen“. Diese „Bewegung“ bewegt sich noch weiter am äußersten rechten Rand als die Partei, die derzeit in jeder neuen Umfrage nach oben schießt. Die „Freien Sachsen“ haben für diesen Abend zu einer Demonstration gegen den Bau einer neuen Moschee in Dresden mobil gemacht. Das ist nicht schön. Aber es ist in einer Demokratie auszuhalten. Es ist von der Meinungsfreiheit gedeckt, die wir, anders als in so vielen Ländern, Gottseidank bei uns genießen, gegen den Bau einer Kirche, einer Moschee, einer Synagoge zu sein.

Aber wenn die „Freien Sachsen“ heute unter dem Leitmotto durch Dresden marschieren: „Kein Islamischer Staat in Dresden! Lassen wir die Kirche im Dorf – und die Moschee in Istanbul!“, dann verkehrt sich der legitime Gebrauch der Meinungsfreiheit in ihren Missbrauch. Denn die freie Meinungsäußerung ist kein Freibrief, eine Religion verächtlich zu machen, indem sie pauschal mit Terror identifiziert wird – und damit auch Menschen wie du und ich, die in dieser Religion beheimatet sind, zu potentiellen Terroristen gestempelt werden. Unsere Verfassung kennt nicht nur die negative Religionsfreiheit, also die Freiheit, von Religion unbehelligt zu bleiben. Das Grundgesetz betont ebenso ausdrücklich auch die positive Religionsfreiheit: die Freiheit, ungehindert seine Religion ausüben zu können. Nicht im stillen Kämmerlein zu Hause, sondern in Versammlungsgebäuden, die für die Öffentlichkeit erkennbar und zugänglich sind. Deshalb können bei uns Kirchen, Synagogen, Moscheen gebaut werden.

Der Islam ist eine der drei sogenannten Abrahamitischen Religionen und als solche die jüngere Schwester des Christentums. Das ist ein Fakt. Zugleich räume ich ein, dass mir selbst manches im Islam aus theologischen und anderen Gründen durchaus fremd ist. Ich finde es enttäuschend und ein Ärgernis, dass in vielen islamischen Ländern nicht von Ferne so etwas wie positive Religionsfreiheit garantiert ist und sich die winzigen Minderheiten der Christen, die es dort noch gibt, nicht in Kirchen versammeln können. In manchen islamischen Ländern werden Christen auch offen verfolgt, an Leib und Leben bedroht, wenn sie sich öffentlich als Christen kenntlich machen. Das ist zu kritisieren und manchmal wünschte ich mir, die Kritik daran würde von der Politik und den Kirchen vernehmbarer geäußert – um der Christen in diesen Ländern willen und auch, damit die berechtigte Kritik nicht durch die am rechten Rand missbraucht wird, die sich zwar als Gralshüter des „christlichen Abendlandes“ inszenieren, aber in Wahrheit Kirche und Christentum eher verachten, jedenfalls herzlich wenig damit am Hut haben. Denn es geht ihnen nicht um verfolgte Christen weit weg, sondern darum, den Islam und Muslime verächtlich zu machen und bei uns eine Stimmung der Feindschaft gegen sie zu schüren.

„When they go low, we go high“ – wenn sie schmutzig werden, im Trüben fischen, bleiben wir erst recht fair. So sprach Hillary Clinton im Wahlkampf 2016 auf Donald Trumps Methoden anspielend. Das muss auch für unser Verhältnis zum Islam gelten: Dass Christen in islamischen Ländern elementare Glaubensrechte verweigert werden, ist uns hier erst recht Ansporn, die positive Religionsfreiheit für Menschen aller Religionen zu garantieren.

Und was ist wenn – durchaus nicht nur von den Rechten, sondern auch von vielen aus der bürgerlichen Mitte – immer wieder gegen den Islam eingewendet wird, er sei eine gewalttätige Religion? Mir kommt dabei George W. Bush in den Sinn. Ein Präsident, der aus guten Gründen ziemlich ungut beleumundet ist. Unter den Folgen seiner fatalen Politik nach dem 11. September leidet die Welt noch heute. Eines ist mir von diesem Präsidenten aber positiv in Erinnerung geblieben: Zwei Tage nach den Terroranschlägen von 9/11 besuchte er demonstrativ eine Washingtoner Moschee. Er wollte damit ein Zeichen setzen: Das, was uns diese Muslime angeblich im Namen ihres Gottes angetan haben, das ist nicht der Islam an sich. Den werden wir in Amerika, dem „Land der Freien“, weiterhin achten und seinen Angehörigen die freie Religionsausübung gewährleisten. Fundamentalismus und Fanatismus gab und gibt es in jeder Religion. Sie sind kein besonderes Kennzeichen des Islam. Wer die Geschichte des Christentums ein wenig kennt, weiß das wohl.

Dasselbe Zeichen wollen wir hier und jetzt setzen. Aus gutem Grund. Der Hass, der von Deutschland ausgegangen war, führte am Ende dazu, dass diese Kirche vor 78 Jahren in Trümmern versank. Die Versöhnung, die Bereitschaft, im anderen nicht mehr den Feind, sondern den Menschenbruder zu sehen, ermöglichte das Wunder ihres Wiederaufbaus.

Und im Übrigen: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ hat Jesus gesagt (Joh 14,2). Wer wollte sich die Sicherheit anmaßen zu urteilen, dass der Islam keine der vielen Wohnungen in Gottes weiträumigen Hause ist? Ich danke Ihnen und euch allen, dass Sie jetzt hier sind!

Jesus aber sagte zur Frau: Dein Glaube hat Dich gerettet. Geh in Frieden! (Luk 7,50)

Predigt gehalten von Prof. Dr. Christoph Sigrist Pfarrer am Grossmünster Zürich, Reformierte Kirche im Kanton Zürich

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Liebe Gemeinde,

hier stehe ich, und kann nicht anders! Ja, ich predige in Schweizer Hochdeutsch. Ja, ich bin reformiert. Ja, ich predige im reformierten Talar mit typisch reformierten Beffchen. Halt, so höre ich meine Kolleginnen sagen: Das Beffchen ist typisch lutherisch! Und einige von Ihnen wissen auch, dass ich den Satz, den man Martin Luther am Reichstag zu Worms 1521 zuschreibt, mir in den Mund legte.

Hier stehe ich, und kann nicht anders! -, als den von der lutherischen Tradition auf diesen Sonntag zugeschriebenen Predigttext reformiert in aller Freiheit auszulegen. Ich habe in meiner reformierten Seele ein besonderes Gespür für Bilder, in deren Rahmen wir Menschen kategorisch einfassen. Wussten Sie, dass die Zählung der 10 Gebote in unserer Tradition unterschiedlich ist: Weil für Ulrich Zwingli, dem Reformator in Zürich, das Bilderverbot so zentral war, setzte er es als 2. Gebot separat hin, während Luther es unter das erste Gebot stellte. Mach dir kein Bild! Wenn Gott und Menschen in Bildern schubladisiert werden, heult meine reformierte Seele auf.

Wer nun denkt, dass ich weit vom Predigttext abgeschweift bin, täuscht sich. Die Geschichte erzählt von Pharisäern. Sie beschreibt eine Frau, Sünderin, die Füsse trocknete, küsste, salbte. Und die Geschichte setzt Jesus nicht mitten zwischen Sündern und Säufern, sondern in das Haus eines Pharisäers. Alle drei, Pharisäer, Sünderin, Jesus, lösen bei vielen von uns Assoziationen aus, Bilder, die tief unsere Vorstellungswelt prägen. Die Geschichte legt sie radikal offen. Schauen wir für einmal hin, und halten wir den Blick aus.

Die Erinnerung an die Salbung halten alle vier Evangelien fest. Die Evangelisten Markus, Matthäus und Johannes (Mk 14,3-9, Mt 26,6-13, Joh 12,1-8) verbinden die Salbung mit der Passion Jesu. Johannes versteht die Geste als vorweggenommene Totensalbung. Gastgeber ist da nicht Simon, der Aussätzige. Sondern Maria, die Schwester von Lazarus, den Jesus erweckt hat, salbt Jesus die Füsse. Die Kritik, dass dies verschwendetes Geld ist, spricht bei Johannes Judas, der Jünger aus. 300 Silbergroschen ist das Nardenöl wert, rechnet Judas Jesus vor, und wird ihn mit 10% der Summe später verraten (Joh 12,5).

Diese Bilder von Judas, Verrat und Geld verschoben sich ineinander. Sie trugen zum wachsenden Antijudaismus in unserem christlich geprägten Abendland bei. Lukas, der zur zweiten Generation der Jesusbewegung gehört, zeichnete diese Linie noch weiter aus. Er skizziert ein klassisches Gastmahl, wie er es aus seiner hellenistisch geprägten Mitwelt kannte, ins Haus eines Pharisäers. Er schrieb die Rolle des Gastgebers einem Pharisäer zu, die Rolle der Frau einer stigmatisierten Sünderin, einer Hure.  Damit liefert Lukas der antijüdischen und sexistischen Tradition unseres christlichen Glaubens mit seinen Bildern allzu brauchbares Material. Ich wähle drei Bilder aus.

Mach dir kein Bild! Ich setze beim Pharisäer an: Lukas charakterisiert den Pharisäer Simon so gut, dass er christliche Vorurteile zu festigen vermag: Ein Pharisäer erwartet, dass die Reinheitsgebote erfüllt werden: Er vertritt rigid das Gesetz. Ein Pharisäer spricht nicht aus, was er denkt: Er ist ein Heuchler. Ein Pharisäer geht nur widerwillig auf die Argumentation des andern ein: Er ist unbelehrbar. Ein Pharisäer liebt im Gegensatz zur Frau wenig: Er ist lieblos. Lukas liefert ein Zerrbild von einem Pharisäer, als dunkle Hintergrundfolie zu Jesus, ein Bild, das bis heute zur Hand genommen wird, wenn es um unsere jüdischen Schwestern und Brüder geht.

Unsere jüdischen Schwestern und Brüder? Ja! Ich befürchte, dass nicht nur in den Passionsspielen die Juden jahrhundertelang die Bösen waren, welche die Kreuzigung Jesu vorantrieben. In meiner Arbeit als Seelsorger schilderte mir ein Unternehmer kürzlich überzeugt, dass für ihn klar ist, dass die Juden Jesus gekreuzigt haben. Ich korrigierte ihn: „Der römische Machtapparat war verantwortlich für den Tod Jesu. Dazu kommt: Jesus war kein Christ.“ Er erschrak. Dass Gesicht rötete sich: „Oh, das stimmt ja, ich schäme mich, ich dachte das bis jetzt auch.“

Liebe Gemeinde, Jesus war ein Jude, der das Reich Gottes demnächst erwartete, wie es viele damals waren, auch die Pharisäer. Beide wollten die breite Bevölkerung erreichen. Zwischen ihnen gab es Streit, wie die richtige Lebensweise aussah, und wie diese Sehnsucht theologisch gefasst werden soll. Als eine Ehebrecherin gesteinigt werden sollte, sagte Jesus: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Die Pharisäer hörten auf Jesus, und sie legten die Steine weg (Joh 8,1-11).  

Das negative Bild entstand erst am Ende des 1. Jhdt, als sich das Christentum als eigenständige Tradition etablierte. Man stellte die Zeugnisse zusammen. Seitdem galten die Pharisäer herzlos, heuchlerisch, selbstgefällig im Befolgen des Gesetzes. Die Pharisäer mussten zu Gegnern gemacht werden, mit ihnen die anderen Juden auch. Meine Freunde, die Rabbiner der jüdischen Gemeinden in Zürich, helfen mir, den jüdischen Glauben nicht nur aus Sicht des christlichen Glaubens zu betrachten. Dazu ist es nötig, auch die biblischen Geschichten neu zu lesen. Jesus war ein Jude seiner Zeit. Und wir lesen in unserer Geschichte von einem Streitgespräch zwischen jüdischen Lehrmeinungen über die Thora.

Mach dir kein Bild! Ich komme zur Frau, eine Sünderin. Sie lebt als gesellschaftlich Diskriminierte. Ihre Dienste, moralisch verwerflich, werden mehr oder weniger versteckt in Anspruch genommen. So überleben sie, die mal Huren, mal Prostituierte, mal Sexarbeiterinnen genannt werden, am Rande der Gesellschaft. Sie sind von der Not zuerst betroffen. Während des Lockdowns im Frühling 2020 mieteten wir von der Diakonie ein leerstehendes Hotel, weil die Sexarbeiterinnen nicht mehr nach Hause fliegen konnten und kein Geld verdienten. Ihr Aktionsradius ist festgeschrieben und sehr eng. Und – die Frau ist sprachlos, sie hat keinen Namen.

Sprachlos, keinen Namen, stigmatisiert. Die Frau in der Geschichte steht für viele Frauen in unserer Zeit. Sie sind namenlos, ohne Papiere. Sie pflegen den alten Herrn in der Villa und die demente Frau im Heim. Sie hegen und putzen die Häuser der Reichen und leben zusammengepfercht in Notwohnungen, unerkannt und immer voller Angst, entdeckt zu werden. Ihre Kinder gehen in die Schule. Niemand darf wissen, was ihre Mutter tut. Heute wird sie nicht als Sünderin bezeichnet. Mir scheint, dass Migrantin an ihre Stelle getreten ist. Die Migrantin wird in der Schweiz zum Spielball politischer Wahlkämpfe mit Blick auf den heissen Herbst. In Positionspapieren werden sie als „unerwünschte Ausländer“ tituliert, mehr noch: Im Unterschied zu den „Besten“ als „ausgewiesene ausländische Spezialisten für die Wirtschaft“, werden sie als „Massenware“ bezeichnet.1

Die Frau in der Geschichte bricht in Tränen aus. Die Tränen gelten ihrem Schicksal, nicht ihrer Schuld. Die Belastung mit Schuld ist nicht ihre Tat, sondern die derer, die ihre Notlage nicht wenden, ihr nicht helfen, sie einen Ort am Rand zuweisen. Jeder und jede unter uns, die jemals öffentlich so ein Gefühlsausbruch erlebte, wissen, wie verzweifelt versucht wird, sich zu fangen. Die, die zuschauen, sollen nichts sehen von der Scham, von der Verunsicherung, von der Ratlosigkeit. Mein Gott, diese Frau steht nicht für Menschenware, sondern für wahre Menschen, die gesehen werden möchten, gehört und verstanden. Jesus hält es aus. Jesus lässt sich berühren. Und Menschen um ihn sagen später, in ihm hätten sie Gott gespürt.2

Mach dir kein Bild! Ich schaue zum Dritten auf Jesus, der doch war wie Gott. Häufig stellen die Evangelien Jesus als Freund von Sündern und Zöllnern dar, als Fresser und Säufer (Luk 7,34), in einem theologischen Disput mit anwesenden Gäste, eine Diskussion, die meist mit der Frage endet: „Wer ist dieser, dass er sogar Sünden vergibt?“ (Lk 7,49). Nur schon die Frage macht deutlich, dass Jesus den Ort von Gott einnimmt. Für Jesus ist Sünde kein individueller Rechtsbruch, sondern gescheiterte Beziehungen. Als Jude hat er gelernt und lehrt es als Rabbiner: Für das Leben, das gelingt, weil die Beziehungen zwischen Gott, Mensch, Geschöpfe und Schöpfung schwingen, steht die Tora als Buch des Lebens. Für Jesus war klar: Nur Gott definiert, was Sünde ist. Die Pharisäer repräsentieren die Hierarchie, die autoritativ und im Namen Gottes entscheidet, was Sünde ist, wer Sünderin ist. Gott wird in dieser patriarchalen Ordnung zur berechnenden Grösse eines Kaufmanns. Der Ablasshandel in Gottes Namen ist ihre Perversion.

Gegen dieses ökonomische Bild von Gott stellt Jesus ein anderes. Es ist das liebliche Bild des Schenkens und Verschenkens: „Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner, der eine schuldete ihm fünfhundert Denar, der andere fünfzig. Da beide es nicht zurückzahlen konnten, schenkte er es beiden.“ (Luk 7,41). Schenken hat mit Grosszügigkeit zu tun. Wer grosszügig ist, will, dass es dem andern wohl ist. Wohl sein empfinde ich, wenn ich geliebt werde. Liebe provoziert ökonomisch und politisch: Denn wer liebt, sieht die Person als wahren Menschen und redet nicht billig über Menschenware. Jesus insistierte bei Simon, dem Pharisäer: „Siehst du diese Frau?“ (Luk 7, 44). Liebe ordnet theologisch ein: „Ihr Lieben, lasst uns einander lieben! Denn die Liebe ist aus Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt. Denn Gott ist Liebe.“ (1.Joh 4,7.8).

Liebe Gemeinde, ich habe drei Bilder aus der Geschichte ausgewählt und sie dem Bilderverbot ausgesetzt: Mach dir kein Bild vom Pharisäischen des Pharisäers. Mach dir kein Bild vom Sündhaften der Frau. Mach dir kein Bild vom Herrischen Deines Gottes.

In unserer Geschichte geht es um mehr als um die Differenz im Gottesbild. Es geht um die Differenz im Umgang mit stigmatisierten Menschen. Dafür stehen die Sünderinnen damals, Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter heute. Sie sind gesellschaftlich in der Tat auch nach 2000 Jahren immer noch geächtet, zur Menschenware gemacht. Jesus ruft sie nicht zur Busse oder Umkehr. Er vertraut neuen Wegen. Er spricht ihnen den Platz am Tisch im Reich Gottes zu, wo die Letzten die Ersten sein werden. Er lädt sie zu einem Gastmahl ein, das jedes römische Gelage hinter sich lässt. Er sieht sie als Teil einer Gemeinschaft, die neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. Leben heisst, sich regen, weil Leben wandern heisst. Gott kommt dir entgegen, du wirst ein Segen sein, die Zukunft ist dein Land, du bist ein Versprechen Gottes. Dein Glaube hat dich gerettet, geh in Frieden!

Was hindert es uns, liebe Gemeinde, noch, zu sagen mit und ohne lutherisches Beffchen, ob reformiert, lutherisch, evangelisch, katholisch, religiös oder atheistisch: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, als aufzubrechen in Gottes Namen?

AMEN.

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1 Vgl. dazu: Fabian Schäfer, Die SVP rechnet das Wirtschaftswachstum klein, in: NZZ, 4. August, 9. Vgl. auch das Positionspapier der SVP selbst: „Die Schweizer Wirtschaft muss ausgewiesene ausländische Spezialisten unbürokratisch anstellen können – auch solche von ausserhalb der EU. Auch hier gilt: Keine Massenware – wir wollen die Besten.“ Seite 43 (hier abrufbar)

2 Vgl. zum Ausdruck „Menschenware – wahre Menschen“ das Buch vom Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber:  Menschenware, wahre Menschen, Zürich, 1987.

Salz und Licht – im rechten Maß

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

das sind markante Bilder für das Christsein, die Jesus hier in der Bergpredigt findet. Sie sind so allerweltsbekannt, dass uns das Feeling verloren gegangen ist, wie ungeheuerlich sie eigentlich sind. Jesus stellt uns hier nämlich auf dieselbe Stufe wie - sich selbst. „Ihr seid das Licht der Welt“. Im Johannesevangelium sagt er das wortgleich von sich: „Ich bin das Licht der Welt“! Er macht also nicht den geringsten Unterschied zwischen sich, dem einen Gerechten, und uns, den Sündern, die wir in die vielen himmelschreienden Ungerechtigkeiten dieser Welt tief mitverstrickt sind. Ist das nicht eine schwindelerregende, uns total überfordernde Elle, die er hier anlegt?

I.

Überraschend ist allerdings, dass Jesus gerade hier in der Bergpredigt, die wir immer mit Ethik, mit klaren Handlungsanweisungen verbinden, nicht auf die uns oft bedrängende, manchmal auch lähmende Frage eingeht: Was sollen wir tun? Kein Appell aus seinem Mund. Stattdessen antwortet er auf die Frage: Wer sind wir eigentlich - dass wir die Ärmel hochkrempeln und etwas Sinnvolles für diese bedrohte Welt beitragen können. Wir sind doch angesichts der globalen Herausforderungen alle nur kleine Lichter. Durchschnittsleute, an allen Ecken und Enden auf unsere Grenzen und Ratlosigkeiten stoßend. Aber Jesus sagt dazu: Nein! Ihr seid von Gott her, den ich euch bringe, Licht für die Welt, Leuchtreklame Gottes! Ihr, ausgerechnet ihr macht die Welt hell, stellt sie ins Licht. Ihr, die ihr euch oft so mittelmäßig vorkommt, seid Salz der Erde, ihr gebt der Welt Würze und macht sie genießbar, dass sie nicht fade schmeckt.

Jesus bleibt seiner Art der Verkündigung auch hier in der Bergpredigt treu, indem er, um das wirklich Wichtige zu sagen, das, was uns sein Herz aufschließt, anschauliche, einfache Bilder aus dem Alltagsleben verwendet. Wie in seinen Gleichnissen. Hier also Salz und Licht. Das mit dem Salz ist nicht selbstverständlich. Warum hat Jesus nicht ein anderes Bild für seine Gemeinde gewählt? Warum sagt er nicht: „Ihr seid der Honig der Welt“? Das wäre doch viel schöner. Honig schmeckt immer gut, er ist schon in der Bibel - „Das Land, wo Milch und Honig fließt“ - ein Sinnbild für das Schöne, Paradiesische. Aber hier statt Honig Salz! Jesus meint also, dass seine Gemeinde mehr und anderes ist als Produzent von Schönheit und Wellness. Also auch kein Ort, wo wir uns nur Honig um den Mund schmieren.

Im Übrigen ist das Salz, sehr im Unterschied zum Honig, ist ein elementares, unverzichtbares Lebens-Mittel. Honig ist Kür, er ist auch verzichtbar. Salz ist Pflicht. Salz ist ein Lebenselixier für unsere Körper. Im Durchschnitt verzehrt jeder von uns ca. 6 Gramm Salz pro Tag, das macht im Jahr die erstaunliche Menge von über 2 Kilo. Zur Zeit Jesu war Salz eine Kostbarkeit, nicht wie heute zu Billigpreisen erhältlich. Ein unscheinbares Gewürz, und doch unentbehrlich. Nicht zufällig sprechen wir, wenn wir etwas meinen, durch das eine Sache erst interessant wird, vom „Salz in der Suppe“. Anderes ist nur fürs Auge, aber das Salz in der Suppe ist unverzichtbar. Die weißen Körnchen sind überaus vielseitig und aus unserem Alltagsleben nicht wegzudenken. Was würden wir etwa ohne Salz machen, wenn es schneit und der Boden friert und glatt wird?

Noch offensichtlicher ist es mit dem Licht. Ohne Licht kein Leben auf der Erde. Licht lässt wachsen, es sorgt für die Photosynthese, ist lebensnotwendig. Wie sehr genießen wir jetzt in der Sommerzeit die lichtreichen Tage! In vielerlei Weise, nicht nur draußen durch Ampeln und Straßenlaternen strukturiert das Licht unseren Alltag. Wenn es fehlt, sind wir praktisch blind und orientierungslos, wie ein Schiff in der Dunkelheit, dem nicht ein Leuchtturm den Weg weist. Spätestens beim abendlichen Stromausfall durch ein Gewitter spüren wir das elementar.

II.

Wenn Jesus also sagt, dass wir Salz und Licht sind, weist er uns nicht nur eine bedeutsame, sondern eine lebensnotwendige Rolle in der Welt zu. Er sagt das nicht zu einer christlichen Elitetruppe, zu solchen, die mit allen Kräften danach streben, ein heiligmäßiges Leben zu führen. Sondern zu den vielen Namenlosen, die da oberhalb des Nordufers am See Genezareth um ihn herumstehen. Eben erst hat er sie in den Seligpreisungen als geistlich Arme angesprochen, also als Leute, die mit leeren Händen dastehen, von Leiden und Krankheit niedergedrückt, nach mehr Gerechtigkeit hungernd und dürstend, weil sie ihr Leben als gnadenlos erfahren. Ihnen, diesen vom Leben gezeichneten, ohne große Perspektive dahinlebenden kleinen Leuten spricht Jesus die umwerfende Qualität zu: Ihr seid Licht der Welt, ihr seid Salz der Erde! Deshalb brauchen wir die Kirche, die Gemeinde Jesu, um uns bei allen Fragen, was wir tun sollen, als erstes sagen zu lassen, wer wir in Gottes Augen sind. Darum feiern wir jeden Sonntag Gottesdienst, um uns immer wieder vom Evangelium her das sagen zu lassen, was wir uns selbst gar nicht zutrauen.

So wie ein einzelnes Salzkorn nicht reicht, damit die Suppe wirklich schmackhaft wird, und ein einzelner Lichtstrahl die Dunkelheit zwar brechen, aber nicht vertreiben kann, so auch mit uns. Erst gemeinsam werden wir wirklich stark und können etwas bewegen. Denn erst ein gewisses Quantum Salz aus vielen einzelnen Körnchen macht eine Speise würzig. Erst viele einzelne Lichtstrahlen erhellen die Dunkelheit. In den 1980er Jahren war in Kirchenkreisen ein Spruch populär, der wohl etwas naiv und kitschig klingt, aber im Kern doch etwas Richtiges meint: „Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, können sie die Welt verändern.“ Die Zeit der frühen Christen beweist, dass das stimmt. Die Art, wie sie miteinander lebten, war ein echtes Gegenmodell gegen den Mainstream des antiken way of life, löste nach und nach eine epochale Umwälzung aus. So lehnten sie etwa Abtreibungen und Kindestötungen konsequent ab, im Widerspruch zu ihrer Umwelt, für die Selektionsprozesse selbstverständlich waren. Sie pflegten liebevoll ihre Kranken und bauten soziale Netzwerke auf, in denen sie Außenseiter auffingen. Die Zuwendung zu den Schwachen und das liebevolle Augenmerk auf den Beginn und das Ende des Lebens strahlte mehr und mehr aus und ermöglichte den Aufstieg des Christentums von einer randständigen Sekte zur Weltreligion. Vor dem Hintergrund antiker Philosophien und Weltanschauungen war das neue christliche Verständnis vom unantastbaren Wert jedes Menschen als Ebenbild Gottes, unabhängig von seiner Leistungskraft, eine Revolution. Salz der Erde und dem Licht der Welt: was Jesus damit meinte, wurde hier unüberbietbar konkret.

III.

Jesus warnt aber auch: Salz, wenn es nicht gebraucht wird, zieht Feuchtigkeit an. Es verklumpt und wird unbrauchbar. Damit trifft Jesus ins Schwarze: Eine Kirche, eine Gemeinde, die nur bei sich selbst bleibt, die ihre ganzen Energien in Selbstbeschäftigung und Besitzstandswahrung investiert, wird zu einem Klumpen, der für die Welt unbrauchbar wird. Das ist die Gefahr des Ghettochristentums, von der auch wir nicht sicher sind, trotz aller Möglichkeiten zur öffentlichen Präsenz, die uns in Deutschland (noch) garantiert sind. Christen sind von Jesus immer gesandt, sie sollen nicht auf der Stelle treten und sich mit sich selbst beschäftigen, sondern sie sind auf den Weg gebracht, hinaus aus den eigenen vier Wänden, hinein in die Welt.

Es gibt aber auch die umgekehrte Versuchung. Das Salz wird nämlich auch dann unbrauchbar, wenn es unterschiedslos in der Speise, die es würzen soll, aufginge. Seine Wirkung beruht ja darauf, dass es als Gewürz etwas anderes ist als die zu würzende Speise. Die Kirche würde kraftlos, wenn sie, bei aller Solidarität, nicht doch in einer letzten Unterschiedenheit zur Welt existierte. Wären wir als Kirche vorrangig ein Betrieb zur Befriedigung politischer oder emotionaler Bedürfnisse: dann wären wir nicht mehr Kirche Christi, die in der Welt, aber nicht von der Welt ist.

Ähnlich äußert sich Jesus zum Licht: was nützt es, wenn es unter einem Scheffel steht? Es brennt dann zwar, aber es hat keine Leuchtkraft, breitet sich nicht aus. Und was heißt das für uns? Konkrete Handlungsanweisungen gibt Jesus keine - aber er fordert uns auf, unser Licht leuchten zu lassen, damit, so formuliert er, „die Menschen unsere guten Werke sehen“. Was für ein Anspruch! Aber Jesus erwartet nicht, dass wir ein moralisch supervorbildliches Leben führen. Es ist schon eine Menge, wenn wir im Kleinen anfangen. Und dazu gehört zunächst mal ganz schlicht, dass wir uns als Christen zu erkennen geben. Es ist doch merkwürdig, dass uns das in unserem Kontext, also dem sog. „christlichen Abendland“, so wahnsinnig schwerfällt. Ich nenne nur mal das Beispiel, woran man einen Christen eigentlich am einfachsten erkennen sollte: das Gebet. Woran liegt es, dass betende Menschen - außerhalb des Gottesdienstes - fast völlig aus unserem Gesichtsfeld verschwunden sind? Woher kommt es, dass Vertreter des öffentlichen Lebens sich wegducken, wenn es um ihr Christsein geht? In Amerika lädt jeder Präsident einmal im Jahr zum „Prayer breakfast“ ins Weiße Haus ein, und alle kommen. Bei uns ist dergleichen undenkbar. Ich erinnere noch die unterschwellige Häme, die zu der Zeit, als Joachim Gauck Bundespräsident war, manchmal in Medienberichten durchschien, wenn es hieß, eine seiner Reden sei „wieder einmal mehr eine Predigt“ gewesen. Ich weiß auch nicht, warum wir in diesen Dingen den Scheffel so schnell griffbereit haben, um ihn über unser Licht als Christen zu hüllen. Vielleicht ist es leichter, das Salz auszustreuen und das Licht vom Scheffel fernzuhalten, wenn man sein Christsein in einer feindlichen Umwelt leben muss, wie die Christen hier in der damaligen DDR. Johannes Hempel der Bischof dieser Landeskirche vor und nach der Wende, sagte rückblickend einmal: „Wir konnten so schön urchristlich sein, weil unsere Gesellschaft so schrecklich unchristlich war.“

IV.

Jedenfalls, es bleibt wahr, was Goethe den Götz von Berlichingen sagen lässt: „Wo viel Licht ist, ist auch starker Schatten.“ Ja, zu viel Licht hat zerstörerische Folgen, vom Sonnenbrand bis zu Dürrekatastrophen. So auch beim Salz. Auch die „versalzene Suppe“ ist sprichwörtlich für ein gescheitertes Unternehmen. Es kommt also auch bei der Sendung der Gemeinde Jesu auf ein rechtes Maß, eine gute Balance an. Dazu abschließend zwei Beispiele. Sie helfen mir, diesen doppelten Weltbezug des Christlichen aus Distanz und Hinwendung zu verstehen.

Einmal Dietrich Bonhoeffer. Er konnte einerseits geradezu radikal sich von der Welt distanzieren. In dem illegalen Predigerseminar Pommern, das er leitete, lebte er mit den jungen Vikaren der Bekennenden Kirche eine fast klösterliche, strengen Regeln unterworfene Gemeinschaft, sehr weltabgewandt. Heute völlig undenkbar. Und derselbe Bonhoeffer tat dann das wenige Jahre später, was sonst kaum ein Kirchenmann wagte: Er ließ den kirchlichen Widerstand hinter sich und ging ganz ins Zwielicht der Welt hinein, indem er sich den Verschwörern gegen Hitler anschloss.

Zweites Beispiel, ich habe es eben schon angedeutet: Die Kirche in der DDR und ihr Versuch, eine Ortsbestimmung ihrer schwierigen Lage dort vorzunehmen. Sie prägte die berühmte Formel von der „Kirche im Sozialismus“. Manch einer hat den DDR-Kirchen später vorgeworfen, sie hätten sich damit den Machthabern anbiedern wollen. Das war ein böswilliger Anwurf. Mit dieser Formel wollte die Kirche in der DDR sich vielmehr versichern, wo ihr Auftrag, wo aber auch die Grenzen lagen. Nicht „Kirche für oder gegen den Sozialismus“, also keine Parteinahme für oder gegen ein Gesellschaftssystem, sondern „Kirche im Sozialismus“. Als eine Ortsbestimmung in dem Sinn: Hierher sind wir von Gott gestellt worden, ob uns das gefällt oder nicht. Hier sollen wir Salz der Erde, Licht der Welt sein. Gerade dieses Selbstverständnis hat entscheidend dazu beigetragen, dass ein 9. Oktober 1989 in Leipzig möglich wurde.

So sind wir, wie Jesus es hier ins Bild fasst, als Kirche Christi „Stadt auf dem Berg“: nicht von dieser Welt, weil unser Name woanders eingeschrieben ist. Aber in dieser Welt, uns freuend mit den Fröhlichen, weinend mit den Weinenden, und so in der Nachfolge dessen, der von weit her in die Welt kam, ein Fremdling in ihr blieb und dennoch eine Spur in sie gezogen hat, die seither nicht mehr aus ihr wegzukriegen ist. Oder wie es der Theologe Helmut Gollwitzer einmal ausgedrückt hat: Christen sind fremd in der Welt, und gerade darum mehr als andere in ihr Zuhause.


Amen.

Predigt gehalten von Pfarrer Sebastian Feydt, Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig und ehemaliger Frauenkirchenpfarrer

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Liebe Gemeinde,

wonach suchen Sie heute Morgen hier im Gottesdienst? Wonach suchen wir überhaupt?
So zu fragen stellt uns mitten in die Geschichte des Johannesevangeliums hinein.
Es ist Jesu Frage: Was sucht ihr?

Eigentlich stellt sich diese Frage immer.
Unser Leben lang sind wir auf der Suche.
Wir suchen nach Sinn und Wahrheit im Leben. Wir suchen nach Glück und Frieden.
Wir suchen unserem Leben ein Ziel zu geben. Ein Wohin zu bestimmen. Auch meine Frage nach dem, wozu das alles gut ist, ist ein Suchen.
In alledem verbirgt sich auch die Suche nach Orientierung, nach Halt, letztlich nach Gott.

Jesu erste Worte überhaupt im Johannesevangelium, seine Frage »Was sucht ihr?« eröffnen einen weiten Raum meines religiösen Lebens, meines Glaubens.
Was suche ich da eigentlich?
Geht es mir im Glauben um einen »Mehr« an Gewissheit, ein starkes Vertrauen;
geht es mir um die Antwort auf die Frage: Wohin mit meinem Leben?
Suche ich danach, als Mensch von Gott gesehen und damit mit Ansehen beschenkt zu sein?
Suche ich danach, erkannt zu sein?
Anerkannt, wie die Jünger?


Liebe Gemeinde!

Es gibt bestimmt auch in Ihrem alltäglichen Leben diese Momente, die uns von den Jüngern erzählt werden: Wo ich mich in meinem Herz und in meinem Verstand von Gott gesehen und angesprochen fühlen.

War das der Moment der Taufe oder Konfirmation ihrer Kinder oder Enkelkinder?
War es eine Trauung? Der eignen oder der anderer?
Wann fühlen wir uns im Leben von Gott berührt?
Bei einer Segnung?
Zum Jubiläum der Trauung nach 50 oder nach 60 Jahren?

Ich habe über viele Jahre erleben dürfen, wie Menschen hier unter der Kuppel dieser Kirche so angerührt und angesprochen waren, dass sie immer wieder zurückgekommen sind hierher, sich selbst erstmalig als neugierig auf religiöse Themen erlebten oder lang andauernde Konflikte oder Zerwürfnisse in ihrem Umfeld versuchten aufzuheben oder zu versöhnen. Gespräche, die hier in der offenen Kirche geführt wurden, waren mit einem Aufatmen verbunden. Und nicht selten sind es einfach nur Blicke, oder ein Lächeln, eine einladende Geste, die dieses Gefühl: Jetzt bin ich gemeint, hier bin ich willkommen, auslösen.

Und nicht nur hier in einer Kirche. Das kann mitten im Alltag, gleichsam im Vorübergehen, auf der Straße im Café, im Fitnessstudio, bei einer Zugfahrt oder anderen Orts geschehen. Mitten im Leben, beiläufig steht da jemand da.
Im Vorübergehen passiert es. Aber es geht nicht vorüber. Es geht nicht vorbei, sondern hat etwas beständiges an sich. Man hält plötzlich inne. Lauscht. Hört hin. Spürt: Hier bin ich plötzlich angesprochen. Hier bin ich gemeint. Ich, mit meinen unbeantworteten Fragen. Ich, mit meiner Sehnsucht nach dem, was mich in meinem Leben erfüllt, ausfüllt, zufrieden sein lässt. Mich zu Frieden finden lässt.


Liebe Gemeinde,

was doch diese schlichte Jesus-Frage Was sucht ihr? verbunden mit dem Angesehen- und Angesprochen-sein auslösen kann!? Dass sich mir ein Raum, ein religiöser Lebensraum öffnet, mit dem ich vielleicht gar nicht gerechnet habe. Das ist die Erfahrung, die auch die beiden Jünger machen. Ihre Antwort auf die Frage »Was sucht ihr?« lautet: »Rabbi, Meister, wo ist dein Bleibe?«

Man möchte meinen: Was für eine Frage? Jesus hat keinen Ort, hat keinen festen Wohnsitz. Aber es geht den Jüngeren auch nicht darum. Sondern um sein Verweilen, sein Bleiben, sein andauerndes Dasein geht es ihnen. Es geht um die fortdauernde Gegenwart des Gottessohnes mit ihnen und bei ihnen. Und das ist nur zu verständlich. Wenn ich mich von Gott gesehen und angesprochen und in meinem Leben orientiert sehe, dann möchte ich, dass das so bleibt. Dass dieser großartige Glaubensraum, den die Begegnung mit den Worten Jesu eröffnet, auch Bestand hat.

»Kommt und seht!« ist die Antwort Jesu.
Zwei Schritte sind das.
Ich muss mich bewegen.
Ich kann nicht stehen bleiben, wo ich bin.
»Kommt!« Das ist mit Losgehen, mit Aufbrechen, mit Veränderung des eigenen Standpunktes verbunden.

Und zum anderen mit offenen Augen: »Seht!«
Das, wonach wir im Leben so sehnsüchtig suchen, dass Gebrauchtwerden, dass in meinem Tun erfüllt sein, den Sinn meines Daseins – das lässt sich finden. Das ist zu sehen.
Es bleibt nicht im Verborgenen.

Der Lebensraum, in dem ich wertgeschätzt werden, in dem ich Ansehen geschenkt bekomme, in dem ich wahrnehme, wie ich von Gott getragen bin, dieser Lebensraum ist da. Ich kann darin sein und bleiben. Es braucht dafür auch kein außerordentliches Bekenntnis von mir. Das könnte man ja meinen angesichts dieser Fülle von Bekenntnissen, die Johannes mit dem Geschehen und Angesprochen werden der Jünger zusammen vermittelt: Johannes nennt Jesus »Gottes Lamm«. Andreas nennt Jesus »Messias, den Gesalbten«. Philippus, sagt zu Nathanael »Wir haben den gefunden, von dem Moose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben«. Wir hören, dass Jesus Gottes Sohn und König von Israel ist.

Liebe Gemeinde,

für das Johannesevangelium und für die frühe christliche Gemeinde war es sehr wichtig, Jesus von Nazareth als den Christus, als den Messias, in dieser großen Bandbreite mit all seinen Hoheitstiteln vorzustellen und zu bekennen. Heute ist es wichtig, sich davon nicht einschüchtern, sondern eher anregen zu lassen. Nicht das korrekt formulierte Bekenntnis ist wichtig, sondern meine Bereitschaft, selbst mehr erfahren zu wollen, mich anregen zu lassen, in die Schule des Glaubens zu gehen. Und dabei zu sehen, was der Evangelist Johannes uns unbedingt ans Herz legt: Menschen sehen Jesus, finden zu ihm, finden in ihm etwas für ihr eigenes Leben und finden dabei zueinander, weil sie sich untereinander ansprechen und austauschen und das Erlebte kommunizieren.

Weil sie einander sagen,
wie sie angesehen wurden,
wie sie erkannt und berufen wurden,
wie sie an sich selbst und an anderen bislang noch gar nicht Erkanntes sehen konnten,
ganz neue Seiten etwas entdecken konnten,
etwas, dass sie so noch nicht an sich und anderen wahrgenommen haben.
So entsteht Gemeinschaft. Und so finden Menschen Frieden.

Der offene Himmel über mir, der Lebensraum, den das Vertrauen in Jesus Christus eröffnet – all das ist kein Selbstzweck, sondern eine einzige Einladung zum Mitgestalten der Zukunft: dem Reich Gottes. Dem Reich des Friedens.


Amen.

Gottes Engel haben keine Flügel      

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde, und in ihrer Mitte: liebe Familien Dähnert und Kirbach-Wünscher,

warum taufen wir überhaupt? Was bedeutet dieses Ritual mit Wasser und Pfarrer? Ich will mal ganz elementar ansetzen: Der Taufe liegt das Geheimnis zugrunde, dass wir nicht die Herren über uns selbst sind, dass wir unser Leben letztlich nicht aus eigener Kraft meistern können. Wer könnte das intensiver empfinden als Eltern, die das Wunder der Geburt, des ihnen anvertrauten neuen Lebens erfahren! Wenn wir Eltern werden, dann wird es wieder ganz einfach und klar: Leben, Menschsein - das ist nicht unser Werk. Da können wir buchstäblich nichts machen. Wir können es nur empfangen, das Leben. Staunend und dankbar. Annemarie und Mila sind keine Zufallslaunen der Natur, sondern in ihrer Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit geschaffen und geliebt von dem, an den der staunende Dank des Beters in dem vorhin von uns gebeteten 139. Psalm geht: „Du hast mich gebildet im Mutterleibe; ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“. So will ich uns mit Hilfe von Gottes Wort in Gestalt der beiden Taufsprüche, die Sie für Ihre Töchter ausgesucht haben, bewusst machen, was für ein Geschenk das ist, getauft zu sein, zu Gott zu gehören. Sie sind Gottes Widmung, der erste Eintrag in das Buch des Lebens unserer Täuflinge. Beide kommen aus dem großen Gebetbuch der Bibel, aus den Psalmen.

I.

Beginnen wir mit Annemaries Taufspruch. Er kommt aus Psalm 91. Seine beiden bekanntesten Verse, die Sie als Taufspruch gewählt haben, lauten: „Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie sich behüten auf all deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest“. Musikliebhabern sind diese Worte aus der wunderbaren Vertonung aus Mendelssohns „Elias“ vertraut. Dieser 91. Psalm malt uns in vielfältigen, bewegenden Bildern Gott als Beschützer vor Augen. Er wird als Zufluchtsort und Burg beschrieben, als einer, der unter seinen breiten Flügeln Schutzsuchende birgt. Für mich persönlich transportiert dieser Psalm viel Wärme und ein Gefühl von Geborgenheit, Aufgehobensein. Das kommt daher, dass, als ich klein war, meine Eltern mit mir abends zum Einschlafen oft eine Strophe aus einem Abendlied von Paul Gerhardt gebetet haben, die Annemaries Taufspruch aus diesem Psalm aufnimmt: „Breit aus die Flügel beide, / o Jesu meine Freude, / und nimm dein Küchlein ein. / Will Satan mich verschlingen, / so lass die Englein singen: / ‚Dies Kind soll unverletzet sein‘“ (EG 477,8) Eine zopfige Sprache natürlich, die ein Kind kognitiv gar nicht erfassen kann. Aber die Bilder, von den über mir ausgebreiteten Flügeln, und dem Kind, das unverletzt bleiben soll, die sprachen ganz unmittelbar. Und ließen mich, meistens, ruhig einschlafen.

Von den Engeln ist hier die Rede. Also von jenen geheimnisvollen halb irdischen, halb himmlischen Wesen, die einen besonders engen Draht zu Gott haben und gleichsam die ehrenvolle Funktion von Sonderbotschaftern wahrnehmen, um in seinem Auftrag überall und jederzeit einzugreifen und verfahrene Situationen glücklich zu lösen. Zwar leben wir hier in Mitteleuropa bekanntlich in einer religiös sehr temperierten, um nicht zu sagen unterkühlten Zone. Die Engel aber haben auch bei uns Konjunktur - auch bei solchen, die mit dem Christlichen wenig am Hut haben.

Wenn man sich die diversen Engelsgeschichten in der Bibel ansieht, dann fällt immer wieder auf: Engel sind freie, souveräne Wesen. Sie lassen sich nicht festhalten, nicht für unsere Bedürfnisse vereinnahmen. Sie kommen meistens auf leisen Sohlen, unerwartet, erfüllen ihren Auftrag - und sind dann auch flugs wieder weg. Und meistens merken die Menschen, denen sie geholfen haben, erst im Nachhinein, dass sie es da mit einem Engel zu tun hatten. Wichtig ist auch: wir dürfen uns die Engel nicht so vorstellen, wie sie die Kunst gerne dargestellt hat - mit weißem Kleid, pausbäckig-unschuldigen Gesichtszügen und goldenen Flügeln. „Gottes Engel haben keine Flügel“, unter diesem schönen Titel hat ein bedeutender Theologe eine Lehre von den Engeln geschrieben. Er meinte damit: Gottes Engel können auch ein ganz alltägliches, menschliches Antlitz haben. Bei Engeln dürfen wir, gerade weil sie ungreifbar bleiben, unserer Phantasie ruhig Spielraum lassen.

Ja, manchmal können sogar nichtmenschliche Wesen zu Engeln werden. Am Ende der Sintflutgeschichte ist das so. Da wird sogar eine Taube zum Engel - als sie von ihrem Flug zurückkehrt und das Ölblatt in ihrem Schnabel den ängstlich auf der Arche wartenden Leuten die erlösende Kunde bringt: Wir sind noch einmal davongekommen! Die Welt ist doch nicht weggespült, es gibt wieder Land, festen Boden unter den Füßen. Wir haben eine zweite Chance! Oder denken Sie an die Geschichte von den drei unbekannten Männern, die den alt gewordenen Abraham und Sara die unglaubliche News mitbringen, dass sie doch noch einen Sohn bekommen werden. Von diesen Männern heißt es im Hebräerbrief: „Manche haben ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Hebr 13,2). Die Wendung unserer Alltagssprache, wenn uns jemand aus einer elenden Lage rausgeholfen hat: „Du bist ein Engel!“, die trifft die Sache also auch theologisch ganz genau!

Das heißt also: Es gibt viele Möglichkeiten, derer sich Gott bedienen kann, damit Annemarie in ihrem Leben von seinen Engeln umgeben ist. Und auch Menschen, die für sie solche Engel werden, sie auf ihren Händen tragen können, wie es unser Psalmwort sagt. Das ist wunderbar. Und die beste Methode, in Emelie ein Urvertrauen in Gott und seine Engel - und das heißt: ins Leben - wachsen zu lassen ist, dass Sie, liebe Eltern und Paten, ihr einfach durch die Art, wie sie mit ihr umgehen, sie in ihr Leben hinein begleiten, nahebringen, dass es eine große, lohnende Sache ist, zu leben, da zu sein in dieser schönen, schrecklichen Welt. Weil wir alle, ausnahmslos, getragen sind von der Menschenfreundlichkeit eines Gottes, dessen Interesse an uns nie aufhört.

II.

Und nun zu Milas Taufspruch. Wie gesagt, auch er aus den Psalmen, und zwar aus Psalm 139, wo es heißt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. In diesem 139. Psalm spricht sich auf faszinierende Weise Nähe aus. Und zwar die Erfahrung unüberbietbarer Nähe, wie sie zwischen uns Menschen so gar nicht möglich sein kann. Gottes Nähe! „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. So wie uns die Luft von allen Seiten umgibt, ohne dass wir sie eigens bemerken; so wie uns das Tageslicht von allen Seiten erhellt, ohne doch selber gesehen zu werden: so ist er da: der allgegenwärtige Gott. Er, das können wir in der Bibel immer wieder lesen, kommt uns näher, als wir einander jemals nahekommen können. Wir wissen es ja aus eigener, manchmal leidvoller Erfahrung: wir können selbst in einer glücklichen Liebe dem Anderen niemals so nahekommen wie er sich selbst nahe ist.

Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Von allen Seiten. Nicht nur von den Schokoladen- und Sonnenseiten, die das Leben hoffentlich reichlich für Mila bereithält. Diese umfassende Nähe Gottes gilt auch für die Seiten, die mühsam und traurig sind, von denen aber kein Leben verschont bleibt. Seit er, der lebendige Gott, in dem Menschen Jesus bis auf die dunkelste Seite, die Seite des Todes gegangen ist, seit er selbst all das durch hat, was es im Leben auch an Leid geben kann, seither können wir uns darauf verlassen, dass wir in keiner Situation von ihm verlassen sind. Und dass es nichts und niemand gibt, der uns von Gottes Liebe je wird trennen können (Röm 8,38.39). Das ist das größte Versprechen, das man über ein Leben machen kann.

Dietrich Bonhoeffer hat in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle wenige Monate vor seiner Hinrichtung ein Gedicht geschrieben, das berühmt geworden ist. Es heißt: Wer bin ich? Eine Frage, die spätestens in der Pubertät auch unsere Täuflinge beschäftigen wird. Aber nicht nur dann: eigentlich begleitet sie uns durch das ganze Leben. Bonhoeffer hat in diesem Gedicht beides von sich festgestellt: Ich bin das, was die anderen von mir sagen, was mich auch befriedigt, weil ich so gerne gesehen werden will - und von dem ich in Wahrheit doch weiß, dass das nicht alles von mir ist. Und ich bin das, was in den Tiefen meiner Seele vor sich geht, was mir manchmal unheimlich ist - und von dem ich doch auch hoffe, dass das nicht alles von mir ist. Und dann fragt er: „Wer bin ich? Der oder jener? / Vor Menschen ein Heuchler / und vor mir selbst ein wehleidiger Schwächling?“ Am Ende des Gedichts kommt er zu dieser Antwort: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“.

Da höre ich Milas Taufspruch mit: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Uns selbst finden wir letztlich nicht, wenn wir uns angestrengt auf den Grund gehen. Das finden wir nur, weil ein anderer, Gott, uns unsere Identität schenkt und zuspricht. „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“, heißt es am Ende des 139. Psalms. Was immer einmal Mila mit den ihr geschenkten Gaben aus sich und ihrem Leben machen wird - im Tiefsten, in seiner DNA muss sie nichts aus sich machen, weil sie wunderbar gemacht ist. Und damit sagt Gott ihr: Du bist und bleibst mein geliebtes Kind, unter meinem Schutz. Komme was will.

III.

Liebe Gemeinde, wenn heute viele Eltern einen Taufspruch für ihr Kind gerade aus diesen beiden berührenden Vertrauenspsalmen 91 und 139 auswählen, dann bringen sie damit eine Grundbedeutung der Taufe zum Leuchten. Denn in der Taufe hat Gott dir und mir ganz persönlich auf den Kopf zugesagt: Ich bin dein Schutz und dein Schirm. Auch für dich werden meine Engel unterwegs sein. Du musst dein Leben nicht allein meistern. Auch deine Eltern müssen es nicht. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, und von Menschen begleitet, die dich als meine Engel mit ihrer Liebe bergen, sollst Du aufwachsen und leben - „unter dem Schatten meiner Flügel“ (Ps 17,8), als mein behütetes Kind.

In einer alten Legende heißt es: „Man fragte die Engel einmal, warum sie fliegen können. Sie antworteten: „Wir nehmen uns leicht. Wir wissen, es trägt uns einer.“ Auch das ist ein Hinweis auf das, was ich vorhin sagte: jeder von uns kann je und je ein Engel Gottes sein. Weil wir durch unsere Taufe zu Gottes Kindern geworden sind, von ihm getragen bleiben, und uns daher leicht(er) nehmen können. Und wer sich selber nicht so wahnsinnig schwer und wichtig nimmt, hat dann die Ressourcen, anderen Gewicht und Wert beizumessen. Es gibt das bekannte Wort des großen Papstes Johannes XXIII., der sich selber zu erinnern pflegte: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Gott segne Mila und Annemarie, und uns alle, damit wir uns selber leichter nehmen und deshalb einander tragen und stützen können.

 

Amen.

Rätselhafter Gott

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Goethes berühmte Definition der literarischen Gattung der Novelle lautet: Sie erzählt „eine unerhörte Begebenheit.“ Das kann man wohl sagen, wenn man das Buch Jona liest! Literarisch ist es eine Novelle mitten in der Bibel, bestehend aus vier kurzen Kapiteln. Was sie erzählt, ist tatsächlich ziemlich unerhört. Übrigens im doppelten Sinn, aber dazu später. Man kann an Jona und seiner verrückten Geschichte entdecken, dass der paradoxe Satz des Tiefenpsychologen C.G. Jung sehr wahr sein kann: „Der direkteste Weg ist meistens der Umweg“. Jonas Weg besteht wirklich aus einigen Umwegen.

I.

Zunächst denken wir bei Jona natürlich an den Walfisch. So ist er allerweltsbekannt. Weniger bekannt ist: Er ist anders als andere Propheten. Die sind als Personen hinter ihrer Botschaft nicht selten fast unkenntlich. Nicht so Jona. Er wird als Mensch gut erkennbar. Er ist störrisch, eigenwillig, widerspenstig. Manchmal fast depressiv. Er braucht mehrere Anläufe, seiner Berufung gerecht zu werden. Das finde ich durchaus sympathisch. Er bekommt von Gott feierlich einen Auftrag - und schlägt sich erstmal in die Büsche. Ähnlich wie die ersten Menschen im Paradies. Der rührend-hilflose Versuch, sich vor Gott zu verstecken. Jona rennt fort, zum Hafen in Jafo, und checkt auf einem Schiff ein, das in die entgegengesetzte Richtung segelt, soweit weg wie nur möglich. Nach Tharsis, das ist in Spanien, am äußersten Ende der damals bekannten Welt.

Wie es weitergeht, ist bekannt. Das Schiff gerät in Seenot, die Mannschaft ist verzweifelt. Jonas Stimmung hat sich so verdüstert, dass ihn nichts mehr am Leben hält. Er bietet sich als Opfer an, um das Meer zu beruhigen. Die Matrosen sehen keinen anderen Ausweg, sie werfen Jona ins Meer. Der große Fisch, den Gott dann schickt, um Jona zu verschlingen, ist ein Bild für die, verzweifelte Abgründigkeit, in die sich Jona hat reißen lassen. Doch Gott geht auch diesen Weg mit. Ausgerechnet durch diesen Wal rettet er Jona aus der Seenot. Der Wal verschluckt ihn und spuckt ihn an Land wieder aus. Und eben nicht in Spanien, sondern via Ninive, jener Megacity von denkbar üblem Ruf.

„Der direkteste Weg ist meistens der Umweg“: Nun ist Jona zugänglicher für Gott. Alles wieder auf Anfang: Gott spricht noch einmal zu Jona. Nun geht er nach Ninive. Und predigt dort, sehr kurz und bündig. Klare Ansage: Noch 40 Tage, dann wird Ninive untergehen. Kirchenjahrserfahrene merken auf: 40 Tage, das ist die Dauer der Passionszeit. Zeit der Selbstbesinnung. Und siehe da, die abgebrühten Leute im Sündenbabel hören zu. Und machen sich auf die herbe Ansage nicht den resigniert-sarkastischen Reim: Jetzt erst recht, lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir sowieso tot. Sondern: „Buß und Reu / knirscht das Sündenherz entzwei.“ Sack und Asche, für Mensch und Tier. König und Knecht. Für alle.

Und Gott? Dem wird das Herz weich. Er sieht ihr Mühen um einen Neuanfang. Sie tun ihm leid. Und er tut‘s nicht. Und Jona? Wieder irritierend für einen Gottesmann: sein Herz wird hart. Und er tut sich leid. Sagt zu Gott: Das hab‘ ich befürchtet. Genau das. Ich weiß ja, wie du bist: barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte. Am Ende des Tages lässt du dich doch erweichen, natürlich. Und darum bin ich ja anfangs weggelaufen. Weil ich genau das befürchtet habe. Wozu habe ich mich dann bis hierher abgemüht?

Was in Jona vorgeht, erinnert an den soliden älteren Bruder im Gleichnis vom Verlorenen Sohn, das wir vorhin gehört haben. Der reagiert auch feindselig auf die Barmherzigkeit des Vaters. Jona jetzt: Dann lass mich sterben. Nimm meine Seele von mir. Ich will das nicht mit ansehen. Jona lässt die Tür hinter sich zuknallen. Nimmt sich raus aus dem Spielfeld und oben auf dem Rang Platz. „Macht euren Dreck alleene“: Sollen die doch sehen, wie sie klarkommen. Wobei, so ganz stimmt das Bild nicht. Es ist noch viel abgründiger: „Nimm du, Herr, meine Seele von mir, denn ich möchte lieber tot sein als leben“. Auch bei Jona alles wieder zurück auf Anfang. Nur im traurigsten Sinn.

II.

Es ist sengend heiß da draußen vor der Stadt, am Rand der Wüste. Zwei, drei schnell zusammengezimmerte Bretter helfen nicht wirklich gegen die Stech-Sonne. Und Gott? Der bleibt sich treu und lässt Jona ein weiteres Mal nicht zufrieden. Lässt einen Rizinusstrauch wachsen, der ordentlich Schatten gibt. Gegen Jonas schlechte Laune. Das wirkt. Jona entspannt sich. Aber nur eine Nacht. Gott schickt wieder ein Tier. Nach dem Monsterwal diesmal ein winziges, einen Wurm. Der geht an die Wurzel des Strauchs. Der verdorrt, so schnell, wie er gewachsen ist. Und Jona, wie wir ihn kennen: keine Zwischentöne, immer schwarz-weiß, immer radikal. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Dazwischen macht er’s nicht. Wieder Todessehnsucht, er will erneut sterben. Diesmal wegen drohenden Sonnenstichs.

Gott, therapeutisch-achtsam nachfragend: „Meinst Du, dass du mit Recht zürnst wegen des Rizinus?“ Findest du verhältnismäßig, wie du dich verhältst? Und Jona knallt wieder die imaginäre Tür: Ja, allerdings! Ich empfinde und handle recht. Bis in den Tod. Gott aber bleibt dran, führt seinen Beweis zu Ende: Du, Jona, magst die Staude und vermisst sie schon jetzt. Dabei hast du sie weder gepflanzt noch dich um sie gekümmert. Und ich, Gott, soll Ninive nicht mögen und seinen Untergang wollen, obwohl es doch eine große Stadt ist, die es schon lange gibt? Eine Stadt mit 120.000 Menschen und vielen Tieren? Und dann noch die kryptische Aussage: „Mehr als 120.000 Menschen, die nicht wissen, was rechts oder links ist.“

Mit diesem schwer zu erschließenden Gottes-Wort endet die Jona-Novelle dann. Gefühlt ziemlich plötzlich, sie bricht für unser Empfinden eher ab. „Menschen, die nicht wissen, was rechts oder links ist“ - was könnte damit gemeint sein? Menschliche Naivität? Dass die Menschen in Ninive gar nicht wissen, was sie tun? Dass sie chaotisch unterwegs sind oder jedenfalls waren, wie Kinder, die einfach auf die Straße laufen, ohne nach rechts und nach links zu sehen? Oder dass alles aus den Fugen geraten ist, keine ethischen Leitplanken, totale Verwirrung, die das Unterste nach oben gekehrt hat? „Manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein Illtum!“: ein berühmter Vers aus einem Gedicht des Lyrikers Ernst Jandl. Da hatte der Dichter Recht. Wir sehen es heute: Man kann sie sehr wohl verwechseln, die hergebrachten Inhalte dessen, was einmal als „rechts“ und was als „links“ galt. Das findet sich heute häufig auf der jeweils anderen Seite wieder. Oder es wird sogar deckungsgleich. Die Aufreger-Themen dazu muss ich nicht nennen, sie sind ja notorisch.

III.

Was Jona nun mit diesem verrätselten Gottes-Wort macht, wird nicht mehr erzählt. Literarisch ist das unbefriedigend. Irgendwie bleibt die Novelle unvollendet. „Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Brecht). Will Jona nun erst recht sterben? Oder im pubertären Trotzmodus bleiben und weiter darauf setzen, dass Gott sich ja schon kümmern wird? Andererseits, und das scheint mir fast wie der Cantus firmus durch diese Novelle: Jona steht doch irgendwie immer im Kontakt zu Gott, auch wenn er flieht und wenn er trotzt. Er kennt Gott, wie er es hier ja auch - wenn auch mit bitterem Unterton - sagt: Ja ja, ich weiß schon, du bist barmherzig und gnädig usw. Und er weiß sehr genau, wie Gott sein soll: Unmissverständlich und gerecht, konsequent und mit klarer Kante. Was Gott angedroht hat - Unheil für Ninive - das muss er auch einlösen. Sonst ist er ungerecht, wirkt wankelmütig, macht sich unglaubwürdig. So geht das nun mal mit der Gerechtigkeit: entweder konsequent oder inkonsequent, dazwischen geht nichts. Wer mit Kindern lebt, kennt solche Debatten schon vom Frühstückstisch. Aber auch bei den Erwachsenen, besonders sensibel am Arbeitsplatz. Warum ist der Chef mit dem Kollegen per Du, bevorzugt er ihn etwa? Manchmal kann die Forderung nach konsequenter Gerechtigkeit, so menschlich sie ist, Zusammenleben auch steril, leblos machen. Dann wird sie ein Ausdruck von Unsicherheit. Werde ich genügend wahrgenommen, wertgeschätzt? Bin ich geliebt genug? Sieht Papa mich, oder sieht er die anderen mehr?

Irgendwie so kommt mir Jona vor. Er sucht die Kraftprobe mit Gott. Auf der Suche nach sich selbst. Auf der Suche nach der Grenze, wo er selbst endet und wo der Rest der Welt anfängt. Zugleich, auch typisch für eine Person, die obsessiv ihre Grenzen austestet, kann er wunderbar leiden. Gleich zweimal wünscht er sich den Tod. Zürnt, wie er findet, zu Recht. Kämpft an den Extremen. Auf dem Schiff bei den Matrosen war er ganz sicher: Er hat den stärksten Gott. Und war voller Selbstanklage: Weil er vor Gott weggelaufen ist, tobt die See. Ruhe kann nur wieder einkehren, wenn er sich heroisch opfert, über Bord fliegt. Er ist schuld, sein Gott ist der größte, und wenn der auf den Tisch haut, dann ist wieder gut, ist alles wieder, wie es war. Das Erstaunliche nur: Gott ist gar nicht so. Zuerst schon: Die Matrosen werfen Jona ins Meer. Und sofort beruhigen sich die Wellen. Aber als Jona dann seinen Auftrag erfüllt, als er gegen Ninive loszieht und knallhart ansagt, was kommt - da kommt es nicht so. Da „lässt Gott sich gereuen“, da lenkt er ein. Vielleicht ist Jona darüber verstört, ja persönlich gekränkt: Sein Gott ist zu lieb. Nicht stark und heftig im Streit, sondern ein Menschen-, ein Sünderversteher. Selbst die Tiere sind ihm nicht egal. Gottes Sprache sind die Elemente. Er kann Sturm, er kann Wind und Hitze, er mag die Welt. Gott spricht mit Menschen und Tieren. Sie tun, was er sagt, und er mag sie. Nur Jona stört.

IV.

Aber was soll uns das heute? Die Jona-Geschichte zeigt uns einen Gott, der anders ist. Der nicht einfach macht, was seine Leute erwarten. Also einen Gott, der Gott ist und kein Götze. Keine Projektion unserer Vorstellungen und Bedürfnisse. Sondern unverfügbar, überraschend, rätselhaft auch. Ich finde, diese Geschichte hat Biss. Nicht die Kinderbuchgeschichte mit dem Wal und der wundersamen Rettung. Sondern diese Trotzgeschichte am Schluss. Ein biblischer Versuch über die menschliche Natur. Die Geschichte scheint uns zu sagen: Menschen wollen einen starken Gott. Einen konsequenten, harten Gott. Der als unbestechlicher Richter nach der Devise suum cuique, jedem das Seine, handelt und urteilt. Und die Guten ins Töpfchen, die Bösen ins Kröpfchen befördert. Aber: es ist eine feine, göttliche Eigenschaft, anders zu sein. Der Auftrag an Jona war nicht: Sag den Leuten von Ninive, wenn sie sich anständig benehmen, wird alles gut. Sondern der Auftrag war: Sag ihnen, noch 40 Tage Galgenfrist, und dann geht Ihr unter. Ausrufungszeichen!

Jona, der Repräsentant Gottes, macht das - und dann ist er beleidigt. Sein Gott verhält sich wie manche Politiker nach der Wahl: er macht einfach nicht, was er vorher gesagt hat. Und Gott? Er haut auch bei Jona nicht auf den Tisch und sagt: Was geht’s dich an? Sondern wirbt um Verständnis: Schau her, Jona, ich bin wie du. Ich will etwas behalten. Verstehst du das nicht? Gott sagt nicht: Du kennst mich doch, ich bin langmütig und von großer Güte. Er sagt: Alle Niniviten und die Tiere. Ich will die nicht auslöschen. - Ich kann die Geschichte so lesen: Gott verschont Ninive nicht deshalb, weil Menschen und Tiere in Sack und Asche gehen. Er verschont sie, weil er sie mag. Gott hat Vorlieben. Aber er kommuniziert das dem Jona merkwürdig indirekt, über den Umweg mit der Staude. Warum hat er nicht ganz einfach und direkt gesagt: Du, Jona, eigentlich mag ich die Niniviten. Und ihre Tiere. Genauso wie ich dich, Jona, mag?

Irgendwann, viel später, ist Ninive dann doch untergegangen. Wie so viele Städte aus antiker Zeit. Gegenüber auf der anderen Seite des Tigris, da liegt heute Mossul, eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern. Dort sind seit 20 Jahren bürgerkriegsartige Zustände. Jeden Tag sterben Menschen. Besonders für Christen ist es da gefährlich. Es könnte also auch so sein: Dieser Gott ist so ganz anders, dass Jona sich zu Recht wundert. Und auch heute können Menschen oft nur staunen - und/oder rätseln. Wenn er freundlich ist, aber auch, wenn er Vernichtung zulässt, jedenfalls Menschen in ihrem Vernichtungswerk nicht in den Arm fällt. Dieser so ganz andere Gott, den versteht Jona nicht immer. Und wir, wenn wir ehrlich sind, auch nicht. Die Jona-Novelle trägt auch diesen sperrigen, unkomfortablen Gott bis heute mit. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen - irgendwie bleiben wir ihm ausgeliefert. Aber gerade auch darin schützt und hält er uns. Auf seine Art, nicht auf unsere.


Amen.

All you need is love!        

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

15 Mal kommen in diesen knappen sechs Versen die Worte „Liebe“ oder „lieben“ vor. Liebe ist ein zentraler Inhalt im Neuen Testament, aber in der Dichte dürfte das einmalig in der Bibel sein. Also ich wüsste schon gern, was das für einer war, der so schreibt. Was hat ihn geprägt? Wie hat er gelebt? Warum hat er diesen Brief geschrieben, was wollte er den Empfängern sagen? Aber leider lässt sich nicht mehr ermitteln, wer eigentlich diesen 1. Johannesbrief verfasst hat. Es ist nicht einmal nachweisbar, ob der Autor wirklich der Evangelist Johannes war, denn er nennt an keiner Stelle seinen Namen. Wie auch nirgendwo ein Adressat genannt wird. So wissen wir nicht, an wen dieser Brief eigentlich gerichtet war. Halbwegs sicher ist nur, dass er um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert, also etwa 70 Jahre nach Jesu Tod geschrieben wurde.

I.

Was bedeutete es in jener Zeit, Christ zu sein? Aus einem uns erhaltenen Brief des römischen Kaisers Trajan geht hervor, dass es in jener Zeit als todeswürdiges Verbrechen galt, wenn man als Angehöriger dieser Sekte der Christusgläubigen überführt wurde. Man konnte man seinen Kopf retten, wenn man öffentlich dem Glauben abschwor und sich zum Kaiserkult bekannte, also den römischen Kaiser als Gottheit verehrte. Die Christen aber, die sich dem verweigerten, unterschrieben damit faktisch ihr Todesurteil. Meistens wurden sie öffentlich gekreuzigt. Vor einigen Jahren wurde das unter dem Schreckensregime des IS ja zeitweilig wieder beklemmend aktuell.

Zugleich sollten die Christen damals aber auch nicht gezielt aufgespürt werden. Eine systematische Christenverfolgung hat Kaiser Trajan noch nicht ins Werk gesetzt. Nur wenn Christen öffentliches Ärgernis erregten, sollten sie zur Rechenschaft gezogen werden. So versuchten die Christen, möglichst unauffällig zu leben. Man traf sich zu Gottesdiensten und Mahlfeiern in Privathäusern und passte sich ansonsten an. Aber natürlich war dieses Leben mit Ängsten und Unsicherheiten beladen. Was geht? Was sollte ich besser sein lassen? Und vor allem: wem kann ich trauen?

Aber diese äußeren Gefährdungen allein sind es nicht gewesen, die „Johannes“ veranlassten, diesen Brief zu schreiben. Wo es um Liebe geht, geht es ja oft auch um Beziehungsstörungen. Nach allem, was wir wissen, waren die Gemeinden um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert auch innerlich gefährdet. Weil immer wieder Spannungen auftraten, und Spaltungen drohten. Die brachen freilich nicht, wie heute in der Kirche, an Geld- und Immobilienfragen auf, sondern da ging es richtig ums Eingemachte. War Jesus wirklich Gottes Sohn, oder doch nur ein besonders begnadeter Prophet und Heiler? Da gingen schon unter den frühen Christen die Meinungen weit auseinander. - Oder: An welche der aus der damaligen Bibel, also unserem Alten Testament, überlieferten Gebote müssen wir uns als Christen überhaupt noch halten? Der Apostel Paulus hat doch die Freiheit vom Gesetz gelehrt. - Oder: Welche Bedeutung haben meine Mitmenschen? Die, mit denen ich mich im gemeinsamen Glauben vergeschwistert weiß, aber auch die, die mich verachten, bedrohen? Wie begegne ich den Schwachen, die nicht auf Augenhöhe mit mir sind? Kranken, Behinderten, Armen, Alten? - Und überhaupt: Wie darf, wie kann ich mir Gott vorstellen?

Solche Fragen sind es gewesen, an denen Beziehungsstörungen in den Gemeinden aufgebrochen sind. Denen schreibt Johannes nun: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Lasst uns lieben, der er hat uns zuerst geliebt.“ Wer das nicht verstanden hat, will Johannes damit sagen, der hat vom innersten Wesen Gottes nichts erfasst, geht dramatisch daran vorbei, und wenn er sich noch so viel fromme Sätze auf der Pfanne hätte. Denn: „Gott ist Liebe!“ Greifbar, begreifbar geworden ist diese Liebe in dem Menschen Jesus. Und dann erst recht im auferstandenen Christus. Er hat in Reden und Tun gezeigt, was zählt. Nämlich grenzenlos lieben, und das heißt: die Menschen anzunehmen, wie sie sind, oder genauer gesagt: obwohl sie so sind, wie sie sind. Diese Haltung sieht Johannes in den Konflikten um die Frage, wer Gott ist und was er für uns bedeutet, verloren gegangen. Deshalb schreibt er, ruhig und klar: „Gott ist Liebe!“

Und bei uns? Gefragt, was die absolute Essenz der Bibel ist, würden wohl nicht wenige auf diesen kurzen Satz kommen: Gott ist Liebe. Wenn es auf die Konfirmation zuging, ermunterte ich meine Konfis immer, sich ihren Konfirmationsspruch selbst auszuwählen. Ich sagte ihnen, es möge ein kurzes, starkes Bibelwort sein, geeignet, sie ein Leben lang durch Höhen und Tiefen zu begleiten. Jedes Jahr haben sich welche für diesen Vers entschieden: „Gott ist die Liebe.“ Sicher nicht nur, weil er so kurz und gut merkbar ist. Sondern weil hier Gott ein Gesicht für sie bekommen hat. Ein Gesicht, das gut tut. Weil es freundliche Züge trägt und Vertrauen ausstrahlt.

II.

Gott ist die Liebe. Nimmt man das ganz strikt, dann würden wir, wenn wir von Liebe reden, von Gott reden. Ganz schön steiler Anspruch. Wenn man bei Wikipedia das Wort „Liebe“ eingibt, liest man erstmal gar nichts Göttliches, sondern die staubtrockene Auskunft: „Eine besondere Form der Zuneigung.“ Mehr nicht. Wobei, eigentlich enthält diese dröge Lexikondefinition ein schönes, inniges Bild: Menschen neigen sich zueinander. Sie geben die Vereinzelung auf, suchen nach etwas Gemeinsamen, und bleiben doch eigenständig. Intensives Aufeinanderbezogensein, aber keine Verschmelzung. Das schafft auch die romantischste Liebe nicht, und das ist auch gut so. Dieses Ineinander von Selbsthingabe und Selbstbehauptung in unserer menschlichen Liebe hat besonders schön der Dichter Reiner Kunze in Sprache gebracht:

Rudern zwei ein Boot,

der eine kundig der sterne,

der andre

kundig der stürme,

wird der eine

führn durch die sterne,

wird der andre

führn durch die stürme,

und am ende ganz am ende

wird das meer in der erinnerung

blau sein

Glücklich, wer das so sagen können! Es kann ja auch sehr anders gehen. Wir alle tragen davon unsere Narben mit uns. „Ich war lange überzeugt, wir schaffen das. Mit Liebe geht alles“ - sagte vor 14 Jahren Teresa Enke, die Frau des bekannten Fußballers, der seine Depression nicht mehr ertrug. Ja, auch diese Erfahrung bleibt uns nicht erspart: unsere Liebe hat Grenzen. Sie kann nicht alles. Liebe vermag enorm viel - im Maß des Menschlichen. Aber das bleibt immer bruchstückhaft.

Aber Johannes ist überzeugt, es ist dennoch so: Am Ende kommt es allein auf die Liebe an! All you need is love. Sie ist die kritische Instanz für alles andere. Denn die Liebe bleibt nie bei sich selbst, sondern ist immer unterwegs, hin zu einem anderen. Sie holt mich heraus der incurvatio in me ipsum, dem Eingekrümmtsein in mich selbst, wie Luther anschaulich den Menschen unter der Sünde beschrieben hat. Die Liebe treibt mich von mir selbst weg und zum anderen hin, und damit in die Welt hinaus. Sie verwehrt es mir, mich gegen Andersdenkende abzuschotten, indem ich mich nur unter Gleichgesinnten bewege. Die Liebe hat ganz langen Atem. Sie wird nie endgültig fertig mit einem Menschen, stempelt niemand zum erledigten Fall, sondern sieht jeden so an, dass von ihm noch etwas zu erwarten ist. Vielleicht gerade da, wo ich nichts mehr erwarte. Und, auch das ist bedeutsam: Die Liebe wird nicht fanatisch und verbissen. Sie gießt in angespannten Momenten nicht noch mehr Öl ins Feuer. Die Verbissenheit und oft Gnadenlosigkeit, mit der Christen, die durch ihre Taufe doch Gottes Kinder, also Geschwister sind, einander persönlich herabsetzen, sich den Glauben absprechen - etwa wenn es um Homosexualität, Abtreibung oder den Klimawandel geht, aber auch bei Veränderungsprozessen in der Kirche: das ist erschreckend und das Gegenteil dessen, was wir doch sein wollen: eine missionarische, menschenfreundliche Kirche.

III.

Da ist nun der Link zwischen der Situation, in der Johannes seinen Brief geschrieben hat, und der Gegenwart in unserer Kirche. Da ist einmal die Lehre. Uns Theolog*innen erscheint sie wichtig, unverzichtbar. Wir diskutieren unaufhörlich und kontrovers über Gott, wie man ihn denken sollte, was er für uns bedeutet. Das ist etwas, das grundsätzlich unausschöpflich ist. Ich denke sehr hoch davon. Aber dann ist da auch das Leben. Das pure pralle Leben in seinen unmittelbaren Vollzügen und Herausforderungen. Mädchen und Jungen, Brautpaare und junge Eltern, oft weit weg von der Kirche. Und mit ihnen viele in unseren Gemeinden, denen es genauso geht. Und die doch schlicht und einfach sagen: Gott ist Liebe. Und das sagen sie nicht so dahin; sie meinen das ernst und glauben es wirklich. Und ich denke, sie verstehen Gott in dem, worauf es letztlich im Leben und im Sterben ankommt, besser als wir Theologen. Jedenfalls haben sie Gott bestimmt besser verstanden als jene, die sich Bibelstellen um die Ohren hauen und queere Menschen belehren, dass sie in schwerer Sünde leben, weil in der Bibel an einer bestimmten Stelle steht, dass Homosexualität dem Herrn „ein Gräuel“ sei (Lev 20,13).

Bei uns ist die Liebe, im besten Fall, ein wichtiger Teil von uns, neben anderen, dunkleren Teilen, die wir auch in uns tragen. Auch in der besten Partnerschaft können wir irgendwann die verstörende Erfahrung machen, dass da eine unheimliche Fremdheit aufbrechen kann, die sich nicht so aus eigenen Kräften überwinden lässt. Wir können dem geliebten Anderen niemals so nah kommen, wie der sich selber nahe ist. Jeder, der liebt, weiß das. Das vermag nur Gott. Weil er allein nicht nur Liebe hat, sondern, so sagt Johannes, selbst die Liebe ist. Er gibt nicht nur etwas preis von sich, wie wir in unserer Liebe, sondern er gibt sich selbst, ganz und gar. Wenige Verse vor unserem Abschnitt schreibt Johannes: „Das ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung unserer Schuld“.

Wenn wir an dieser Liebe Maß nehmen, indem wir uns einfach für sie öffnen, uns von ihr durchströmen und durchprägen lassen, dann können wir zum Schluss dem Kirchenvater Augustinus das Wort geben, der den christlichen Glauben am Ende eines langen Theologenlebens auf die schlichte, schöne Formel gebracht hat: „Liebe - und tu, was du willst!“ - All you need is love!

 

Amen.

Aus der Tiefe des Brunnens

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“. Ein denk-würdiger Satz. Mit ihm beginnt Thomas Manns monumentaler Roman „Joseph und seine Brüder“. Ja, die Brunnen der Vergangenheit können tief sein. Man kann ihre Tiefe erahnen, ohne ihnen auf den Grund zu sehen. Man kann sich in ihnen verlieren, wie manchmal bei Menschen, die nur noch wehmütig zurückschauen können auf die vergangenen Zeiten, die immer die besseren waren. Man kann untergehen in ihnen, wie wir das immer mal wieder bei prominenten Menschen erleben, die aus extremer Flughöhe von etwas tief im Brunnen der Vergangenheit verborgen Geglaubtem in die Tiefe gerissen werden.

I.

Tief ist auch der Jakobsbrunnen, der die Kulisse der vorhin gehörten großen Geschichte von Jesus und der Samaritanerin bildet. Was diese am Brunnen der Väter erlebt, wenn dort ein geheimnisvoller Fremder aufschlägt, davon erzählt Johannes hier. „Um die sechste Stunde“, also um 12 Uhr mittags. Zwei Welten prallen aufeinander. Und es kommt zu weitreichenden Weichenstellungen. High Noon am Brunnen vor dem Tore. Da können sich Leben verändern.

„Gib mir zu trinken“, eröffnet der Fremde das Gespräch. Eine einfache Bitte: Ich habe Durst, gib mir zu trinken! Im Orient ist der Brunnen ein eminent sozialer Ort. Da wird geklatscht und getratscht, da trifft man sich zum ersten Rendezvous. Man verlässt den Kokon des Lebens in den eigenen vier Wänden, und bleibt doch noch in der Dorfgemeinschaft. Darum ist die Frau ist misstrauisch. Dieser Unbekannte von jenseits der Grenze, der mich hier einfach so anredet - das ist doch ziemlich seltsam. Wir Samaritaner bleiben doch unter uns. „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt“. Zu uns kommt doch niemand aus dem anderen Land, das so heilig sein soll. Und wenn sich doch mal einer hierher verirrt, dann darf er nicht mit uns reden.

So stellt sich das aus Sicht jener Einheimischen aus Samarien dar. Und von Jesus aus gesehen? Zunächst mal recht pragmatisch. Er will einem drohenden Konflikt mit den Pharisäern aus dem Weg gehen. So beschließt er, Judäa wieder zu verlassen und in seine Heimat Galiläa zurückzukehren. Der kürzeste Weg dahin führt durch Samarien. Fromme Juden aber machen eigentlich einen großen Bogen um dieses Gebiet, es war für sie „unreines Land“. Die Samariter gehörten nämlich weder zu den „Kindern Israels“ noch zu den „Heiden“. Sie waren eine Art Hybrid: Nachkommen von Juden und von heidnischen Kolonisten, die die Assyrer im Norden Israels angesiedelt hatten. Der Glaube der Samariter gründete sich zwar wie bei den Juden auf die Tora, die fünf Bücher Mose, aber die Psalmen und die Prophetenbücher waren für Samariter ohne Bedeutung. Auch mit dem Jerusalemer Tempel wollten sie nichts zu tun haben. Sie hatten ein eigenes Heiligtum. So war Samarien eine von frommen Juden gemiedene Gegend. Aber dort befand sich nun mal auch ein wichtiger Ort jüdischer Tradition: der Brunnen Jakobs mit dem Grab von Josef, Jakobs Sohn. An diesem Brunnen der Vergangenheit gemeinsamer Glaubens-Väter begegnet der Jude Jesus einer Einheimischen. Jesus spricht sie an - und überschreitet damit doppelt eine Grenze: weil sie eine Frau, und weil sie Samaritanerin ist. So steht sie hier für das Evangelium der buchstäblich grenzen-losen Gnade und Liebe Gottes - und durch sie das ganze Volk der Samariter. In seiner Zuwendung zu ihr überschreitet der Gottessohn erstmals im Johannesevangelium die Grenze vom exklusiven Glauben des Gottesvolkes Israel zum „Halbheidentum“ Samariens.

Und so lässt Jesus, der Mann aus der Fremde, am Brunnen nicht locker. Das Misstrauen der Frau beirrt ihn nicht. Sie soll ihm etwas gaben - Wasser zum Trinken. Er könnte ihr auch etwas geben - Wasser des Lebens. Verbale Spiegelfechtereien, Ironie und Missverständnisse. Wie es so sein kann bei einer plötzlichen Konfrontation zwischen zweien, die eigentlich nichts miteinander zu schaffen haben dürfen. Und dann lässt der Fremde die Katze aus dem Sack: „Wer von diesem Wasser, aus dem Brunnen der Vergangenheit, trinkt, der bekommt wieder Durst. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, der wird auf ewig keinen Durst mehr haben. Vielmehr: das Wasser, das ich ihm gebe, wird ihn ihm eine Quelle bis ins ewige Leben.“ Faszinierende Verheißung. Aber erstmal wird es noch heikler. Denn zu was der Fremde sich mit diesem Wording erdreistet, das stellt die Gesetze der Schöpfung auf den Kopf. Es gibt doch keinen Brunnen, zu dem man nur einmal geht - im heißen Orient schon gar nicht. Und es gibt erst recht kein Wasser, diese heute so wertvolle Ressource, das für alle Zeit und dann gar noch für die Ewigkeit ausreicht. Und schon gar nicht gibt es eine Quelle, die in uns selbst sprudelt und Leben bringt.

II.

Brunnenvergifter sind immer übel. Aber hier ist es noch unheimlicher. Hier nimmt sich einer heraus, das ganze Brunnensystem überflüssig zu machen. Lebendiges Wasser verspricht er. Wasser mit unerschöpflicher Lebenskraft. Das in uns zu fließen beginnt, uns erfüllt und durchflutet, das uns mitreißt und forttreibt „bis zum ewigen Leben“. Dass Wasser eine elementare, auch bedrohliche Gewalt hat, wissen wir nicht erst seit den sichtbaren Folgen der Erderwärmung. Zugleich galt schon immer, was der große Religionswissenschaftler Mircea Eliade so beschrieben hat: „Lebendiges Wasser, Jungbrunnen, Lebenswasser etc. sind mythische Formeln ein und derselben religiösen Realität: Im Wasser ist das Leben, die Kraft und die Ewigkeit.“ Das ist wahr. Wie mächtig dieses Urelement unser Dasein bestimmt, zeigt ja schon die Tatsache, dass die allererste Umwelt für unseren Leib das Fruchtwasser gewesen ist. Waschen, trinken, schwimmen sind elementare Urerfahrungen, in denen sich unmittelbar nach der Geburt ein Stück allererster Weltaneignung abspielt. Und überhaupt, unser Körper besteht ja zu 80 Prozent aus Wasser.

Was in der samaritanischen Frau wohl vorgegangen ist, als sie die verwegene Bitte an den Fremden ausspricht: „Herr, gib mir solches Wasser“?! Denn wer vom Wasser des Lebens erfasst wird, kann ja in eine unerwartete, gewaltige Strömung geraten. Grenzen verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Heilige Traditionen werden relativiert. Wer sich von den öffentlichen Brunnen als Orten der Tradition zurückzieht, kann sich des Verrats, des Ketzertums verdächtig machen. Wer nach dem Wasser des Lebens, das der Unbekannte anbietet, ernsthaft verlangt, ahnt vielleicht noch gar nicht, worauf er sich einlässt. „Herr, gib mir solches Wasser, damit ich nicht mehr durstig werde und herkommen muss, um zu schöpfen“. Es ist schwer, jeden Tag neu solchen Durst zu spüren. Durst ist ja quälender als Hunger. Es ist schwer, jeden Morgen neu aufzustehen und in den alten Sorgengefangen zu sein. Gib mir doch das Wasser, das mein Leben angstfreier, leichter macht!

Aber damit ist noch keineswegs ein Happy End da. Bevor er ihr etwas gibt, soll sie etwas holen. „Geh und ruf seinen Mann und kommt wieder her! - Ich habe keinen Mann. - Du hast richtig geantwortet: Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Das Wasser des Lebens kann Bindungen zerreißen. Soziale Beziehungen relativieren sich. Was Menschen im Leben - manchmal auf fatale, unheilvolle Art - miteinander verstrickt, wird aufgelöst. „Ich habe keinen Mann“ - das meint jetzt auch: Das, was mich bisher gefesselt hat, ist auf einmal verflogen. Ich lebe mit einem anderen Menschen -. Aber eben, mit einem Menschen nur, und darum ist das etwas auf Zeit, nicht auf Ewigkeit. Ich bin niemand und nichts, auch keiner Idee, keiner Anschauung auf Gedeih und Verderb verbunden. In wen das Wasser des Lebens einzusickern beginnt, der muss seine Kraft, seine Identität nicht mehr ausschließlich aus sozialen Kontakten, aus der Anerkennung durch andere, ja selbst aus Liebesbeziehungen schöpfen. Eine Quelle in ihm hat zu fließen begonnen, die ihn innerlich freier, unabhängiger macht.

Jesus sieht, dass so etwas in der Frau in Gang kommt. Und so sagt er lakonisch zu ihr: „Du hast Recht“. Die wiederum spricht ihn nun ehrfürchtig an: „Herr“. Und setzt noch eins drauf: „Ich sehe, du bist ein Prophet!“ So kann nur jemand reden, der nicht mehr nur aus eigener Einsicht spricht, sondern im Namen Gottes. Aber das war ja zu allen Zeiten so, und das macht es kompliziert: Gerade wenn es um Gottes Gegenwart geht, gibt es Probleme mit der Tradition, mit den Zeugnissen der Vergangenheit. Das ist ja ein Brunnen aus der Zeit der heiligen Väter, Jakob und Josef. Und dann gibt es diese Berge der Offenbarung, den Berg Garizim und den Berg Zion. Da gibt es Jerusalem und Rom und Konstantinopel, da gibt es Wittenberg und Genf, da gibt es Mekka und die heiligen Orte im Hinduismus. Und es gibt Dresden, die Frauen- und die Hofkirche. Wo soll man anbeten? Wo lässt sich Gott finden, wo soll man seinen Namen preisen? Vertrackte Frage.

III.

Jesus sagte Verblüffendes dazu. Und spätestens jetzt sind wir bei Pfingsten. „Es kommt die Zeit, ja sie ist schon da, in der die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater will Menschen haben, die ihn so anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn in Geist und Wahrheit anbeten.“ Mit anderen Worten: Wenn der, der aus der Höhe kommt, am Brunnen erscheint, der in die Tiefe führt, dann werden auch die tiefsten und letzten Bindungen, wenn nicht aufgelöst, so doch relativiert. An den heiligen Quellen selbst kann man lernen, dass Gott sich nicht von den ehrwürdigen Orten der Tradition einfangen und fixieren lässt. Das Wasser des Lebens kann überall fließen, sich Bahn brechen. Nicht mehr heilige Orte sind der Garant für die Anwesenheit des ewigen Gottes. Auch in der sechsten Stunde, 12 Uhr mittags, ist er nur so gegenwärtig: „im Geist und in der Wahrheit“. Martin Luther hat gesagt: „Die Wahrheit braucht keine Dome. Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter.“ Oder mit einem anderen Jesuswort aus dem Johannesevangelium: „Der Geist weht, wo er will“ (Joh 3,8).

Aber wo ist dieser Ort zwischen Brunnen und Berg, zwischen Kirche und Wald, wo nicht mehr alles fest ist, sondern wo es zu fließen beginnt? Wo das Wasser des Lebens Menschen mit sich reißt, wo Grenzen weggespült werden und man durch Anbetung mit Gott vereint wird? Tief sind nicht nur die Brunnen der Vergangenheit. Tief sind noch viel mehr die Momente des Lebens, in denen wir eine Ahnung davon bekommen, dass „Geist und Wahrheit“ ineinander fallen. Das ist etwas anderes als kirchlich genormter Glauben, so wichtig das auch ist. Es ist auch etwas anderes als ein persönlicher religiöser Rausch. Da wird man jenseits aller Glaubenssätze, jenseits aller Gefühle von etwas ganz anderem erfasst: von dem Geist, der nicht von dieser Welt ist.

„Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus genannt wird. Wenn der kommt, wird er uns alles verkündigen“. Die Frau aus Samarien wartet. Die Juden warten auf den Messias. Die Christen warten auf den wiederkommenden Herrn. Die Welt wartet auf Erlösung, auf Frieden, auf Schalom. Aber nun sagt er: „Ich bin es, der mit dir redet“. Anders gesagt: Am Brunnen der Tradition, um die sechste Stunde, kommt die Weltgeschichte sozusagen zum Stillstehen. Er ist da. Sein Wort steht im Raum. Sein Geist erfüllt uns. Seine Wahrheit reißt uns mit, durch die Tiefen unseres Lebens bis in sein ewiges Leben.

 

Wo und wie das geschehen kann? Überall da, wo Menschen aus seinem Wort etwas Neues, nicht nie Gehörtes vernehmen und in ihr altes Leben hineinlassen.

 

Amen.

Predigt gehalten von Superintendent Christan Behr

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Erinnern Sie sich – der Prophet Jesaja kündet: „Da werden Sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln.“

Die große Hoffnung auf das Friedensreich Gottes – hoffentlich auch einmal hier auf Erden? Oder hat diese Hoffnung nur etwas mit einem zukünftigen Himmel zu tun? Da unsere Hoffnung auf ein friedliches Miteinander hier auf der Erde immer wieder enttäuscht wurden und werden? Zum letzten Mal intensiv am 24. Februar 2022.

Viele werden noch wissen, wo sie waren, als sie die Information vom Überfall auf die Ukraine erreichte, vom Ausbruch eines uns doch sehr nahen Krieges. Für viele ist diese Hoffnung, die wir mit diesem Prophetenwort mit uns herumgetragen haben, doch ziemlich ins Wanken gekommen.

Aber heute, zu Pfingsten, zum Tag des Heiligen Geistes, zum Geburtstag der Kirche – da ist es doch ein hoffnungsvoller Tag gerade für alle Christenmenschen. Und zu dieser Hoffnung gehört auch: „Da werden Sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln.“ Ich will mich in dieser Hoffnung nicht irre machen lassen. Wie auch vor 40 Jahren, als die vielen jungen Menschen, die am 13.Februar von einer Andacht in der Kreuzkirche hierher zur Ruine der Frauenkirche gezogen sind und an diesem Mahnmal, an dieser Hoffnungsruine in Stille Kerzen der Hoffnung hinstellten. Viele hatten schon den Aufnäher oder Aufkleber an der Jacke, auf der Tasche oder dem Rucksack mit dem Symbol von „Schwerter zu Pflugscharen“. Damals war die Hoffnung ja fast noch mehr eingeschränkt. Der Kalte Krieg hatte Hochkonjunktur. Das Wettrüsten hatte unheimliche Ausmaße angenommen. In Deutschland lagerten auf beiden Seiten der Grenze unwahrscheinliche Mengen an atomaren Waffen. Vielleicht wurde auch deswegen der Ruf immer lauter:

Schwerter zu Pflugscharen“. Zum Kirchentag 1983 wurde im Augustiner-Klosterhof in Wittenberg symbolisch von einem Schmied ein Schwert in eine Pflugschar umgeschmiedet.

Trotz aller Bedrängnis ein Land voller Hoffnung?! Und wir sollten nicht ebenso hoffnungsvoll sein und bleiben. Nicht mit Realitätsferne aber mit Hoffnung im Herzen.

Auf der Vorderseite, der Avers-Seite der großen Glocke der Frauenkirche, der Friedensglocke Jesaja steht dieses Wort: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen.“ Und man sieht einen Schmied, wie damals in Wittenberg, der Schwerter zerbricht, einschmilzt und Sicheln und Pflugscharen daraus schmiedet. Man sieht aber auch, dass die aktuellen Dunkelheiten der Welt nicht außen vorgelassen werden. Der Künstler Christoph Feuerstein hat mit seiner Arbeit an dem Relief am 11.September 2001 begonnen, an dem Tag, an dem die beiden Türme des World-Trade-Centers in New York nach dem Terrorangriff einstürzten. Deshalb sind sie mit auf der Glocke zu sehen. Der auferstandene Christus weist förmlich mit seinen Wundmalen auf dieses Zeichen des Leids und des Terrors. Und drunter steht „trotzdem“: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen.“ Und der Schmied müht sich weiter. Und unsere Hoffnung lassen wir nicht fahren.

Der Pfarrer und Poet Christian Lehnert hat folgenden Text zur Friedensglocke „Jesaja“ damals geschrieben:

JESAJA

Glockentöne, ein dunkler Puls

weht über Freiflächen, sickert tiefer

durch Keller,

durch Trümmerschichten unter Gras und Asphalt.

 

Glockentöne,

in denen die Zeitformen verschwimmen:

Nacht einer Stadt,

von blitzenden Raketen durchzuckt,

Nacht,

in der die Scheiterhaufen lodern,

Nacht,

erhellt von Kerzen vor dem Skelett einer Kirche,

flackernd in der Sehnsucht nach Frieden.

 

Jesaja heißt die Glocke,

Friedensglocke,

ferne Prophetenstimme:

„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen."

 

Wehen der Gebetsrufe über Bagdad,

Klang der Schofare in Jerusalem,

Gebetsglocken Buddhas in Tibet

ich höre einen Ton aus vielen Tönen:

Frieden,

Frieden,

wo Gott wohnt.

 

Glocke läuten hören

Frieden; Frieden; wo Gott wohnt

Ist es immer so? In der großen Pfingstpredigt des Apostels Petrus zitiert er den Propheten Joel. Da klingt es recht düster in der Zeit vor dem Tag des HERRN: „Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden. Blut und Feuer und Rauchdampf; die Sonne soll in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt.“ Nicht nur alles schön und voller Frieden, was hier der Prophet verheißt. Den der Apostel bei der ersten großen Erweckungspredigt im Tempel zitiert. Das ist auch der Prophet, bei dem es kurze Zeilen später heißt: „Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße. Der Schwache spreche; ich bin stark…“. Die Umkehrung dieser großen Hoffnungsvision von Jesaja und Micha habe ich erst vor einigen Monaten hier bei Joel entdeckt. Es gibt wohl auch Zeiten, da es anders herum kommt. Zeiten in denen es auch notwendig sein kann, anders zu handeln, als wir es uns erhoffen.

Das heißt für mich dann auch, dass unsere Hoffnung nicht nur im leeren Raum schweben kann. Nicht, dass sie total realitätsfern ist. Die Realität ist manchmal düster und wir können sie nicht schön reden. Christian Lehnert beschreibt es ja so:

Glockentöne, in denen die Zeitformen verschwimmen; / Nacht einer Stadt, von den blitzenden Raketen durchzuckt, / Nacht, in der die Scheiterhaufen lodern, / Nacht, erhellt von Kerzen vor dem Skelett einer Kirche, / flackernd in der Sehnsucht nach Frieden.

Ja da ist sie – die manchmal düstere Realität. Ja – da sind sie auch – die flackernden Kerzen mit der Sehnsucht nach Frieden.

Das möchte ich mir auch nicht ausreden lassen – diese Sehnsucht nach Frieden, die die Prophetenworte durchzieht, die wir in den letzten Jahren vielleicht manchmal etwas naiv oder blauäugig geglaubt haben. Und das ist auch nicht schlimm oder verwerflich. Sondern manchmal auch notwendig. Wie sollten wir ohne diese Hoffnung, ohne diese Sehnsuchtsworte leben?!

Wir sollten sie, vielleicht auch manchmal etwas trotzig, weiter nutzen, beten, glauben und mit Leben füllen. Es gibt ja auch die guten Schritte. Schritte hin zum Frieden. In unserem privaten Umfeld und auch im globalen Geschehen. Die dürfen wir auch nicht gering achten.

Auf der Revers-Seite, auf der Rückseite unserer Friedensglocke „Jesaja“ ist diese Hoffnung dargestellt. Das Lamm liegt friedlich neben einem Bären; ein Kind spielt unbesorgt vor dem Loch einer Otter. Zwei Bäume mit ihren Früchten erinnern an den Garten Eden und an den Frieden, der aus einer erneuerten Beziehung zwischen Mensch und Gott und unter den Menschen erwächst.

Diese Hoffnung möchte ich immer wieder mit Leben füllen. Auch wenn ich dabei auch öfter persönlich scheitere. Im Leben, im Glauben, auf der Arbeit, als Homo politicus. Ich möchte mir diese Hoffnung nicht nehmen, nicht kaputt machen lassen. Auch wenn ich weiß, dass sie immer wieder hart auf dem Boden der Realität landen wird.

 

Predigt gehalten von Pfarrer Stephan Fritz, Senderbeauftragter für ZDF-Gottesdienste im Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik und ehemaliger Frauenkirchenpfarrer

im Rahmen des Festgottesdienstes anlässlich des 20. Glockenweihe-Jubiläums

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Wir erinnern uns heute, wie die Frauenkirche im Mai 2003 ihre sieben neuen Glocken empfing, wie sie dann geweiht wurden und am Vorabend des Pfingstfestes 2003 zum ersten Mal läuteten. Die Frauenkirche war damals noch für weitere zweieinhalb Jahre im Bau, aber sie hatte ihre Stimme wieder.

Heute ist Pfingsten und dieses Fest erinnert eigentlich an ein Ereignis, das nicht 20 sondern 2000 Jahre zurückliegt: Jesus war gestorben, auferstanden und zum Himmel gefahren. Und die Jüngerinnen und Jünger fragten sich, was nun? Wie soll es jetzt weiter gehen? Eine Frage, die uns – glaube ich – aktuell recht vertraut ist, in einer Zeit globaler Krisen und vieler offener Fragen. Was nun?

Doch dann am Pfingsttag in Jerusalem ließen die Jünger Jesu – und ich bin mir sicher, es waren auch Jüngerinnen dabei – ihre ganze Furcht hinter sich und fingen einfach an von Jesus zu predigen. Und mit einem Mal haben alle die Worte der Jüngerinnen und Jünger nicht nur verstanden, sondern waren von dieser Predigt berührt und ergriffen. So berührt und so ergriffen, dass sich die erste christliche Gemeinde in Jerusalem bildete. Dabei war die Predigt – sie können sie nachlesen in der Apostelgeschichte Kapitel 2 – nun ja, ich würde sagen ... rhetorisch haben wir da schon Mitreißenderes gehört.

Das Pfingstwunder bestand aber auch nicht darin, dass einfache Fischer aus der galiläischen Provinz mit einem Mal begnadete Rednerinnen und Redner wurden. Nein, das Entscheidende war etwas anderes: Die Bibel spricht vom Heiligen Geist, der die Menschen erfüllte. Und wo das geschieht, passiert Erstaunliches.

Wo Heiliger Geist ist, weitet sich der Raum, in dem wir zusammen sind und reden, und er wird durchlässig für eine andere Dimension. Wir sehen weiter und verstehen tiefer. Heiliger Geist ist und schafft eine besondere Atmosphäre. In dem Wort Atmosphäre steckt das griechische atmos. Das bedeutet „Dampf“, „Dunst“, aber auch „Hauch“. Heiliger Geist ist der Hauch Gottes. Heiliger Geist schafft eine Atmosphäre, einen Raum, in dem Gott uns berühren und miteinander verbinden kann.

Da ist nun also dieses Pfingstfest, an dem wir uns an die Glockenweihe vor 20 Jahren und an das Pfingstwunder vor 2000 Jahren erinnern. Ob beides etwas miteinander zu tun hat?

Glocken sind, glaube ich, Gehilfinnen des Heiligen Geistes.
Das sind sie zunächst einmal ganz buchstäblich. „Sie sollen“, so hieß es bei ihrer Weihe, „die Gemeinde zu Wort und Sakrament und zum täglichen Gebet rufen, Zeit und Stunde künden und daran erinnern, dass unsere Zeit in Gottes Händen steht.“ Diesem Widmungszweck entsprechend gehört das Geläut dieser Glocken zum gottesdienstlichen Leben der Frauenkirche. Die Gehilfinnen des Heiligen Geistes rufen zu den Gottesdiensten in denen wir, wenn es gut geht und gelingt, etwas von Gott vernehmen, einen Hauch von ihm spüren und im Abendmahl sogar schmecken können. Dies gilt auch für das Morgen-, Mittag- und Abendläuten. Es ruft ja zum Gebet und lädt uns damit ein, mitten am Tag und mitten in dem, womit unsere Gedanken gerade beschäftigt sind, einen anderen Gedanken zu fassen. Eine Bitte, einen Dank, einen Gedanken an Gott. Und selbst der Schlag der Uhr soll inmitten unserer rasch vergehenden Tage an den erinnern, der der Herr der Zeit ist.

Glocken sind Gehilfinnen des Heiligen Geistes.
Sie verkündigen ohne zu belehren.
Sie laden ein, aber sie drängeln nicht.
Sie weisen hin und sie mögen auch mahnen, aber sie drohen niemandem.

Glocken sind Gehilfinnen des Heiligen Geistes.
Das sind sie auch als Musikinstrumente.
Fein abgestimmt mit sieben verschiedenen Tönen und angepasst an den Klang der Glocken der Nachbarkirchen hat das Frauenkirchengeläut einen fröhlichen, warmen und vollen Klang. Und es gibt ganz verschiedene Läute-Motive, also unterschiedliche Glockenkombinationen, die je nach Anlass und Zeit im Kirchenjahr auch ganz verschieden klingen.

Das erste Läuten damals am Vorabend des Pfingstfestes 2003 hat deshalb eine dreiviertel Stunde lang gedauert, weil jedes Läute-Motiv einzeln vorgestellt wurde, ehe am Ende das Geläut der Nachbarkirchen mit einstimmte und die ganze Innenstadt erfüllte. Und die Menge, die zuhörte, war fast unüberschaubar. Am nächsten Tag schrieben die Zeitungen, dass es 100.000 gewesen sein sollen. Und sie standen da und lauschten. In dem wunderbaren Film, den Adina Rieckmann damals über die Glocken der Frauenkirche gemacht hat, sieht man das in den letzten Einstellungen. Menschen aller Generationen, manche in sich gekehrt, manche sichtlich berührt, ein junges Paar hielt sich umarmt und andere hielten ihr Handy hoch und übertrugen den Glockenklang zu ihren Freunden. Und darüber dann die letzten Worte des Kommentars: Wenn die Glocken klingen, schweigt der Mensch.

Glocken sind Gehilfinnen des Heiligen Geistes.
Beinahe reden wir über Glocken wie über Menschen: Glocken rufen, sie erinnern, sie mahnen, sie haben auf alle Fälle eine Stimme. Einer alten Tradition folgend hat jede der acht Frauenkirchenglocken auch einen Namen und aufwändige Glockenzier, die Christoph Feuerstein, der Künstler aus Neckarsteinach, gestaltet hat. Auf Ihren Gottesdienstprogrammen finden sie die zweitgrößte Glocke der Frauenkirche genauer abgebildet. Johannes der Täufer hat ihr den Namen gegeben. Es ist die Verkündigungsglocke und auf ihr steht der biblische Vers aus dem Matthäusevangelium: „Bereitet dem Herrn den Weg!“

Das Matthäusevangelium erzählt, dass Johannes damals beinahe so etwas wie ein Star war. Jedenfalls soll „ganz Jerusalem und ganz Judäa und das ganze Land am Jordan“ zu ihm in die Wüste gepilgert sein, um ihn zu hören und sich von ihm taufen zu lassen. Und als er dann laut dem Johannesevangelium gefragt wurde, ob er vielleicht selbst der Messias wäre, da antwortete er, indem er den Propheten Jesaja zitierte: „Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg!“
Selbstdarstellung gibt es viel. Hier aber hat sich einer ganz schmal gemacht – und verdeutlicht: Es geht nicht um mich. Es geht um einen, der größer ist. Das ist Verkündigung.

Glocken sind Gehilfinnen des Heiligen Geistes.
Bei den Frauenkirchenglocken verkündigt auch die Glockenzier: Auf der sogenannten Avers- also der Vorderseite der Verkündigungsglocke sehen Sie Johannes, den Rufer in der Wüste – aber der Künstler hat die Wüste in eine moderne Großstadt verlegt. Wir sehen Häuser, die wie Mauern aufragen, und dazwischen drei Menschen, jeder von ihnen ist sehr für sich. Das gibt es in unseren Städten: Vereinzelung, Einsamkeit inmitten vieler anderer. Und um all das herum hat Christoph Feuerstein eine Schlangenlinie gelegt, die den Eindruck noch verstärkt, dass der Weg des einen Menschen zum anderen oft weit und nicht leicht zu finden ist. Dies ist eine Stadt, eine Gesellschaft, die sich selbst genug ist. Die vielleicht aufgehört hat, nach Gott zu fragen und die mit Sicherheit viel zu wenig nach dem Mitmenschen fragt.
Ganz anders die Reversseite. Sie zeigt wie Johannes Jesus tauft. Im Wasser des Jordanflusses, in dem das geschah, sieht man bei genauem Betrachten ein Kreuz und dessen Linien gehen – gepunktet – über das Bild hinaus.

Und rechts ist da jetzt eine Menschengruppe, nicht mehr einzelne. Es könnten die sein, die einst zu Johannes an den Jordan kamen. Sie kommen die eine Linie des Kreuzes entlang und so könnten es auch jene sein, die der Spur Jesu folgen. Vielleicht auch jene, die dem Ruf der Verkündigungsglocke folgen.

Glocken sind Gehilfinnen des Heiligen Geistes.
Denn ein Kennzeichen des Heiligen Geistes, des Geistes Jesu, ist, dass da Menschen zusammenkommen. Wie damals am Pfingsttag in Jerusalem. Leute, die sich sonst vermutlich nie begegnet wären und nie im Leben miteinander gesprochen hätten: Einheimische und Fremde, Inländer und Ausländer, Junge und Alte, Etablierte und Leute vom Rand der Gesellschaft fanden sich plötzlich in einer Gemeinde. Das ist ja überhaupt ein Kennzeichen des Lebens und Wirkens Jesu Christi, dass er Räume der Begegnung geöffnet hat und nicht erst fragte, ob jemand fromm genug oder rechtschaffen ist. Er hat sich einfach mit den Leuten abgegeben und sich mit vielen von ihnen sofort an einen Tisch gesetzt. Die Linie des Kreuzes auf der Verkündigungsglocke geht über das Bild hinaus.

Denn wenn es gut läuft, dann wiederholt sich das wieder und wieder. Jedes Mal, wenn die Glocke ruft. Dann kommen Menschen hier zusammen, Leute die sich sonst vielleicht nie begegnet wären. Und wenn es gut geht, ist da Heiliger Geist und wir stehen ihm nicht im Weg, damit die Sache Jesu uns ansprechen und berühren und verbinden kann.

Und der Friede Gottes, der höher und tiefer ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN.

Stationen der Glocken bis zu ihrem ersten Läuten

Impulse im Rahmen des Festgottesdienstes anlässlich des 20. Glockenweihe-Jubiläums von

  • Adina Rieckmann MDR-Autorin
  • Thomas Gottschlich damaliger Bauherrnachitekt der Stiftung Frauenkirche Dresden und verantwortlich für das Projekt Glocken, heutiger Leitender Architekt der Stiftung Frauenkirche Dresden
  • Kajo Kusen Fördergemeinschaft Dresdner Frauenkirche Remagen – in Erinnerung an deren Gründer Fritz Büttner
  • Dr. Rainer Thümmel Sachverständiger für Geläute und Turmuhren

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Adina Rieckmann MDR-Autorin

Wenn ich an die Glocken der Frauenkirche denke, fällt mir als erstes Maria ein, die älteste Glocke, 1518 in Freiberg gegossen. Nach dem I. Weltkrieg passte sie wegen ihres angeblich unreinen Tones nicht mehr ins Geläut. Deshalb wurde sie verkauft und kam über Umwege 1960 an die Kirchgemeinde in Dittmannsdorf. Dort läutete sie bis 1998.

Heute ist Maria als Gedächtnisglocke Teil des achtstimmigen Geläuts. Sie harmoniert nicht sonderlich gut mit den anderen Glocken – alle acht zusammen läuten nur zu Pfingsten und am Abend des 13. Februar im Gedenken an die Luftangriffe. Ich aber höre diese Maria, auch wenn sie nicht angeschlagen wird. Als Filmjournalistin habe ich erlebt, wie die Kirchgemeinde in Dittmannsdorf sich unter Tränen von ihr verabschiedet hat. Sie hatten Maria mit ihrem besonderen Klang liebgewonnen, trennten sich von ihr mit großen Schmerzen. Mich hat das damals sehr bewegt.

Fragt man mich aber nach der Glockenweihe am 7. Juni 2003, erinnere ich mich daran nur mit dem Verstand, wie die Glocken zunächst einzeln erklangen, dann alle miteinander. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern. Vielleicht auch, weil ich mit einem Kamerateam für meinen Glockenfilm unterwegs war, weil wir Bilder einsammeln mussten. Ich weiß noch, wie wir uns durch die Menschenmassen durchkämpften und gar nicht wussten, wo und wie wir anfangen sollten. Die Menschen standen eng an eng, viele mit Tränen in den Augen. Andächtig, ehrfürchtig, tief bewegt, mit einem Staunen, ja, einem Zauber.

Ich hatte das Gefühl, dass ich diese Bilder nicht zeigen darf, dass ich damit den Zauber zerstöre. Irgendwann schauten der Kameramann und ich uns an, auch wir beide leicht verheult – und dann legten wir einfach los. Der Film über die Glocken der Frauenkirche aber – er ist bis heute mein innigster Film, auch weil er die eindringlichen Gesichter zeigt, die Freude, das Glück, die Tränen.

Jeden Morgen wecken mich die Glocken der Dreikönigskirche. Und wenn ich am Abend auf dem Balkon sitze und der Wind gut steht, höre ich manchmal auch die der Frauenkirche. Ich kann mir mein Leben ohne Glocken nicht vorstellen. Sie laden mich nicht nur zum Gottesdienst ein, sie geben meinem Tag ein Gerüst. Und wenn das jetzt auch etwas seltsam klingt: In ihrem Klang schwingt noch etwas ganz anderes mit – ein Ruf. Dieser Ruf macht es, dass ich ganz bei mir bin, dass ich mich verbunden fühle mit einer großen Gemeinschaft. Und manchmal spüre ich es dann auch, dass ich Gott nah bin. Was für ein schönes Geschenk machen mir die Glocken.

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Thomas Gottschlich Leitender Architekt der Stiftung Frauenkirche Dresden

Von der Vorlage der Glockenkonzeption im Jahr 1998 bis zur Materialisierung der Glocken auf dem Schlossplatz vor dem Georgentor 2003 vor aller Öffentlichkeit waren viele kurze und lange Wegstücke zu gehen. Für mich als verantwortlichem Bauherrnarchitekten war das eine einmalige Aufgabe und eine große Ehre.

Mit der Einzigartigkeit dieses über fünf Jahre andauernden Projektes sind viele persönliche Erlebnisse verbunden. Vor dem Glockenwagen her zu gehen und die Glocken vorbei an den erwartungsvollen Gesichtern der am Straßenrand stehenden Menschen zum Schlossplatz zu führen, hat mich persönlich ebenso mit Stolz erfüllt wie für die Glocken eine von acht Fürbitten sprechen zu dürfen: Wir bitten dich, Gott, für die Stadt, in der diese Glocken läuten werden und für das ganze Land: Lass die Glocken die Menschen zum Frieden mahnen und zur Menschlichkeit ermutigen.

Das Hochziehen der Glocken zu sehen und sie kurz danach am endgültigen Platz zu finden, war ein Moment der Freude und des Innehaltens auf dem Weg zur Weihe der Frauenkirche. Dass wir die Glocken der Frauenkirche nach 58 Jahren der Stadt und ihren Bewohnern wieder zu Gehör geben konnten, war ein bedeutender historischer Moment, der für immer in meinem und im Herzen derer, die dabei waren, verankert ist.

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Kajo Kusen Fördergemeinschaft Dresdner Frauenkirche Remagen – in Erinnerung an deren Gründer Fritz Büttner

Kajo Kusen lernte 1992 Dr. Fritz Büttner kennen und war vom gebürtigen Dresdner sofort tief beeindruckt.
Mit sehr persönlichen Erinnerungen würdigte Kajo Kusen den Mann, dessen Engagement so wichtig für unsere Glocken war.

Dr. Fritz Büttner hatte bereits 1988 – zwei Jahre vor der Wiedervereinigung – in seinem Wohnort Remagen die "Fördergemeinschaft Dresdner Frauenkirche" gegründet. Das Finanzamt Koblenz wollte ihr zunächst die notwendige Gemeinnützigkeit versagen, da ein Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche zu diesem Zeitpunkt einfach nicht vorstellbar war. Aber ein zusätzlicher Passus in der Satzung machte es möglich: Sollte der Bau der Dresdner Frauenkirche bis zum Jahr 2026 nicht in Angriff genommen worden sein, gingen die bis dahin gesammelten Spenden an andere bedürftige Institutionen.

Doch wer war dieser Fritz Büttner? 1922 geboren, wuchs er in Dresden auf. 1943 war er Pilot und wurde abgeschossen. Er erlebte den Untergang seiner Heimatstadt im Lazarett. In den 1950er Jahren studierte er Theaterwissenschaften in Berlin-West. Seine Arbeit führte ihn häufig nach Dresden. Die dort gesammelten Erfahrungen, die erlebte Hilfe und der spürbare Mut zum Wiederaufbau prägten sich tief ein und weckten in ihm die Hoffnung, für seine Heimatstadt noch einmal helfend wirksam werden zu können.

Nach der Promotion und einer Tätigkeit beim Sender Freies Berlin zog er nach Remagen bei Koblenz. Kaum war die Mauer gefallen, begann Fritz Büttner mit seiner nationalen Sammelaktion, getreu dem Motto: "Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt!" Längst hatte er Adressen aus allen Regionen Deutschlands gesammelt. Täglich verließen an die einhundert Faxe sein Haus in Remagen.

Es gelang mir, Fritz Büttner 8 Jahre lang mit Telefonbüchern aus ganz Deutschland zu versorgen. Viele Male konnte ich den unermüdlichen Spendensammler entweder nach Remagen oder nach Dresden kutschieren. Er hielt Vorträge in ganz Deutschland. Mit seiner sonoren Stimme und den spannenden Erzählungen fesselte er immer wieder seine Zuhörerschaft. Die Spenden waren stets beträchtlich: 400.000 DM waren schließlich das stolze Ergebnis! Finanziert wurden damit sowohl der Guss der sieben Glocken als auch die Glockentransporte und der gesamte Glockenstuhl.

Am Sonntag, den 4. Mai 2003, war es schließlich soweit. Verzeihen Sie mir bitte im Voraus, falls hin und wieder meine Stimme brechen sollte, aber der damalige Tag gehört mit zu den schönsten Erinnerungen in meinen fast 88 Lebensjahren. Schon in den vergangenen Tagen seit Ankunft der sieben silbern glänzenden Riesen waren Menschenmassen in der Elbestadt auf den Beinen. "Das ist der schönste Moment, den ich seit langem erlebt habe", sagte eine weißhaarige Frau leise. Das neue Geläut scheint für die Menschen der greifbarste Aspekt zu sein, dass ihre Frauenkirche bald wieder ihre Pforten öffnen wird.

Der Festumzug bestand aus sieben Glockenwagen. Es war mir gelungen, Fritz Büttner auf einem dieser Wagen zu platzieren. Vorn am Wagen konnte ich ein Schild anbringen: "Der Glöckner von Dresden". Was anschließend passierte, ist kaum zu beschreiben: Über 100.000 Menschen säumten den Zug durch Dresden. Man jubelte Fritz Büttner zu, als hätte er eine Weltmeisterschaft gewonnen. Als sein Wagen auf dem Schlossplatz zum Stehen kam, hoben sich ihm unzählige Arme entgegen. Jeder wollte ihm die Hand schütteln, um sich, mancher unter Tränen, zu bedanken. Rasch bildete sich eine dreireihige Menschenschlange bis zur Elbe hinunter. Fritz Büttner stand für weitere 90 Minuten im Fokus der Öffentlichkeit.

Zwei Tage später traten meine Frau und ich mit Fritz Büttner die Heimreise an. Wir sprachen nur wenig miteinander. Zu sehr waren wir noch mit den letzten Tagen beschäftigt. Als wir ihn in Remagen verabschiedeten, sprach er den unvergesslichen Satz: "Ich glaube, ich habe meine Mission erfüllt!" Vier Tage später ist er 81-jährig verstorben.

2006 durfte ich im Friedrichstadt-Palast Berlin aus den Händen von Professor Ludwig Güttler die GOLDENE HENNE posthum für Fritz Büttner entgegennehmen.

Verehrte Kirchenbesucher, es war mir eine Ehre, Ihnen diese Geschichte erzählen zu dürfen.
Sie haben mitbekommen, wie sehr sie mich noch heute berührt.
Alles Gute für Sie!

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Dr. Rainer Thümmel Sachverständiger für Geläute und Turmuhren

Von der Stiftung Frauenkirche Dresden erhielt ich im Jahre 1996 den Auftrag, eine Konzeption des neuen Glockengeläutes auszuarbeiten und dieses bis zur Realisierung zu betreuen.

1986 hatte ich die Existenz der letzten Glocke MARIA von 1518 des früheren Geläutes entdeckt, die in der Kirche Dittmannsdorf/Landkreis Meißen läutete. Nach spannenden Verhandlungen mit dem Eigentümer konnte diese Glocke nach Dresden zurückkehren.

Anspruchsvoll waren die Teilprobleme für ein „fröhliches vielstimmiges Geläut“: so die musikalische Neudisposition, da die tontieferen historischen Glocken zu groß für ihren Treppenturm waren, weiterhin die Gestaltung von Inschrift und Zier und Einfügung der Glocke MARIA in das neue Geläut, dazu kamen Konstruktion, und Bau der Glockenstühle, die Restaurierung einer historischen mechanischen Turmuhr, die Leistungsverzeichnisse und die neue Läuteordnung.

Allein aus glockenmusikalischen Gründen mussten sechs der siebem neuen Glocken zum zweiten Mal gegossen werden. Das geschah am Freitag, 4. April 2003, 15.00 Uhr, in Erinnerung an die Sterbestunde Jesu Christi. Als 1 Woche vor dem Transport nach Dresden die Klangprobe in der Glockengießerei Bachert dann bestätigte, dass –- trotz kürzester Fristen – dieser zweite Guss erfolgreich war, habe ich gedacht: Da hat der liebe Gott wohl seinen Menschenkindern segensreich „unter die Arme gegriffen“.

Für mich war im Blick auf die Glocken der bewegendste Moment vor dem Ersten Läuten die außerordentliche Anteilnahme der Bevölkerung bei der Begrüßung der Glocken mit den bedeutungsvollen biblischen Namen JESAJA, JOHANNES, JEREMIA, JOSUA, DAVID, PHILIPPUS und HANNA bei ihrer Präsentation und Weihe, ein in der Glockengeschichte bisher wohl einmaliger Vorgang. Menschen erlebten mit Freudentränen nach über 58-jähriger Pause den erfolgreichen Abschluss aller Vorbereitungen, damit „das Herz der Frauenkirche wieder beginnen konnte, zu schlagen“.

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Fürbitten im Rahmen des Festgottesdienstes anlässlich des 20. Glockenweihe-Jubiläums

Pfarrerin Angelika Behnke

So wie uns die Glocken rufen und erinnern,
lasst uns unsere Anliegen im Gebet vor Gott bringen.

Thomas Gottschlich
(zur Taufglocke Philippus)

Gott, du bist Herr über Anfang und Ende, Zeit und Ewigkeit.
Wir bitten dich: Komm zu allen,
denen die Taufglocke PHILIPPUS ein neues Leben einläutet.
Segne und behüte die Menschen,
die getauft und getraut werden.
Sei all jenen Licht auf dem Lebensweg,
die sich in diesen Tagen konfirmieren lassen.
Begegne denen mit deiner Hoffnung,
die am Glauben zweifeln.
Komm zu den Trauernden unter uns
und zu denen, deren Leben schwächer wird.
Schenke Vertrauen und Trost,
dass niemand bei dir verloren geht.

Rainer Thümmel
(zur Gebetsglocke David):

Gott, wir bitten dich:
Möge der Davidstern auf der Gebetsglocke DAVID uns allezeit aufrufen, allem Antisemitismus und Antijudaismus entgegenzuwirken.
Vergib, was wir, vorgeblich in Deinem Namen, unseren älteren Schwestern und Brüdern im Glauben alles angetan haben.
Lass uns in Zukunft bei allen ihnen geltenden Angriffen schützend vor sie treten.

Adina Rieckmann
(zur Gedächtnisglocke Maria)

Gott, wir bitten dich:
Möge die Gedächtnisglocke MARIA uns allezeit aufrufen, barmherzig zu sein.
Barmherzig gegenüber allen, die anders sind als wir,
die schwächer sind, die zweifeln an der Welt,
vor allem aber an sich selbst.
Barmherzig gegenüber den Menschen,
die wir als Paradiesvögel abtun, weil sie uns fremd sind,
nicht erklärlich.
Vergib, dass wir über sie gelästert,
dass wir sie nicht ernst genommen haben - in ihrem Tun,
mit ihrem Wünschen und ihrem inneren Reichtum.
Gib uns die Kraft, auf sie offen zuzugehen, von ihnen zu lernen
und auch, sie zu beschützen vor Angriffen.

Kajo Kusen
(zur Friedensglocke Jesaja)

Gott, du verheißt uns:
Schwerter werden zu Pflugscharen.
Unsere JESAJA-Glocke läutet täglich für den Frieden.
Wehre denen, die mit Worten und Taten Gewalt säen.
Lass sie erkennen, wie viel besser es ist,
die Felder zu bestellen
und am Abend in friedlicher Gemeinschaft Ruhe zu finden.
Lass uns bei uns selbst anfangen damit,
für Frieden und gegenseitiges Verstehen zu sorgen –
im eigenen Haus, in dieser Stadt,
an allen Orten, an die du uns stellst.

Pfarrerin Angelika Behnke
Treuer und barmherziger Gott,
Glocken machen unsere Bitten und Fürbitten in der Welt hörbar.
Mit den Glocken schicken wir unsere Anliegen zu dir.
Alles, was uns in diesen Momenten bewegt,
legen wir hinein in die Worte,
die dein Sohn Jesus Christus uns gelehrt hat.
Gemeinsam beten wir:

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld;
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

AMEN.

Auch für Putin beten??       

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„wir beten“ - habe ich eingangs vor dem Psalm gesagt. Und was ist dann geschehen? Was haben Sie empfunden, gedacht? Was ist Beten? BAP, die Köllsche Rockband, hat mal gesungen: „Wenn das Beten sich lohnen tät, was meinst du wohl, was ich dann beten tät“. Und dann heißt es in dem Lied weiter: „Gott, wäre Beten bloß nicht so sinnlos“. Wobei - ist BAP mit der direkten Anrede an Gott nicht eigentlich schon im Gebetsmodus drin gewesen?

I.

„So mahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“. So beginnt der heutige Predigttext. Gedrechselt, angestaubt klingt das. Nicht nach etwas, womit man Menschen, die in Distanz zu Glaube und Kirche sind, hinter dem Ofen vor- und zum Beten verlocken könnte. Für eine missionarische Aktion würde ich so einen Satz ganz bestimmt nicht verwenden. Er scheint eher die Klischees zu bedienen, die bei vielen über Kirche und Christen in Umlauf sind: bieder, ein bisschen verhuscht, aus der Zeit gefallen, vor allem auf die eigene fromme Seele bezogen. Und es scheint die verbreitete Vorstellung zu bestätigen, dass das Gebet etwas fürs sog. stille Kämmerlein ist, wo man mit sich und dem lieben Gott ganz allein ist, und was niemand andere etwas angeht. Angela Merkel wurde einmal in einem Interview gefragt: „Beten Sie?“ Die Pastorentochter antwortete lapidar: „Das ist meine Privatsache“. Betende Menschen sind hierzulande aus dem allgemeinen Gesichtsfeld verschwunden. Irgendwie wird es als peinlich empfunden. Haben Sie in einem Lokal mal zu Tisch gebetet, oder gesehen, dass das jemand tat? Als ich einmal zu einer ökumenischen Besuchsreise auf Bali war, war es dort völlig normal, dass Christen im Restaurant zu Tisch beten. Eher eine Minute als zehn Sekunden lang. In einem Land, wo sie eine Minderheit von 2% sind.

Der jüdische Philosoph Martin Buber hat einmal gesagt: „Wäre Gott nur einer, über den man reden kann, würde ich nicht glauben. Weil er aber ein Gott ist, zu dem und mit dem man reden kann, darum glaube ich an ihn.“ Wenn das stimmt, dann ist Beten Beziehung. Es heißt: sich Gott öffnen. Die eigenen Hände von der Arbeit loslassen und zusammenlegen, damit Gott seine Hand darauf legt. Die eigenen Gedanken Gott entgegenstrecken, dass er sie in seine Gedanken aufnimmt. Ich glaube, das hört sich komplizierter an, als es in Wahrheit ist. Schon Jesus hat, als er seinen Leuten das Vaterunser beibrachte, gesagt, dass Beten so geschehen soll, wie wenn ein Kind mit seinem Papa redet. Und Martin Luther hat einmal geschrieben - an seinen Frisör, der ihn fragte, wie Beten geht: „Ein gutes Gebet muss nicht lang sein, soll auch nicht lange aufgeschoben werden, sondern es soll oft und brennend sein. Es ist genug, wenn du ein Stück oder ein halbes davon kriegen kannst, an dem du in deinem Herzen ein Feuerlein anzünden kannst“. Wir können auch sagen: Wenn beim Beten im Herzen ein Feuerlein entzündet wird, dann werden wir ein bisschen freier vom Kreisen um uns selbst. Freier, das eigene Leben Gott hinzulegen in Dank und Bitte. Und freier auch zum Beten für die, die unser Mitgefühl brauchen.

II.

Um die Fürbitte geht es auch Paulus hier in unserem Textabschnitt. Vor allem um die Fürbitte für die sog. „Mächtigen“. „So mahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit“. Also: Beten für den Kanzler und den Bundespräsidenten, für Minister*innen und Abgeordnete, für Bürgermeister, Landräte und Gemeinderäte. Für alle, die Verantwortung für unser Gemeinwesen tragen und Entscheidungen treffen müssen, die sich tief auf unser Alltagsleben auswirken. Also auch für Richter, Staats- und Rechtsanwälte, für Manager in Wirtschaft und Finanzwelt, für Lehrer und Professoren. Und, ja, sogar für Pfarrer*innen, Superintendenten Bischöfe*innen.

Gerade damit tun wir uns aber ganz schön schwer. Als ich jung war, das war in den Nach-68er-Jahren, da gab es ein Feindbild gegenüber den Eliten. Wie heute auch. Der Unterschied, der im Grunde aber belanglos ist: damals kam das eher von links, heute eher von rechts. So oder so, „denen da oben“ wird von vielen alles mögliche Niederträchtige zugetraut. Wir hören und sehen das immer wieder auf unseren Straßen. Und dass es heute das Netz und seine Anonymität gibt, hat diese Dinge noch drastisch potenziert. In dieser Hinsicht ist die digitale Kommunikation nicht Segen, sondern Fluch. Was indes immer schon so war: Über Politiker reden wir viel. An Stammtischen oder in der Art von Stammtischbrüdern, oft nassforsch und übellaunig. Wir meinen vieles besser zu wissen als die Mandatsträger. Aber mit Gott über sie reden:  das wäre etwas ganz anderes. Weil das fast wie von selbst in eine Haltung der Demut führt: Was wäre denn, wenn ich im Rathaus, oder im Kreistag sitzen würde? Wie würde ich entscheiden, wenn ich in der Lausitz abwägen muss zwischen ökologischen und wirtschaftlich-sozialen Gesichtspunkten? Paulus jedenfalls schreibt uns ins Stammbuch: Nach den Nachrichten die Fürbitte. Nach den Tagesthemen die Gebetsthemen. Nach dem Stammtisch der Gebetstisch. Von Karl Barth stammt der Satz: „Dass wir beten sollen, steht in der Bibel. Was wir beten sollen, steht in der Zeitung.“ Recht hatte er.

III.

Aber natürlich wirft diese Aufforderung zum Gebet für die Einflussreichen und Mächtigen eine heikle Frage auf. Was denn, wenn sich die „Obrigkeit“ als unfähig erweist, als korrupt, diktatorisch, menschenverachtend? Also als in vieler Hinsicht gottwidrig - mag ein Potentat sich auch noch besonders fromm geben? Können wir für Hitler beten?, fragten viele Christen vor 80 Jahren. Oder heute für Putin, der sich ja gerne mit seinem Patriarchen als frommer, demütiger Mensch ins Bild setzen lässt? Das ist keine leichte Frage. Ich erinnere mich, wie ich Ende der 1970er Jahre auf einem Kirchentag den Bischof Festo Kivengere aus Uganda erlebte, der uns aus seiner Heimat berichtete. Uganda litt damals unter der Schreckensherrschaft des entsetzlichen Idi Amin, der sich daran erfreute, Kritiker eigenhändig in einen Pool zu werfen, in dem Krokodile schwammen. Bischof Kivengere wurde gefragt, ob man für einen Menschen, der sich derart als Un-Mensch erwiesen habe, denn noch beten dürfe. Und er, der selbst Schweres und Verfolgung unter Amin erlebte, gab die ungeheuerliche Antwort: Ja, betet für ihn! Betet, dass Gott die Ketten um sein Herz zerreißt. Ich erinnere mich, wie mich diese Antwort damals einerseits moralisch empörte, andererseits aber doch auch irgendwie beeindruckt hat. Wenn der ugandische Bischof geistlich Recht hatte - und heute denke ich, er hatte Recht -, dann lautet die Devise: Ja, beten auch für Putin und seine Kumpane. Dass Gott deren Herzen aufsprengt. In seiner Bergpredigt sagt Jesus: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. Gott geht also selbst mit gutem Beispiel voran! Er gewährt der ganzen Welt, und nicht nur seinen Freunden, die nötigen Mittel zum Leben. So gibt er uns zu verstehen, dass er nicht unser Vater sein will, ohne zugleich der Vater aller Menschen zu werden. Auch derer, die nicht seine Kinder sein wollen und sein Wort mit Füßen treten.

Und Paulus? Wenn er hier zum Gebet für Könige und Obrigkeit aufruft, hat er natürlich nicht eine christliche Regierung vor Augen. Sondern römische Despoten. Kaiser, die sich selbst als Götter verehren ließen, bei Androhung der Todesstrafe im Fall der Verweigerung. So wie es heute Christen in manchen islamischen Ländern erleben. Für solche Herrscher beten? Ja, gerade für sie, findet Paulus. Und warum? Hier wird der Satz aus unserem Text wichtig: „Denn Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Paulus meint damit: Weil Gott für alle Menschen denkt, darum können auch wir für alle denken. Weil Jesus sich am Kreuz für alle hingab, darum sollen wir für alle beten. Wirklich für alle. Hier wird etwas vom tiefsten Geheimnis des Betens sichtbar. Wir öffnen uns Gott, dass er unser Herz bewegt. Und zugleich lässt er durch unser Beten sein Herz bewegen.

Darin liegt eine große Kraft. Johannes Paul II hat einmal gesagt: „Die wahren Mittelpunkte der Geschichte sind die stillen Gebetsorte der Menschen. Hier geschieht Größeres und für das Leben und Sterben Entscheidenderes als in den großen Hauptstädten, wo man meint, am Puls der Zeit zu sitzen und am Rad der Geschichte zu drehen.“ Das sagt der Papst, der den Untergang des Sowjetreichs erlebte, ja ihn selbst mitbewirkte. Und als diesem Reich auch hier bei uns die Luft ausging, da hatte das auch etwas mit den vielen Gebeten zu tun, die in den Kirchen, ganz besonders intensiv in der Leipziger Nikolaikirche, gesprochen wurden. Übrigens lange vor 1989, über Jahre nur von wenigen, treuen Menschen, die zum Friedensgebet zusammenkamen, von der Öffentlichkeit nicht, vor der Stasi umso mehr beachtet.

IV.

Beten kann also in mehrfacher Weise zur Freiheit führen. Auf jeden Fall aber zu mehr innerer Freiheit von mir selbst. Ich bleibe beim Beten nicht bei mir selbst hängen, sondern hänge mich an Gott und seine Möglichkeiten. Und versuche ihm zu überlassen, wie er mit meinen Bitten umgeht. Nein, erhören tut er nicht alle - aber alle hört er. Denn, wie Paulus an anderer Stelle schreibt, er „gibt überschwänglich über alles, was wir bitten und verstehen“ (Eph 3,20). Dietrich Bonhoeffer hat dasselbe auf seine Weise so ausgedrückt: „Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen.“ Wenn wir beten, dann lassen wir uns in seinen Willen hineinnehmen - wie Jesus in Gethsemane in der Nacht vor seinem Tod, die in unserem Altar dargestellt ist. Also immer unter dem Vorbehalt: „...aber nicht wie ich will, sondern wie du willst“. Und wenn es uns gelingt, auch für solche zu beten, unter denen wir leiden, die uns ganz persönlich zu schaffen machen, dann treten wir gewissermaßen mit ihnen zum Kreuz, an dem Jesus bittet: „Vater, vergib ihnen“. Derselbe, der dann als Auferstandener regiert und vor dem sich einmal alle Knie beugen müssen, auch „Könige und alle Obrigkeit“.

 

Amen.

Predigt im Rahmen der Abendgottesdienst-Themenreihe »Friede sei ihr erst Geläute«
aus Anlass des 20. Jubiläums der Glockenweihe 2003:

Trauglocke Josua

Predigt gehalten von Schulpfarrerin Beate Damm

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Liebe Gemeinde in der Frauenkirche,

einmal war ich dabei – beim Glockenguss in Lauchhammer! Ich erinnere mich gut an diese Reise, mit Menschen meiner Kirchgemeinde, um zu sehen, wie unsere neuen Glocken gegossen werden. Das Staunen und die Ehrfurcht sind mir, wenn ich zurückdenke, wieder ganz nahe. Wieviel Vorarbeiten waren schon geleistet worden, wie schwere körperliche Arbeit und Handwerkskunst sowie Erfahrung waren nötig. Der eigentliche Guss begann »In Gottes Namen, Metall«, mit einem Wort des Gottvertrauens und ich erinnere mich, wie ich einen Schritt zurückwich vor der Hitze und fasziniert war von dem Wort der »Glockenspeise« für die Bronze, das Gemisch aus Kupfer und Zinn.

Das Auskühlen in der Glockengrube haben wir nicht abgewartet, aber wir fuhren zuversichtlich nach Hause, dass der Guss gelungen und der Klang, der schon beim Guss (Durchmesser, Höhe, Wandstärke) festgelegt wurde, stimmig sein würde. Das ist nicht einfach, es kann schiefgehen. Wenn es gelingt, ist es ein Gesamtkunstwerk und Ergebnis von Kenntnis, Anstrengung, Kraft, Gebet und Geduld.

Glocken läuten und werden zu rufenden Stimmen, hoch über der Stadt in der Glockenstube. Jede unserer Frauenkirchen – Glocken ist ebenso »In Gottes Namen« gegossen worden, trägt einen biblischen Namen und hat eine Funktion. Heute: die Trauglocke Josua. Lassen sie uns gemeinsam auf die Suche gehen, zur Gestalt des Josua und zur Frage, warum gerade die Botschaft des Josua-Buches zum »Getraut Werden« und zum Trauen passen könnte.

Wer war Josua?

Wenn ich an das biblische Buch denke, das seinen Namen trägt, ist eine Assoziation besonders stark. Ich habe eine Vorstellung von ... nicht von Klang, sondern von Lärm. Josua, der Nachfolger des Moses, begegnet uns als Kriegsherr. Er soll die Israeliten in das verheißene Land hineinbringen, das Land einnehmen und aufteilen. Am bekanntesten ist wohl die Eroberung der Stadt Jericho. Die Stadtmauer hält dem ausdauernden Hörnerklang und dem Kriegsgeschrei – da wird nicht gesungen, sondern geschrien - beim wiederholten Umrunden der Stadt nicht stand.

Eine historische Eroberungsgeschichte ist das nicht. Aber militärische Aktionen bei der Landnahme prägen das Bild. Josua ist nicht der Herrscher über das Volk, denn im Glauben Israels gehört alles Land Gott. Doch er wirkt als Beauftragter Gottes, wenn er das Land verteilt, die Grenzen sichert und Konflikte löst. Die Identität als Gemeinschaft im Glauben wird gestärkt durch Rituale und Feste als Zeichen, dass alle zusammengehören.

Es gibt eine klare Botschaft. Das Fundament in unsicherer Zeit ist das Bekenntnis zum einen Gott. Er wird als Retter erkannt. Das wird auch Josuas Vermächtnis. In seinem »Testament« und seiner Abschiedsrede will er zeigen, wie Gott handelt und dass dadurch die Liebe jedes einzelnen Menschen herausgefordert ist.

Liebe Gemeinde,

ich möchte Sie mitnehmen zu zwei Worten aus dem Buch Josua, die seine Geschichte greifbar machen, an unsere Geschichten anknüpfen und etwas mit unserer Glocke zu tun haben. Wir begegnen Josua zwischen Ängstlichkeit und Beharren.

Sei mutig und stark. Fürchte dich also nicht und hab keine Angst;
denn der Herr, dein Gott, ist mit dir überall, wo du unterwegs bist.

Jos 1,9 (Einheitsübersetzung)

Liebe Gemeinde,

die Gestalten der Bibel werden klein hinter ihren großen Geschichten. Sie halten aus und sind siegreich, aber auch angefeindet, verzweifelt und immer bleiben sie mit Gott in Beziehung. Vom Stammesvater Abraham bis zur ersten Christin Europas, Lydia ist das so. Manches lebendige und menschlich verständliche Versagen hat sich abgeschliffen. Andere sind gut verstaut in der Schublade »Glaubensvorbild« und verlieren auch auf diese Weise Relevanz und Anknüpfungspunkte für uns.

Die Darstellung des Mannes Josua ist keine Ausnahme. Aber die Ermunterung Gottes, sich nicht zu fürchten und seine Zusage, dass es keinen Ort gibt, der gottverlassen wäre, lassen eine Vermutung zu. Auch Josua ist ein Mensch, der mit reichlich Verunsicherung Neuland betritt. Ganz buchstäblich: Neuland für ihn und die, denen das verheißene Land eine Lebensbegleitung war. Immer wieder erzählt als eine Geschichte des mitlaufenden Anfanges. So konnte jeder Mensch trotz unbekannter Situationen Gottes Wirken erkennen. Versprochen blieb: Das Land ist wirklich für euch da, wenn ihr Gott treu bleibt, der in Gefangenschaft und Wüstenzeit bei euch war. Ein Land zum Greifen nah, das erst zum eigenen werden muss.

Wir haben alle schon Neu-Land betreten und erlebt, dass solche Zeit schwierige Geschichten des Übergangs kennt.

  • Übergänge gehören zu unserem Leben. Manche sind ersehnt. Wenn ich erst 10 Jahre alt bin, dann bin ich fast schon erwachsen, habe ich früher gedacht.
  • Schülerinnen und Schüler denken heute: wenn ich die Prüfungen bestanden habe, kann ich endlich nur das lernen und tun, wofür ich mich wirklich interessiere.
  • In den Herausforderungen eines Berufslebens greift der Gedanke Raum: wenn ich erst in Rente bin, dann wird meine Zeit ganz anders und sinnerfüllt sein.

Übergänge bergen in sich das Hoffen auf neue Möglichkeiten, aber sie bewahren nicht vorm Scheitern.

Ich finde, dass in dem Wort »Übergang« ein eigener Reiz liegt. Ein wenig so, als ob in einem Lebens-Raum schon eine Tür in den Blick genommen wird, die nur angelehnt von einem neuen Abschnitt, anderen Perspektiven und Begegnungen erzählt. „Zeiten des Übergangs“ sind zu einem Kontinuum geworden. In einer unübersichtlichen Welt scheint es den »sicheren Hafen«, den Ort oder die Arbeit »wo einfach mal alles so bleibt« kaum noch zu geben.

Gab es da jemals? Neu ist allenfalls das Tempo. Der Übergang als Normalfall? Ich denke, dass es wichtiger geworden ist, dies wahrzunehmen. Durch das gemeinsame Feiern von Geburtstagen und Jubiläen, durch den Segen, wenn ein Liebespaar verbindlich miteinander leben will oder wenn wir voneinander Abschied nehmen müssen. Alles, was das Gemeinsame stärkt, lässt uns Zeit mit vielem, was vorläufig ist, gut tragen (und nicht nur ertragen!). Josua geht auch in der Gemeinschaft. Aus der Zeit der Unsicherheit wird eine Zeit des zuwachsenden Mutes. Es ist menschlich und hält Menschen am Leben, die Hoffnung nicht fallen zu lassen und für sie zu arbeiten.

Vielleicht gehen Ihnen jetzt oder später die persönlichen und die gesellschaftlichen Übergangszeiten noch nach. Es ist eine Vertrauensfrage zu hören, was schon Josua hörte: Gott, ist mit dir überall, wo du unterwegs bist. Viele von uns werden groß mit kleinen Alltagsgeschichten, an denen wir wachsen und Zutrauen zu Menschen und Gott gewinnen. Das geht über Lebens-Neugier hinaus, es fordert ein zuverlässiges, verbindliches Leben ein. Ein Satz des Josua und ein Versprechen gehören unbedingt dazu, wenn wir ihn, ein bisschen uns und unsere Glocke verstehen wollen.

Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen.
Jos 24,15 (Einheitsübersetzung)

Mein Haus und ich – das ist nicht im Sinne des heutigen Eigenheims gemeint, sondern so wird in der Sprache der Bibel von der Familie und allen, die dazugehören gesprochen. Alle, die in einem Verbund zusammenarbeiten und leben, alle, für die gesorgt wird, sind gemeint. Josuas „Haus“ ist dieses ganze Volk und die Menschen, die ihm vertraut haben. Josuas Lebenserfahrung ist in diesem Satz gebündelt. Aufbruch und Unsicherheit bei der Übernahme der großen Verantwortung von Mose, Überforderung und Sorge, Alltagsgeschäfte und Verteilungskämpfe, in einem Land, das schon damals nicht leer war. Schwere Erlebnisse und eigene Schuld münden in einer Gewissheit.
Diese Gewissheit beschreibt nicht den Wunsch nach einem einfacheren Leben oder mehr Durchsetzungsfähigkeit. Josua spricht gelassen aus, dass es nicht nur von ihm abhing, was geschehen ist. Er hat erlebt, dass Gott da war, wo Josuas Wege entlanggingen und dass er ihm manchmal entgegenkam.

Vielleicht haben sie bei Geburtstagen oder an besonderen Tagen eine Zwischenbilanz gezogen. Haben eigene Verdienste, Glück gehabt und Segen, dass sie bewahrt geblieben sind, auf eine vorgestellte Waage vor ihrem inneren Auge gelegt. Was wog schwerer? Die Vorstellung, dass wir mithilfe von Technik, Planung, Absicherung und Geld das Leben im Griff haben, kann an Grenzen stoßen. Die wichtigen Dinge des Lebens bleiben Geschenk und damit auch un-verfügbar. Die prägenden Erfahrungen in meinem Leben haben mit Menschen zu tun. Der Schlüssel war immer das Vertrauen, auch wenn noch nicht die ganze Wegstrecke überschaubar war. Aber mit diesen Menschen an meiner Seite, war das auch nicht so entscheidend.

Liebe Gemeinde,

an dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die Gestaltung unserer Glocke. Auf der Vorderseite sind die Lebenswege zu entdecken. Stufen stehen für die Entwicklungsstufen zwischen Geburt und Tod. Brücken stehen für und ermöglichen Begegnungen, aber abgebrochene Brücken gibt es auch. Pfeile erinnern an die Suche nach Orientierung, ein Labyrinth-artiger Weg und in der Mitte ist ein Menschenpaar, das gemeinsam unterwegs sein will unter der Segensform des Kreuzes, dem Segen Gottes.

Sie trauen sich, einander zu vertrauen. Sie wagen es, Gott zu vertrauen. Die Botschaft vom Gottvertrauen wird neu erzählt von Josua bis heute. Ja, die Rückseite der Glocke, auf der Abraham vor dem Sternenhimmel zu sehen ist, ergänzt: von Anfang an in der Geschichte Gottes mit den Menschen, lebt und wirkt Vertrauen.

Es geht darum, sich gegenseitig und Gott das Gute zuzutrauen. Deshalb heißt die Glocke Josua auch nicht Hochzeitsglocke, weil Vertrauen auch durch die Tiefpunkte trägt. Wenn wir die Glocke Josua hören, klingt das Vertrauen weit hörbar, weil wir es für unser Leben brauchen.


Amen.

Wakanda, oder: bist Du noch ganz normal?

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde, und in ihrer Mitte: Lieber Georg und lieber Maximilian, liebe Tauffamilien,

vor einigen Jahren habe ich einen Jungen getauft, der vielleicht ein, zwei Jahre älter war als Du, Georg. Beim Kennenlerngespräch vorher erzählte er, dass ein Klassenkamerad, als der von seiner bevorstehenden Taufe gehört hatte, ihn ziemlich verblüfft fragte: „Bist du etwa Christ?“ Das passt zu dem, was letztes Jahr in der Zeitung zu lesen war. Da gab ein Jugendlicher aus unserer Stadt auf die Frage, wie er sich von seiner Lebenseinstellung her bezeichnen würde: als Christ, als religiöser Mensch oder als Atheist, die kernige Antwort: „Keine Ahnung. Ich bin einfach nur normal.“ Ein Satz, der es in sich hat! Heißt das, dass Du, lieber Georg, dass Sie, liebe Eltern, die Sie Ihre Kinder gerade haben taufen lassen, unnormal sind? Irgendwie uncool und ein bisschen schräg?

I.

Nun ja. Die Statistiken weisen aus, dass in unserer Stadt weniger als ein Fünftel der neugeborenen Kinder getauft werden. Nach menschlichem Ermessen wird das früher oder später auch „im Westen“ so sein. Auch dort ist es schon längst so, dass man sich in manchen Milieus dafür rechtfertigen muss, dass man diesem veralteten, weltfremden Verein Kirche immer noch angehört. Glaube, Kirche, Christsein - das gilt heute als uncool, jedenfalls als Zeichen eines realitätsfernen Gutmenschentums. So zeigt sich, dass die Frage so abwegig gar nicht ist: Sind Sie, die Sie sich entschieden haben, Ihre Kinder taufen zu lassen, bist Du, lieber Georg, der Du das selbst willst, damit unnormal? Meine Antwort klingt vielleicht erstmal überraschend: Ja, das ist wirklich so! Und zwar deshalb, weil die Taufe etwas Besonderes, etwas absolut nicht Alltägliches, weil Einmaliges ist. Einmal getauft heißt nämlich: ein für alle Mal getauft! Da kann auch ein Kirchenaustritt später nichts dran rütteln. Da, wo Menschen und Gott sich berühren, da wird alles Normale durchbrochen.

Ziemlich unnormal ist auch, was der Glaube aus Menschen machen kann. Wer sich mit der Geschichte des Christentums beschäftigt, der trifft nicht nur auf die immer wieder beschworenen „Skandale“, von denen diese Geschichte leider auch voll ist: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Inquisition, Zwangsmissionierung. Nein, er entdeckt auch Menschen, bei denen ihr Glaube an Jesus bewirkt hat, dass sie Besonderes bewirken konnten. Die sich nicht mit dem Mainstream treiben ließen, die nicht mit den Wölfen heulten nach dem Motto „Halt dich da bloß raus!“, „Da kann man doch nichts machen!“, „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner!“. Sondern die durch Jesus zu einem leidenschaftlichen Einsatz anstecken ließen für das Recht aller Menschen, wirklich Mensch sein zu dürfen: Franz von Assisi, Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, Mutter Teresa und viele andere, namenlose. Die haben kein „normales“ Leben gelebt, sondern sich von Gott bewegen lassen, um für andere einzutreten, die unter dem Strich existieren.

Aber unnormal hin oder her - rein äußerlich unterscheiden sich Georg und Maximilian auch jetzt, nach ihrer Taufe, nicht von allen anderen. Auch nicht von dem, der von sich sagte, er sei kein Christ, sondern einfach nur normal. Georg und Maximilian werden in einigen Jahren wahrscheinlich ähnliche Musik hören, an ähnlichen Sportarten Spaß haben, ähnliche Klamotten tragen und ebenso von Liebe und einem guten Leben in einer friedlichen Welt träumen. - Und doch, etwas wird anders durch ihre Taufe. Das drückt sich aus in den biblischen Worten, die Sie, liebe Eltern, für Georg und Maximilian als Taufsprüche ausgesucht haben.

II.

Maximilians Taufspruch ist gleich ein ganzer Psalm: der, neben der Weihnachtsgeschichte des Lukas, wohl populärste Text der Bibel, der berühmte Psalm 23, den wir zu Beginn gemeinsam gebetet haben. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser…“. Zu diesem unausschöpflichen Vertrauenspsalm, zu dem seit drei Jahrtausenden Menschen in allen möglichen Not- und Glückslagen greifen, braucht man eigentlich gar nichts zu sagen - so elementar ist er. Er spricht für sich selbst. Gott im Bild des unbedingt verlässlichen Hirten, der für seine Herde rund um die Uhr da ist, sie schützt und beieinander hält und sie zum „frischen Wasser“ führt, also dorthin, wo die Quellen sind, die Orte, an denen wir uns und unser Leben immer wieder erneuern können. Und der uns zum Zufluchtsort wird, der eine letzte Gelassenheit und Geborgenheit schenken kann, wenn uns der fehlende Schlaf in der Nacht anzeigt, wie viel uns manchmal tatsächlich mangelt. Dann, gerade dann zu Gott sagen zu können, wie ein Kind, das sich der Dunkelheit ängstigt, zu seinen Eltern: „Du bist ja bei mir“, das ist ein Geschenk, weil ich dann das Urvertrauen ins Leben und den Geber meines Lebens in mir eingewurzelt ist. Das wünsche ich Maximilian sehr.

Aber ehrlicherweise muss man auch sagen: uns modernen Leuten im 21. Jahrhundert ist die Selbstverständlichkeit verloren gegangen, in der der Psalmist, und viele Generationen vor uns, mit Gottes Da-Sein, seinem unermüdlichen Sorgen für uns gerechnet haben. Es gibt vieles, was sich in uns gegen das Bild von einem Gott wehrt, der es uns an nichts mangeln lässt. Redet dieser Psalm nicht an der Realität vorbei? Ist er nicht Ausdruck einer naiven, weltfremden Vertrauensseligkeit, die wir uns in dieser im Wortsinn ver-rückten, aus den Fugen geratenen Welt nicht leisten können? Wer kann denn ernsthaft so reden: „Mir wird nicht mangeln - Du bereitest vor mir einen Tisch“? Ja, unsere Tische sind meistens reichlich gedeckt, und hoffentlich sind wir dankbar dafür, denn selbstverständlich ist das nicht. Denn die unheimliche Kehrseite davon ist ja, dass andere sie überhaupt nicht decken können. Nach wie vor hungern und verhungern Menschenkinder.

Vielleicht können wir auf redliche Art nur dann an diesem Vertrauenslied festhalten, wenn wir es in einem richtig verstandenen Sinn als ein kindliches Lied sehen. Nämlich als den Ausdruck eines tiefen Vertrauens, zu dem so nur Kinder fähig sind. Darum geht es ja in diesem Psalm: dass wir zu Gott gar nicht genug Vertrauen fassen können. Ohne Vertrauen kann ein Kind nicht heranwachsen. Und gerade deshalb bleibt ein Kind im Manne (und in der Frau), bleibt in jedem von uns - hoffentlich - etwas unzerstörbar Kindliches: eben das Angewiesensein auf Vertrauen. Das bleibt verborgen in uns, bis es dann im hohen Alter wieder sichtbarer wird. Und dieses bleibende Kind in uns hindert keinen, ein mündiger Mensch zu werden. Nein, es ist eine Hilfe dazu. Denn ein Leben ohne Vertrauen wäre schrecklich. Und deshalb ist es lebenswichtig, dass Sie nicht nur Ihr Kind hegen und pflegen, sondern dass Maximilian später das verborgene Kind in sich selber hegen und pflegen kann.

III.

Dein Taufspruch, lieber Georg, klingt auf den ersten Blick sehr anders. Es ist ein Wort des großen Apostels Paulus. In seinem Brief an die Christen in Rom schreibt Paulus: „Wer mit dem Herzen glaubt, der wird gerecht“ (Röm 10,10). Aber was bringt es denn, wenn wir versuchen zu glauben? Und was ist eigentlich das Gegenteil von glauben? Im letzten Jahr habe ich erschreckend oft den Satz gehört: „Man kann ja doch nichts machen!“ Ich glaube, dieser Satz ist ein klassischer Unglaube-Satz. Wenn ich ihn sage, höre ich auf, daran zu glauben, dass ich etwas ausrichten, bewegen kann. Zum vorletzten Jahreswechsel las ich einen Zeitungsartikel, in dem nur gute Nachrichten standen. Das ist ungewöhnlich. Ein Leitmotto im Journalismus lautet ja: „Only bad news are good news“. Dieser Artikel dagegen erinnerte an lauter gute Nachrichten des Jahres. Die zeigen, was so alles positiv gewirkt hat. Zum Beispiel: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, immer mehr Kinder haben Zugang zu lebenswichtigen Impfstoffen. - Zwar steigt die Zahl der Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels an. Die Zahl der Todesopfer durch Naturkatastrophen aber hat sich dennoch in den letzten hundert Jahren halbiert. - Es gibt nicht nur das bedrohliche Artensterben. Meeresbiologen freuen sich, am Ende des vorletzten Jahres 71 neue Arten gezählt zu haben, darunter ein grell lilafarbiger Fisch. Er wurde auf den Namen Wakandafisch getauft. Das hat zwei Gründe. „Wakanda“ ist in den Avengers-Filmen, die Sie vielleicht kennen, wenn Sie Kinder im Teenie-Alter haben, ein afrikanisches Fabel-Land mit mutigen Kriegerinnen. Der andere Grund für diese Namensgebung: „Wakanda“ ist in einem lokalen afrikanischen Dialekt ein Ermutigungswort. Etwa im Sinn von „Geht doch!“ oder „Wird wieder!“

Das Ozonloch, das sich jedes Jahr über dem Südpol auftut, hat sich 2021 so früh geschlossen wie seit 30 Jahren nicht mehr. Die weltweite Allianz, Fluorchlorkohlenwasserstoffe zu verbieten, die das Ozon annagen, hatte also Erfolg. Geht doch, Wakanda! - Auch wenn mir Angst macht, dass große und mächtige Staaten dieser Welt immer mehr ins Autoritäre abdriften: Mehr Menschen als je zuvor konnten an freien Wahlen teilnehmen. Wakanda! - Die Einführung der Ehe für alle hat in Skandinavien die Suizidrate unter gleichgeschlechtlichen Menschen halbiert. Wakanda! - Indien hat seine Armutsrate halbiert. Wakanda! - Der Bestand der Buckelwale, die fast ausgerottet waren, hat sich erholt. Es leben jetzt wieder 250.000 Exemplare im Südatlantik. Wakanda!

Ich ziehe aus solchen good news die Folgerung: Wir sollten weg von diesem elenden „man“. Weg von dem ungläubigen „Man kann ja doch nichts machen.“ Und wir sollten hin zum Ich. Zu dem Ich, das an etwas glaubt. Das vertraut. Sich traut, sich was zutraut. Also: Ich glaube, Gott. Hilf du mir in dem Unglauben, mein Tun sei umsonst. Heile mich von dem Unglauben, dass es auf mich gar nicht ankommt. Lass mich glauben, dass auch ich was bewirken kann auf dieser Erde. Lass mich glauben, dass Du, Gott, mich brauchst, mich siehst und segnest, in meinem Scheitern und in meinem Gelingen. Dass Du bei mir bleibst auf dem Weg durch dieses Leben. Wakanda! -

IV.

Liebe Gemeinde,

Martin Luther hat die Taufe anschaulich „das unauslöschliche Siegel“ genannt, das Gott uns für alle Zeiten aufprägt. Mit diesem Siegel, diesem „Wasserzeichen Taufe“ bleiben wir gezeichnet - was auch alles im Lauf unseres Lebens auf unser Blatt geschrieben wird. Dieses Wasserzeichen Taufe ist normalerweise unseren Augen verborgen – wie ein Wasserzeichen auf einem wertvollen Blatt Papier. Man kann es nur entdecken, wenn man das Papier gegen helles Licht hält. Aber darum gibt es ja die Taufkerze. Sie ist ein Symbol dafür, dass, wenn Gottes Licht uns leuchtet, wenn andere uns im Licht Gottes sehen, dass dann unser Wasserzeichen Taufe sichtbar wird. Das ist freilich noch ein anderes, tieferes Sehen als das, was wir mit dem natürlichen Licht unserer Augen fassen können. Es ist das, was der „Kleine Prinz“ mit seinem berühmten Satz sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für die Augen unsichtbar.“ Und dann entdecken wir, dass es auch ein „normales“ Leben nicht ohne das Unnormale gibt.


Amen.

Wiedergefundene Verlorene

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

kurz nach dem Sonntag Misericordias Domini, dem „Hirtensonntag“, ein Predigtwort von guten und von schlechten Hirten. Es geht hier um eine wichtige Dimension der politischen Arbeit, auf allen Ebenen: um Führen und Leiten. Neudeutsch Leadership. Wenn man die Bibel daraufhin befragt, sieht man: es ist fast alles schon da gewesen! Der selbstherrlich abgehobene Topmanager. Die Arbeitsminimierungsstrategien des Beamten. Der populistische Autokrat. Es gab den kollegialen Führungsstil wie den einsamen. Es gab auch schon die Doppelspitze und auch Teamleitung. Nur dass die Führungskräfte in der Bibel noch viel mehr als heute männlich dominiert waren.

I.

Ein Führungstypus ist zu einem zentralen Symbol im Christentum geworden: eben der des Hirten. Nach alter kirchlicher Lehre ist das geistliche Amt vor allem anderen ein Hirtenamt. Das lateinische Wort für Hirte ist ja Pastor. Beim Wortfeld Hirte, Herde, Weide haben wir schnell ein Landlust-Idyll vor Augen. Einfaches Leben im Einklang mit der Natur. Archaisches Viehzüchterdasein als Sehnsuchtsort spätmoderner Menschen in der digitalen Beschleunigungsspirale. Schafe hüten, Hirte sein, auch das gehört heute zum Portfolio von Führungsseminaren und Selbstfindungskursen. Was aber die Bibel beim Hirtendasein im Blick hat, ist weit weg davon. Bei den Klimaverhältnissen und den karstigen Böden Palästinas war das ein hartes Brot, täglicher Existenzkampf.

Das biblische Bild vom Hirten sieht ihn seine Herde nicht von vorne, sondern von hinten führen. Ziemlich protestantisch. Von hinten behält der Hirte die Übersicht, kann die Herde in ihrem Rhythmus grasen und ziehen lassen, und hat immer im Blick, dass kein Schaf, kein Lamm verloren geht. Jedenfalls in der Theorie. Denn wie sprach ein legendärer Fußballlehrer zeitlos gültig: „Grau is alle Theorie. Entscheidend is aufm Platz!“ Und „aufm Platz“, also im wirklichen Leben, sieht es eben oft sehr anders aus an in den schönen Blaupausen. Führungsversagen, Machtmissbrauch durchziehen die Menschheitsgeschichte von den Anfängen bis heute. Die Hirten, die der Prophet Hesekiel ins Visier nimmt, sind von notorischer Machart. Hesekiel zieht ihnen, den Eliten am Jerusalemer Königsthron, ordentlich das Fell über die Ohren. „Ihr esst das Fett und kleidet euch mit Wolle, aber weiden wollt ihr die Schafe nicht. Das Schwache stärkt ihr nicht, das Kranke heilt ihr nicht, und das Verlorene sucht ihr nicht.“ Schlechte Hirten nennt er sie, weil sie politisch und moralisch korrumpiert sind. Ohne Gemeinwohlorientierung halten sie ihre Herde nicht zusammen, sondern machtversessen und machtvergessen sind sie nur auf Sicherung ihrer Pfründe bedacht.

Schlechte Hirten können wir auch leicht dingfest machen. Die autoritären Alphamänner, sogar in der liberalen westlichen Welt, die mit Kniffen und Listen demokratische Regeln aushöhlen, um ihre Macht auf Dauer zu stellen. Aber Vorsicht! Wenn ich daran denke, was bei uns so los ist, nicht erst seit Corona und Putins Krieg, höre ich diese prophetische Suada zwiespältig. Ähnliches ist ja bei den montäglichen Aufmärschen hier in unserer Stadt zu hören und in zahllosen Internet-Blogs zu lesen. „Die da oben“, von weltumspannenden, meistens in den USA beheimateten und jüdisch durchsetzten dunklen Mächten gelenkt, und schamlos gegen das eigene Volk tätig… Notorische Narrative. Schon die uralte Geschichte vom Sündenfall zeigt, dass es eine Lieblingsbeschäftigung des Menschen ist, Schuldige dingfest zu machen. In Deutschland besonders, und zumal wenn Politik im Spiel ist. Dann schießen sie wie Pilze aus dem Boden, die unfehlbar urteilenden Moralisten von rechts wie links. In einem sind sie sich allemal einig: Schuld ist immer die der anderen! Vor allem die des sog. „Systems“ und seiner Repräsentanten. Vom Kanzleramt bis zum Rathaus um die Ecke.

Hesekiel war ein hochemotionaler Prophet, mancher Kommentator sieht ihn an der Grenze zum Pathologischen. Ist er ein populistischer Wutprophet? Prima vista mag es so erscheinen. Aber das ist er nicht. Denn eines, was für den sog. Wutbürger typisch ist, tut er nicht: er betreibt keine Schwarzweißmalerei. „Aber zu euch, meine Herde, spricht der Herr: Ist`s euch nicht genug, die beste Weide zu haben?“ Nicht nur mit den Hirten redet Hesekiel Tacheles. Auch die Herde kriegt ihr Fett ab, die nie genug kriegen kann. In einem demokratischen Gemeinwesen darf es keine einseitigen Schuldzuweisungen geben, nach dem Motto: die einen sind die Sündenböcke, die anderen die Unschuldslämmer. Die Bibel hält immer wieder sehr nüchtern fest: Uns allen liegt ein gemeinschaftsgefährdender Egoismus im Blut, eine tiefsitzende Angst, zu kurz zu kommen.

II.

Nach dieser Brandrede würde man erwarten, dass Hesekiel, nach der Art der Gerichtspropheten des Alten Testaments, den korrupten Hirten eine drakonische Strafe Gottes ansagt. Aber er macht etwas sehr anderes: er stellt einen guten Hirten in Aussicht, der verlässlich liefern wird, was die schlechten Hirten schuldig geblieben sind. Nämlich Gott selbst, der sich als Hirte seiner Herde annimmt. Das ist keine Flucht aus der tristen Realität in fromme Erbaulichkeit. Hesekiel weiß: Es gibt Situationen, die so aufgeladen sind von Schuld auf allen Seiten, von Bitterkeiten und tiefsitzender Feindschaft, dass wir alle verloren wären, wenn nicht Gott selbst zum guten Hirten würde. Die schlechten Hirten bei Hofe haben ihr Impeachment verdient, sie werden abgesetzt, können sich nicht länger am Leid anderer weiden. Aber es ihnen nun auch noch als Menschen heimzuzahlen, sie niederzumachen hat Gott kein Interesse. Für ihn liegt obenauf sein Hirtendienst, sich um die zu kümmern, die Nähe und Zuwendung brauchen. So zeigt er uns, wie echtes Hirtesein geht. Die Beziehung zu seiner Herde ist wie eine heilsame Berührung: „Ich will das Verlorene suchen und das Verirrte zurückbringen, spricht der Herr.“ Was für ein Versprechen! Da wird einem warm ums Herz. Endlich sieht und sucht mich jemand, in dieser aus den Fugen geratenen Welt. Ich weiß gar nicht mehr, wo mein Platz ist. So vieles verändert sich in irrsinniger Geschwindigkeit. Ich komme kaum noch nach. Bilder und Botschaften im Netz, immer mehr - man kann darin ertrinken und sich in gefälschten Bildern, Fake News einrichten. Was stimmt noch? Liegt Habeck richtig, oder eher Lindner? Wagenknecht oder Baerbock? Wem kann ich noch trauen? In dieser überkomplexen Welt kann man sich verirren, in Parallelwelten verloren gehen und sich im Wutgeschrei suhlen. Ja, der Graben zwischen Hesekiels und unserer Zeit ist gar nicht so breit, wie es scheint.

III.

Liebe Gemeinde, das Wort, das Gott durch seine Propheten sagen lässt, ist immer ein Wort, das in die Geschichte hinein geht und dann Geschichte macht. Zwischen den Hörern damals und uns heute liegt die Geschichte von Jesus Christus, der dieses Prophetenwort aufgenommen und ausgelegt hat. Durch sein konkretes Tun - und manchmal auch durch sein programmatisches Reden, mit dem er uns deutet, wer er ist. Wie in den berühmten „Ich-bin-Worten“ aus dem Johannesevangelium, deren eines wir in der Lesung gehört haben. „Ich bin der gute Hirte, und ich kenne die meinen und die meinen kennen mich“. Und so, über seine Auslegung durch Christus, kommt das alte prophetische Wort jetzt zu uns. Denn die Geschichte Christi ist für uns Christen ja unsere Geschichte geworden. Jesus nennt sich selbst den guten Hirten. Einer, der seine Herde aus dem ff kennt, bei dem sie uneingeschränkt sicher vor Bedrohungen ist und der sie sich so auf sein Herz gelegt hat, dass er bereit ist, alles für sie zu geben. Wirklich alles: also auch sich selbst. Das ist wie ein großes Echo auf das, was der Prophet so in Aussicht stellte: „Ich will sie auf die beste Weide führen, und will sie weiden und lagern lassen. Ich will das Verlorene wieder suchen, das Verwundete verbinden und das Schwache stärken.“

Diese großartige Verheißung wird Person. In dem, der nicht nur von sich sagt, er sei zu den verlorenen Schafen Israel gesandt, sondern der das gipfeln lässt in dem Wort „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“. So ein Hirte ist das. Seine ganze Sendung in diese Welt können wir so beschreiben: das Verlorene suchen! „Welt ging verloren, Christ ist geboren“. Deshalb hat er sich mit denen an einen Tisch gesetzt, die die anderen stigmatisiert hatten. Darum hat er die schuldig gewordene Frau vor der moralischen Empörung ihrer hochanständigen Ankläger in Schutz genommen. Darum hat er die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt. Seine Hirtenlogik, 99 wohlbehütete Schafe sich selbst zu überlassen, um das eine Verlorene zu suchen: für uns ist sie aberwitzig. Aber Jesus hat seine Maßstäbe: Was sind, meint er, 99 Schafe gegen dieses eine, das elend verdursten müsste, wenn es in der Wüste sich selbst überlassen bliebe?! Was ist die Welt gegen eine einzige zitternde Kreatur? So lässt der Hirte durch alle Gefahren hindurch nicht locker, bis er das eine zitternde Schaf wiedergefunden hat. Solche Hirtentreue gibt es nur bei ihm. Wir alle sind Gesuchte und Gefundene. Mehr noch: Dieser Hirte hat die Verwundbarkeit, das Elend seiner Herde nicht nur empathisch mitempfunden - er hat es zu seinem eigenen Elend gemacht. Die Verlorenen findet und holt er zurück, indem er sich selbst auf ihre Seite gestellt hat, selbst zum Verlorenen wurde. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“.

Wer sein Hirtenamt so beglaubigt, der verdient alles Zutrauen in das, was Hesekiel in Aussicht gestellt hat: „Ich will sie auf die beste Weide führen, auf den Bergen und in den Tälern.“ Das kann Hoffnung stiften. Hoffnung, biblisch verstanden, ist die Überzeugung, dass diese Welt, so wie sie ist, nicht festgefahren ist. Hoffnung macht sich nicht erst an einer fernen Zukunft fest, sondern schon im konkreten Hier und Jetzt, gegen die als übermächtig empfundenen Sachzwänge und Eigengesetzlichkeiten. Vaclav Havel hat gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat ohne Rücksicht darauf, dass es gut ausgeht. Das ist wahr. Beispielhaft für diese Wahrheit steht das Tun der Verschwörer vom 20. Juli 1944. Hoffnung aus dem Glauben heraus lebt in der Überzeugung, dass Gott Verantwortung übernommen hat und uns daran teilhaben lässt, als der gute Hirte diese Welt zurechtzubringen, sie in aller Unvollkommenheit da und dort dem ähnlicher zu machen, wie er sich die Welt gedacht hat, als er sie erschuf. Und wo Er ist, da ist gute Weide.

Amen.

 

Zwischen Bibel, Bach und Frauenkirche – Ein Blitzlicht auf die Trompete

Impuls zur Geistlichen Sonntagsmusik
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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I.

Zwar gilt als das Kircheninstrument schlechthin bekanntlich die Orgel. Zugleich aber die taucht kein einziges Mal in der Bibel auf - aus dem sehr einfachen Grund, weil es diese Königin der Instrumente zu biblischen Zeiten noch längst nicht gab. So gesehen könnten ganz andere Instrumente als typisch kirchlich angesehen werden. Nicht zuletzt die Trompete zum Beispiel, die heute unserer Geistlichen Sonntagsmusik ein glanzvolles Gepräge gibt. Schon im Alten Testament wurde den Trompeten, im hebräischen Urtext den Chazozerot, eine Signalwirkung, eine Gemeinschaft stiftende Bedeutung zugeschrieben: „Und der Herr redete mit Mose und sprach: Mache dir zwei Trompeten von getriebenem Silber und gebrauch sie, um die Gemeinde zusammenzurufen und wenn das Herr aufbrechen soll“ (Num 1,2). Vielleicht noch wichtiger war, dass die Trompeten angestimmt werden sollten, wenn das Volk in Bedrängnis war, aber erst recht auch bei Festen, Dankopfern oder Gebeten: „…dass sie euch seien Erinnerungsopfer vor eurem Gott.“ (Num 1,10) Der Trompetenruf sollte die Menschen wachrütteln; den ihrem Gott zugetragenen Rufen und Bitten eine besondere Kraft und Nachdruck verleihen. Diese auch unabhängig von aller Religion elementar empfundene besondere Kraft und Wirkmacht des Bläsertons zieht sich durch alle Zeiten, bis heute. Man denke nur an die Fanfaren bei herausragenden Anlässen, etwa wenn im britischen Königshaus wieder mal eine Hochzeit oder, wie demnächst, eine Krönung ansteht. Der Einzug der Royal Family in die Kathedrale wird selbstverständlich mit erhebenden Fanfaren annonciert, welche das Besondere ankündigen und Hochgefühl und die Spannung auf das Bevorstehende ultimativ steigern sollen.

II.

Ganz besonders aber in der Barockzeit, aus der die heute zu Gehör gebrachten Werke stammen, erlebte die Trompete als Soloinstrument eine Hochzeit. Sie galt als Herrschaftssymbol. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich natürlich bei J. S. Bach, dem berühmtesten und größten Komponisten des Barock. Denken Sie nur an den Beginn seines populärsten Werkes, also des Weihnachtsoratoriums. J.S. Bach macht seinem Ehrentitel als „Fünfter Evangelist“ wirklich Ehre in der kongenialen Art, wie er zum Eingang dieses grandiosen Werkes das Einzigartige der Herrschaft des „König aller Königreich“, Jesus Christus, der der der Welt die Ehre seines Kommens erweist, in Töne bringt. Bevor das „Jauchzet, frohlocket“ des Chores laut wird, wird es zuallererst durch fünf kräftige Paukenschläge angekündigt. Gott kommt tatsächlich, wird einer von uns: unerhört, unglaublich. Der Paukenschlag der Weltgeschichte. Und dann lässt Bach die Trompeten erklingen: Fanfaren, die nach oben streben und eine neue Epoche ankündigen. Die Trompeten intonieren mit strahlenden, alles überglänzendem Ton die Melodie des Eingangschores. „Jauchzet, frohlocket“: im wortwörtlichen Sinn „mit Pauken und Trompeten“, wie es eben sein muss zur Begrüßung eines Weltenherrschers. So werden wuchtige Paukenschläge, rasende Streicherklänge und strahlende Trompetentöne gewissermaßen zur Himmelsleiter, auf der Gott zu uns herabsteigt - und auf der wir uns aus unserer Tiefe zu ihm aufrichten können.

III.

Last but not least: Viele wissen, dass die Trompete als Instrument auch einen ganz besonderen Bezug zur Geschichte dieses Hauses, der Frauenkirche hat. In einer berühmten Episode aus der Bibel spielen Trompeten und Posaunen eine strategisch entscheidende Rolle: Mit ihrem Einsatz werden die festgebauten Stadtmauern von Jericho zum Einstürzen gebracht, womit die Kinder Israel endlich nach 40jähriger Odyssee durch die Wüste das Gelobte Land betreten können. Die Geschichte der Frauenkirche erzählt ein spiegelverkehrtes Narrativ: Blasinstrumente, vor allem eben die Trompete, wurden strategisch eingesetzt, um aus den Trümmern eines eingestürzten Bauwerkes einen Wiederaufbau zu schaffen.

Das gelang bekanntlich durch einen Meister dieses Instruments, den berühmten sächsischen Trompeter Ludwig Güttler. Ohne diese „lebende Legende“, wie man ihn in Dresden gerne nennt, gäbe es die wiederaufgebaute Frauenkirche nicht. Zum 13. Februar 1990, dem Jahrestag der Zerstörung Dresdens, erschallte, einer Trompetenfanfare gleich, der „Ruf aus Dresden“ und ging hinaus in die Welt. Ludwig Güttler ließ sich als Galionsfigur des Wiederaufbau-Projekts in die Pflicht nehmen. Wie es heute, 33 Jahre später, gar nicht mehr vorstellbar ist, dass Dresden sein Stadtbild, den „Canaletto-Blick“ nicht zurückerhalten hätte, so unvorstellbar erschien es damals, dass die visionäre Idee des Wiederaufbaus eine realistische Chance auf Verwirklichung haben würde.

Aber die „Rufer aus Dresden“ ließen sich nicht beirren. Sie vertrauten auf die Kraft und Ausstrahlung ihrer Vision. Nur wenn wer selbst begeistert ist, kann auch andere begeistern. Das hat Ludwig Güttler mit seiner Trompete über 15 Jahre in zahllosen Benefizkonzerten für den Wiederaufbau mit nicht enden wollender Begeisterungsfähigkeit gelebt. So ist die Trompete, dieses königliche Instrument, ein unverlierbarer Teil der Geschichte der neuen Frauenkirche.

 

Amen.

 

Echte Typen gefragt!

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

ein Blick zehn Jahre zurück: Bundestagswahl 2013. Damals war die Erinnerung an die Geschehnisse, die zum Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff nach nur kurzer Zeit im Amt führten, noch ziemlich frisch. Ich weiß noch, wie ich damals den Eindruck hatte: Noch nie gab es eine solche Flut an Wahlplakaten, die, offensichtlich in Folge jener Causa Wulff, parteiübergreifend vor allem auf eines abgestellt waren: die persönliche Glaubwürdigkeit der Kandidaten. Kaum markige Sprüche, sondern lauter nette „Den hätte ich gern zum Nachbarn“-Gesichter. Sie sollten rüberbringen: Ich bin einer von euch, ich gehöre nicht zu der abgehobenen Politiker-Blase mit Beziehungen in die Glamourwelt! Bundestagskandidaten kommunizierten öffentlich: Ich habe für den Wahlkampf unbezahlten Urlaub genommen. Damit kam rüber: Hier nimmt es jemand richtig ernst mit der Kandidatur, er opfert viel Persönliches dafür. Zeit, Kraft, nicht zuletzt auch Geld. In Freiburg, wo ich damals lebte, ließ sich einer der Kandidaten auf seinem Plakat mit einem halb angebissenen Apfel in der Hand ablichten. Etwas kryptisch war das, man rätselte, was für eine Botschaft diese Geste transportieren sollte. Aber irgendwie kam es an, es wirkte heimatverbunden, ökologisch, einfach - und der Mann wurde nach Berlin gewählt.

In krisenhaften Zeiten wächst die Sehnsucht nach Vorbildern, die in ihrem Amt eine seriöse, glaubwürdige Figur machen. Die Glaubwürdigkeit der Amtsträger an sich wird zum großen Thema. Angela Merkel, so sagte man damals, gewann die Wahl mit einem an Schlichtheit nicht zu unterbietenden Satz aus drei einfachen Wörtchen: „Sie kennen mich!“ Das löste Vertrautheit aus, ein Gefühl von Gewohntem, Entspanntem. Das war ohne Frage ihr großes Pfund, mit dem die frühere Kanzlerin immer wieder wuchern konnte und das ihr diese lange Amtszeit beschert hat, auch wenn viele sie irgendwann zu langweilig fanden. Krisenzeiten sind jedenfalls gute Zeiten für solche, die die öffentliche Bühne mit anderen Mitteln betreten als mit holzschnittartigen Slogans und unterkomplexen Programmen wie die Parteien an den politischen Rändern.

I.

Um Leadership, um Führen und Leiten geht es im vorhin gehörten Predigttext aus dem 1. Petrusbrief. Wenn man die Bibel daraufhin anschaut, entdeckt man: es ist fast alles schon da gewesen an diversen Leitungstypen. Der selbstherrlich abgehobene Topmanager. Die Arbeitsminimierungsstrategien des Beamten. Der populistische Autokrat. Es gab den kollegialen Führungsstil wie den einsamen. Es gab auch schon die Doppelspitze und auch Teamleitung. Nur dass die Führungskräfte in der Bibel noch viel mehr als heute männlich dominiert waren. Ein Führungstypus ist zu einem zentralen Symbol im Christentum geworden: der des Hirten. Anschaulich noch heute beim sog. Krummstab der katholischen Bischöfe. Der stellt „Stecken und Stab“ des Hirten dar, der die Herde zusammenhalten und vor den Angriffen der wilden Tiere schützen soll. Beim Wortfeld Hirte, Herde, Weide haben wir schnell ein Landlust-Idyll vor Augen. Die „Christliche Kunst“ hat da einiges angerichtet. Was die Bibel beim Hirtendasein im Blick hat, ist weit weg davon. Für Weichgezeichnetes eignet es sich nicht. Bei den Klimaverhältnissen und den karstigen Böden Palästinas war die Profession des Schäfers ein hartes Brot, täglicher Existenzkampf.

Das biblische Bild vom Hirten sieht ihn seine Herde nicht von vorne, sondern von hinten führen. Eigentlich gut protestantisch. So behält er die Übersicht, lässt die Herde in ihrem Rhythmus grasen und ziehen, und hat im Blick, dass kein Schaf, kein Lamm verloren geht. Aber schon in der der frühen Christenheit gab es offenbar Anlass zur Frage: Wer in den Gemeinden ist in seinem Hirtenamt glaubwürdig, wer übt es gewissenhaft und maßvoll aus? Offenbar hat es dort ganz schön rumort, wenn eine uns unbekannte Person sich unter dem Namen und damit der Autorität des Apostelfürsten Petrus in einem Schreiben an die Führungsleute einiger von ihm gegründeter Gemeinden wendet, um ihnen ins Stammbuch zu schreiben: In der Nachfolge Jesu habt ihr einen Anteil an seinem Hirtenamt. Und wer sich dem guten Hirten verpflichtet weiß, von dem wird mit Fug und Recht erwartet, sich seinerseits wie ein guter Hirte zu verhalten. Dabei werden besonders die angesprochen, die schon länger dabei waren: die Ältesten. Das sind nicht zwingend die mit den meisten Lebensjahren, sondern sozusagen die Dienstältesten im Glauben, die Erfahrenen. Ältere, aber auch Jüngere, wie das heute ja auch ist in einem Kirchenvorstand.

Offenbar sind bei den Angesprochenen drei Dinge fragwürdig, die miteinander zu tun haben. Einmal: Es fehlt an Motivation. Zweitens: Das zeigt sich auch daran, dass er seine Schäfchen zwar irgendwie weidet, vor allem aber ins Trockene bringt. Und wer das tut, muss zum Dritten zwangsläufig von der Leitungs- in eine Kontrollposition wechseln, um seinen Besitzstand zu wahren. Was der 1. Petrusbrief kritisiert, dürfte uns so bekannt vorkommen wie sein Versuch, die Angesprochenen zur Rückkehr zu dem zu bewegen, womit alles einmal angefangen hat: mit Engagement, das von Herzen kommt. Nochmal alles zurück auf Anfang.

II.

Aber kann man so einfach verordnen, gute Hirten zu sein? Nach dem Motto: Habt gefälligst wieder mehr Lust, seid glaubwürdig und gute Vorbilder? Jede christliche Gemeinde erlebt Phasen, wo das alles nicht gehen will und der Anspruch, eine lebendige Gemeinde zu sein, in der „viel läuft“ und sich ganz viele aktiv einbringen, belasten und sich lähmend auswirken kann. Vor allem dann, wenn es nicht so kommt wie lange und sorgfältig geplant. So groß wie die Sehnsucht nach Vorbildern kann die Angst werden, selber eines sein zu müssen. Und das biblische Leitungsideal des Hirten ist da durchaus zwiespältig. Vom Hirten erwartet man, dass er rund um die Uhr da ist für die Herde, dass er sie in schwierigen Phasen sicher zu leiten weiß, Impulse zu gelingendem Miteinander gibt und nicht zuletzt die Gabe hat, mitzuleiden und nah bei den ihm Anvertrauten zu sein. Und überdies mit ganzer Hingabe bereit ist, die Schafe zu verteidigen, wenn sich der Wolf nähert. Notfalls unter Einsatz des eigenen Lebens. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“, sagt Jesus im vorhin gehörten Evangelium. Und hat das ja durch seinen eigenen Weg beglaubigt. Das Purpurrot, mit dem in der katholischen Kirche die Kardinäle angetan werden, soll das ausdrücken: dass zum rechten Hirtesein das Martyrium, das Vergießen des eigenen Blutes dazugehören kann.

Das ist eine sehr wuchtige Bildsprache. Aber irgendwie möchten wir Pfarrer*innen schon so sein. Eine Ganzhingabe an unseren Beruf leben und ausstrahlen. Weil er eben mehr als ein Beruf, sondern Berufung ist, oder doch sein sollte. Nach der Devise: Ein Pfarrer ist immer im Dienst, immer ansprech-, anschreib- und anrufbar. Aber wenn eine Situation kommt, wo etwas zu tun ist, was das idealtypische Hirtenbild trübt, dann kann es heikel werden. Wenn der Hirte nicht nur verständnisvolle Streicheleinheiten verteilt, die heute überall eingeforderte „Kultur der Wertschätzung“ pflegt, sondern auch mal hart dazwischen geht und, im Bild gesprochen, Schafe einfangen muss, die sich und andere gefährden. Wenn er mit Stecken und Stab die traktieren muss, die sich wie wildgewordene Böcke aufführen - und dabei im Eifer des Gefechts auch mal die falschen erwischt, die er eigentlich hätte schützen müssen. Jeder Schäfer kennt das aus seinem Arbeitsalltag: Täglich immer und für alles verantwortlich sein. Anders als der von Jesus sog. „Mietling“, der sich buchstäblich vom Acker macht, wenn es brenzlig wird. Ein verantwortungsbewusster Hirte kann das nicht. Auf die christliche Gemeinde bezogen: Wen wundert es, wenn dieses Ideal dazu führen kann, dass sich bei Haupt- wie Ehrenamtlichen Engagement in Überforderung verwandelt, wenn sich Lust in freudlose Pflichterfüllung verkehrt und gefrustete Herdenmitglieder sich zurückziehen. Man muss ja ehrlicherweise sagen, dass bei manchen, die die Kirche verlassen, es nicht nur die immer wieder angeführten notorischen Gründe sind (also dass der Glaube verdunstet ist, die Kirchensteuer, jetzt die Missbrauchsskandale), sondern bei gar nicht so wenigen auch eine tiefe Enttäuschung über Lieblosigkeit und Nachlässigkeit der Hirten in deren Umgang mit ihrer Sache und ihren Leuten. Für die, die dabeibleiben, ist das dann oft erst recht schmerzhaft. Es zeigt uns Anspruch und Wirklichkeit unserer Ideale.

Wie kann man da als Hirte eine Balance hinkriegen zwischen Wünschenswertem und Machbarem, zwischen berechtigten Erwartungen und Druck, der lähmen kann? Der Verfasser des 1. Petrusbriefs nennt sich „Mitältester“. Er scheibt also auf Augenhöhe. Das Hirtenamt ist nichts für Genießer, es kann einen an seine Grenzen bringen. Aber wenn wir als Kirche keine Organisation aus eigener Kraft, sondern eben Gemeinde Jesu sein wollen, mit einer Sendung, über die wir nicht verfügen, sondern die uns von Gott (vor)gegeben ist: dann bleibt das Hirtenamt für das Miteinander in der Gemeinde doch alternativlos. Es gibt keine Alternative zu dem, was Jesus als seine Aufgabe als guter Hirte gesehen hat: unseren Blick schärfen für die, die „verlorene Schafe“ sein könnten, ihnen nachgehen und in scheinbar ausweglosen Situationen Wege zurück zum Leben bahnen. Wir haben vorhin im Evangelium gehört, wie Jesus sagt: „Ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall, auch sie muss ich herführen und sie werden meine Stimme hören und es wir eine Herde und ein Hirte werden.“ Am Ende gibt es keine Alternative dazu, als sich an dem zu orientieren, der allein ein wirklich „guter“ Hirte genannt zu werden verdient. Es gibt eine Stelle in der Bibel, wo sehr genau gesagt wird, wie Jesus sein Hirtenamt sieht. Es ist die Geschichte von der Fußwaschung. Sie endet mit dem „neuen Gebot“, einander so zu lieben, wie er uns geliebt hat. Das heißt eben, unten anzufangen beim Menschen. Bei seinen Füßen. Also ihn nicht von oben herab zu behandeln.

III.

Liebe Gemeinde,

hier, in dieser Perspektive, liegt alle Vorbildhaftigkeit begründet, zu der auch der Verfasser des 1. Petrusbriefs seine Gemeinden anhält: sich an diesem Vorbild zu orientieren und jede Aufgabe in der Gemeinde, ob im Haupt- oder im Ehrenamt, als Angebot anzunehmen, am Beispiel Jesu diesen Weg nach unten anzutreten. Zum Menschen, wie er ist. Der andere und auch ich selbst. Das Wort im griechischen Urtext, das Luther mit „Vorbild“ übersetzt, baut da eine Brücke: da ist die Rede vom tupos. Ein glaubwürdiges Vorbild ist ein tupos. Salopp könnte man auch sagen: Um Vorbild zu sein, muss man ein Typ, eine „Type“ sein - also möglichst der, der ich nun mal bin. Unverstellt, authentisch. Mit meiner Art, an der andere hoffentlich Gefallen finden, aber auch mit meinen Unarten, über die andere auch mal seufzen. „Typos“ meint das Bild, das ein Prägestempel auf dem Untergrund hinterlässt. Wir sind gefragt als echte Typen, die das Leben geprägt hat, und die darin auch geprägt sind von Gott.

Natürlich muss aus einer solchen Prägung durch den, der die Sünder annahm und gerettet hat, ein anderes Vorbild-Sein erwachsen als immer strahlend, porentief rein zu performen. Als Amtsträger im Hirtenamt tupos sein, das kann auch heißen: Ich weiß, das Leben läuft nicht glatt und wie im Bilderbuch. Ich weiß: eine Ehe kann scheitern. Ich weiß, ich kann jeden Tag neu schuldig werden - und wirkliches Leben geht mit der Vergebung und der Möglichkeit neuen Anfangs. Und ich kenne hoffentlich auch die Grenze, wo man sein Amt um der Glaubwürdigkeit willen niederlegen muss. Wie das vor 13 Jahren Margot Käßmann mit ihrem schnörkellosen Rücktritt von ihren kirchlichen Hirtenämtern beispielhaft, im Sinn unseres Textes: „typisch“ vorgeführt hat. Solche „Typen“ sind keine perfecti, die alles immer herausragend gut und richtig machen. Und darum sie sind Vorbilder, wie man mit den Brüchen des Lebens glaubwürdig umgeht.

Also ich bin froh, dass es in unserer Kirche Vorbilder gibt, die Typen sind und keine glattgebügelten Gesichter, die einem auf Wahlplakaten entgegen lächeln. Menschen, die vom Leben geprägt, auch gezeichnet sind. Die auch mit Schuld glaubwürdig bleiben und darin Nähe zu der Herde ausstrahlen, die ihnen anvertraut ist. So verstanden kann tupos, Vorbild zu sein, Freude machen und nicht Druck.


Amen.

Der erste christliche Gottesdienst

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

eine in vieler Hinsicht be-weg-ende österliche Geschichte. Was die Christenheit seit ihrem Anfang bis heute am „Herrentag“ tut, wie sie den Sonntag früher nannte: das geschieht hier in dieser Erzählung von der Wanderung der zwei Jünger Jesu nach Emmaus gewissermaßen das allererste Mal. Wenn wir Gottesdienst feiern, dann feiern wir nicht nur die Auferstehung unseres Herrn. Vor allem feiern wir mit dem Auferstandenen. Genau davon, vom ersten Gottesdienst mit dem Auferstandenen, handelt das Evangelium dieses Ostermontags. Am Ende sitzen die beiden Wanderer mit Jesus um einen Tisch. Und mit einem Mal merken sie: es ist Gottesdienst!

I.

Am Ende aber ist es eines langen Tages Abend. Begonnen hat es am frühen Morgen - und zwar ganz anders. Auf jeden Fall so, dass die beiden Wanderer sich im Leben nicht hätten träumen lassen, dass sie am Abend an einem Tisch mit dem auferstandenen Jesus sitzen würden. Der Weg zum Gottesdienst kann mühsam und weit sein - nicht nur in Ländern der „Dritten Welt“. Dagegen sind wir auch im säkularisierten Ostdeutschland noch in einer ganz schön privilegierten Lage. Besonders fromm ist den beiden Männern nicht zu Mute, als sie sich auf den Weg von Jerusalem nach Emmaus machen. Wo dieses Dorf eigentlich lag, lässt sich nicht mehr feststellen. Aber gerade dieses Rätsel gibt uns schon einen wichtigen Hinweis: Emmaus ist überall. Man kann auch sagen: ‚Emmaus’ ist eine Ortsangabe nicht nur in einem geographischen Sinn. Zwölf Kilometer soll der Weg lang sein, den die beiden unter die Füße nehmen. Keine herausragende Tagesleistung. Wer halbwegs gesund ist, schafft das locker. Aber die beiden Wanderer tragen schweres Gepäck mit sich: die traumatischen Erlebnisse der vergangenen Tage.

Wie gesagt, eine Weg-Geschichte. Zwei sind miteinander auf dem Weg. Nicht nur von Jerusalem nach Emmaus, sondern eigentlich auch auf dem Lebens-Weg. Sie bewegen sich nicht beziehungslos nebeneinander her, sondern es bewegt sie etwas. Und sie brauchen einander, um damit fertig zu werden. Ohne den Weggefährten, den Gesprächspartner wäre alles noch trostloser.

Was war in Jerusalem geschehen? Der, an den sie ihre ganze Hoffnung gehängt hatten, der war aufgehängt worden. Als sie ihn ans Kreuz schlugen, zerschlugen sich all ihre Hoffnungen. Eine neueste Message hat nur noch mehr Verwirrung gestiftet. Einige Frauen waren am Morgen zum Grab gegangen, um dem Verstorbenen einen letzten Liebesdienst zu erweisen. Aber der Leichnam ist weg. Und dann sei ein Engel aufgeschlagen und habe behauptet, Jesus sei nicht mehr tot, er lebe. Das ist doch grotesk, viel zu märchenhaft, um wahr zu sein! So gehen sie tief traurig wieder zurück. Dorthin, wo sie früher gelebt hatten und wo es jetzt irgendwie weitergehen muss.

Wir aber hofften...“, sagen die beiden. Ach ja, wie oft wir das auch schon gesagt haben! Wir hofften, dass unseren Kindern einmal der Glaube wichtig sein würde, so wie er uns wichtig wurde. Wir hofften, durch den Glauben würde unsere Partnerschaft vor Leere und Routine bewahrt bleiben. Wir hofften, die Mächtigen der Welt hätten aus dem unfassbaren Blutzoll des zurückliegenden Jahrhunderts gelernt und würden ihre Konflikte anders lösen als durch Terror und Bomben. Wir hofften, unsere Kirche würde sich wandeln, offener, missionarischer werden, und nicht nur ängstlich auf das Festhalten Gewohnten, auf das „Es war aber schon immer so“ fokussiert sein. Am Anfang so viel Hoffnungen - und dann so viel müde Routine, Empfinden von Vergeblichkeit.

Wie oft wir wohl schon diesen Weg der beiden Jünger gegangen sind? Weg von den anderen, total enttäuscht - der Weg nach Emmaus, zurück in die Vergangenheit, in den schützenden Kokon der frühen Jahre. Immer eine Versuchung, wenn man den Blues hat. Noch sind die beiden ja erst auf dem Weg nach Emmaus. Und diese hintergründige Geschichte sagt uns: ihr Weg endet auch nicht dort. Nein, er mündet gerade dorthin, wohin sie mit Jesus, der sie gepackt und ihr Leben verändert hatte, aufgebrochen waren: in Jerusalem! Dort endet ihr Weg: in der Gemeinschaft der anderen Jünger, die sie zunächst verlassen hatten, weil sie keinen Sinn mehr im Miteinander sahen.

II.

Der Weg nach Emmaus war also ein Umweg. Liebe Gemeinde, damit gibt uns diese Geschichte etwas zweites Wichtiges zu lernen: Umwege müssen überhaupt nichts Schlechtes sein! Es gibt not-wendige Umwege. Wege mit Kurven und Stolpersteinen, die wir gehen müssen, um neue, lebenswichtige Erfahrungen zu machen. Paulus brauchte den Umweg nach Damaskus, der Minister aus Äthiopien den Umweg nach Jerusalem, um Jesus Christus zu entdecken. Wege, die irgendwann ganz anders laufen als geplant, müssen keine Irrwege sein, die im Nichts enden. Das lässt uns hoffen für die, die irgendwann einmal vom Glauben berührt worden waren und jetzt einen Weg gehen, der nach unseren Maßstäben immer weiter von ihm weg zu führen scheint.

Die Geschichte der beiden Jünger möchte uns sagen: Wenn Menschen, die gemeinsam auf dem Weg des Lebens sind, anfangen, miteinander zu sprechen, wenn sie sich eingestehen, wie schwer sie sich mit dem Glauben tun, was ihnen dabei fraglich geworden oder zerbrochen ist: dann ist das - nein, kein einfaches, aber - ein ganz wichtiges, heilsames Wegstück. Schon deshalb, weil ich nicht mehr allein mit allem fertig werden muss, sondern jemand habe, mit dem ich das bereden kann. Einer, der neben mir geht, an meiner Seite bleibt, statt immer schon ein paar Schritte voraus zu sein und auf alles eine glatte Antwort parat zu haben, nach der Devise: Die Kirche aber lehrt!

Vor allem aber sollen wir aus dieser Weg-Geschichte erfahren: Wo Menschen einander so ehrlich und ungeschminkt Anteil geben an ihrer Müdigkeit im Glauben, da ist Jesus tatsächlich schon mit ihnen unterwegs und hört zu. Längst bevor sie erkennen, dass er es ist. Das ist etwas ganz Tröstliches. Es bedeutet ja, dass wir nicht nur voreinander, sondern auch vor ihm unsere resignierten, zweifelnden Gedanken nicht verbergen müssen. Unsere beiden Wanderer auf dem Weg nach Emmaus müssen nicht so tun, als ob die Nachricht vom leeren Grab ihnen schon die Zweifel genommen hätten. Sie können ehrlich sagen, und tun es ja auch, dass sie damit noch gar nichts anfangen können - außer dass sie Verwirrung und Unverständnis fühlen.

Der unerkannt mit ihnen unterwegs ist, reagiert nicht von oben herab auf ihre resignierten Einwände. Er bringt die Schrift, die Bibel ins Gespräch! Darin liegt ein drittes Wichtiges für uns: Die Schrift, deren Ausleger und Auslegung er ist, Jesus Christus, die wird für alle, die sich auf den Weg des Lebens und Glaubens gemacht haben, zum unverzichtbaren Gesprächspartner. Im Hin und Her zwischen unseren Erfahrungen und dem Bibelwort kommt es dann zu Einsichten, Durchblicken, die uns aufhorchen lassen, die uns gut tun und neue Kraft geben. Die beiden Wanderer sagen, am Ende, als sie erkannt haben, wer da ihr Wegbegleiter war: „Brannte nicht unser Herz, als er mit uns redete auf dem Weg und uns die Schrift öffnete?“ Mich hat dieses Wort immer besonders berührt. Als vor vier Jahren meine Mutter starb, haben wir diesen Vers auf ihren Grabstein setzen lassen. Wenn ich in Karlsruhe an ihrem Grab bin und das lese, tut mir das gut.

III.

Freilich, das sagen die Jünger erst am Abend jenes langen Tages. Während ihres Bibelgesprächs, da bleibt ihnen unverändert rätselhaft, was sie gerade erleben. Aber etwas Faszinierendes, Wohltuendes muss von Jesus ausgegangen sein während der Stunden des Wanderns. So bitten sie ihn, in Emmaus angekommen, sie nicht zu verlassen: „Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.“ Diese Bitte „Bleibe bei uns!“: das ist die große Lebens-Bitte auf dem Weg des Glaubens. Weil sie die Bitte der Emmaus-Wanderer, und das heißt: die Bitte der Fragenden und Unsicheren ist. Das Gebet ist nicht das Vorrecht der Frommen und Sicheren.

Und nun sitzen sie am Tisch. Jesus bricht das Brot mit den noch ahnungslosen Jüngern. Vielleicht spricht er dazu das Psalmwort, das wir eingangs gebetet haben: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ (Ps 118,29). Nicht er ist bei ihnen zu Gast - er lädt sie an seinen Tisch. Wie vor wenigen Tagen ist das, als Jesus mit den Seinen noch einmal versammelt war, am Abend vor seinem Tod. Jetzt, in dem Moment, da er das Brot bricht, erinnern sie sich wieder. Und sie erinnern sich an das Wort, das er früher mal zu ihnen gesagt hatte „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Ihr Herz fängt erst recht an zu brennen. Und sie feiern in Emmaus den ersten Gottesdienst mit dem Auferstandenen.

Ja, und dann – dann ist der Auferstandene verschwunden, entzieht er sich ihnen. Liebe Gemeinde, darin liegt ein viertes Wichtiges für uns: man kann die Auferstehung nicht greifen oder gar beweisen. Man kann sie nur glauben. Wer meint, ihre Wahrheit hinge an einem historischen Nachweis, sonst wäre unser christlicher Glaube Schall und Rauch - der macht aus einer strahlenden Lebens-Geschichte eine trostlose Grabesgeschichte.

Unsere Emmausjünger jedenfalls haben alles erlebt, was dazugehört, wenn es gilt, Gottesdienst mit dem Auferstandenen zu feiern. Um seine Gegenwart haben sie gebeten: „Herr, bleibe bei uns!“ Ihre Resignation, ihren Kleinglauben haben sie offen ausgesprochen: „Wir aber hofften…“ Für Gottes gute Gaben haben sie gedankt: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich!“ Auf die Bibel haben sie gehört, der Auferstandene selbst hat sie ihnen ausgelegt - wie wir Prediger darum bitten, dass durch unseren Mund Gott selber spricht. Und dann hat er das Brot für sie gebrochen, in dem er sich ihnen schenkt.

IV.

Gottesdienst mit dem Auferstandenen: das ist das Versprechen der Emmausgeschichte und das Versprechen jeden Sonntages. Wo zwei oder drei beieinander sind in seinem Namen, da ist er dabei, ist er unter ihnen. Von einer Trennung nach Konfessionen hat er dabei aber nichts gesagt. Wenigstens da, wo wir ihm und einander am allernächsten kommen, an seinem Tisch, da sollte der Zwist der Konfessionen schweigen. Da ist seine Einladung wichtiger als alle Unterschiede des Amtsverständnisses. Wenn Christus selbst das Brot bricht, ist er selbst der Gastgeber. Da zählt nicht Luther oder der Papst. So jedenfalls lese ich die Emmausgeschichte. Und darum kann die evangelische Kirche nicht anders, als Christen anderer Konfession, die es wollen, das Abendmahl mitfeiern zu lassen. Denn nicht das kirchliche Amt, Christus selbst lädt dazu ein. Deshalb ist jede Abendmahlsfeier ökumenisch.

Liebe Gemeinde,

wer mit dem Auferstandenen Gottesdienst feiert, der lässt die Dinge nicht so, wie sie sind. Auch vom Tisch des Herrn ist die Bewegung die wie von jedem Essenstisch: es geht zurück ins richtige normale Leben. Nachdem unsere beiden Jünger erkannt haben, wer ihnen da das Brot gebrochen hat, hält sie plötzlich nichts mehr in Emmaus. Wem Jesus das Geheimnis seines Lebens und Sterbens erschlossen und wen er in der Stunde der tiefen Traurigkeit an seinem Tisch bewirtet hat, der kommt wieder in Fahrt, kann wieder nach vorn schauen. Nach Jerusalem zurück geht es dann plötzlich viel schneller. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über: sie können unmöglich für sich behalten, was sie erlebt hatten. Sie müssen es anderen mitteilen: Der Gekreuzigte lebt! Er bricht für uns das Brot. Kommt, sagt es allen weiter!


Amen.

Predigt gehalten von Superintendent Christian Behr

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Liebe Gemeinde,

„Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn“. So steht es auf der Glocke, über die wir heute nachdenken, von der wir nachher noch hören werden.

So sprach, oder sang, oder betete Hanna vor 3000 Jahren.

Aber wie sieht es mit Ihrem Herzen aus? Ist auch etwas von der Fröhlichkeit und der Dankbarkeit in Ihrem eigenen Herzen zu spüren, ja auch etwas zu finden, wovon hier die Rede ist?

Hoffentlich gibt es Erinnerungen und auch Hoffnungen, die Sie zu Dank und Fröhlichkeit herausfordern können. Es ist natürlich nicht immer so. Und vielleicht ist es gerade am heutigen Ostertag nicht so. Aber immer einmal und immer einmal wieder – Dank und Fröhlichkeit?

Hanna, von der hier die Rede ist, war eine, zwar von ihrem Mann geliebte, aber sonst wohl eher verachtete Frau. Denn die Achtung einer Frau hing damals viel davon ab, ob sie Kinder, oder noch mehr eingeschränkt, ob sie Söhne geboren hat. Die Frauen, denen das nicht vergönnt war, standen fast am Rand der Gesellschaft. Waren oft Spott und Hohn oder zu mindestens Verachtung ausgesetzt.

Nach Jahren der Kränkung und Demütigung durch ihre Nebenfrau, die sieben Kinder geboren hatte, weinte, betete, flehte Hanna im Tempel. Immer und immer wieder. Und endlich, da wurde sie doch erhört und gebar einen Sohn, den sie Samuel nannte. Und sie ging mit ihm in den Tempel und hielt ihn Gott entgegen und sang, sprach, betete ihr Dankgebet, welches wir zu Beginn des GD gemeinsam im Wechsel gebetet haben. „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn.“ Und so schwingen dankbare Töne durch den Klang unserer kleinsten Glocke der Frauenkirche über unserer Stadt.

Glockentöne schwingen über die Stadt,

dringen durch Mauern und Fenster,

ihr Puls schlägt bis in den Winkel der Küche,

wo du am Mittag eine Zwiebel schneidest und plötzlich erschrickst:

Warum gibt es die Zwiebel?

Warum gibt es dich?

Warum gibt es die Kinder, denen du das Essen bereitest?

 

Dort, in dieser Atempause,

bist du allein mit dem Gefühl, danken zu wollen,

und siehst auf in eine weiße Wolkendecke,

die am Himmel reibt.

 

Ein Glockenton, der Name der Glocke ist Hanna.

Hanna, eine Frau, kinderlos,

gedemütigt, doch in ihren Träumen

hob sie ein Bündel in die Luft:

hier ist mein Sohn.

Seine Lider sind Libellenflügel,

seine Pupillen schwarze Sterne.

Hatte ich Augen, bevor ich ihn sah?

 

Unfertig war die Welt geworden, als sie ihn gebar,

ein Dankgebet, ein Säuglingsschrei

hallte im Tempel.

„Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn.“

 

Auf der anderen Seite der Glocke sehen wir eine andere Szene aus der Geschichte des Samuel, den Hanna zuvor Gott dargebracht hatte. Er blieb als Priesterschüler, als Prophet, als großer Künder seit seiner Kindheit im Tempel und wurde später der geistliche Führer des Volkes Israel. Und eines Tages wurde er von Gott ausgesandt, um einen neuen König zu salben. Er kam zum Haus von Isai, einem Hirten, der sieben Söhne hatte. Natürlich meinte man, der Älteste und Stärkste würde zum König gesalbt werden. Aber Gott schreibt auf unseren Menschenlinien oft anders, als wir es denken. Der Jüngste, der unscheinbare Knabe David wird zum König gesalbt. Ein König, auf dessen Herrschaft hin sich später das ganze Volk Israel berief. Auch wenn dessen Leben nicht nur gerade und integer verlief.

Aber viel später, direkt vor Jesu Geburt hören wir, dass der Engel Josef im Traum anredete: „Josef, du Sohn Davids“. Und daraus folgt immer wieder, bis hin zur Offenbarung: „Jesus, Davids Sohn…“

Hanna, die Mutter Samuels singt ihren Dankpsalm. Maria, die Mutter Jesu, singt Jahrhunderte später einen ähnlichen Psalm, den wir als Lobgesang der Maria, als das „Magnifikat“ kennen. Und in beiden Psalmen ist von der großen Hoffnung die Rede. Von einer Hoffnung, die auch heute noch greift. Das was unten ist, soll nach oben verkehrt werden. Die Hungrigen sollen mit Gütern gefüllt werden - betet Maria. „Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke.“ - singt Hanna.

Und mit Jesus wird dies dann alles ersehnte Wirklichkeit. Ein König, der kein Königreich in dieser Welt hat. Ein Hoffnungsträger, der den Tod am Kreuz stirbt. Ein Menschenfreund, der die Liebe wagt, und den die Liebe weiter trägt, als es alle Hoffnung zu hoffen gewagt hätte.

„Der Herr tötet und macht lebendig, führt ins Totenreich und wieder hinauf.“.“  So heißt es weiter im Danklied der Hanna. So werden wir es ähnlich nachher im Glaubensbekenntnis sprechen. So bleibt es unsere Hoffnung. Der Tot ist nicht das letzte. Seine Macht ist seit dem Tod Jesu „Der Herr tötet…“ ein für alle mal gebrochen. „Der Herr macht lebendig“.

Martin Luther drückt das in der ihm eigenen Sprache vielleicht etwas drastisch aus: „Wenn Gott darangeht, einen Menschen zu rechtfertigen, dann verurteilt er ihn zuvor, und den er bauen will, den reißt er ein. Den er heil machen will, den erschüttert er , den er lebendig machen will, den bringt er um.“

Das Kreuz ist ohne Auferstehung nicht zu deuten und auch nicht auszuhalten. Die Auferstehung ist ohne das Kreuz zuvor nicht denkbar.

Es wird alles umgekehrt. Das unterste nach oben und das oberste nach unten. Manchmal scheint es auch in unserem Leben so zu sein. Zeiten der Trauer und der Freude wechseln sich ab. Zeiten des Wohl-Fühlens und Zeiten der Krankheit. Zeiten der Hoffnung und der Aussichtslosigkeit. Zeiten des abgründigen Zweifels und Zeiten des tiefen Glaubens.

Und doch ist es eben kein andauernder Kreislauf, dass es eine immer wiederkehrende Umkehrung gäbe. Es läuft alles auf das eine Ziel hinaus, das seit Jesu Leben, Sterben und Auferstehen immer etwas mit dem himmlischen Reich Gottes zu tun hat. Dass wir uns dann und dort geborgen und aufgehoben fühlen dürfen – und das mit tiefer Dankbarkeit.

So nimmt uns Hanna förmlich unsere Worte aus dem Mund, oder legt uns ihre Worte in den Mund. Und die Dankglocke Hanna lässt sie immer und immer wieder über unsere Stadt erklingen: „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn“.

Amen

Liedpredigt über »O Haupt voll Blut und Wunden«

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Paul Gerhardts Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ gilt in der evangelischen Kirche als der Karfreitagschoral schlechthin. Er ist heute aber auch besonders umstritten. Es verdichtet sich in ihm vieles, was der sog. „moderne Mensch“ kritisch vorbringt zu dem, was der Apostel Paulus das skandalon, das „Ärgernis“ des Kreuzes genannt hat. - Nun ist aber ausgerechnet dieser vielen fremd gewordene Choral, das mag Sie verblüffen, vor allem eins: ein tief anrührendes Liebeslied. Es geht in ihm um das ewige Thema der Liebe: Faszination. Hingerissensein - das einem Zerschlagenen, einem qualvoll Sterbenden gilt. Es geht hier um den riskanten Vorgang, dass ein Blick auf ein Gesicht fällt und geheimnisvoll dort festgehalten wird. Dass der Schauende von dem Anblick ergriffen wird, sich verliert im anderen - in der Hoffnung, dass er sich dabei gerade nicht verloren geht, sondern sich im anderen findet. Eben dies ist das Geheimnis der Liebe.

I.

Genau darum geht es in diesem Lied, in dem Paul Gerhardt einen Hymnus aus dem Hochmittelalter aufgenommen hat. Sechs Strophen haben wir schon durchschritten. In der 7. Strophe wird zur Sprache gebracht, was ich eben sagte: „Es dient zu meinen Freuden, / und tut mir herzlich wohl, / wenn ich in deinem Leiden, / mein Heil, mich finden soll.“ Darauf zielt der Blick der Liebe, der in den ersten drei Strophen fast verstörend detailverliebt über das von der Folter entstellte Gesicht des Gekreuzigten schweift. Und in den folgenden Strophen werden wir in eine Bewegung hineingezogen, durch die der liebend auf dieses Gesicht Schauende und davon nicht mehr Loskommende sich selber findet. Neu findet. Diese Bewegung begann in Strophe 4 mit den Worten: „Nun, was du, Herr erduldet, / ist alles meine Last“. Was du erduldet, ist meine Last. Meines im anderen. Da beginnt es: das Sich-Finden im anderen.

Blicken wir noch einmal auf die bereits gesungenen Strophen. Wie in einer Detailansicht des Gekreuzigten, vergrößert ins Unerträgliche, wird uns der sterbende Jesus in den ersten drei Strophen vor Augen geführt. In diesem extremen Zoom ist er fast kein individueller Leidender mehr. Eher ist es, als versammele sich alles Leiden der Welt in diesem einen Gesicht. Die Gesichter von Kindern aus den Kriegsgebieten in der Ukraine und in Syrien, in Nigeria und Äthiopien - alle die geringsten Schwestern und Brüder. Die Summe allen Leidens in der Welt in einem Gesicht, über das unser Blick geht. Und auf diesem Gesicht, das zum Urbild allen Leidens um uns herum wird, liegt ein faszinierter Blick. Faszination des fremdes Leidens: das ist keine angenehme Wendung. Es lässt uns erst einmal an Situationen denken, die wir von den Unglückstätten kennen: Menschen, die mit schreckgeweiteten Augen das fremde Leiden ansehen. Unfähig, wegzusehen oder einfach weiterzugehen. Wir kennen das von uns selbst. Das ist keine Sensationsgier; ganz unreflektiert nehmen wir den Fuß vom Gas und starren auf das zerrissene Blech und die Verwundeten oder Toten. Diese Faszination des Schreckens rührt daher, dass wir das fremde Leiden nachfühlen. Ein ganz elementares Mit-Leiden. Dem fremden Leiden können wir uns nicht entziehen.

Denn es spricht ja zu uns. Eigentlich ist es unmöglich, an einem Leidenden vorüberzugehen, ohne sich angesprochen zu fühlen. Ein blutiges Gesicht, ein vom Tod gezeichnetes Antlitz sind wie ein Appell. Bilder von im Mittelmeer tot umhertreibenden Flüchtlingen, von in zerbombten Städten umherirrenden Kindern greifen nach dem satten Fresser vor dem Bildschirm. Das Leiden der Welt verstört den Kaffeetrinker vor der Tageszeitung, es rüttelt den Passanten an der Unfallstelle auf. Verdichtet in einem Gesicht, stellt das fremde Leiden unabweisbar die Frage, ob das schweigende Vorübergehen an dem unter die Räuber Gefallenen auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho denn Recht sein kann. Das Bild des Leidens fragt nicht, ob alles, was ich habe, diesem Leidenden gehören sollte. Es fragt, ob ich wirklich alles getan habe, was ich tun kann. Es wird zur Frage nach meiner Hilfe: Kann ich denn wirklich nicht mehr tun?

II.

„Nun, was du, Herr erduldet, / ist alles meine Last“, hieß es in Strophe 4. Das fremde Leiden, über das Paul Gerhardt meinen Blick in den ersten drei Strophen leitet und dort geradezu bannt, führt nun dazu, dass ich beginne, mich selbst zu verstehen. Es fragt nach meinem Ort. Ich stehe auf Golgatha - dort, wo die Jünger stehen, die bei Jesu Festnahme in alle Himmelsrichtungen auseinandergerannt waren. Ich kauere mit Petrus, der nur noch seine Haut retten will, am Feuer. Das Bild des Leidens lässt mir nur die Möglichkeit, mich zum Zeugen der Anklage zu stilisieren und ein wohlfeiles „Haltet den Dieb“ zu rufen. Und doch weiß ich eigentlich, dass auch ich zu den Satten, den Hilfeverweigerern, den Zuschauern und Tätern gehöre. Aber keiner von uns will die Schuld am Leiden bei sich haben. Jeder reicht sie weiter. „Herr, bin ich’s?“ Nein, ich nicht - da wird es doch richtige Schuldige geben, wirkliche Täter! Vielleicht sogar irgendein Fehlverhalten des Leidenden, was zu seinem elenden Zustand mit beigetragen hat. Und dann die überall waltenden Sachzwänge, die Leiden zwangsläufig hervorbringen. Multinationale Konzerne. Fehlentscheidungen nachgeordneter Stellen. Die Medien, die alles hochspielen. Anderweitige Verpflichtungen, die konkrete Hilfe unmöglich machen. Keiner übernimmt Verantwortung. Aber irgendwo muss sie hin, die Schuld, die Verantwortung für das geballte Leiden. Und der, bei dem die Schuld dann hängen bleibt, der sie nicht mehr weiterreichen kann, der stirbt. Zumindest den sozialen Tod. Bei dem, der die Schuld nicht von sich weist, bleibt keiner mehr stehen. Den offensichtlich Schuldigen verlassen alle und bringen sich in Sicherheit. Wer Schuld nicht mehr weiterreichen kann oder will, wird selbst zum Leidenden.

Nun sind wir angekommen bei dem, was Paul Gerhardt eigentlich sagen will. Das Leiden des Jesus von Nazareth, das Kreuz von Golgatha ist der Ort, wo Schuld nicht abgeleugnet, nicht relativiert, nicht unter den Teppich gekehrt oder hin- und hergeschoben wird. Hier kommt die Schuld gewissermaßen zum Anhalten, hier bleibt sie sichtbar liegen. Hier wird Schuld getragen - und die Schuldigen kommen zur Ruhe. Das Stimmengewirr des Ent-Schuldigens verstummt. Und jetzt kann die Schuld endlich bekannt werden, weil sie getragen ist: „Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; /ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast“. So findet sich der vom Gesicht des fremden Leidens faszinierte, hingerissene Betrachter selbst. Wir singen noch einmal diese 4. Strophe.

III.

Darum heißt es dann in Strophe 7: „Es dient zu meinen Freuden, / und tut mir herzlich wohl, / wenn ich in deinem Leiden, / mein Heil, mich finden soll. / Ach möcht‘ ich, o mein Leben, / an deinem Kreuze hier / mein Leben von mir geben, wie wohl geschähe mir.“ Mit diesem Seufzer der Todessehnsucht könnte das Lied einen Schluss finden, wie er für Paul Gerhardts Zeit des Barock typisch wäre. Aber es ist noch nicht zu Ende, sondern der Dichter zeichnet nun nach, wie dieser Wunsch sich erfüllt. Er lässt den Betrachter, der sich selbst neu gefunden hat, nicht in frommer Solidarität mit dem Leiden unter dem Kreuz zurück, sondern er lässt ihn vom Kreuz aus auf den eigenen Tod zugehen, und übt mit ihm so das Sterben, die Bewältigung des eigenen Todes ein: „Wenn ich einmal soll scheiden, / dann scheide nicht von mir. / Wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür. / Wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein.“ Die Bachliebhaber unter Ihnen wissen, dass Bach in der Matthäuspassion diese Strophe direkt nach Jesu Tod singen lässt. Wir singen sie jetzt, Strophe 9.

IV.

Die beiden letzten Strophen verlieren sich nicht im fremden Tod, sondern nehmen den eigenen Tod vorweg. Das unheimliche, beängstigende Faktum, dass ich im Tod mir selbst entrissen werde. Das Lied meditiert die Angst vor dieser letzten Verlassenheit, in die wir hineinmüssen, wenn es ans Sterben geht. Diese Angst entspringt unserem Wissen, dass dieses von Bedeutung schwere Leben, das wir sind, vergehen wird wie ein Tag und wie eine Nachtwache. Paul Gerhardt legt uns keine Bitte um Verschonung oder wenigstens Aufschub in den Mund. Der Tod wird nicht weg- oder kleingebetet. Und - das ist für seine Dichtungen ungewöhnlich - Paul Gerhardt bittet hier nicht um ein ewiges Leben nach dem Tod. Sondern er bittet einfach - um ein Ende der Angst. Der Angst vor dem Tod, die keinem von uns fremd ist. So werden wir eingewiesen in die ars moriendi, die Kunst des Sterbens. So lautet denn die letzte Strophe: „Erscheine mir zum Schilde, / zum Trost in meinem Tod, / und lass mich sehn dein Bilde / in deiner Kreuzesnot. / Da will ich nach dir blicken, / da will ich glaubensvoll / dich fest an mein Herz drücken. / Wer so stirbt, der stirbt wohl.“

Im eigenen Tod will der Sänger das fremde Leiden sehen, das die ersten Strophen des Liedes besangen. Im eigenen Tod erwartet und empfängt er den Gekreuzigten. Im eigenen Tod sieht er das Gesicht des Geliebten, in dem alles Leiden, aller Tod verdichtet sind. Und daraufhin, dass er im eigenen Tod den fremden Tod findet, lässt er sich dann los, der Sänger. Er geht das Risiko der Liebe ein: sich selber loslassen, sich verlieren, in der Hoffnung, nicht verloren zu gehen, sondern sich im anderen wieder zu finden - und so sein Leben, sein ewiges Leben aus der Hand dieses anderen neu zu empfangen.

Wie immer es also einmal mit meinem Sterben sein wird, Gott hat diese ganze Schwere des Sterbens auch durch, er wird auch mir nah sein, wenn es einmal zu Ende geht. Er wird mich ansprechen, wenn andere mich nicht mehr erreichen können. Wer so stirbt, der stirbt wohl.


Amen.

Predigt zum Abschluss der Installation Gaia
»Gott ist ein Astronaut«  

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Und Gott sprach: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken. Der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.“ Feierlich klingt das, und schön. Zu schön inzwischen, um noch wahr zu sein? „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Mit diesem ehernen Gottesversprechen hat im Kapitel davor die berühmte Geschichte von der Sintflut geendet. Klingt dieses Versprechen mit Blick darauf, wie es heute um unsere Erde steht, nicht fast schon zynisch? Man braucht ja nur die viel zu niedrig und träge dahinfließende Elbe zu erinnern, und natürlich die brennende Sächsische Schweiz im vergangenen Sommer, um zu sehen, dass das Wechselspiel von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter so verlässlich nicht mehr ist.

I.

Heute geht „Gaia“ zu Ende. Ein letztes Mal ist sie bei uns zu bewundern, die überwältigende Installation von Luke Jerram. Sie hat uns einen Zustrom beschert wie seit vielen Jahren nicht mehr; manche fühlten sich an die frühen Jahre der wiederaufgebauten Frauenkirche erinnert. Eine derartige Resonanz hatten wir vorher nicht auf dem Schirm, sie hat uns fast überrollt. Gaia zeigt uns Mutter Erde so, wie sie vor über 50 Jahren die Astronauten, genauer: die Mondfahrer unter ihnen mit ehrfürchtigem Staunen gesehen haben. Seither nennt man die Erde den Blauen Planeten. Die Älteren von Ihnen werden es noch erinnern, wie das damals war, als die ersten Menschen auf dem Mond aufschlugen. Deshalb mal eine kleine Zeitreise zurück in den Juli 1969.

Wer es bewusst erlebt hat, weiß es noch. Was er damals wo mit wem gerade gemacht hat. Die Mondlandung hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben wie die Ermordung von Jack Kennedy, wie der Tag, als die Mauer fiel, oder wie „9/11“. Man sagt, nach dem ersten globalen Medien- und Fernsehereignis, der Krönung der Queen 1953, sei die Mondlandung das zweite gewesen, das die ganze Welt auf ein Ereignis hin fasziniert hat. Außer den Chinesen - in China, damals in den Wirren von Maos Kulturrevolution ein hermetisch abgeriegeltes Land, wurde die Mondlandung offiziell verschwiegen. Erst Jahre später haben die Chinesen davon erfahren. Undenkbar heute, aber im analogen Zeitalter funktionierte sowas noch. 600 Millionen Menschen weltweit haben sich damals live vor den Bildschirmen versammelt. Heute nichts Besonderes, ein WM-Finale hat Milliarden Fernsehzuschauer. Vor 50 Jahren aber eine gigantische Zahl. Viele hatten damals noch keinen Fernseher. Wir auch nicht. Man lud sich bei Nachbarn ein, die bereits stolze Besitzer dieses Zauberkastens waren. Oder man wurde noch kreativer. Ich war damals acht, und habe bis heute vor Augen, wie mein Vater aufgeregt das Fernglas nahm und sich ans Fenster begab, um von dort Einblicke ins Wohnzimmer des gegenüberliegenden Hauses zu erhaschen, wo ein TV-Schirm flimmerte. Ein so rührendes wie sinnloses Unterfangen. Die Bilder, die die NASA lieferte, waren schrecklich verwackelt und unscharf. Die TV-Moderatoren hatten es schwer, etwas in dem diffusen Geflimmer zu erkennen, und geeignete Experten für das Jahrtausendereignis zu finden. Der ORF zog einen HNO-Arzt zu Rate, Herbert Pichler hieß der Mann. Er wurde den Zuschauern als „Hobby-Astronom mit profundem Wissen“ präsentiert. Prompt kalauerten ihn die Österreicher zum „Hals-Nasa-Ohrenarzt“ um. Und in der BRD wurde gerne und mit Stolz der frühere Deutsche Wernher von Braun erwähnt, der für die NASA die „Saturn V“ konstruiert hatte, die die Astronauten ins All katapultierte. So wurde die Apollo 11-Mission unter Hinweis von Braun präsentiert, als sei auch Deutschland irgendwie mitgeflogen auf dem Mond. Dass eben jener Wernher von Braun der Chef des Nazi-Raketenprogramms im „Dritten Reich“ gewesen und tief in Kriegsverbrechen verstrickt war, wurde damals einfach verschwiegen.

II.

Jeder kennt den Satz, den Neil Armstrong gesagt hat, als er seinen Fuß auf den staubigen Boden im „Meer der Ruhe“ aufsetzte: „That's one small step for a man, but one giant leap for mankind.“ Eigentlich eine banale Aussage, ohne Hintersinn. Und trotzdem einer der berühmtesten Aussprüche, die jemals ein Mensch getan hat. Auf eigenartige Weise zueinander gehörig fühlten sich die Menschen damals, die zuschauen konnten. Einer Menschheit zugehörig, die, wie Armstrong fand, nicht nur in der Zuschauerrolle war, sondern mit seinem kleinen Schritt auf den Mondboden selbst einen Riesenschritt tat. Die Astronauten aber haben noch eine ganz andere, überraschende Zugehörigkeit entdeckt. Sie flogen damals ins All, um den Mond zu finden. Sie fanden noch etwas anderes größeres: Mutter Erde. Sie sahen sie aufgehen, eine kleine blaue Kugel im All. Von weit oben gut zu erkennen: Wasser und Land, Wolken, Nacht und Tag und keine Grenze nirgendwo. Winzig und ausgeliefert wirkt die Erde, wenn man sie im All betrachtet, haben viele Astronauten gesagt. Ein Lebensschiff in einem Meer von Dunkel und Stille.

Den Mondfahrern ging es da wie der Besatzung von Apollo 8, ein halbes Jahr vorher an Weihnachten 1968. Das war der erste Apollo-Flug, der die bereits vertraute Erdumlaufbahn verlassen hatte, den Mond umkreiste und damit den Blauen Planeten ins Blickfeld bekam. Jim Lovell, einer der Apollo 8-Astronauten, hat später gesagt: „Als ich aus der Ferne diesen wunderbar leuchtenden blauen Planeten sah, erfasste mich ein heftiges Glücksgefühl, dass Gott mir Dasein geschenkt hatte auf dieser Erde. Und ich beschloss, für mein weiteres Leben zu tun, was ich konnte, damit dieser Planet bewahrt wird und die Menschen auf ihm menschwürdig leben können.“

Ganz ähnliches haben nach ihm viele Astronauten gesagt. Bis zu Alexander Gerst aus Deutschland, der vor drei Jahren auf der ISS-Raumstation war und von dort in einen Brief an seinen damals noch ungeborenen Enkel schrieb. 400 km über ihrer Oberfläche schaut er auf die Erde und beschreibt ihre zerbrechliche Schönheit. Er schreibt: „Ich muss mich bei euch, meinen Enkeln in der Zukunft, entschuldigen. Es sieht so aus, als würden wir euch unseren Planeten nicht im besten Zustand hinterlassen. Ich hoffe für euch, dass wir noch die Kurve kriegen. Dass wir nicht bei euch als die Generation in Erinnerung bleiben, die egoistisch und rücksichtslos die Ressourcen aufgebraucht hat. Die einfachen Erklärungen sind oft die falschen. Die eigene Sichtweise ist immer unvollständig. Die Zukunft ist wichtiger als die Vergangenheit. Und für Dinge, die es wert sind, muss man auch einmal ein Risiko eingehen. Was ich will und was jeder wollen sollte: die Zukunft durch eure Augen sehen und so diese Zukunft möglich machen“.

Vielleicht würde es helfen, wenn wir alle so auf die Erde schauen. Vielleicht ist es gar nicht so schwer, die Augen zu schließen und sich den Anblick der Erde vom Mond aus vorzustellen. „Planet earth is blue and there is nothing I can do” - sang David Bowie gerade zu jener Zeit, als Neil Armstrong und Buzz Aldrin ihre Füße auf den Mond setzten. Das ist ein passender Ton. 54 Jahre danach erst recht. Damals herrschten noch ungebrochener Fortschrittsoptimismus und Technikgläubigkeit. Heute fühlen viele so wie der Sänger: Die Erde ist blau - und ich kann nichts tun. Blau ist ja nicht nur eine schöne Farbe. Wenn einer niedergeschlagen ist, hat er den Blues. Das bedeutet auch: Traurig, verlassen, hoffnungslos. Last Generation.

III.

Und was ist es mit Gott in dem allen? Die USA sind immer noch ein ziemlich frommes Land, für unsere temperierten Verhältnisse irritierend religiös aufgeladen. Ich sehe noch vor mir, wie jedes Mal, wenn eine Apollo-Besatzung wieder glücklich im Pazifik gelandet und auf dem Flugzeugträger eingetroffen war, als allererstes ein Pastor ein Dankgebet sprach. Alle senkten andächtig die Köpfe. Und als im April 1970 die Besatzung von Apollo 13 in schlimme Turbulenzen geriet („Houston, wir haben ein Problem!“) und tagelang ungewiss war, ob sie es wieder zur Erde zurück schaffen würden, waren in den USA landauf, landab die Kirchen rappelvoll.

Aber Gott ist wohl noch auf andere Weise da mit drin als bloß in der Rolle des gnädigen Bewahrers. Ich sage es mal unorthodox: Gott ist ein Astronaut. Ein Weltraumfahrer auf Patrouille, ein Major Tom, wie der einsame Astronaut in David Bowies Liedern hieß. Einer, der sich in das Blau der Erde verliebt hat. Einer, dem die Verletzlichkeit der Welt und ihrer Menschen, Tiere und Pflanzen das Herz umstülpt. So dass er eines heilvollen Tages, „als die Zeit erfüllt war“ (Gal 4,4), beschloss, selbst seinen Fuß auf die Erde zu setzen. In der römischen Provinz Palästina, wo der Erdboden wie da oben auf dem Mond auch sehr staubig ist. Menschen landeten vor 54 Jahren auf dem Mond - Gott ist längst auf der Erde gelandet. „Welt ging verloren, Christ ist geboren“: Gott hat Heimweh nach dieser Welt. Deshalb sucht er die Erde und er sucht Menschen, die sich anrühren lassen von der unendlich kostbaren Schönheit und von der extremen Verletzlichkeit der kleinen blauen Kugel im All. Und die über all dem, was einen traurig und bitter machen kann an der Art, wie wir Menschen so unterwegs sind auf dieser blauen Kugel, dennoch nicht verzweifeln oder zynisch werden. Sondern die beherzt die Ärmel hochkrempeln und, jede an ihrem Ort, tun, was sie tun können. Und so ihre Antwort geben auf Gottes Versprechen: „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Für unser Heil, das ist Herzstück des evangelischen Glaubens, können wir nichts tun. Weil Gott dafür schon alles getan hat. Als er am Kreuz festgenagelt hing und sich den verführerischen Einreden „Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann steig doch einfach runter vom Kreuz“ (Mt 27,40) verweigerte und diesen kleinen Schritt von der Erhöhung ans Kreuz wieder runter auf den Erdboden nicht tat, war eben dieser verweigerte Schritt ein „giant leap for mankind“, ein unendlicher Schritt für uns Menschen. Zu unserem Heil eben.

Aber gerade weil wir für unser Heil nichts tun können, sollen wir für unser Wohl, für ein gutes, menschliches Dasein umso mehr tun. Ob das historische Faktum, dass Menschen den Mond gefunden haben, für das Wohl der Menschheit viel bewirkt hat, steht dahin. 54 Jahre später jedenfalls ist nichts so wichtig, als dass wir Menschen die Erde finden und für ihr, für unser Wohl viele kleine, aber auch große Schritte auf ihr tun. Damit doch wieder möglich wird, was ich bei einer „Fridays for future“-Demo auf dem Plakat eines jungen Mädchens las: „Make our earth cool again!“ Dazu helfe uns Gott.

 

Amen.

von Oberkirchenrat Christoph Seele, Beauftragter der ev. Landeskirchen beim Freistaat Sachsen


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Liebe Gemeinde,

es entspricht einer guten und hilfreichen Ordnung, dass für jeden Sonntag Abschnitte der Bibel für den Gottesdienst verbindlich vorgegeben sind. Die Texte richten sich dabei ganz nach dem inhaltlichen Anliegen des jeweiligen Sonntags aus.

Ich erkläre uns das deswegen, weil uns heute am Sonntag Okuli ein Wort für die Predigt vorgegeben ist – das Sie als Zuhörerinnen und Zuhörer ohne diesen Hinweise irritieren mag. Die bisherigen Textordnungen sahen in der Passionszeit selbst bislang keine Abschnitte aus der Passionsgeschichte Jesu vor. Seit wenigen Jahren ist das geändert. Die einzelnen Stationen der Passionsgeschichte sind auf fünf Sonntage in der Passionszeit verteilt. So mag es Sie also nicht verwundern, wenn wir heute als Wort für die Predigt folgenden Abschnitt aus der Passionsgeschichte des Evangelisten Lukas hören:

„Als Jesus aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen.
Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?
Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?
Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab.
Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter!
Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.
Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen?
Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt.
Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“

Der Herr segne an uns sein Wort, Amen.

 

Liebe Gemeinde,

ist sie nicht einerseits wunderschön – unsere Erde? Diese Schönheit wird uns gerade hier in der Frauenkirche regelrecht vor Augen geführt. Schön – und doch irgendwie verletzlich zugleich?! Zum Greifen nahe – und doch nicht greifbar! Unmittelbar im Blick und doch unserer Verfügbarkeit entzogen?!

Wenn sich da nicht andererseits das Wissen um die Wirklichkeit auf dieser Erde beimengen würde. Dann, wenn wir gewissermaßen die Meta-Ebene als Betrachterinnen und Betrachter verlassen und eintauchen in die Atmosphäre und landen auf dem oft harten Boden der Wirklichkeit. Was von außen betrachtet so wunderbar aussieht, weiß doch im Hier und Jetzt um viele Verletzlichkeiten. Schon, weil es menschlich zugeht? Weil an vielen Orten aus mancher dieser Menschlichkeit eine Un-Menschlichkeit erwächst.
Unmenschlich ist es, wenn Gewalt und Kriege unermessliches Leid schaffen.
Weltweit werden gerade an 18 Orten Kriege geführt. Nicht irgendwo und weit weg von uns. In erlebbarer Nähe ist ein Angriffskrieg auf ein souveränes Land ausgebrochen, der uns beschäftigt und bewegt. Das damit unermessliche Leid an Zerstörungen, Hass und Gewalt und in der Folge Vertreibung und Flucht reicht bis in unser Land, bis in unsere Stadt. Menschen suchen Schutz und Raum in unseren Lebensräumen.
Unmenschlich ist es auch, wenn aller fünf Sekunden ein Kind unter 15 Jahren auf dieser Welt stirbt. Dabei handelt es sich um Todesfälle, die oft vermeidbar wären.
Unmenschlich ist es, wenn Hunger und Durst Menschen aus ihrer Heimat vertreiben und sie zur Flucht zwingt.
Und schließlich: Die Unmenschlichkeit hat in unserem eigenen Land ihre eigenen Orte: dort wo Kinder missbraucht, wo Frauen vergewaltigt, wo Menschen durch Gewaltverbrechen getötet werden, wie vorgestern erst wieder in Hamburg.

Überall dort, wo sich solche Unmenschlichkeit zum Ausdruck bringt, wird die Schönheit dieser Erde in Frage gestellt. Wir erleben die Wirklichkeit wie eine Dunkelheit. Sie umgibt uns dann und nimmt uns oft gefangen.
Denn das ist die Macht der Dunkelheit oder der Finsternis, wenn wir Menschen Dinge, die uns lieb und wert sind, gegen uns selbst einsetzen. Wenn wir uns selbst unser Miteinander zerstören.
Und die Macht der Finsternis beginnt oft im Kleinen. Ja geradezu im Alltäglichen, wie wir gehört haben: Jemand will zurückschlagen. Jemand will sich mit Gewalt durchsetzen. Wir haben sogar unter den Jüngern noch die Frage gehört, ob diese Gewalt im Sinne Gottes, im Sinne Jesu sei. Doch es wird gar nicht erst eine Antwort abgewartet. Die Frage wird weggewischt. Es wird einfach zugeschlagen, ohne Gott doch mit im Spiel zu lassen. Der Verrat des Judas – zugegeben gegen alle Regeln unter den Menschen – wird mit der rohen Gewalt eines Schwertes beantwortet. Gott wird gar nicht erst Raum gelassen.
Wenn wir Menschen Gott nicht in unsere Gedanken hineinlassen, hat die Macht der Finsternis ein leichtes Spiel.

Dabei kann ich die Jünger gut verstehen; jedenfalls in dieser Situation:
Der Bedrohung entgegentreten, schneller sein, als der andere; scharf, schneidend wie ein Schwert den oder die andere verletzen, sie oder ihn fertig machen. Präventiv den Erstschlag ausführen, sonst hast du gar keine Chance…

Es liegt auf der Hand, dass wir diese Situation nur zu deutlich auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine hören. Auch dieser Angriffskrieg ist Ausdruck solch finsterer Macht. Hier zieht aber der Angreifer das Schwert, startet Raketen und zwingt die Angegriffenen zur Gegenwehr. Wir müssen schmerzlich erleben, dass es ohne Gegenwehr nicht geht. Die Folgen wären vermutlich verheerender, als der Einsatz militärischer Mittel der Verteidigung. Dass dabei täglich hunderte Soldatinnen und Soldaten auf beiden Seiten der Fronten ihr Leben lassen, klagen wir Gott ohnmächtig. Den wirklich Verantwortlichen Militärs möchten wir ins Gewissen reden – am besten mit dem Ruf Jesu: „Lasst ab. Nicht weiter.“
Oder um es mit den Worten auf den Punkt zu bringen, mit denen wir in unserem eigenen Land eine friedliche Geschichte schreiben durften: „Keine Gewalt!“

 

Liebe Gemeinde,

die Lage im Garten von Gethsemane war zweifellos dramatisch. Wir hören von Heimtücke und Verrat, von Gewalt und Verletzungen, von Ungerechtigkeit und Demütigung. Christus nennt sie selbst die Mächte der Finsternis. Und doch erfahren wir auch Bilder, die diesen Mächten der Finsternis entgegenstehen – Gegenbilder.

Ein Erstes:

Jesus sieht Judas und durchschaut sein Vorhaben.
Die Nähe die Judas sucht entlarvt er als Heuchlerei. Er demaskiert alle Heimtücke und allen beabsichtigten Verrat. Und auch den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels führt er ihr wirkliches Wollen und Tun vor Augen. Das bedeutet: Jesus durchschaut die Maskerade. Er schaut in das Herz derer, die gegen ihn antreten, die gegen ihn sind. Dieser Blick benennt ganz klar die wirklichen Ziele und Absichten. Wir können und wir brauchen Gott nichts vormachen. Gott sieht uns an – das will aber auch bedeuten, dass er unsere wirklichen Absichten durchschaut. Er schaut aber darüber hinaus und in unser Herz. Das muss uns keine Angst machen. Das will und kann befreien. Wir brauchen Gott nichts vormachen.

Ein zweites Bild:

Jesus behält die Macht über die Gewalt.
Er löscht die Folgen menschlicher Gewalt sogar aus. Jesus kann die Gewalt eines seiner Freunde nicht verhindern. Er dreht aber die Gewaltspirale zumindest von der Auseinandersetzung mit Schwertern auf das Miteinander reden zurück. Er durchbricht die Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Dort, wo es in unser Ermessen gestellt ist, sind wir aufgefordert, das zu leben: Kein Wie du mir, so ich dir! Keine Vergeltung, die aus kleinen Pannen riesigen Streit erwachsen lassen kann. Jesus untersagt denen, die um ihn sind nachdrücklich, Gewalt für ihn, den Menschensohn, den Sohn Gottes anzuwenden.
Im Namen Gottes darf keine Gewalt eingesetzt werden.
Im Namen Gottes dürfen keine Kriege geführt werden.

Und schließlich ein drittes Bild:

Jesus lässt sich gefangen nehmen. Er lässt sich auf den Weg des Leidens ein. Er weiß darum, dass Gott ihn auch in dieser Situation letztendlich nicht verlassen wird. Seine Nähe ist jetzt für ihn nicht offenbar. Und die Jünger meinen, Jesus in Schutz nehmen zu müssen. Er aber weiß, dass er unter Gottes Schutz steht. Gott geht mit ihm den Weg durch Gefangenschaft, Leid und Tod. Er weicht dieser Macht der Finsternis nicht aus. Letztendlich wird sein Weg es zeigen, dass nicht die Gefangennahme und alle Gewalt, nicht das noch folgende Leid, nicht einmal der Tod das letzte Wort haben wird, sondern die Kraft seiner Auferstehung.
Dieser Blick nach vorn ist es, der uns zeigt, dass die Hoffnung eben nicht stirbt – nicht einmal zuletzt!

 

Liebe Gemeinde,

diese Gegenbilder wollen allesamt Bilder der Hoffnung gegen die Dunkelheiten des Lebens sein.
Sie gelten auch uns heute in unserem Hier und Jetzt. Im Angesicht der vielen Herausforderungen, um die auch unser Leben weiß, dürfen wir uns von Gott angesehen wissen. Gott lässt uns in keinem Augenblick unseres Lebens allein. Gott ist auch dort mit und bei uns, wo wir heute den dunklen Machenschaften des Lebens ausgesetzt sind. Wir brauchen diesen aber nicht die Macht zu überlassen. Wir können ihnen Bilder der Hoffnung entgegensetzen:

Und Gott gebe es, dass eines Tages die Schönheit dieser Welt wieder ihren wirklichen Ausdruck finden kann, weil es auf ihr Frieden geworden ist.

Denn der Frieden Gottes, der größer ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus bewahren,
Amen.

 

Predigt zur Eröffnung der Installation Gaia
»Achtung zerbrechlich«  

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Es gibt für die Erde keinen Plan B!“ Oft kann man diese Plakataufschrift bei den Demos von Fridays for future sehen. Ist das Alarmismus, eine apokalyptisch aufgeheizte „neue Klima-Religion“, wie ein beliebter Vorwurf an die Klimademonstranten lautet? Prima vista scheint diese Botschaft in ziemlichen Kontrast zu einer anderen zu stehen. Die haben wir vorhin in der Lesung gehört: „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Das ist das große Versprechen Gottes, in das die allerweltsbekannte Geschichte von der Sintflut mündet. Richtig feierlich klingt das, fast wie eine liturgische Formel. Die Sintflutgeschichte arbeitet sich an der ihren Erzähler bedrängenden Frage ab: Was ist da aus dem Lot geraten, dass der Mensch so destruktiv durch die Geschichte torkelt, und dass Gott offenbar nicht segnet, sondern den Menschen mit Katastrophen bestraft? Jeden Abend gibt es am Ende der Nachrichten den Wetterbericht. Für viele ist das das wichtigste in der Tagesschau, und es wird in Zeiten, wo das Klima immer mehr aus dem Lot gerät, immer wichtiger. Die Sintflutgeschichte präsentiert uns gleichsam Gottes Wetterkunde.

I.

Und sie zeigt uns, wie realistisch und aktuell die Bibel ist. Schon auf den ersten Seiten sagt sie sehr klar, was auch uns klar ist - und was doch von einer erschreckend großen Zahl von Menschen bestritten wird: dass der Klimawandel nicht schicksalhaft über uns gekommen ist, auch nicht - wie manche „Fromme“ glauben - „Gottes Wille“ ist, sondern dass er unabweisbar eine Folge unseres way of life ist, vor allem in der nördlichen Erdhalbkugel. Unseres Lebensstiles - nicht nur von „denen da oben“. Auch wenn wir keinen SUV fahren, wenig Fleisch essen und versuchen, unsere Reiseziele auf dem Erdboden zu erreichen. „Die Krone der Schöpfung: der Mensch, das Schwein“: diesen ätzend scharfen Reim hat sich ein Dichter des letzten Jahrhunderts gemacht. Etwas vornehmer, aber in der Sache ebenso klar, stellt Gott schon in der Sintflutgeschichte dasselbe über unsereinen fest: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an.“

Jedenfalls, diese archaischen Bilder von den Wassern der Sintflut, die sprechen noch heute. Ganz unmittelbar, wenn wir an Inselgruppen im Indischen Ozean, an Pakistan im letzten Jahr oder an Megacitys wie Jakarta denken, die vom ansteigenden Meeresspiegel überspült zu werden drohen. Wir verstehen diese elementare Geschichte aber auch, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht. Wir müssen keine Sintflut erleben, um zu spüren, wie es ist, wenn eine Welt zusammenbricht. Manchmal reicht da schon ein Wort. „Ich liebe dich nicht mehr“ zum Beispiel. Dann ist das Chaos da, dann wird es in uns wüst und leer. Und wir fühlen uns verloren, wie in einer auf den Wassermassen sinnlos hin und her geworfenen Arche. Noah aber, der dies erlebt, verzweifelt nicht, sondern hat den Mut, eine Taube auszusenden. Um herauszufinden, ob es doch noch eine Zukunft gibt, auf die hin zu leben lohnt - oder ob das gilt, was in meiner Jugend in den 1970er Jahren an viele Betonwände gesprüht war: „No future!“ Heute ist dieser desillusionierte Slogan zurückgekehrt: in der Selbstbezeichnung Last Generation. Bertold Brecht hat das Gefühl seiner Zeit so ins Wort gebracht: „Fratze der Glaube, Fratze das Glück: / Leer kommt die Taube Noahs zurück“.

Ja, manchmal können sich auch für Christen Gott und der Glaube unheimlich verfinstern. Aber Gott selbst, liebe Gemeinde, spricht gegen diese Dunkelheit. Bei ihrer zweiten Rückkehr - „am Abend, da es kühle war“ - kommt die Taube mit einem frischen Ölblatt im Schnabel zurück: neues Grün auf der Erde! Man kann sich ausmalen, was da los war in der Arche, der überbordende Jubel: Wir sind noch mal davongekommen! Es gibt wieder Boden unter den Füßen. In dem grünen Blatt wird der Sieg des Lebens über die Todesmächte sichtbar, über das Verwüstende, das in uns Menschen nun einmal drinsteckt. Im Schnabel der Taube kündigt sich ein neuer Anfang an.

II.

Deshalb wäre „Ende gut, alles gut“ die falsche Überschrift über die Sintflutgeschichte. Denn dieser nicht mehr erwartete Schritt, den die Arche-Bewohner auf die wieder trockene Erde tun können, ist kein glückliches Ende einer Naturkatastroph - er ist ein radikaler Anfang. Diese Urerfahrung des totalen Neubeginns, die spiegelt sich in unserer Sprache wider. Wenn uns etwas als total veraltet, hoffnungslos von gestern erscheint, dann reden wir von „vorsintflutlichen Verhältnissen“. Dass Noah wieder Boden unter die Füße kriegt, ist also kein Happy End. Nichts ist mehr so, wie es war! Dazu ist die alte Welt zu gründlich von der Flut weggespült worden.

Noah ahnt das. Deshalb ist das erste, was er nach dem Ausstieg aus der Arche tut, der Bau eines Altars. Auf diesem Altar - übrigens der erste, der in der Bibel vorkommt! - bündeln sich alle Gefühle der Überlebenden in Jubel und Dank für den neu geschenkten Anfang. Noah spürt, dass der neue Boden unter den Füßen keine Belohnung ist für diszipliniertes Ausharren in der Enge der Arche, sondern ein ganz unverdientes Geschenk: Gnade eben. Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens, vom Brudermord Kains bis zu dem Angriffskrieg in Gottes Namen in unserer Zeit, das Gott Grund genug geben würde, diese elend missratene Krone der Schöpfung endgültig wegzuspülen: Das soll doch nicht das letzte Wort behalten. Gott fällt sich selbst in den Arm. Fragen Sie sich das doch mal bei sich selbst, ob Ihnen das auch schon geschenkt war, eine solche Erfahrung der Rettung aus einer persönlichen Sintflut. Vielleicht gäbe das neuen Schwung, weil es uns wieder den Blick dafür öffnet, wofür wir dankbar sein können - und auch wahrzunehmen, dass Gott mit uns noch Neues vorhat.

III.

Freilich, wir kommen in der Jetztzeit um eine Frage nicht herum. „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“: Klingt beim Zustand unserer Erde nicht fast schon zynisch? Es wird ja überdeutlich, dass das verlässliche Wechselspiel von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter in Wahrheit durchaus dabei ist aufzuhören. Die Bilder von Kunstschnee inmitten sattgrüner Bergalmen, oder von den Waldbränden vor unserer Haustür im letzten Sommer sprechen ja ihre klare Sprache. Ist dieses Gottesversprechen billiger Trost? Religion als Opium fürs Volk?

Seit gestern hängt sie nun hier, endlich. Lange erwartet, mit riesigem Vorlauf an Vorbereitung: Gaia, die Installation unserer Erde, die der berühmte britische Künstler Luke Jerram - er ist heute hier unter uns - geschaffen hat. Wir konnten computeranimieren, wie das aussehen könnte hier in der Frauenkirche. Aber jetzt ist es nicht mehr digital, sondern real und wirkt noch mal ganz anders. Mutter Erde, so wie sie damals die Astronauten von Mond aus sehen konnten. Ein faszinierendes, für manche vielleicht auch irritierendes Kontrastprogramm zur barocken Prachtsprache der Frauenkirche. Beides, das Faszinierende wie das Irritierende, ist gewollt und auch unvermeidlich.

Die Astronauten waren damals ins All geflogen, um den Mond zu sehen und zu finden. Wie ein unerwartetes Nebenprodukt sahen und fanden sie noch etwas anderes, größeres: die Erde. Sie sahen sie aufgehen, eine kleine blaue Kugel im All. Von weit oben gut zu erkennen, wie jetzt hier mitten in dieser Kirche: Wasser und Land, Nacht und Tag - und keine Grenze nirgendwo. Winzig und ausgeliefert wirkt die Erde, wenn man sie im All betrachtet, ein Lebensschiff in einem Meer von Dunkel und Stille. Jim Lovell, einer der Apollo-Fahrer zum Mond, hat später gesagt: „Als ich vom staubigen Mond aus diesen wunderbar leuchtenden blauen Planeten sah, erfasste mich ein tiefes Glücksgefühl, dass Gott mir Dasein geschenkt hatte auf dieser Erde. Und ich beschloss, für den Rest meines Lebens zu tun, was ich tun konnte, damit dieser Planet bewahrt wird und die Menschen darauf in Frieden leben können.“ Ähnlich haben sich seither viele Weltraumfahrer geäußert. - Ja, manchmal würde man sie am liebsten einfach zum Mond schießen, die Gleichgültigen und Zyniker, die Populisten und Klimaleugner. Damit sie die Erde wiederfinden, die jetzt kippt. Von dort oben erkennt man besser, wie die Permafrostböden in Grönland und Sibirien anfangen zu tauen. Vielleicht würde es helfen, wenn wir alle so auf die Erde schauen. -

Ingeborg Bachmann, unter den deutschsprachigen Dichter*innen des letzten Jahrhunderts vielleicht die sensibelste und genaueste, hat sich darauf einmal diesen Reim gemacht:

Nach dieser Sintflut

möchte ich die Taube

und nichts als die Taube,

noch einmal gerettet sehn.

 

Ich ginge ja unter in diesem Meer!

Flög sie nicht aus

brächte sie nicht

in letzter Stunde das Blatt.

 

Amen.

 

gehalten von
Superintendent Christian Behr

im Rahmen des Abendgottesdienstes

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Liebe Gemeinde,

ich denke jede, jeder von uns hat schon mindestens einmal etwas wichtiges oder sehr persönliches verloren. Die Brieftasche oder das Portemonnaie. Und dann die anstrengende Suche. Und wenn sie nicht wiedergefunden wurde, die Beantragung der ganzen darin enthaltenen Dokumente. Und innerlich den Verlust des Geldes und der anderen Dinge verkraften. Ich musste mir immer sagen, dass es nur Dinge sind, um die es da geht – aber es hat mir nicht immer geholfen.

Schlimmer ist es aber, ein Kind irgendwie unterwegs bei einem Spaziergang oder ähnlichem zu verlieren. Die Suche gestaltet sich doch dramatischer als die nach einer verlorenen Brieftasche. Und das Wiederfinden ist mit mehr Erleichterung verbunden.

Nun hat man in den vergangen Monaten das Gefühl, dass wir für künftige Generationen sogar unseren Planeten verspielen, ja ihn verlieren. Hoffentlich haben wir ihn noch nicht verloren gegeben. Ab der kommenden Woche soll die Aktionskunst „Gaia“ hier in der Frauenkirche an die doch dramatischen Zeichen der Zeit erinnern.

Und es kann sein, dass wir selbst für uns oder für andere verloren gehen. Wir uns selbst aufgeben oder andere nicht mehr an uns heranlassen, da jegliche Begegnung so schwierig erscheint?!

Familien zerbrechen, Freundschaften verschwinden, Partner gehen für immer durch den Tod „verloren“. Was bleibt?! Wie kann es weiter gehen?

„Verloren?“

So haben wir die Predigtreihe in der diesjährigen Passionszeit in den Abendgottesdiensten in der Frauenkirche genannt.

Wo befinden wir uns? Fühlen wir uns aufgehoben oder doch immer einmal verloren gegangen? Wie steht es mit unseren Mitmenschen? Pflegen wir engen Kontakt oder geben wir sie doch auch manchmal schon verloren?

In den biblischen Geschichten ist immer einmal vom „Verlorengehen“ die Rede.

Kain geht für die Gemeinschaft verloren, nachdem er seinen Bruder Abel auf dem offenen Feld erschlagen hatte. Gott macht ihm ein Zeichen, das Kains-Mahl, so dass er sich wieder in die Gemeinschaft trauen kann – förmlich von Gott geschützt, trotz der schlimmen Tat.

Joseph geht verloren, in dem ihn seine Brüder nach Ägypten verkaufen, obwohl ihn einige lieber ganz „verloren geben“ und umbringen wollten. Vor lauter Neid und Hass der sich aufgestaut hatte. Und er wird erst nach Jahrzehnten in Ägypten, dann aber als der Retter der Familie „wiedergefunden“.

Der Prophet Jeremia, der zwar Schüler und Freunde hatte, aber oft mit einsamen Aktionen andere und die damalige Staatsmacht gegen sich aufbrachte, geht verloren, in dem er in eine Abwasserzisterne, eine stinkende Abfallgrube gesteckt wird, aus der er erst kurz vor dem drohenden Tod gerettet werden kann.

Im Neuen Testament wird an vielen Stellen deutlich, dass Gott, dass Jesus keinen einzigen Menschen verloren geben will. Dass jede/jeder einzelne, besonders der Abgehängte, besonders die Geächtete, besonders die, mit denen keiner der Mehrheit zu tun haben wollte, dass Jede/Jeder von ihm gesucht und gefunden wird.

Als Beispiel gilt da der Zöllner Zachäus. Ein Außenseiter, der durch Geschäfte mit der Besatzungsmacht sein Geld verdiente, in dem er seine Mitmenschen am Zoll um ihr sauer verdientes Geld erleichterte. Ein Mensch, mit dem wohl außer seinen Mit-Zöllnern niemand etwas zu tun haben wollte. Bei dem kehrt Jesus ein. Zum Ärger derer, die das überhaupt nicht verstehen konnten. Zur Freude des Ausgestoßenen, der darüber sein Leben in andere Bahnen lenken wird. Vielleicht nicht ganz vom Zoll lassen wird – darüber wird nichts berichtet.

Aber er will grundlegend etwas verändern: „Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“ Wer von uns könnte denn behaupten, schon einmal so gehandelt zu haben, wie es der Zöllner Zachäus hier vormacht – oder zu mindestens vorhat?! Jesus nimmt ihn in Schutz. Er möchte ihn förmlich der Gemeinschaft wieder zuführen. „Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

Wenn wir uns verloren haben oder für andere verloren gegangen scheinen – lassen wir uns finden? Denn das gehört ja doch irgendwie dazu, dass wir uns finden lassen wollen. Zachäus konnte nur sein Leben, seine Einstellung ändern, indem er sich von Jesus hat ansprechen lassen. Sich von ihm finden ließ.

In den Diskursen um die Politik unseres Landes, um die Fragen der Corona-Bekämpfung, der Einstellung zum Krieg in der Ukraine habe ich manchmal den Eindruck, dass wir uns zu schnell gegenseitig verloren geben. Oft auch als Christenmenschen eher unbarmherzig handeln, diskutieren oder urteilen.

Dabei brauchen wir einen Diskurs auf Augenhöhe. Unter uns in den Gemeinden über unsere biblischen, theologischen und damit auch gesellschaftlichen Themen. Aber auch mit den anderen Menschen im Gemeinwesen. Dafür steht gerade auch die Frauenkirche mit ihren Gottesdiensten, die unterschiedliche Gottesdienstbesucherinnen anspricht. Die aber nun kein direktes Forum für einen gesellschaftlichen Disput darstellen. Aber eben auch die anderen Formate, wie das Forum Frauenkirche, in dem diskutiert und hoffentlich immer mit Wertschätzung miteinander gerungen wird. Und trotzdem sollten wir auch da sehen, dass unsere christlichen Positionen zur Geltung kommen. Dass wir im Diskurs niemanden verloren geben, aber auch durch den Diskurs nicht Positionen aufwerten, die eben solch eine Verlorenheit propagieren.

Die Fastenaktion „sieben Wochen ohne“ hat in diesem Jahr das Leuchten! zum Thema – sieben Wochen ohne Verzagtheit. Das klingt gut. Ich stelle mir vor, dass es im Gesicht des Zöllners Zachäus ein Aufleuchten gab, als Jesus sich ihm zugewandt hat.

Ich stelle mir vor, dass es auf vielen Gesichtern in unserer Zeit um uns herum ein Leuchten geben kann, wenn wir ohne Verzagtheit aufeinander zugehen. Weil der Menschensohn, weil Jesus keinen verloren gibt – und wir hoffentlich auch nicht.

 

Amen

 

Einführungsworte im Rahmen des Ökumenischen Friedensgebets am ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine

von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen.

„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.
Ich gebe euch nicht das, was die Welt euch gibt.
Aber euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“
(Joh 14,27)

Dieser Satz Jesu aus dem Johannesevangelium trifft sehr in den heutigen Abend. Er trifft unsere ganz ambivalenten Gedanken und Empfindungen. Da ist das Versprechen, dass Jesus die, die sich an ihm ausrichten, nicht allein lässt, dass er ihnen seinen Frieden gibt: einen Frieden, der weiter reicht und höher ist als unsere menschliche Weisheit. Das gibt Trost, und hält unsere Hoffnung auf bessere, friedlichere Zeiten am Leben. Und da ist die sehr nüchterne Aussage, dass die Welt, so wie sie ist, keinen Frieden gibt. Wissen konnten wir das eigentlich schon lange. Aber seit einem Jahr, seit brutale Gewalt und Rechtlosigkeit, seit Krieg und Tod sich in unserer Nähe, mitten in Europa breit gemacht haben, ist es uns ganz neu und beklemmend bewusst geworden.

Genau vor einem Jahr um dieselbe Zeit kamen viele Menschen hier auch zum Gebet für den Frieden zusammen. Keiner konnte sich damals vorstellen, dass der Krieg, der heute vor einem Jahr durch Putins Überfall auf das Nachbarland und Brudervolk ein Jahr währen würde. Heute empfinden viele beides: Verzweiflung über nicht enden wollende Gewalt, Bösartigkeit, Rechtlosigkeit - und doch auch das kleine Senfkorn Hoffnung, das sich aus der Durchhaltekraft, dem Mut eines Volkes speist, dessen Menschen durch diesen unverschuldeten Krieg erst wirklich zu einem Volk geworden sind. Unsere Solidarität gilt unverändert und in aller Klarheit den leidenden und kämpfenden Menschen in der Ukraine. Dass dazu, neben allen humanitären Hilfen, auch die Lieferung von Waffen gehört und dass dies auch vom christlichen Glauben her ethisch verantwortbar sein kann: das lernen wir in der Kirche seit einem Jahr mühsam neu zu buchstabieren. Ohne Waffen aus anderen Ländern gäbe es jetzt keine Ukraine mehr. Aber, auch das gehört zur Ehrlichkeit an diesem Tag: einen gerechten, belastbaren Frieden werden Waffen nicht schaffen.

Der dritte Generalsekretär den UN, der Burmese U Thant, ein gläubiger Buddhist, wurde einmal gefragt, wie er die Christen erlebt habe, mit denen er in seinem Amt zu tun hatte. Er gab die Antwort: „Christen geben weniger schnell auf, sie haben einen so langen Atem.“ Es gäbe dieses Gotteshaus und seine Botschaft des Friedens nicht, wenn Frieden und Versöhnung zwischen solchen, die erbitterte Feinde waren, nur eine weltfremde Utopie geblieben wären. Aber sie sind möglich geworden. Das ist ein Wunder, für das man nur danken kann. Diese Kirche erzählt davon. Möge der Friede, den Christus uns zu geben verspricht, uns immer wieder neu munter und resilient gegen alle Resignation machen, damit wir nicht verzweifeln und aufgeben.

Die Durchhaltekraft gibt uns nicht zuletzt das Gebet. Beten ist keine Weltflucht. Im Gegenteil. Wir laufen nicht vor einer schwierigen Welt davon, wenn wir beten, sondern wir bringen sie mit offenen Augen vor Gott. Ihm vertrauen wir uns und unsere Welt an, wenn wir beten. Darum ist das Beten immer ein politischer Akt. Hände falten ist das Gegenteil von Die-Hände-in-den-Schoß-Legen.

Lasst uns heute Abend diese zerrissene Welt ins Gebet nehmen - für einen Frieden, in dem gequälte Menschen befreit aufatmen können und erste Schritte in eine neue Zukunft möglich werden. Vielen Dank allen, die heute Abend mitwirken. Und vielen Dank Ihnen, die Sie jetzt hier sind. Gemeinschaft im Gebet tut immer gut.

Erst durch Jesus sehen wir die Dinge richtig

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Wie schön!“, sagt die Braut, „wo kommt das nochmal her, mit Glaube, Hoffnung, Liebe? Irgendwie kennt man da ja. Ist uns jedenfalls gleich eingefallen, wir mussten gar nicht mehr nach einem Trauspruch googeln. Das wollen wir auf jeden Fall nehmen!“ - Ein immer wiederkehrendes Stück aus dem Pfarreralltag. Der Sitz im Leben dieses großen Liebesgedichts mitten in der Bibel ist in meinem Beruf das Traugespräch. Mehr als ein Drittel der Paare, die ich in der Frauenkirche traue, wählen sich ihren Trauspruch aus diesem Hohelied der Liebe des Apostel Paulus. Wie das in den Traugesprächen häufig so ist: erst einmal geht es ausführlich um das Styling des Ablaufs der Zeremonie. Aber irgendwann wird es ernst. Ich frage: „Wie haben Sie sich denn kennengelernt?“ Es ist berührend, das Lächeln der beiden zu beobachten. Erst einmal ein bisschen Schweigen. Dann - Achtung, Klischee! - sagt meistens die Frau erstmal was. Oder der Mann schickt schnell voraus: „Erzähl du, du kannst das besser!“ Dann weicht peu à peu die Verlegenheit und die beiden erzählen die Geschichte ihrer Liebe. Ich bin nur dabei. Nicht immer, aber immer wieder wird aus dem anfangs etwas dahin plätschernden Traugespräch ein dichter, intensiver Austausch.

I.

Und es kann auch tieftraurig enden. „Liebe ist stark wie der Tod“. Das Hohelied wollten sie gleich zweimal hören bei ihrem Traugottesdienst, das von Paulus, aber auch das so anders angelegte Hohelied aus dem Alten Testament. Sie kannten sich erst wenige Monate; mein vorsichtiger Versuch, darüber zu sprechen, drang gar nicht zu ihnen durch. Die Hochzeit war dann ein Fest wie im Rausch. Kein halbes Jahr danach saß er wieder bei mir. Allein und verlassen. Alles wie gelähmt. Wo eben noch alles möglich schien, ging jetzt gar nichts mehr. Dabei wollte er einen langen Weg mit ihr gehen.

Nicht nur diese traurige Erfahrung erinnert mich an meine erste Predigt über diesen Text. Vor 32 Jahren war das, ich war damals Vikar. Tage danach kam der Brief einer Frau, die im Gottesdienst gewesen war. Er enthielt eine ausführliche Kritik meiner Predigt und gipfelte in dem Satz, den ich nicht vergessen habe: „Mit genau diesen Vorstellungen habe ich damals meine Ehe begonnen. Und was ist daraus geworden? Ich finde, über diesen Text darf gar nicht gepredigt werden. Er bedeutet eine totale Überforderung.“ Ich habe mich danach über den ziemlich hohen Ton, den ich in meiner Predigt angestimmt hatte, geschämt. Denn wenn man das Hohelied in das einträgt, wie wir die Liebe oft erfahren, dann hatte jene Frau ja Recht. „Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, hofft alles, duldet alles“, findet Paulus. Im Blick auf unsere Liebeserfahrungen ist das ein ungedeckter Scheck! Wer kann das schon von sich und seiner Liebe sagen? Unsere Liebe erträgt, glaubt, hofft und duldet nicht nur nicht alles, sondern manchmal herzlich wenig.

Worauf will nun Paulus hier hinaus, wenn er von der Liebe redet? Wenn man dieses wunderschöne Gedicht für sich nimmt, bleibt einem das verschlossen. Man muss dafür den ganzen 1. Korintherbrief in den Blick nehmen. Wir wissen alle: Wo es um die Liebe geht, geht es oft auch um Beziehungsstörungen. Um belastete, gestörte Beziehungen geht es Paulus auch in dem, was er in zwei langen Briefen an die Christen in Korinth schreibt. Geistlich arm war diese Gemeinde weiß Gott nicht. Heute würden sich viele in ihrer Sehnsucht nach lebendigen Gemeinden, die den Menschen Heimat geben und ihnen etwas bieten, nach einer solchen Gemeinde die Finger lecken. In Korinth, da war Leben drin. Von „U-Boot-Christen“, die nur an Heiligabend in der Kirche auftauchen, keine Spur. Es war eine bunte Gemengelage von Gruppen, die sich gegenseitig überboten an kreativen Experimenten christlichen Lebens. Und vor allem, wie das in superlebendigen Gemeinden manchmal so ist: die jeweils eigene Frömmigkeit wurde so absolut gesetzt, dass man anderen Gruppen den Glauben absprach. Darüber drohte die junge Gemeinde in Korinth auseinanderzubrechen.

Ihr wäret eine tolle Gemeinde - scheint Paulus hier den Korinthern sagen zu wollen - wenn ihr dieses eine hättet, ohne das alle Geistesgaben, alle Phantasie, aller nimmermüder Aktivismus am Ende nichts sind: die Liebe. „Wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte keine Liebe, so wäre ich nichts“. Darin liegt übrigens hohe seelsorgliche Weisheit. Denn Paulus stellt die geistlichen Überflieger in Korinth nicht an den Pranger, sondern er versetzt sich eher in sie hinein, indem er in der Ich-Form redet. Ich übertrage das mal auf mein Dasein: Wenn ich tausende theologischer Bücher gelesen hätte, ein brillanter Prediger, kluger Seelsorger und tollmitreißender Pädagoge wäre, und ein taffer Manager noch dazu - und würde in all dem keine Liebe für die real existierenden Menschen mit ihrer Art, aber eben auch ihren Unarten ausstrahlen: dann wäre ich gar nichts, dann hätte ich meinen Beruf verfehlt.

Läuft also alles auf das Motto hinaus: Es kommt nur auf die Liebe an? „All you need is love“? Das klingt immer schön - solange es Theorie bleibt. Aber auch hier gilt der einfache und einfach wahre Lehrsatz eines bekannten Fußballehrers: „Grau ist alle Theorie. Entscheidend is‘ aufm Platz!“ Und da entscheidet es sich auch in Sachen der Liebe. Dass es auch in den Partnerschaften oft noch auf ganz andere Dinge ankommt, ist eine Binsenwahrheit. Irgendwann mal kommt die Liebe dann nicht mehr gegen die Dinge an, auf die es sonst noch ankommt.

II.

Paulus aber würde sagen: Alles richtig, was Ihr da einwendet gegen die Überforderung der Liebe. Und trotzdem ist es so: Die Liebe ist die kritische Instanz für alles andere. Denn die Liebe bleibt nie bei sich selbst, sondern ist immer unterwegs, hin zu einem anderen. Sie holt mich aus der Versponnenheit heraus, aus der incurvatio in me ipsum dem Eingekrümmtsein in mich selbst, wie Luther anschaulich den Menschen unter der Sünde beschrieben hat. Die Liebe treibt mich von mir selbst weg und zum anderen hin, und damit in die heillose Welt hinaus. Sie geht dazwischen, wenn ich in Versuchung gerate, mir mit meinen Begabungen selbst zu genügen, sie zur Selbstdarstellung einzusetzen. Sie verwehrt es mir, mich gegen andere, Andersdenkende abzuschotten, indem ich mich nur unter Gleichgesinnten bewege. Alles, was mir Gott gegeben hat, ist nichts, wenn die Liebe fehlt. - Was aber, wenn die Liebe nicht fehlt? Wenn sie da ist, wenn unsere sozialen, musischen, handwerklichen, denkerischen Begabungen durch die Liebe mobilisiert werden? Paulus gibt uns hier eine Antwort. In lauter kurzen, einfachen Sätzen, die sich aneinanderreihen wie Perlen einer Kette, meditiert der Apostel, was die Liebe tut und was sie lässt. Im Griechischen stehen hier 15 Verben.

Zum Beispiel: Die Liebe betreibt keine Gefühlsduselei, heißt es da, sondern sie ist die Energie, die uns bewegt, nicht länger uns selbst zu leben, sondern mit und für andere. Paulus redet hier von der Liebe wie von einer Person: „Die Liebe ist langmütig“, so fängt es an. Sie hat also einen langen Atem. Sie wird nie einfach fertig mit einem Menschen und sortiert ihn in eine Schublade ein. Sie stempelt niemanden zum erledigten Fall, sondern sieht jeden so an, dass von ihm noch etwas zu erwarten ist. Sie kann zuhören, abwarten, geduldig etwas reifen lassen. Sie gibt bei Enttäuschungen nicht auf, weil die Neugier auf den anderen, auf noch Unbekanntes an ihm am Ende immer noch größer ist.

„Die Liebe eifert nicht“, schreibt Paulus dann auch. Das scheint mir für unsere Zeit besonders wichtig. Liebe wird nicht fanatisch und auch nicht ausschließlich. Sie kennt nicht nur schwarz-weiß, sondern die vielen Grautöne dazwischen. Sie gießt in angespannten Momenten nicht noch mehr Öl ins Feuer. Sie lässt Emotionen zu, aber ihnen keinen freien Lauf. Sie kann verhindern, dass über strittigen Fragen wie die Corona-Maßnahmen oder der Waffenhilfe für die Ukraine durch Familien so tiefe Risse gehen, dass man aufhört, miteinander zu reden. Und sie macht es möglich, dass ein Pastor, der als solcher mit seiner Familie in der DDR Repression und Ausgrenzung erlitten hatte, in den aufgewühlten Wendezeiten denjenigen, der das alles zu verantworten hatte, in sein Pfarrhaus aufnahm, um ihn wenigstens vor dem nackten Volkszorn zu schützen. Vor einigen Monaten lief im Fernsehen ein bewegender Film über diese Geschichte von Pastor Uwe Holmer und den Eheleuten Honecker.

Also noch einmal: Ja, auf die Liebe kommt es an, auf nichts sonst! Aber: Es kommt deshalb auf die Liebe an, weil es auf den ankommt, der bei uns ankommen will - Jesus Christus. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass Paulus hier von der Liebe redet wie von einer Person. Paulus tritt hier nicht als Liebesbarde auf, sondern er zeichnet ein Porträt Jesu. Und wie es einem wirklich großen Künstler gelingt, ein Porträt so zu malen, dass die porträtierte Person sich erst dem zweiten, hintergründigen Blick erschließt, so gestaltet auch Paulus sein Porträt so, dass sein Gegenstand nicht gleich offen zutage liegt. Weder das Wort ‚Gott’ noch das Wort ‚Christus’ kommen im Hohelied vor. Aber Paulus könnte diesen Hymnus nicht schreiben, wenn er nicht von der Erfahrung der voraussetzungslosen Liebe herkäme, der er vor Damaskus ins Gesicht geschaut und die ihn buchstäblich umgehauen und seine Existenz vom Kopf auf die Füße gestellt hat.

Wenn wir uns auf diese Spur locken lassen, dann bekommen die Aussagen dieses Textes, die für unserer Erfahrung so überfordernd sind, einen ganz neuen Klang. Die Liebe „erträgt, glaubt, hofft, duldet alles“ - nein, das kann von keinem Menschen gesagt werden, und wenn er noch so hingebungsvoll liebt. Auch von Paulus nicht, der ja in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern auch ganz schön rechthaberisch sein konnte. Von Gott aber kann das alles so gesagt werden. In leichter Abwandlung eines anderen bekannten Paulusworts könnten wir die Summe dieses Textes auch so ziehen: „So liebe denn nicht mehr ich, sondern Jesus Christus liebt in mir“ (cf. Gal 2,20).

III.

Liebe Gemeinde,

nur darum kann er sich zu der steilen Aussage aufschwingen: „Die Liebe hört niemals auf“. Unsere Erkenntnisse, unsere Begabungen, unser Lebensglück, ja selbst Himmel und Erde werden einmal vergehen. Aber die Liebe bleibt. Das Einzige, was unsere Zeit mit Gottes Ewigkeit verbindet. Damit ist endgültig offenbar, dass die Liebe, wie Paulus sie hier meint, nicht unser Vermögen ist. Wir Menschen haben allenfalls Liebe; sie ist ein Teil von uns, neben anderen, dunkleren Teilen, die wir auch in uns tragen. Auch in der besten Partnerschaft erfahren wir irgendwann verstörend, dass da plötzlich eine unheimliche Fremdheit aufbrechen kann, die sich nicht einfach durch guten Willen beseitigen lässt. Wir können dem geliebten Anderen niemals so nahekommen, wie der sich selber nahe ist. Jeder, der liebt, weiß das. Das vermag nur Gott. Weil er allein nicht nur Liebe hat, sondern selber die Liebe ist (1. Joh 4). Er gibt nicht nur etwas preis von sich, wie wir in unserer Liebe, sondern er gibt sich selbst, ganz und gar.

So ist das also mit der Liebe: Wenn einer Ehebrecherin der Prozess gemacht werden soll und die Steine zu fliegen drohen, dann geht sie dazwischen und ruft: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Und wenn man dieser Liebe ins Gesicht spuckt, dann trägt sie das Böse nicht nach, dann schreit sie nicht: „Herr, gib‘s ihnen!“, sondern dann bittet sie: „Herr, vergib ihnen!“ Diese Liebe weidet sich nicht am Unrecht anderer, sondern freut sich mit, wenn unter den Menschen die Wahrheit aufblitzt, und sei es bei einer heidnischen Ausländerin, die penetrant für ihren kranken Sohn bittet, oder bei einem römischen Hauptmann, dem das Leid seines Knechtes zu Herzen geht. Alles erträgt diese Liebe, alles hofft sie, alles glaubt und duldet sie, so dass sie Hohn und Spott des Mainstreams auf sich zieht. Mit Essig und Galle wird sie getränkt, und wehrt sich nicht, weil sie weiß, dass ihr am Ende der Sieg gehört, dass dieser Sieg aber allen zugute kommt - auch denen, die sie mit Füßen treten. - Lesen Sie zuhause dieses Hohelied noch einmal in Ruhe, und ersetzen Sie Wort „Liebe“ immer durch das Wort „Christus“. Dann lesen Sie diesen großartigen Text richtig. Und so könnte man dieses Hohelied gewissermaßen in drei Abschnitte gliedern und sie mit den Überschriften versehen: Ohne Jesus ist alles nichtig – Mit Jesus wird alles wichtig – Erst durch Jesus sehen wir die Dinge richtig.

Die vor wenigen Monaten 99jährig verstorbene Dichterin Eva Zeller hat das Hohelied übertragen, mit eindrucksvollem sprachlichen Gespür dafür, worum es hier wirklich geht:

Wenn ich
das Schweigen brechen könnte
und mit Menschen-
und mit Engelszungen reden
und hätte der Liebe nicht
so würde ich leeres Stroh dreschen
und viel Lärm machen um nichts.

Und wenn ich wüsste
was auf uns zukommt
und könnte alle Situationen
im Simulator durchspielen
und den Winkel errechnen
unter dem ich
umkehren könnte
und ließe mich nicht einfangen
vom Schwerefeld der Liebe
so schösse ich
übers Ziel hinaus
und alle Reserven
nützten mir nichts

Und wenn ich
bei dem Versuch zu überleben
mein Damaskus hätte
und fände mich selbst
über alle Zweifel erhaben
auf dem Pulverfaß sitzend
wie in Abrahams Schoß
und hätte die Liebe nicht
als eiserne Ration hinübergerettet
so fiele ich
auf meinen bergeversetzenden
Glauben herein

Und wenn ich
alle meine Habe
den Armen gäbe
dass meine linke Hand nicht wüsste
was die rechte tut
und ginge nicht zur Tagesordnung über
sondern wäre der Spielverderber
und die lebende Fackel
und erklärte mich nicht
solidarisch mit der Liebe
so hätte ich im Ernstfall
Steine statt Brot
und Essigschwämme
für den Durst des Menschen

Die Liebe ist lächerlich
Sie reitet auf einem Esel
über ausgebreitete Kleider
Man soll sie hochleben lassen
mit Dornen krönen
und kurzen Prozess mit ihr machen

Sie sucht um Asyl nach
in den Mündungen unserer Gewehre
Eine Klagesache von Weltruf
Immer noch schwebt das Verfahren

Sie stellt sich nicht ungebärdig
sondern quer zur
Routine der Macht

Die Behauptung
sie ließe sich nicht erbittern
hat sie im Selbstversuch
eindrücklich bestätigt

Sie ballt nicht die Faust
sie steigt nicht herab
sie hilft sich nicht selbst
sie dient als Kugelfang
Sie freut sich nicht
über die Ungerechtigkeit
sie ergreift Partei
für die Ausgebeuteten

Daher ist es lebensgefährlich
sich mit ihr einzulassen
Sie könnte nämlich
Bewusstsein bilden
und den Lauf der Dinge
durchkreuzen
Also üben wir ihre Vermeidung
Tuchfühlung nur
mit ihrem ungenähten Rock
dem durch und durch gewirkten
um den wir würfeln
bis zum dreimal krähenden Morgen

Nun aber bleiben
Glaube Liebe Hoffnung
diese drei
Aber die Liebe
ist das schwächste
Glied in der Kette
Die Stelle an welcher
der Teufelskreis bricht


Amen.

Wir sind mehr als unsere (Un)Taten

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Dieses Evangelium erscheint so leicht, dass jeder meint, er versteht es gleich, wenn er es nur gehört hat“ - schreibt Martin Luther zu diesem Text. Aber er sagt dann auch: „Freilich, wenn man jemand fragte, zu wem er sich zähle, so würde er wohl antworten: Zu den Kranken und Sündern und den Gesellen des Matthäus. Denn, wo Christus ist, da wollen wir alle sein. Und vermessen uns immerzu guter Dinge von uns. Zu den Pharisäern will niemand gehören, zumal die Gerechten und Weisen nicht, wiewohl sie mitten unter ihnen sind.“

I.

Lassen wir uns also ein bisschen durch Martin Luther warnen beim Blick auf den scheinbar so plausiblen Bericht über die Berufung des Zöllners Matthäus. „Die Zöllner“ in den Evangelien gelten uns ja seit seligen Kindergottesdienstzeiten als die „Bösen“. „Zöllner und Sünder“: das gilt fast als Synonym, und dieses Begriffspaar aus unserem Text ist nicht zufällig fast sprichwörtlich geworden. Aber Achtung - so einfach ist es nicht. Der Zöllnerberuf damals war kennzeichnend für eine Entwicklung, die wir heute Outsourcing nennen. Zugrunde lag eine Entbürokratisierung im römischen Verwaltungswesen. Zöllner nahmen für die öffentliche Hand die Aufgabe wahr, den Zoll einzutreiben - ohne selbst Teil der römischen Finanzverwaltung zu sein. Zöllner, das war ein Sammelbegriff für lokale Steuerpächter. Als eine Art Subunternehmer zahlten sie dem Staat eine feste Summe im Jahr und erwarben damit das Recht, in einem bestimmten Bezirk Zölle zu erheben. Wenn sie weniger eintrieben, als sie an den Staat abführen mussten, war das ihr Risiko. Nahmen sie mehr ein, war es ihr Gewinn, über den sie niemand Rechenschaft abgeben mussten. Zwar war die Höhe der Zölle für Einfuhr und Ausfuhr grundsätzlich festgelegt. Aber für die Gewinnspanne des zuständigen Zöllners blieb doch einiger Spielraum - wenn er clever und geschäftstüchtig war. So ist das beim Outsourcing: ein hartes Geschäft, aber es birgt Gewinnpotential.

Man kann sich leicht vorstellen, wie es in jener Zeit der römischen Besatzung in Palästina um das Prestige von Zöllnern stand. Ein Zöllner war damals nicht nur ähnlich unpopulär wie das Finanzamt heute. Er galt geradezu als vaterlandsloser Geselle, als Kollaborateur der Besatzungsmacht. Und noch mehr: die Zöllner galten auch als Helfershelfer der Heiden. Denn der ungenierte Umgang mit denen an der Grenze war ein dauernder Verstoß gegen die jüdischen Gesetzesvorschriften. Mit einem Wort: ein Zöllner galt damals zumindest den frommen und zugleich national empfindenden Israeliten als persona non grata, als ein unmöglicher Mensch.

Dass Jesus einen von dieser Sorte in sein engstes Umfeld holt, muss auf Außenstehende mehr als irritierend wirken. Insofern ist die Frage der Pharisäer: „Warum isst euer Meister mit Zöllnern und Sündern?“ sehr verständlich. Nicht diese Frage ist provokant, sondern Jesus provoziert mit seinem Verhalten. Es gibt, das hat Luther richtig gesehen, keinen Grund, uns über die Pharisäer zu erheben. Die Scheu, sich mit denen gemein zu machen, die warum auch immer an die Ränder, oder richtig nach unten geraten sind, sitzt tief in jedem von uns.

„Die Starken bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken“. Mit diesem einfachen, unmittelbar einleuchtenden Bild antwortet Jesus auf den gesunden Menschenverstand, der bei den Pharisäern und mit ihnen auch bei uns ihr Befremden auslöst. Wenn es stimmt, dieses Bild, dann ist es auf jeden Fall aus mit unserer Selbstgerechtigkeit, mit der wir uns um das erste und schönste Menschenrecht bringen: unser Leben in ungehinderter Gemeinschaft mit Gott zu leben. Der Selbstgerechte braucht Gott nicht - allenfalls missbraucht er ihn zur Bestätigung der eigenen Rechtschaffenheit. Und dazu braucht er ja immer einen, an dem er sich messen und sich dann beruhigt sagen kann: Wie gut, dass ich nicht so bin! Es ist doch ganz in Ordnung, wie ich lebe. Sage keiner, er sei frei davon! Jeder von uns hat da seine Vergleichspersonen in der Hinterhand. Wie sehr das Vergleichen und die daraus erwachsende Selbstgerechtigkeit Gemeinschaft kaputt machen kann, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen, ja ganzen Völkern, sogar auch in christlichen Gemeinden: das wissen wir alle.

Unser Text, liebe Gemeinde, zeigt uns einen Weg, wie wir aus diesem Teufelskreis des Vergleichens herauskommen. Jesus zeigt uns hier nämlich, was geschieht, wenn man nicht auf Ämter und Funktionen schaut, sondern auf Menschen. Nicht um den „Typ Zöllner“, oder den Typ Sünder, Armer oder Kranker geht es ihm, sondern um den konkreten Menschen mit Namen Matthäus. Wir legen es gerne darauf an, dass die Menschen dem Bild ähneln, das wir uns von ihnen machen. Jesus schaut den Menschen an. Damit löst er etwas aus. Matthäus steht auf und folgt ihm nach.

II.

Sternstunden der Menschheit - das sind nicht nur die großen Ereignisse, die in den Geschichtsbüchern stehen. Sternstunden der Menschheit sind solche Begegnungen wie hier. Die Evangelien sind voll von solchen Sternstunden. Jesus zeigt, was wir eigentlich brauchen. Nämlich sein unbedingtes, ungeteiltes Erbarmen. Das macht nämlich das unmöglich Erscheinende möglich: der abgebrühte Geldeintreiber pfeift auf die Einnahmen und lässt sein altes Leben hinter sich. Das ist ein Wunder. Dass Jesus sich ihm zuwendet, hat nichts mit seinem Beruf oder einer Lebensleistung zu tun, sondern allein mit dem Leuchten von Gottes Barmherzigkeit. Darauf kann man nur mit Paulus antworten: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“.

Heute hat der Beruf des Zöllners mit den damaligen Verhältnissen nichts mehr zu tun. Die Aufgabe ist nicht outgesourct, an den innereuropäischen Grenzen ist dieser Beruf weithin zur brotlosen Kunst geworden. Aber die Erfahrung, auf Gottes Gnade angewiesen zu sein, beschränkt sich nicht auf den Typus Zöllner. Sie ist uns allen gemeinsam. Wir empfangen unser Leben als Gottes Geschenk. Seinen Sinn bekommt es nicht durch angestrengte Suche, sondern allein durch Gottes Barmherzigkeit, dadurch dass er uns ins Leben gerufen hat. Müssten wir selbst für den Sinn unseres Lebens geradestehen - das wäre nicht zum Aufatmen, sondern zum Verzweifeln. Es ist eben nicht ein bestimmter Typus Mensch, der umkehren muss. Wir würden alle auf die Seite der herablassenden Pharisäer rücken, wenn wir so dächten. Aber es ist anders. Jede und jeder von uns bleibt gewissermaßen sein erstes Missionsfeld. Hier wächst das Unkraut unter dem Weizen. Wir sind nicht entweder Sünder oder Gerechter. Wir sind, wie Luther gesagt hat, immer beides zugleich. Und wir bleiben ein Leben lang auf Menschen angewiesen, die uns daraufhin anschauen, dass wir Gottes geliebte Geschöpfe sind und die mit unseren Schwächen barmherzig umgehen.

Wir meinen ja oft, wir könnten selbst unserem Leben Erfüllung und Sinn geben. Wir wollen an der eigenen Biografie ablesen, wie gelungen unsere Existenz ist. Wir stellen uns gerne als solche dar, denen ganz vieles gelingt. Oder - eine besonders protestantische Versuchung! - wir können vom Jammern gar nicht genug bekommen. So oder so sind wir uns selbst genug. Wenn andere uns trotzdem auffallen, dann am ehesten, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen. Wieso bekommt der denn staatliche Unterstützung? Warum bekommt der denn mehr als ich? In solchen Vorwürfen sind wir uns selbst genug - eben weil wir nicht mit Gottes Barmherzigkeit rechnen. Dass Jesus uns anschauen könnte, kommt uns nicht in den Sinn. Wir müssen nicht an den Tisch des Herrn geladen werden. Wir sind doch keine Zöllner oder Sünder - wir doch nicht!

Das Evangelium benutzen wir dann nur als Mittel der Unterhaltung und der Zerstreuung. Hauptsache, wir sind auf der richtigen Seite. Dort das Unkraut, hier der Weizen, dort die großen Sünder, die Pharisäer und Schriftgelehrten, hier wir selbst. Auf dieser Landkarte können wir dann auch noch Jesus selbst seinen Platz anweisen. Für Werte ist er eingetreten, sagen wir gerne, für Werte, an die v.a. die anderen sich halten sollen. So schaffen wir uns eine prima Ausgangsposition. Kurt Marti, der Schweizer Dichterpfarrer, hat das einmal ironisch, aber treffend so beschrieben: „Trefflich sorgt / hierorts die Kirche / für einige Nebenbedürfnisse des Mittelstands. / Gefragt sind / ein Hauch heiler Welt mit Dias und Filmen bei Kuchen und Tee. / Ist dafür / einer / einst aufgehängt / worden?“

III.

Wie kann das, was uns dieser Text sagen will, konkret werden? Dazu eine für mich eindrucksvolle Erinnerung. Sie zeigt mir, dass Kirche mehr ist als „Dias und Filme bei Kuchen und Tee“. Es ist die Geschichte vom Bischof und der Terroristin. Sie ist fast 50 Jahre her. 1974 machte der große Berliner Bischof Kurt Scharf einen Besuch bei der in einem Berliner Gefängnis einsitzenden Ulrike Meinhof, dem Kopf der damals sog. „Baader-Meinhof-Bande“. Die Berliner Kirche geriet dadurch in eine schwere Zerreißprobe. „Handgranaten unter dem Talar“ betitelte der damalige „Bild“-Chefredakteur einen heftigen Kommentar. Ähnlich war es übrigens zwei Jahre später, als Ulrike Meinhof sich umgebracht hatte und der Theologe Helmut Gollwitzer sie kirchlich bestattete. „Das geht doch zu weit“ - lauteten damals noch die mildesten Stimmen. Kurt Scharf, der die Gabe besaß, geistliche Wahrheiten in einfache, eindringliche Worte zu fassen, antwortete auf seine Kritiker mit einem schlichten Satz: „Als Pastor und Bischof einer Kirche, die sich auf Jesus Christus gründet, habe ich getan, wozu uns der Umgang Jesu mit den Sündern verpflichtet“. Unbefangener, entwaffnender, mit einem Wort: christlicher hätte er den Angriffen nicht begegnen können. Anders gesagt: Hätte er die Gefangenen nicht besucht, hätte er sein Ordinationsversprechen nicht ernst genommen.

Die Starken bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken“. Jesus meint damit doch wohl mehr noch als den Zöllner Matthäus all die, die sich darüber empören, dass er sich mit so einem gemein macht. Wer wollte bestreiten, dass es sich auch bei denen, die vor 50 Jahren meinten, ein demokratisches Gemeinwesen kaputtmachen zu müssen, um Kranke gehandelt hat? Der kranke Mensch ist für die Jesus letztlich immer der von Gott getrennte, sich unaufhörlich mit seinen Taten und Untaten identifizierende und darüber definierende Mensch. Also der, den die Bibel Sünder nennt. Also der, der wir alle mehr oder weniger sind. Die einen nur offensichtlicher als die anderen.

Liebe Schwestern und Brüder, der Glaube an den, der die Sünder angenommen hat, steht und fällt damit, dass auch wir anfangen, einander als solche anzusehen, die vor all dem, was wir tun und worin wir versagen, zuerst und zuletzt sind: nämlich von Gott geschaffene, von ihm geliebte und eben dadurch mit einer unverlierbaren Würde ausgestattete Personen. Diese Würde kann weder dem Zöllner durch sein Finanzgebaren streitig gemacht werden, noch der Terroristin durch ihr Bombenlegen, noch dem Bischof durch eine Hetzkampagne. Leben ist mehr, als was wir daraus machen. Unsere Würde ist durch niemanden antastbar. Deshalb sagte Jesus in unserer Geschichte: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“. Deshalb besuchen Christen bis heute nicht nur Kranke, Alte und Einsame, sondern auch Menschen im Gefängnis, die von anderen mit ihren Untaten identifiziert und so zu Un-Menschen gestempelt werden. Das ist ins gelebte Rechtfertigungsbotschaft.

Es ist wichtig, dass Nachbarn, Freunde und Kollegen an uns sehen: Christen halten sich nicht für bessere Menschen. Unsere Lebensgewissheit stammt aus Gottes Erbarmen. Das verändert unser Leben. Wenn man uns Christen abspürt, dass uns das froh macht, dann kann sich das Wunder an der Zollschranke auch heute wiederholen. Wenn wir auf unseren Mitmenschen zugehen und uns seiner annehmen, kann sich für ihn ereignen, was Matthäus erlebt hat. Er begegnet Jesus Christus. Ein Matthäustag ist möglich mitten unter uns - 1974 in Berlin, heute und hier in Dresden.

 

Amen.

Gipfel taugen nicht zur Ebene

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Der Evangelist Matthäus ist ein richtiger Bergfex. Auf einem Berg lässt er Jesus den Versucher endgültig abschmettern. Auf einem Berg lässt er Jesus seine welt-bewegende Predigt halten über das Miteinander in seiner Nachfolge. Auf einem Berg hinterlässt der Auferstandene am Ende des Evangeliums den zurückbleibenden Jüngern sein irdisches Vermächtnis. Und hier also auch ein Berg, auf dem drei Jesus besonders nahe Jünger eine Erfahrung machen, die ihr Bild von ihm, ihre Beziehung zu ihm grundlegend verändern und vertiefen wird. Aber der Reihe nach.

I.

„Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes und führte sie allein auf einen hohen Berg.“ Wer gerne im Gebirge unterwegs ist, weiß, wie unvergleichlich schön und erhebend es ist, nach einem mühsamen Aufstieg endlich den Gipfel zu erreichen. Während der letzten 200 Höhenmeter, unter sengender Sonne, ringt man manchmal mit dem inneren Schweinehund, der einem einflüstert, dass die Kraft nicht reicht, dass es unterhalb des Gipfels doch auch schon schön ist. Aber wenn man ihn besiegt und es nach ganz oben geschafft hat, dann ist das alles schnell vergessen. Jetzt gibt es einen Gefühlscocktail von seltener Intensität, der mich vom Staunen über die Wunder der Schöpfung bis hin zum unendlich befriedigenden Spüren der körperlichen Erschöpfung viele Aggregatzustände erfahren lässt. War ich vorher ganz auf mich und meinen Körper fixiert, so geht der Blick jetzt weg von mir, ganz nach außen. Das ist im elementaren Sinn etwas Ekstatisches, denn Ekstase heißt wörtlich: aus sich selbst heraustreten. Ein sonst ungekanntes Gefühl innerer Klarheit und Überlegenheit kommt auf und man empfindet eine eigentümliche Form von Glück und Erhabenheit. Ob wir nun die Berge ersteigen oder sie lieber von unten ansehen: wir brauchen solche Gipfelerfahrungen. Momente, wo uns ist, als fügte sich auf einmal all das Diffuse und Unübersichtliche, die Halbwahrheiten, in denen wir drinstecken, zu einem wunderbar klaren Ganzen, das uns endlich den ersehnten Durchblick schenkt.

Liebe Gemeinde, es muss ein solches Gipfelerlebnis gewesen sein, in einer noch einmal gesteigerten Intensität, das den drei handverlesenen Jüngern zuteil wurde, die mit Jesus diesen Berg erklimmen durften. Der Hinweis zu Beginn auf die sechs Tage, die sie gewartet hatten, bevor es losgeht, deutet schon darauf hin, dass es um eine Erfahrung geht, die alles andere als alltäglich ist. Die drei Jünger haben bis dahin ihren Bergführer ja schon ganz gut kennengelernt. Vieles haben sie mit ihm erlebt. Gerade erst hat Jesus - Matthäus berichtet es wenige Verse vor diesem Text - ihnen zum ersten Mal angedeutet, dass sein Weg nicht der des Triumphes, kein Weg nach oben sein, sondern gerade umgekehrt verlaufen wird. Dorthin, wo Leid, Einsamkeit und Tod warten. Die Jünger, allen voran der selbsternannte Klassensprecher Petrus, wollen das nicht hören, verwahren sich vehement dagegen. Zu nahe und lieb ist ihnen Jesus inzwischen geworden, als dass sie die Vorstellung seines Scheiterns ertragen könnten. Freilich: wer dieser Mensch eigentlich ist, das haben sie bei aller Faszination noch nicht begriffen. Ist er ein unkonventioneller jüdischer Frommer? Ist er ein großer Rabbi, theologischer Lehrmeister, wie er nur alle 100 Jahre mal auftaucht? Ist er ein Wiedergänger der großen Propheten? Oder etwa ein Befreiungskämpfer?

II.

Da geschieht es: „Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“. Was passiert da? Es wäre vordergründig und würde nicht weiterhelfen, das hier berichtete Geschehen irgendwie historisch-wissenschaftlich verstehen zu wollen. So wie etwa ein Neutestamentler von Beobachtungen berichtet, wonach Menschen im schneebedeckten Gebirge des Hermon wie mit einer Lichtaura umgeben gesehen worden sind. Oder andere, die sich das Ganze einfach mit einem Gewitter erklären. Aber solche „Deutungen“ gehen an dem vorbei, was für den Evangelisten Matthäus die Wahrheit dieses Textes ist. Warum sollte denn ausgeschlossen sein, dass die drei Jünger für ein kurze Zeit wirklich so etwas wie eine visionäre, die reine Leiblichkeit Jesu übersteigende Sicht von ihm bekommen haben? Die Grenze zwischen Wahrnehmen und Vorstellen ist manchmal sehr fließend. Große Kunst entsteht ja immer dadurch, dass ihre Schöpfer die vor Augen liegende Wirklichkeit transzendieren und den Blick „dahinter“ richten können. Aus dem äußeren Sehen erwächst bei ihnen ein inneres.

Mir macht es jedenfalls kein Problem, so etwas auch bei Petrus, Jakobus und Johannes anzunehmen. Mit einem Mal wird ihnen ein inneres Schauen, der tiefere Blick geschenkt, und an dem Jesus, den sie vor sich haben wie sonst auch alle Tage, wird ihnen plötzlich offenbar, was sonst in sein schlichtes Menschsein eingehüllt ist. Es passiert hier eigentlich genau das, was der Apostel Paulus in einem großartigen Satz so ausdrückt: „Gott hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, damit durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ (2. Kor 4,6). Eine solche Erleuchtung, die wir nicht machen können, sondern die ganz von außen über uns, in uns kommt. Nämlich: In dem Menschen Jesus, den wir zunächst nur als unseresgleichen erkannten, verbirgt - zeigt sich jetzt: Gott selbst.

III.

Vor einem Monat ist Joseph Ratzinger gestorben. In seinem dreibändigen Jesusbuch, das er als Benedikt XVI. vorlegte, hat er auf die Frage, was denn Jesus denn eigentlich Neues gebracht habe, was nicht andere „große“ Menschen auch bewirkt hätten, die einfache, klare Antwort gegeben: „Er hat der Welt Gott gebracht.“ Da steckt das ganze Geheimnis der Menschwerdung drin. Es ist eine sehr protestantische Tendenz - sie ist schon in Martin Luthers Theologie angelegt und ist, mit vielen Verflachungen, bis heute weitergegangen -, die Grundaussage von Weihnachten „Gott wird Mensch“ ganz stark auf das Menschliche hin zu betonen. Also: Gott wird Mensch! Deshalb berührt uns Weihnachten so viel mehr als Ostern. Dass aber Gott Mensch wird, diesen anderen Akzent von Weihnachten lassen wir eher links liegen. Damit aber entgeht uns Entscheidendes. Denn so sehr Jesus einer von uns ist, dem nichts Menschliches fremd ist, ist er doch zugleich auch der ganz andere. Der eine, der ganz auf Gottes Seite gehört, der unter der vollen Zustimmung des Vaters redet und handelt. „Gott von Gott, Licht von Licht, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater“, wie es im ältesten Glaubensbekenntnis in Sprache gefasst ist.

Matthäus drückt dasselbe erzählerisch aus, indem er hier dieselben Worte wieder auftauchen lässt, die schon bei seinem Bericht von der Jesustaufe am Jordan entscheidend waren: „Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ Nein, die drei haben kein fantastisches Wetterleuchten gesehen. Was ihnen da so überirdisch geleuchtet hat, war eben dieses Sohn-Sein ihres Meisters, die in seinem Menschsein geheimnisvoll verborgene, aber es ganz durchdringende göttliche Wesensart. Gott kann sich jedes Menschen vielfältigst bedienen, er kann viele Zeug*innen haben. Aber dieser Mensch Jesus ist der eine, in dem er selbst ganz und gar da ist. Das Christusbekenntnis, das Petrus im Kapitel vorher abgelegt hatte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16): hier auf dem Berg wird es von oben bestätigt. Und seither wird es sich immer wieder an Menschen als gültig und tragfähig erweisen, die sich, indem sie Jesus vor sich sehen oder in sich hören, in einer für sie überwältigenden Weise vor Gott selbst gestellt sehen. Darum geht es in diesem fremdartigen Text.

IV.

Und nun passiert mit den von ihrer Schau und der dadurch ausgelösten neuen Gewissheit völlig überwältigten Jüngern genau das, was zu einem grandiosen Gipfelerlebnis immer dazugehört. Man will so lange wie möglich oben bleiben, den Weg nach unten hinauszögern, wie es nur geht. Wir kennen das von Himalaya-Bergsteigern: manche von ihnen hat gerade dies das Leben gekostet. All das schwingt in dieser Geschichte mit. „Petrus aber sprach: „Herr, hier ist gut sein, hier lass uns Hütten bauen!“ Würde das Ganze im Hier und Jetzt spielen, Petrus würde garantiert mit seinem Smartphone seinen Followern auf Insta im Livestream berichten. Die sprechende Wolke, der überirdisch leuchtende Jesus - was für ein Spektakel! Und ich würde mein Handy wahrscheinlich auch zücken, wenn mir so etwas widerführe.

„Herr, hier ist gut sein, hier lass uns Hütten bauen!“ Die ruhelose Sehnsucht, die Goethes Faust antreibt, steckt da drin. Das verzweifelte Bemühen, den so lang ersehnten Augenblick, der mir endlich schenkt, wonach ich immer wieder gesucht habe, das Einssein mit mir und meiner Mitwelt, das nicht mehr loszulassen: „Verweile doch, du bist so schön“… Das ist zutiefst menschlich. Wer möchte in einer Welt, die so überkomplex und undurchsichtig geworden ist, nicht das ganz große Glück festhalten?

V.

Aber wie bei seiner Weigerung, Jesus und das Leiden zusammenzubringen, wird Petrus auch jetzt von seinem Herrn zurechtgstutzt - ohne Worte. „Als sie aber ihre Augen wieder aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.“ Petrus, Jakobus und Johannes sehen Jesus wieder mit ihren natürlichen Augen. So wie sie ihn immer gekannt hatten. Und dann geht es wieder abwärts. Aber Gipfel sind nun einmal Spitzen, keine Ebenen. Darum eignen sie sich nicht zum Hüttenbauen. Und so machen die Jünger nach der ekstatischen Erfahrung auch die andere: Gott lässt sich nicht einfach genießen. Eine ernüchternde Erkenntnis, aber eine heilsame. Die Mühen der Ebene bleiben auch dem, der die umwerfendsten Erfahrungen machen darf, nicht erspart. Keine überbordende Verliebtheit, die sich nicht irgendwann in die Mühen der Partnerschaft wandelt, mit ihren unvermeidlichen Wüstenzeiten, in denen sich zeigt, ob aus Verliebtheit Liebe geworden ist. Kein Freiheitsrausch wie unser deutscher vor 33 Jahren, der nicht früher oder später der ernüchternden Erkenntnis weicht, dass Freiheit und Zusammenhalt in vielen kleinen, mühsamen Schritten erarbeitet werden müssen. So ist es in der noch nicht erlösten Welt.

Und so ist es auch mit unserem Glauben. Er kann sich immer nur in dieser Welt entfalten und nie frei machen von den Stürmen, die uns in ihr anspringen. Der Weg Jesu nach Jerusalem lag nicht vor dem Aufstieg auf den Berg. Er kommt erst noch. Auch er wird auf einen Berg führen - aber nicht auf den des Lichts, sondern der Finsternis, den Kalvarienberg. Aber die Gipfelerfahrung wird sich dadurch nicht zu nichts zerstreuen. Sie wird mit den Jüngern und uns allen mitgehen - um sich gerade dann zu bewähren, wenn wir durchmüssen durchs finstere Tal.

 

Amen.

 

Glauben geht nur unverschämt       

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Ich habe mir oft vorgenommen, zu euch zu kommen“ - stellt Paulus am Anfang dieses Predigtabschnitts fest. Ein Eingeständnis also, dass er einen lang gehegten Vorsatz bisher nicht hat umsetzen können. Von Kleinasien aus gesehen, wo Paulus zunächst gewirkt hat, ist Rom eine gefühlte Weltreise weit weg. Und die Gemeinde der Christen dort ist, anders als etwa in den griechischen Städten Philippi und Korinth, nicht vom Paulus selbst gegründet worden. Alles, was er über sie weiß, hat er durch Hörensagen, vielleicht auch durch gelegentliche Briefe erfahren. Verständlich, dass es ihn treibt, endlich mal selbst dort aufzuschlagen. Rom als Metropole eines Weltreiches war damals die Welthauptstadt, wie heute New York. Da spielte die Musik, da wurden die Mega-Trends zuerst sichtbar, da musste man gewesen sein. Weshalb auch die christliche Gemeinde in Rom, so klein sie auch war, nicht irgendeine Gemeinde war. Da zog es Paulus natürlich hin. Das musste sein Selbstanspruch als Völkerapostel sein, der das Evangelium von Jesus Christus zu den Heiden bringen wollte, der auch als erster den Schritt von Kleinasien nach Griechenland getan, das Evangelium nach Europa gebracht hatte. Und so sollte die Gemeinde im Weltforum Rom auf Paulus durch ihn selbst aus der Ferne sachlich vorbereitet werden, in Form eines langen Briefes. Daraus wurde der Römerbrief, der mehrfach umwälzende Geschichte gemacht hat.

I.

Aber wie gesagt, so einfach war es für ihn wohl nicht, die große Reise umzusetzen. „Ich habe mir oft vorgenommen, zu euch zu kommen“. Man merkt hier, dass Paulus die Gemeinde in Rom noch nicht kennt. Der Jahreswechsel liegt drei Wochen zurück. Manches, was uns im Rückblick auf das alte Jahr beschäftigt hat, arbeitet vielleicht noch in uns. Bei mir gehört zum Wechsel von einem alten in ein neues Jahr oft die manchmal belastende Erkenntnis, was ich anderen schuldig geblieben bin an Vorsätzen der Zuwendung, des Hinhörens, der mir für sie (nicht) genommenen Zeit. Sie wurden einsamer darüber und nehmen diese Erfahrung mit ins neue Jahr. Im Pfarrberuf ist das eine häufige Selbsterfahrung. Aber sicherlich nicht nur da. Die Grenzen, die Bruchstückhaftigkeit unseres Lebens zeigen sich nicht zuletzt im Verpassen von Gelegenheiten, sich zu begegnen.

Seit bald einem Jahr kommt es in ganz Deutschland wie in Europa in vielen Bereichen, so auch in ganz vielen Kirchengemeinden zu neuen Begegnungen. Menschen aus der Ukraine kommen auf ihrer Flucht vor dem mörderischen Krieg hier an. Es sind oft erschütternde, aber auch bewegende Begegnungen, für die sich viele sehr schnell geöffnet haben. Ähnlich wie im berühmten „Herbst 2015“, ja mehr noch als damals eine Welle an Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Beratung, Begleitung, und nicht zuletzt zahllose Transporte mit Hilfsgütern in die Ukraine. Bis in die staatliche Bürokratie hinein geht diese Bewegung: Schnell wurde für die Ukraine-Flüchtlinge bei uns ein guter und sicherer Status geschaffen. - Zugleich verharren Flüchtlinge aus ferneren, islamischen Ländern vielfach in einem ungewisseren Status, mit weniger Leistungen und schlechterem Zugang zum Arbeitsmarkt. Weite und Enge, offene Türen für die einen und der jahrelang gehütete Spaltbreit für die anderen liegen dicht beieinander. Das Schicksal der Menschen in der Ukraine und die Fähigkeit zur Empathie mit ihnen liegen uns einfach näher, eben weil die Ukraine uns nicht nur geografisch näher ist.

Aber einfach ist es mit der Weite sowieso nicht. War es auch nie. Auch Paulus hat in seinem Brief an die noch unbekannte, ferne römische Gemeinde keinen persönlichen, empathischen Ton. Sein Wording im Römerbrief, der eher wie ein theologischer Traktat klingt, ist ganz anders als in den sehr persönlich angelegten Briefen etwa an die Christen in Korinth, die er eben gut kennt. Zwar ist es der Herzschlag seiner Theologie und seiner Briefe, dass das Evangelium von Jesus Christus, wie er es vor Damaskus buchstäblich überwältigend kennengelernt hat, Grenzen überschreitet. Grenzen seiner früheren Glaubensgemeinschaft, Grenzen von Ländern, Grenzen von Weltanschauungen. Diese Dynamik packt Paulus, bringt ihn in jeder Hinsicht in Bewegung. Aber er spricht im Römerbrief verhalten, fast etwas akademisch davon, weil er im Schwung dieser Bewegung nicht bei allen offene Türen erlebt hat. Er hat auch ernüchternde Erfahrungen gemacht mit der Macht der Enge, des Ausschließenden, der Zugehörigkeit zu einem Volk, das ein exklusives Verhältnis zu seinem Gott pflegt. Dass ein existentieller Glaube für alle gelten, dass da, wie Paulus im Galaterbrief formuliert, gelten soll: „Hier ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus“ (Gal 3,28) - das geht vielen zu weit. Identität, das Sichern der Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit der eigenen Gruppe ist nicht erst heute ein großes Thema. Paulus hat jedenfalls mehr als einmal erfahren müssen: Die Bewegung des Evangeliums in die Weite sowohl im räumlichen wie erst recht im ideellen Sinn - kann auch auf sehr unsicheres Terrain führen. Das Evangelium kann auch als schwaches Wort erscheinen, wo man sich fragt, ob sich sein Überbringer dafür schämt. Offensichtlich war Paulus mit solchen Resonanzen konfrontiert. Sonst würde er sich wohl kaum zu der - eigentlich doch selbstverständlichen - Aussage genötigt sehen: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“

II.

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die alle selig macht, die glauben. Die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ Paulus ist hier bei seinem Lebensthema. Und fängt dabei nicht mit Gott, sondern mit sich an. Eine der wenigen Stellen im abstrakt-gelehrten Römerbrief, wo Paulus so persönlich von sich redet. Woher kommt das? Hat er an sich gearbeitet? Hat er angefangen, sich nicht mehr hetzen, bestimmen zu lassen von Aufgaben und Pflichten? Hat er Achtsamkeit für sich gelernt, sich coachen lassen, Therapiestunden besucht? Bei vielen Nöten kann das alles sehr helfen. Aber zu dieser im Wortsinn Un-Verschämtheit verhilft es nicht. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“: Wieso sind zwei auf offener Straße in innige Küsse versunken? Weil sie sich vor lauter gegenseitigem Fasziniertsein vergessen. Und wir, wir sind, wenn wir so etwas wahrnehmen, nicht peinlich berührt. Eher rührt es uns an, denn eine solche Schamlosigkeit ist ein schöner Ausdruck von Unbefangenheit. Ein unbefangener, innerlich freier Mensch wird man nicht durch Maßnahmen zur Selbstfindung, sondern aus - Selbstvergessenheit. Die kann aber man nicht erlernen, mit keiner Methode. Dazu verhilft mir, und das macht es so schön, immer nur jemand anderer.

Worte, die wir von anderen hören, sind eben nicht, wie der mißmutige Faust meinte, „Schall und Rauch“. Sie können erlösen. Es gibt ja Worte, die ein Abglanz des Wortes sind, das Paulus in die weite Welt getrieben hat. „Ich liebe dich“ ist so ein Wort. Oder: „Gewebeprobe ohne Befund!“ Oder: „Asylstatus anerkannt!“ Wem solche Botschaften gelten, dem verwandeln sie die Welt. Wenn es schon so ist mit glücklichen Menschenworten, um wieviel mehr ist dann das Evangelium, das von viel weiter her kommt, ein Wort, das einen überwältigen kann! Das schenkt uns nämlich, worauf kein Mensch je gefasst sein konnte: Gottes Gerechtigkeit. Ein ganz großes Wort.

Wir, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, wissen doch ganz gut, dass wir, „so wie wir sind“, Gott nicht von ferne gerecht werden können. Wir werden ja noch nicht mal unseren Nächsten gerecht. Dieses nach vielen Seiten zerbrechliche Beziehungsgeflecht macht unser eigentliches Drama aus. Sein Kern ist wohl, dass wir uns selbst nicht gerecht werden. Unsere Angst um ein gelingendes Leben. Unser manchmal zehrendes Verlangen nach Anerkennung, Glücklichsein. „Wer bin ich? Der oder jener? / Vor Menschen ein Heuchler / und vor mir selbst ein wehleidiger Schwächling?“, fragt sich Dietrich Bonhoeffer in der doppelten Dunkelheit der Gefängniszelle und der vergeblichen Suche nach dem eigenen Ich.

III.

Was Paulus nun vor Damaskus, und 1.500 Jahre später Luther im Erfurter Kloster buchstäblich umgehauen hat, ist dies: Gottes Gerechtigkeit spielt völlig anders als das, was uns Gerechtigkeit ist. Gott ist nicht in der Weise „gerecht“, dass er uns danach beurteilt, wie gut oder schlecht wir sind. Das wäre nicht himmlisch, sondern irdisch. Menschliche Gerechtigkeit funktioniert nicht anders als nach dem alten Grundsatz: Suum cuique, jedem das Seine. Da muss einer strikt nach seinen Taten beurteilt werden, ohne jedes Ansehen der Person. Deshalb ist Justitia blind, hat verbundene Augen. Und dann geht es darum, was er seinen Taten entsprechend verdient - nicht um Gnade, das immer Unverdiente. Und, wie gesagt: Von unseren kläglichen, immer bruchstückhaften Taten her verdienen wir bei Gott gar nichts. Allenfalls seine Enttäuschung.

Das hat Martin Luther ja, solange er Gottes Gerechtigkeit so irdisch und menschlich meinte verstehen zu müssen, in der Enge seiner Erfurter Klosterzelle auch seelisch so in die Enge getrieben. Bis er an der Stelle aus unserem Römerbriefabschnitt hängenblieb: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, den es ist eine Kraft Gottes, die gerecht macht alle, die daran glauben…“ Wieder und wieder brütete Luther über dem Sinn dieser Worte, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Die Mühlen des Himmels mahlen ganz anders in Sachen Gerechtigkeit! Gottes Gerechtigkeit besteht darin, dass er uns ganz einfach gerecht spricht. Denken Sie an den früheren US-Präsidenten Clinton und das Amtsenthebungsverfahren, das Ender der 90er Jahre gegen ihn lief. Wenn die Senatoren gesagt hätten: Du bist uns der rechte Präsident, deine Eskapaden hindern uns nicht daran, dies so festzustellen, weil wir dich als Präsidenten wollen - im Sinne weltlicher Gerechtigkeit wäre das ein Skandal gewesen. Aber genau so läuft es bei Gott. Er macht uns heil, ganz und schön: nicht weil wir das, so wie wir sind, verdient hätten, sondern einfach aus eigenem Gusto, aus Liebe. Den Augen der Liebe wird auch das unansehnlichste Du ein schönes Du. „Wenn du mich anblickst, werd‘ ich schön, / schön wie das Riedgras unterm Tau“ - heißt es in einem Gedicht von Gabriela Mistral. Dasselbe theologischer mit Luther gesagt: „Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön wären, sondern die Sünder sind schön, weil sie von Gott geliebt sind“.

IV.

Gott also unterscheidet Dich und mich ein für alle Mal von deinen und meinen Werken. Bei ihm bin und bleibe ich geliebt, komme was will. Diese Würde kann mir keiner nehmen. Nicht einmal ich selbst. „Wer bin ich? Der oder jener? / Vor Menschen ein Heuchler / und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?“ Bonhoeffer kommt schließlich zu der Antwort: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ Da kehrt es wieder, das Lebensthema von Paulus und Luther. Unsere Identität, unseren Lebenssinn finden wir nicht, wenn wir uns selbst auf den Grund gehen. Wir finden sie, weil ein anderer sie uns zuspricht. Jeder von uns ist Gottes geliebtes Blümlein Rühr-mich-nicht-an!

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig, die schön macht alle, die daran glauben“. Eine unerschöpfliche Aussage. Aber vielleicht haben wir jetzt wenigstens eine Ahnung, warum es nicht anders sein kann, als dass wir im Tiefsten nur mit Unverschämtheit an einen Gott glauben können, der selber ein Ausbund an Unverschämtheit ist. „Er schämte sich nicht, sie Brüder und Schwestern zu nennen“, heißt es im Hebräerbrief (2,11). Denn nur wer sich eines anderen nicht schämt, kann für ihn einen Weg gehen, der so endet wie auf Golgatha.

 

Amen.

Du bist ein Gott, der mich sieht

Predigt gehalten im Neujahrsgottesdienst von
Präses Dr. h.c. Annette Kurschus

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I.

Selten, liebe Neujahrsgemeinde, habe ich die Sehnsucht nach Gott und das Leiden, das mit dieser Sehnsucht einhergeht, so intensiv gespürt wie in dem Jahr, das gestern zu Ende ging. Vor einer Woche erst, zu Weihnachten, haben wir gefeiert, dass Gottes Sehnsucht nach den Menschen noch größer ist. So groß, dass Gott für sich selbst das Menschsein erwählt – und zwar in seiner zartesten, verletzlichsten, am stärksten auf Hilfe angewiesenen Form eines kleinen Kindes. Gott nimmt alle menschliche Schwachheit auf sich, um uns nah zu sein. In dieser unbegreiflichen göttlichen Sehnsucht liegt unsere Rettung: Das nehme ich als tiefe Gewissheit mit ins neue Jahr. Und diese tiefe Gewissheit brauche ich nötig! Die vielen schriftlichen Weihnachtsgrüße, die Gespräche in der Familie an den Weihnachtstagen zu Hause, die Telefonate mit Freunden zwischen den Jahren: Sie waren anders als sonst. Erschöpfung klang darin und manche Sorge. Viel Verunsicherung im Blick auf das, was vor uns liegen mag. Bei manchen auch richtige Angst.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“: Dieser Ausruf wird uns im Jahr 2023 als Jahreslosung begleiten. Das klingt, als ob jemand staunt. Und als ob sich in das Staunen etwas wie aufmüpfiger Trotz mischt. Ein trotziges Dennoch gegen alles, was seit fast drei Jahren wie willkürliches, blindes Schicksal pausenlos über uns hereinbricht. „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Es klingt wie ein machtvolles Stoßgebet gegen das ohnmächtige Grundgefühl, das viele aus dem alten ins neue Jahr hinüberschleppen.

II.

Das Stoßgebet kommt aus biblischen Zeiten zu uns, aus dem Mund einer schwangeren Frau namens Hagar. Sie ist auf der Flucht, irrt hoffnungslos in der Wüste umher. Übersetzt man ihren Ausruf ganz wörtlich aus der hebräischen Sprache, so lautet er: „Du bist ein Gott der Erscheinung“, also: „Du bist ein Gott, der sich zeigt.“

Was für ein tiefer und hoffnungsvoller Doppelsinn: Gott, der uns im Blick hat, ist ein Gott, der sich sehen lässt und nicht verborgen bleiben wird!

Wir sind nicht Hagar, nicht diese schwangere Frau auf der Flucht in der Wüste. Doch in wahrlich wüsten Zeiten leben auch wir: bedroht von allerlei Verwüstungen draußen in der Welt und drinnen in der Seele, drangsaliert von wüsten Kriegsherren und wüsten Viren, gefährdet von Wüstenklima, meteorologisch und gesellschaftlich, von Wüstlingen, die in der Demokratie herumtrampeln, Sand in die Augen der Menschen und ins gesellschaftliche Getriebe streuen.
„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“: Ein Stoßgebet aus Wüstenzeiten in wüsten Zeiten. Mehr noch. Dieses Stoßgebet rebelliert gegen faden Fatalismus, gegen das „Da-kann-man-nichts-machen-auf-mich-kommt-es-ja-nicht-an-was-soll-ich-schon-tun“. Das nämlich ist die große Versuchung: sich unsichtbar machen und wegducken. Kleine Kinder halten sich manchmal die Augen zu und rufen: „Such mich!“ Wir lächeln und antworten. „Ich seh‘ dich doch!“. Na klar wissen wir, dass das nicht funktioniert: Du hältst dir die Augen zu, und dadurch wirst du unsichtbar.

Wissen wir´s wirklich? Wenn sich Krise auf Krise türmt, man sich am liebsten die Augen zuhalten möchte und nicht mehr hinschauen mag – dann wird mancher und manche doch wieder zum Kind.
„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“: Diese Gewissheit gibt mir einen anderen Blick, als ich ihn mit meinen eigenen Augen habe. Wenn ich Gottes Augen auf mich gerichtet weiß, dann traue ich mich, meine eigenen Augen weit aufzumachen und wach hinzusehen: ungeschönt, ohne Weichzeichner, und doch zuversichtlich. Ich bin nicht mehr nur Auge in Auge mit der Katastrophe. Mein Horizont weitet sich. Licht bricht ein in meinen elenden Tunnelblick, der schon das nächste Unglück erwartet. Und ich ahne: Gott wird sich sehen lassen.

III.

Die Menschen, die in der Bibel zu Wort kommen, haben übrigens eine faszinierend andere Vorstellung von der Zukunft als wir. Wir sind gewohnt, wie Läufer mit dem Blick nach vorn zu eilen, in die Zukunft hinein, um sie zu gestalten oder zu „meistern“, wie manche sagen. Die Menschen in der Bibel hatten fühlten sich nicht wie Läufer, die das vor ihnen Liegende fest im Blick haben, sondern eher wie beim Rudern, bei dem wir nur das sehen können, was schon hinter uns liegt. Und so, im Rückblick, kommt uns Zukunft anders „vor Augen“: Kein Ablauf von Ereignissen, die sich berechnen lassen und logisch aufeinander folgen. Es gibt ihn nicht, den vorhersehbaren Lauf der Dinge. Wie oft ist Gott in der Vergangenheit in diesen „Lauf“ eingebrochen – und mit ihm das nicht Erwartete, das nicht Geplante.

Das ist ein aufregender Gedanke! Und auch ein tröstlicher. Mir macht er Hoffnung. Und Mut.
Nie ist die Zukunft so gekommen, wie Menschen sie sich ausdachten.
Wir haben so viele blinde Flecken in unseren Zukunftsplanungen. Klar, wir müssen in all den Krisen beharrlich nach Lösungen suchen, und wir müssen auch welche finden. Aber jenseits aller menschlichen Lösungen und weit über sie hinaus können wir mit der unberechenbaren Er-lösung rechnen, die von Gott kommt.
Der Krieg ist zu Ende.
Die Mauer ist gefallen.
Die Katastrophe ist abgewendet.
Der Tyrann ist gestürzt.
Der Krebs ist weg.
Die Liebe erfüllt sich.
Das Kind kommt zur Welt.
Der Gekreuzigte wird auferweckt zu neuem Leben.
Wer hat das gemacht? Gewiss, viele Menschen haben sich gemüht. Aber wäre da nicht Gottes Auge gewesen, das auf uns gerichtet ist und die ungeahnten Möglichkeiten sieht; wäre da nicht die Macht des liebenden göttlichen Blicks gewesen: Es wäre nichts geworden.

IV.

Und auch da, wo Gottes Hilfe und Rettung ausbleiben, ist unser Glaube nicht am Ende. Im Gegenteil: Ausgerechnet in dieser quälenden und notvollen Erfahrung hat er seinen Ursprung und seine Mitte.
Da ist das berühmte Auge Gottes hier in der Frauenkirche. Es wacht über den verzweifelten Jesus in Gethsemane, während seine Jünger schlafen.

Gottes Boten, die Engel, sind da, während Jesus mit seiner Todesangst ringt. Sie tragen das Kreuz – Symbol des christlichen Glaubens – und damit die Botschaft: Da, wo unsere Vernunft sagt: Hier ist kein Gott!, hat Gott seine größte Macht gezeigt. Hat sich selbst in den Tod begeben – um dem Leben zum Sieg zu verhelfen. Zu allen Zeiten sind Christen für ihren Glauben an einen solchen Gott ausgelacht worden. Wir können es nicht begreifen, warum Gott sieht und doch nicht so eingreift, wie wir´s uns wünschen; warum er sich zeigt, und doch so ganz anders als erwartet.
Aber dass Gott sieht - und dass Gott sich zeigen wird: Das ist gewiss.

Solche Gewissheit hilft, dem Schlimmen und Bösen standzuhalten und es zu überwinden. Sie gibt die Kraft, nicht aufzugeben und Rückschläge auszuhalten; den Mut, alles zu tun, was in unseren eigenen Möglichkeiten liegt.
So gewiss will ich in die Tage dieses Jahres 2023 gehen. Und wenn mich die Aussichtslosigkeit überfällt, dann wird dies mein Stoßgebet sein: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“. Ein lichtes Fenster zum Himmel ist offen. Drückende Enge weitet sich. Alles Gute wird möglich. Wir dürfen gespannt sein.

AMEN.