Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2021

Fleisch von meinem Fleisch

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Weihnachten ist die Kinderzeit im Jahr. Und auch wir „Großen“ spüren, wenn Weihnachten wird, dass unser Kind im Manne und in der Frau wieder erwacht, weil so viele sinnliche Erinnerungen aus der Tiefe wieder empor steigen. Was habe ich vor Augen? Etwa das von meinen Eltern am 23. Dezember abends geheimnisvoll hergerichtete und danach hermetisch abgeschlossene Weihnachtszimmer. Die karge Linsensuppe, die es am 24. immer zu Mittag gab. Die Anspannung am Nachmittag vor dem Krippenspiel in der Kirche, und das Herzklopfen später daheim, wenn wir auf unseren Zimmern still warten sollten, während die Eltern im Weihnachtszimmer den Baum entzündeten, behängt mit Strohsternen, roten Äpfeln und Goldlametta. Und dann der Höhepunkt, das Klingeln mit einer hellen Glocke zum Zeichen, dass alles fertig war. Und zur Melodie von „Ihr Kinderlein kommet“, das meine Mutter am Klavier intonierte, öffnete sich das Zimmer, in einen uns Kindern überirdisch erscheinenden Lichterglanz getaucht. Der Duft von Tanne, Kerzen und den erzgebirgischen Räuchermännchen füllte das Zimmer aus.

I.

Sie alle werden ihre eigenen Kindheitserinnerungen da eintragen können, seien sie ähnlich oder ganz anders. Die Aufregung vor dem verschlossenen Zimmer kennen bestimmt alle. Das gemeinsame Singen vor der Bescherung viele sicher auch. Aber mussten Sie auch Blockflöte vorspielen oder ein Gedicht, oder gar die Weihnachtsgeschichte auswendig aufsagen? Und immer warten, warten: wann dürfen wir endlich auspacken? Erst nach dem Essen, oder - was die meisten Kinder natürlich wollen - davor, gleich nach dem Singen?! Ja, und überhaupt das Essen: gab es bei Ihnen noch den klassischen Heringssalat, mit dem ich an Heiligabend groß geworden bin, der eben daran erinnerte, dass am 24.12. ja eigentlich noch Advents-, also Fastenzeit ist? Oder war es bei Ihnen schon etwas freigeistiger, mit Würstchen und Kartoffelsalat - vielleicht sogar Pasteten? Oder fallen Ihnen eher die Heiligabende ein, an denen Sie selbst schon erwachsen waren und mit Ihren Kindern gefeiert haben? Wie die vor lauter Anspannung nur noch quengeln oder weinen können. Wie man darüber auch als Großer ganz angespannt werden kann. Und dann beim Auspacken strahlt - oder aber auch arg enttäuscht sein kann.

„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“ Weihnachten ist Kinderzeit. Kinder brauchen Geborgenheit, und das heißt vor allem anderen: das intuitive Wissen um Zugehörigsein. Der erste Satz aus unserem Text sagt uns aber: das meint auch die Erwachsenen. An Weihnachten holt uns das auch dann ein, wenn wir dem Kindsein längst entwachsen sind. Karten, Reisen, Besuche, Geschenke, das Festessen, Spiele, Spaziergänge, Rotwein am Abend: durch all das vergewissern wir uns, wo wir hingehören. All dies will ein Gefühl des Zuhauseseins, der Verortung in uns stärken. Zu Weihnachten spüren wir, ob das wirklich stimmt mit dem Dazugehören, den Bindungen, der Heimat. Darum ist Weihnachten ein so hochsensibles Fest, überfrachtet mit Erwartungen und Hoffnungen, die eben deshalb so leicht ins schlimme Gegenteil kippen können. Viele Filme, die alle Jahre wieder in diesen Wochen die Fernsehprogramme füllen, leben genau von dieser Spannung.

Wer freut sich über mich, wenn ich vor der Tür stehe, lässt mich spüren: Schön, dass Du da bist, komm rein, setz Dich, erzähl! Wo bin zu Hause? Ja, und letztlich auch: Wer bin ich? - Unser auf den ersten Blick wenig weihnachtlich anmutender Predigttext aus dem 1. Johannesbrief sagt uns: Wer wir auch sind, wir sind auf jeden Fall und unbedingt Gottes Kinder. Egal wie souverän und top aufgestellt wird sind. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen, und wir sind’s auch“. Ihr bleibt meine Töchter und Söhne, und deshalb seid ihr Schwestern und Brüder zu dem, der in dieser Nacht zur Welt kam, um euer Bruder zu werden. Das kann uns fremd in den Ohren klingen. Mancher fragt sich wie der jüdische Gelehrte Nikodemus, der im Johannesevangelium ein langes Nachtgespräch mit Jesus hat: Wie kann ich als erwachsener Mensch neu geboren und wieder Kind werden? Ist das nicht Kinderkram? Nichts für autonome Leute, die ihr Leben im Griff haben? Und sind Sie, bin ich als Kinder Gottes zu erkennen? Johannes scheint da schon auch skeptisch zu sein. Kaum hat er von uns als den Kindern Gottes geredet, spricht er seltsamerweise über etwas sehr anderes: Sünde und Unrecht.

II.

Da kommen nun wieder die roten Äpfel ins Spiel. Sie hängen am Christbaum, als unschuldig aussehende süße Frucht, deren Anblick uns erfreut. Aber eigentlich hängen sie da, weil sie an einen anderen Baum erinnern sollen: den Paradiesbaum aus dem 3. Kapitel der Bibel! Das ist der eigentliche Zweck der Übung mit den roten Äpfeln an den grünen Christbäumen. „Von diesen Früchten sollt ihr nicht essen, sonst müsst ihr sterben!“ sagt Gott. Doch Adam und Eva beeindruckt das nicht. Die Faszination ist größer, Gott zu spielen, absolute Freiheit auszuleben. Seither, das ist die tiefe Wahrheit dieser uralten Geschichte, begleiten Sünde und Schuld unser Leben. Wir können ihnen gar nicht entkommen. Was ich auch unternehme, sie ist immer auch dabei, als klammheimlicher, raffinierter Begleiter, die Schuld! Sie ist nicht nur die der anderen, sie ist auch meine eigene.

Die Sünde wird sichtbar in konkreten Verfehlungen, im Übertreten von Gesetzen, von denen viele schon in den 10 Geboten grundgelegt sind. Töten, stehlen, ehebrechen, und - gerade besonders beklemmend - verleumden und hetzen. Sie zeigt sich in vielen einzelnen Taten. Aber die einzelnen Taten sind nicht die Sünde, wie die Bibel sie versteht. Johannes verwendet nicht zufällig die Einzahl. Er spricht von der Sünde, nicht von den vielen Sünden. Sünde ist stärker als jede einzelne Verfehlung. Sie sitzt in meinem Denken und Handeln, sie lockt mich, sie schafft gewissermaßen einen Herrschaftsbezirk um mich herum: Du, es geht doch um dich! Vergiss die anderen! Du musst schauen, wo du bleibst! Sie setzt auf Abgrenzung, Abwertung und ständiges Vergleichen. Und vor allem: sie nährt und facht die Angst in mir an, zu kurz kommen: Die da, was wollen die denn hier? Die leben ja nur auf unsere Kosten. Uns wird nichts geschenkt, denen wird alles nachgeworfen, Sünde setzt auf Misstrauen: „Die da oben“, die „Eliten“, von geheimen Mächten gelenkt, die die ganze Welt beherrschen und überwachen wollen…- So denkt und redet sie, die Sünde. Auch in mir. Sie setzt sich fest, tut so, als wäre Lieblosigkeit ganz normal: Das machen doch alle so…!

Warum aber werden wir von den roten Äpfeln am grünen Baum ausgerechnet zum Fest der Liebe an die Sünde als Quell der Lieblosigkeit erinnert? Das ist doch sowas von unpassend heute. Eine Weihnachtsgeschichte aus meiner Kindheit, die unsere Eltern uns oft vorgelesen haben, ist die Erzählung des russischen Dichters Nikolai Leskow „Der Gast beim Bauern“. Sie handelt von Timofei, einem Jungen, der früh zum Waisenkind geworden ist. Sein Onkel hat Timofei hinterhältig um sein Erbe gebracht. Als er 20 Jahre ist, sticht er bei einem heftigen Streit mit dem Messer auf den Onkel ein. Er wird verurteilt und auf Jahre nach Sibirien verbannt. Dort führt er ein braves Leben, wird fromm, arbeitet und liest und betet viel. In seinem Inneren aber grollt er noch immer dem Onkel, der ihn betrogen hatte. Wieder einmal steht Weihnachten vor der Tür. Während eines innigen Gebetes wird Timofei plötzlich zur Gewissheit, dass dieses Mal Christus selbst bei ihm einkehren wird. Voll gespannter Vorfreude lädt Timofei dazu seine Freunde ein. Der Tisch ist festlich gedeckt. Alle warten sie sehnsüchtig auf Christus, den großen Gast. Timofei wird ungeduldig, unruhig geht er auf und ab. Dann tritt er vor die Ikone, um zu beten. Da - ein lautes Poltern, die Tür fliegt auf, und auf der Schwelle steht ein alter Mann in zerlumpter Kleidung. Zitternd hält er sich am Türrahmen fest. Timofei fällt auf die Knie. Die Freunde hören verstört, wie er erschüttert ausruft: „Christus ist mitten unter uns!“ Der zerlumpte Alte in der Tür ist Timofeis Onkel. Lange war er ziellos herumgeirrt. Für Timofei aber ist er in diesem Moment der Herr selbst, der so sehnsüchtig erwartete Gast, wenn auch in ganz anderer, unerwarteter Gestalt.

III.

Liebe Gemeinde,

mir bringt diese Geschichte etwas vom innersten Geheimnis der Weihnacht nahe. Weihnachten: Gott hat Heimweh nach der verloren gegangenen Welt, er macht sich auf den weiten, mühseligen Weg in sie hinein, er kommt zu uns. Aber er kommt ganz anders als wir uns vorstellen, wie es zugehen müsste, wenn der „König aller Königreich“ der fernen Provinz Erde die Ehre seines Besuchs erweist. Wir mögen ihn für unser persönliches Leben und für diese verwirrte Welt leidenschaftlich ersehnen, wir mögen aus tiefstem Herzen singen „Komm, o mein Heiland, Jesu Christ“, es mag von uns aus alles vorbereitet sein: aber wenn er dann kommt, dann auf eine so überraschende, all unsere Vorstellungen umwerfende Weise wie hier bei Timofei und seinem Onkel. Deshalb dieses Ausrufezeichen am Anfang unseres Textes: „Augen auf! Seht!“ Sehr das Unerwartete, seht, was so leicht zu übersehen ist! Seht, dass der, der seine Herrlichkeit unter ihrem Gegenteil verborgen hat, „elend, nackt und bloß in einem Krippelein“ liegend, sich sogar in der Gestalt eines Menschen verbergen kann, der dafür steht, dass Sünde und Schuld zu uns gehören.

Und darum, liebe Gemeinde, erinnern die roten Äpfel am grünen Christbaum zum guten Schluss auch nicht nur an die Äpfel im Paradies und das Unheil, das mit ihnen gekommen ist. Zugleich und noch viel mehr werden sie auch zu Zeichen der Liebe Gottes, die am Ende immer weiter reicht als alles, womit wir die Verbindung zu Gott gefährden und abschneiden. Auf mittelalterlichen Weihnachtsbildern gibt Maria dem Jesuskind den Apfel in die Hand. Darstellungen von tiefer Symbolkraft: Maria und ihr Kind - die neue Eva und der neue Adam. Die Trennung zwischen Gott und uns Menschen wird aufgehoben, Gottes Liebe nimmt Stallgeruch an, sie erdet sich buchstäblich. Seit Weihnachten sind wir Töchter und Söhne Gottes, Geschwister von Jesus. Er wirft uns die rotbackigen Äpfel zu: nehmt sie, spielt mit den Äpfeln, nutzt eure Freiheit, genießt die Früchte der Erde, die Gott euch schenkt, teilt sie, übernehmt Verantwortung füreinander und für die Welt. Sein Leben zeigt uns, wie das gehen kann. Jesus hat den roten Apfel in der Hand, er wirft ihn uns zu, weil er will, dass der Glanz des Himmels sich auf der Erde ausbreitet. Dass uns die Augen auf- und übergehen, indem wir im Krippenkind den neuen Adam entdecken. Aber das ist doch! Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch! So beginnt die Liebesgeschichte Adams mit seiner Eva, die erste Wahlverwandtschaft der Menschheitsgeschichte. - Aber das ist doch! Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch! So kommt ins Staunen, wer einen gloriosen Gottessohn erwartete, und einen brüllenden Säugling im Futtertrog findet. So beginnt mit dem Gott in Windeln die ungewöhnlichste Wahlverwandtschaft der Geschichte: die zwischen Gott und Mensch. Sie bricht nicht ab, sondern vollendet sich: Aber das ist doch! Tod von meinem Tod! Aber ganz zum Schluss heißt es: Da habt ihr! Leben von meinem Leben, Kraft von meiner Kraft!

„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“ Als Gottes Töchter und Söhne verlassen wir uns darauf: Wenn schon wir als Eltern unser Kind nicht loslassen, auch wenn es noch so sehr nervt, oder ganz andere Wege geht als wir gedacht und gehofft hatten, wenn wir trotzdem gar nicht anders können als an ihm festhalten: wieviel mehr können wir das von Gott erwarten, der uns liebt wie ein Vater und eine Mutter.

Der schwedische Dichter und Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer hat einmal gesagt: „Wir müssen uns auf vieles verlassen können, um zu leben. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass wir gehalten werden.“ Und er findet ein schönes Bild für unser Menschsein: Es ist im Leben oft so, wie wenn das Licht im Treppenhaus ausgeht. Wir stehen plötzlich im Dunkel. Unsere Hand greift ins Nichts. Findet sie etwas? Findet sie Halt? Plötzlich finden wir das Geländer und das Geländer führt uns Blinde durch das Dunkel ins Licht.

Dasselbe mit unserem Textabschnitt gesagt: Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wenn es erscheint, schauen wir Gott und sind ihm gleich – im Licht.


AMEN.

Weihnachten zum Quadrat  

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist alt, aber sie veraltet nie. Alle Jahre wieder fängt sie uns mit ihrem Zauber ein. Ihr unvergleichlicher Luther-Sound breitet sich in uns aus und lässt es Weihnachten werden. Dabei fängt sie, inhaltlich, überhaupt nicht bezaubernd an, sondern stocknüchtern und prosaisch. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging: am Anfang steht eine behördliche Anordnung. Flächendeckende Volkszählung im ganzen Reich, zum Zweck der Steuerschätzung. Ob es daraufhin damals auch wütende Proteste und Verschwörungstheorien gegen „Die da oben“ gegeben hat? Darüber schweigt sich die Weihnachtsgeschichte zum Glück aus. Für uns frappierend aber ist, wie schon vor einem Jahr: ganz anders als Maria und Josef werden wir nicht durch staatliche Verordnungen in Bewegung gesetzt. Wir sind zum Gegenteil aufgefordert. Wir sollen die eigenen vier Wände möglich wenig verlassen. Am besten in möglichst kleiner Runde unter uns bleiben. Das tut weh. Den Sachsen ganz besonders, seit Wochen schon. Sie nennen, wie ich hier gelernt habe, ihr Land stolz das „Weihnachtswunderland“.

I.

Auch vor diesem für ein Weihnachtswunderland schmerzhaften Hintergrund beginne ich diese Heiligabendpredigt ähnlich nüchtern und prosaisch wie die lukanische Weihnachtsgeschichte. Nämlich mit einer Gleichung, die ich entwickelt habe. Die geht so: Weihnachten–Weihnachten=Weihnachten². Mathematisch ist sie ganz unhaltbar, denn Weihnachten-Weihnachten ergäbe rein logisch: nicht Weihnachten, also eigentlich Null. Aber auf einer anderen, tieferen Ebene finde ich die Gleichung sehr wahr. Wir erleben wie letztes Jahr erneut eine nie da gewesene Reduktion von Weihnachten. Eine Reduktion um vieles, was seit jeher Weihnachten für uns bedeutet, was es zum gefühlt schönsten und größten aller Feste macht. Wir können nicht zueinanderkommen, zusammenrücken in unseren Familien. Eltern können ihre anderswo lebenden Kinder, Großeltern ihre Enkel nicht umarmen. Wir können in den Kirchen, oder auf den Plätzen davor nicht die unvergleichlichen Lieder singen, die unser Herz anrühren. Und so vieles mehr, was zu Weihnachten gehört wie zu Dresden der Stollen und die Frauenkirche. Wir müssen also von dem, was für uns so unbedingt zu Weihnachten gehört, ganz viel abziehen, subtrahieren. Deshalb: Weihnachten minus Weihnachten. Aber nun, so geht mein Rechenexempel, steht auf der anderen Seite der Gleichung keine Null, sondern ein „Weihnachten zum Quadrat“. Ein potenziertes Weihnachten also. - Hä? Wie meint der das?

Eigentlich finde ich es ganz einfach. Es ist dieselbe Dynamik wie beim Fasten. Das ist ja Reduktion, Subtraktion, um wieder den Kern, das Wesentliche zu finden. Nach dem Grundsatz: Weniger wird am Ende mehr. Manches Weihnachtsfasten, das uns jetzt auferlegt ist, ist schmerzlich, ja. Aber eben doch nicht nur! Es gibt uns auch eine seltene Chance, wieder auf das Wesentliche von Weihnachten zu stoßen, back to the roots zu gehen, dieses Fest neu zu entdecken. „Er äußert sich all seiner G’walt, / wird niedrig und gering“ - ja, ein bisschen niedrig und gering können wir uns fühlen bei den Verhältnissen, unter denen wir Weihnachten feiern. Aber eben damit sind wir ganz nah an dem, dessen Ankunft in dieser Welt wir an Weihnachten feiern. Dessen Glanz und Herrlichkeit wir an Weihnachten nicht anders als unter ihrem totalen Gegenteil von Armut, Kälte, Unbehaustheit und Ausgeliefertsein erahnen können.

II.

So ist das nun mal mit dem „Wunder der Weihnacht“. Was in unserer geliebten Weihnachtsgeschichte nach Lukas anschaulich, wie einem naiven Gemälde, ins Bild gebracht ist, wird anderswo in der Bibel abstrakter, aber in der Sache ganz präzise so ausgedrückt: „Gott ist offenbar geworden im Fleisch“ (1. Tim 3,16). Im Fleisch: das ist die Welt, wie wir sie kennen. Die Welt, in der geküsst und gefoltert, gestillt und gekillt, geliebt und gehasst, gefuttert und verhungert wird. In der Menschen das Beste aus sich schöpfen und einander auf großartige Weise helfen wie im Sommer bei der Flutkatastrophe in Westdeutschland - und einander Schlimmes antun, wie zuletzt Menschen, die sich im Bodensatz der sog. Social media eingerichtet haben und Gewaltakte gegen führende sächsische Politiker planten. Im Fleisch, das ist die Welt, in der die Menschen am Anfang alle gleich sind - und dann wird aus dem einen Greta Thunberg und aus dem anderen Lukaschenko. In dieser Welt ist Gott drin. Er bleibt nicht in sicherer göttlicher Distanz zu all dem, was wir in der Welt tun und erleiden, aufbauen und kaputt machen. In Jesus teilt er das alles mit uns.

Und da ist ihm nichts erspart geblieben. Das Erlebnis des ersten Lebenstages: in dieser Welt macht keiner freiwillig dem anderen Platz. Wenig später schon auf der Flucht ins Ausland: in dieser Welt sind sie hinter einem her. Damals wie heute: wenn autoritäre Machthaber Angst bekommen, haben die Machtlosen nichts zu lachen. Und dann als Mann: von der eigenen Familie nicht verstanden, von den besten Freunden im Stich gelassen, als es drauf ankam. Verhaftet, von gekauften Zeugen belastet, von einem unter Druck gesetzten Richter verurteilt, von den Wachsoldaten bespuckt und gefoltert, mit zwei Verbrechern aufgehängt und qualvoll gestorben. Das ist der Stallgeruch im Leben des Stallgeborenen. Und das ist das Geheimnis, das wir in dieser Nacht bestaunen: Gott hält sich nicht raus aus der Welt, sondern geht in sie hinein mit allen Konsequenzen. „Er ist auf Erden kommen arm, / dass er unser sich erbarm“: als hungrig brüllender Säugling kommt er in diese Welt - nicht im Triumphmarsch. Und als wehrloser Mensch, denen ausgeliefert, die ihn aus dieser Welt wieder wegräumen wollen, beschließt er seinen Weg - nicht mit Staatsbegräbnis am Tempel.

III.

In Heidelberg, wo ich in den 1970er Jahren aufgewachsen bin, wurde damals in der Universitätskirche jeweils an Heiligabend die „Offene Nacht“ gefeiert. Die Kirche war dann bis zum Morgen des 1. Christtages geöffnet für Obdachlose, ausländische Studierende, für Singles, die in den eigenen vier Wänden das Alleinsein schwer ertragen, oder für solche, die einfach mit der bürgerlichen Weihnacht nichts anfangen können. Einer, der damals dabei war, hat danach einen anonymen Brief geschrieben. Darin schrieb er:

„(...) Noch ganz unter dem Eindruck, in Gedanken und tief empfundener Freude an jene Nacht, erlaube ich mir, Ihnen nun diesen Brief zu schreiben. Weil ich allein war, ging ich in die Peterskirche... Nach dieser Nacht aber beginne ich zu zweifeln an meinem Unglauben. Ich meine, ihn gibt’s doch noch, den starken, barmherzigen Gott. Ich bin dort gewesen, in der Nacht, in der Kirche, die ihre Pforten weit geöffnet hielt. (...) Ich habe gesehen und gehört. Gehört, wie ein Stoppelbärtiger ungehemmt an der Schulter eines Tippelbruders weinte: Warum nur heute, warum kann das nicht immer sein? Ich habe gesehen, wie ein junger Bursche unablässig seinen Hund kraulte - Sehnsucht nach ein bisschen Liebe? Gehört, wie eine verblasste Schönheit einen abwies: Lass mich in Ruhe, diese Nacht ist für mich allein! Er gab ihr eine Zigarette und verschwand. Gesehen, wie ein Mensch in Leder und Bügelfalte einem schlafenden Penner einen zerknüllten Geldschein in die Faust schob, rasch und verlegen. Und ich habe mich gefreut über die Freundlichkeit, mit der mir ein junges Mädchen einen Plastikbecher heißen Tees gab. ‚Prost Weihnachten!‘, sagte sie, und unbekümmerte Freude lachte aus ihren Augen. (...) In der ganzen Kirche Lachen, Weinen, Trauer, Freude. Wenn es wirklich einen Gott gibt, dann war das Geschehen in dieser Kirche nach seinem Willen.“

Soweit der Auszug aus jenem Dankesbrief. Er kann mehr vom Geheimnis der Weihnacht erschließen als gewichtige theologischen Schriften. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“: Weihnachten hat darum eine solche Kraft, weil es Gottes Ehre in der Höhe ist, den Menschen in ihren Niederungen von Hunger und Flucht, von Herumgestoßensein und Gehasstwerden, und auch den Menschen, die die Achtung vor sich selbst verloren haben, seine Reverenz zu erweisen. Von Gott Geehrte sind wir - das ist das ganz Neue, das in jener Nacht aufgebrochen ist. Und wir können beginnen, an unserem Unglauben zu zweifeln.

IV.

Das ist der Kern des Christlichen. Und das Wesentliche von Weihnachten. Tausendfach übertüncht, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, von dem bürgerlichen Weihnachten, das uns so unersetzlich erschien, mit Idylle, Gemütlichkeit, Tannenduft , süßen Plätzchen und süßem Krippenkind. Ich liebe das alles sehr. Aber es kann eben auch vom wirklichen Weihnachten wegführen. Bethlehem, die Krippe war vieles - aber kein Idyll, kein Zuckerlecken. Oder etwas theologischer gesagt: Im Holz der Krippe wird bereits das Holz des Kreuzes spürbar. Der evangelische Liederdichter Jochen Klepper hat es in einem Weihnachtslied so ausgedrückt:

Die Feier ward zu bunt und heiter,
mit der die Welt dein Fest begeht.
Mach uns doch für die Nacht bereiter,
in der dein Stern am Himmel steht.
Und über deiner Krippe schon
zeig uns dein Kreuz, du Menschensohn.

Wenn wir uns in diese Spur hineinziehen lassen, dann kann es vielleicht wahr werden, und erfahrbar, worum Paul Gerhardt in seinem Weihnachtslied bittet: „So lass mich doch dein Kripplein sein / komm, komm und lege bei mir ein / dich all deine Freuden.“ So gesehen wünsche ich Ihnen von Herzen ein von Freude erfülltes Weihnachten 2021. Ein Weihnachten zum Quadrat!


AMEN.

gehalten von
Landesbischof Tobias Bilz
im Rahmen der Weihnachtlichen Vesper in der Frauenkirche
(Live-Übertragung durch den MDR)

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Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,

ich höre die Stimme der Hebamme heute noch: Möchten sie ihr Kind einmal nehmen? Diese Mischung aus Erschöpfung und Glück, Vorsicht und Stolz hatte ich noch nie vorher empfunden.  Ich stelle mir vor, dass die meisten von Ihnen oder doch zumindest sehr viele schon einmal ein Neugeborenes auf dem Arm hatten. Die Mütter sowieso. Wir Väter in der Regel wohl auch, ist es doch ganz normal geworden, dass wir bei der Geburt unserer Kinder dabei sind. Und dann dieser Moment: Möchten sie ihr Kind einmal nehmen? Ich kann heute nicht mehr genau sagen, wie der Cocktail meiner Gefühle genau zusammengesetzt war. Eins aber weiß ich noch ganz genau: Ich war mir völlig sicher, Zeuge eines Wunders zu sein. Hier vor mir und gleich auf meinem Arm war der Himmel auf die Erde gekommen. Scheinbar aus dem Nichts war da ein neuer Mensch und dieses zarte Wesen wurde mir und meiner Frau jetzt anvertraut. Zugegeben, die Hebamme hatte gleich noch eine ganze Reihe anderer Ideen, was ich als frischgebackener Vater mit dem Neugeborenen alles tun könnte. Da habe ich mich dann doch eher zurückgehalten. Aber: klar war schon, dass ich jetzt Verantwortung hatte, dass es galt mit Vorsicht und Mut, Liebe und zunehmender Übung das neue Leben zu schützen und zu versorgen. Für alles weitere, was darauf folgte und immer wieder folgt, haben wir die Bezeichnung – „ein Kind großziehen“ – gefunden. Damit meinen wir, dass ein junges Leben solange genährt und betreut werden muss, bis es groß und selbstständig geworden ist.

Liebe vorweihnachtliche Gemeinde am Bildschirm,

der erwachsene Jesus von Nazareth hat einmal in einer eindrücklichen Szene ein Kind mitten in den Kreis diskutierender Erwachsener gestellt und den legendären Satz gesagt: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“  Viele Male habe ich diese Worte so gedeutet, als ob es eine kindliche Haltung braucht – naiven Glauben sozusagen – um das Reich Gottes zu empfangen. Heute denke ich es andersherum: Das Reich Gottes selbst ist das Kind und kommt in Gestalt eines Kindes! Es will angenommen und aufgenommen werden. Es braucht schützende Arme und sorgsamen Umgang wie das Wertvollste, was wir uns überhaupt vorstellen können.

Zugleich zieht es Aufmerksamkeit auf sich und verändert die Gesichter derer, die in die Wiege schauen. Ansteckende Freude geht von einem Neugeborenen aus, ansteckende Freude soll sich verbreiten, wenn wir über das Reich Gottes sprechen und versuchen, es unter uns großwerden zu lassen.

Mir kommt es so vor, als ob Jesus mit diesem Satz – „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind…“ – seine eigene Geburtsgeschichte gedeutet hat. Die Geschichte von jener Nacht in Bethlehem, wo unter widrigen Umständen ein Kind geboren, in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe gelegt wurde. Diese Geschichte, die so außergewöhnlich war, dass wir noch heute weltweit ein großes Fest deshalb feiern. Und wenn es stimmt, was wir damit verbinden, nämlich dass Himmel und Erde dort zusammengefunden haben, dann können wir daran ablesen, wie Gott in dieser Welt wirken möchte. Nicht machtvoll, sondern als jemand, der sich ausliefert, nicht als Kümmerer, sondern selbst bedürftig. Nicht als einer, der Leid aus der Welt schafft, sondern einer, der das Schicksal der Menschen teilt.

Diese Botschaft trifft uns heute in einer Situation, in der wir uns nichts sehnlicher wünschen, als Erlösung und Befreiung. Menschen mit Verantwortung ringen Tag für Tag darum, wie sie die immer neuen Herausforderungen bewältigen sollen. Wer sich den Umständen ausgeliefert fühlt, muss mit Ängsten fertig werden und braucht Ermutigung. Dort, wo gelitten wird, geht es darum, die nächsten Stunden und Tage irgendwie zu schaffen. Ist es überhaupt möglich, die Weihnachtsbotschaft unter diesen Umständen auszurichten? Ja, es ist nicht nur möglich, sondern sie wird dringend gebraucht, diese Botschaft, dass Gott in einem Kind kommt und dass damit  das ungeschützte Leben unserer Fürsorge anvertraut wird!

Lassen sie mich daraus drei Gedanken ableiten:

Dort, wo ein kleines Kind ist, werden die Erwachsenen still. Manchmal, wenn laute Menschen kommen, legen die Eltern den Finger vor den Mund und sagen “Pssst!“ Wie wünsche ich mir in diesen Tagen, dass der vielfältige Lärm, der über die Ohren aber auch die anderen Sinne in uns ein- und bis zum Herzen vordringt zum Schweigen kommt! Es ist Zeit, auf allen Krawall zu verzichten. Zeit zum Schweigen, wie man schweigt, um ein schlafendes Kind nicht aufzuschrecken.

Dort, wo ein kleines Kind ist, beugen sich Menschen herab. Sie werden selbst kleiner und nehmen damit ganz unbewusst eine Haltung der Demut ein. Von den Weisen, die zum Christkind kamen, heißt es, dass sie „niederfielen“. So haben wohl nicht so vornehm gekniet, wie in unseren Krippenspielen, sondern buchstäblich auf der Erde gelegen. Säuglinge jedenfalls bringen uns dazu, dass wir uns klein machen. Ich wünsche mir in diesen Tagen, dass unsere selbstbewussten Ansprüche an das Leben klein werden, im Angesicht der Menschen, deren Leben gerade klein, schwach und gefährdet ist. Zugleich vertraue ich darauf, dass das Reich Gottes dort ist, wo sich Menschen nicht nur über die Kinderbetten beugen, sondern auch über die Betten der Kranken und Leidenden und ihnen dienen.

Und schließlich: Dort, wo ein kleines Kind ist, da ist Hoffnung! Warum sollten Menschen (angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt) Kinder bekommen? Die ersten Sekunden nach der Geburt beantworten diese Frage ein für alle mal. Ein Kind bedeutet, dass es sich lohnen wird, sich allen kommenden Herausforderungen zu stellen. Eben unm dieses Kindes willen! Könnte das der eigentliche Grund dafür sein, dass sich uns das Reich Gottes in der Gestalt eines Kindes nähert?  Will Gott uns damit herausfordern, die besten Kräfte dafür zu mobilisieren, aus dieser Welt einen Ort zu machen, der so lebenswert ist, wie wir ihn uns für unsere Kinder nur wünschen können?

Noch einmal sehe ich mich da stehen, mit meinem ersten Kind auf dem Arm. Natürlich war mir klar, dass da allerhand an Verantwortung auf mich zukommt. Das Andere aber war stärker: Für dieses Kind (wie für die, die noch kommen sollten) wird es sich lohnen, alles zu geben. Das fühlte sich an, als ob sich bereits in diesem Moment alle Kräfte einstellen wollten, die in Zukunft nötig werden würden.

Liebe Gemeinde am Vortag des Heiligen Abends,

wenn es so ist, dass mit jedem Neugeborenen eine Botschaft an uns Menschen verknüpft ist, dann gilt das auch und besonders für das Christkind. Diese Botschaft lautet für mich in diesem Jahr: Das Leben, das Reich Gottes und letztlich Gott selbst werden in unsere Hände gelegt! Damit bringt Gott zum Ausdruck, dass er uns zutraut, das Leben zu schützen, zu umsorgen und buchstäblich großzuziehen. Gott vertraut uns!


AMEN.

Empfangsbereit sein

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Seid gegrüßt, Ihr späten Jüngerinnen und Jünger des Herrn! Ihr schaut mich so ungläubig an? Doch, ich bin’s wirklich: Maria, die Jungfrau, die Gottesmutter, die reine Magd, die Himmelskönigin, die Miterlöserin, Stern des Meeres, Urbild und Vorbild der Glaubenden, und was es sonst noch an Ehrentiteln für mich gibt, mit denen ihr mich im Lauf der Jahrhunderte versehen habt. Zahllose mehr oder weniger begnadete Künstler haben mich in den verschiedenen Situationen meines unglaublichen Lebens ins Bild gebracht. Eure Kirchen sind voll von Bildern, Fenstern und Altären, auf denen man mich andächtig betrachten kann.

I.

Eure Kirchen? Nein, Ihr tut Euch eher schwer mit mir, höre ich, und scheut Euch davor, in Euren Liedern, Gebeten und Predigten Euch mit mir zu beschäftigen. Dabei ist eure so besondere Kirche hier, wo ihr mir jetzt gerade zuhört, ja nach mir benannt! Auch wenn das vielen wohl gar nicht mehr bewusst ist. Aber bei Euren getrennten Schwestern und Brüdern in der anderen Kirche, da ist das ganz anders. Die können gar nicht genug haben von mir, und manchmal frage ich mich: wissen sie denn alles über mich? Ein bisschen fühle ich mich geehrt, und doch wäre es mir manchmal lieber, sie würden mir mehr Unantastbarkeit lassen.

Aber das, Ihr lieben Protestanten, ist ja nicht Euer Problem. Mein Problem mit Euch ist, dass Ihr Euch so wenig um mich kümmert. „Solus Christus - Jesus Christus allein“, so hat es Euch Euer Erzvater ins Stammbuch geschrieben. Zugleich aber hat er mich über alles geschätzt, ja verehrt, euer Doktor Martinus. Ganz wunderbare Sachen hat er über mich geschrieben, von denen ich mich bis heute sehr verstanden fühle. Leider ist davon bei seinen Nachfolgern, bis hin zu euch heute, allzu wenig hängen geblieben. Wobei, damit ihr mich bloß nicht missversteht: Gegen das Solus Christus will ich ja gar nichts sagen! Dass ein Kind seiner Mutter über den Kopf wächst, ist ja keine Erfahrung, die ich für mich allein habe. Nur - ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für mich, ein bisschen mehr Nachdenken über und Einfühlung in meine Lage, das hätte mir schon gut getan manchmal. Immerhin habt auch Ihr das eine Glaubensbekenntnis, in dem ich ja vorkomme. Aber sonst fühle ich mich aus Euren Feiern eher verbannt. Dafür haben viele von Euch mich und meinen Angetrauten bald unter ihrem Christbaum stehen. Noch fünf Mal schlafen, dann ist es wieder soweit. Da sehe ich dann wieder aus wie eh und je: ewig jung, von einem langen Kleid züchtig bedeckt, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und mütterlich liebendem Blick auf mein hilfloses Kind in der Krippe herabblickend. Den „holden Knaben im lockigen Haar“...

II.

Und noch ein Ereignis in meinem Leben gibt es, das haben eure Künstler auch unendlich oft dargestellt. Damals, als alles losging, als sich mein Leben auf den Kopf stellen sollte. Ihr wisst schon, ich meine den berühmten Tag, als der Engel Gabriel zu mir kam. Eure Maler haben in ihren Bildern den Engel und mich gern auf goldenem Grund gemalt. Ich will es ihnen gar nicht verübeln, aber so richtig wohl ist mir nicht dabei. Denn ich weiß es noch gut: so golden ging es mir damals wahrlich nicht! Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, was jene unglaubliche Mitteilung des Engels für mich, und nicht nur für mich, wirklich bedeuten sollte. Diese Szene in Gold - passt das zusammen mit dem, wie es wirklich war damals? Über den, den ich zur Welt bringen sollte, wird in Euren Heiligen Schriften ja auch ganz anderes gesagt: Er erniedrigte und demütigte sich, nahm die Gestalt eines Sklaven an, er wurde Euch zuliebe arm, ja er war am Ende der Allerverachtetste: das alles klingt ja gar nicht so golden, und eigentlich passt es mehr zu mir und meinem Leben als Eure Bilder!

Ob Ihr Euch vorstellen könnt, wie mulmig mir damals war? Allein die Tatsache, dass ich schwanger werden sollte! Für mich selbst ahnte ich wohl, dass das ein Werk meines Gottes war, von dem mir der Engel am Ende seiner kleinen Ansprache sagte, ihm sei nichts unmöglich. Also auch das nicht, was allen biologischen Gesetzen widerspricht. Ich kannte ja die alte Geschichte von Sara und Isaak - da hatte Gott auch Unglaubliches zuwege gebracht. Also, ich selbst konnte mir schon irgendwie einen Reim auf all das machen. Aber die anderen? Meine Familie, und vor allem mein Verlobter? Nach damaligem Recht verpflichtete mich das schon wie eine Ehe. Nach außen hin hätte ich mit meiner Schwangerschaft wohl als Ehebrecherin dagestanden, und da hätte mir schlimmstenfalls die Todesstrafe gedroht. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass drei Eurer vier Evangelisten einen weiten Boden um diese Skandalgeschichte gemacht haben. Euer schon erwähnter Reformator hat es einmal so ausgedrückt: „Diese heilige Jungfrau kann nicht zu Ehren kommen, wenn sie nicht vorher zuschanden wurde.“ Ja, bei all dem Großen, Unfasslichen - etwas von „Schande“, von Demütigung empfand ich damals auch. Weil ich mit mir und meinem Geheimnis so allein war. Schon wahr: von außen gesehen ist, was Lukas Euch hier überliefert hat, ganz schön zwielichtig. Aber lassen wir das.

III.

Erlaubt mir bitte noch eine Nebenbemerkung. Ich habe es nie verstehen können, wie Ihr Euch die Köpfe heiß reden konntet über dieses Geheimnis, das Ihr etwas angestrengt akademisch „Jungfrauengeburt“ nennt. Ich höre, dass nicht wenige unter euch an der Stelle des Glaubensbekenntnisses, wo es heißt „geboren von der Jungfrau Maria“ stumm bleiben, weil sie das einfach nicht glauben können. Theologische Schlachten habt Ihr Euch deswegen geliefert, die auf mich ein bisschen wie alberne Scheingefechte gewirkt haben. Warum begreift Ihr nicht, dass es da um ein Geheimnis geht, das Ihr mit Euren biologischen und historischen Begriffen niemals entschlüsseln, plausibel machen könnt, sondern das eben ein Geheimnis bleiben will!? Das ist ja der Unterschied zwischen einem Rätsel und einem Geheimnis: ein Rätsel kann und will man lösen, ent-rätseln. Das ist schön, wenn man es schafft, aber dann hat das Rätsel seine Anziehung verloren, man legt es zur Seite, es ist nicht weiter interessant. Ein Geheimnis dagegen kann man nie lösen und plausibel machen, sondern kann es immer nur wieder neu umkreisen, man kann versuchen, tiefer in es einzudringen - und wenn das gelingt, wird es nur noch geheimnisvoller und faszinierender. Man kommt nie wirklich los davon. Die Liebe ist das beste Beispiel dafür.

Was Ihr so hölzern „Jungfrauengeburt“ nennt, ist eben ein Zeichen: dafür, dass kein anderer als Gott selbst sich aus grenzenloser Liebe zu dieser Welt, aus Heimweh nach ihr in alles Menschliche hinein begibt, und dass so eine Bewegung allein von Gott ausgehen kann. Hier soll um Gottes Ehre und seiner Freiheit willen jeder Möglichkeit gewehrt werden, sich eine Mitwirkung des Menschen an diesem Wunder vorzustellen. Wo Gott als Retter in die Welt kommt, da können wir nur Empfangende sein - da haben wir mit unseren begrenzten, oft chaotischen Mitteln nichts beizutragen. Wir wissen doch, wie schnell menschliche Eingriffe und Ideale in unmenschliche Aktionen umschlagen können. Was Rettung bringt, ist von anderer Qualität. „Den aller Welt Kreis nie beschloss, / der liegt in Marien Schoß“, hat Martin Luther in einem Weihnachtslied gedichtet. Also auch ich, gerade ich, bin dabei nur eine Empfangende gewesen. Mein eigener Anteil daran war einfach, dass ich das alles versucht habe anzunehmen, dass ich Ja dazu gesagt habe, dass Gott uneingeschränkt Ja zu mir gesagt hat. Und genau das ist Glaube doch, oder: Ja dazu sagen, dass Gott Ja zu mir gesagt hat! Lukas hat meine Antwort am Ende sehr richtig wiedergegeben: „Ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast!“

Wenn ihr es so seht, dann lasse ich es mir gern gefallen, dass Ihr mich „Urbild des Glaubens“ nennt. Aber nur so, dass Ihr selbst durch mich den Mut gewinnt, darauf zu setzen, dass für Gott tatsächlich nichts unmöglich ist. Und dass Glauben heißt, nicht mehr Macher zu sein, sondern Empfänger zu werden.


AMEN.

O Heiland, reiß die Himmel auf!        

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

es war in den bewegten Nach-68er-Jahren in einer Hamburger Kirche, als der Pastor eines Sonntages seine Predigt mit diesen Worten begann: „Dies ist bis auf weiteres meine letzte Predigt. Ich hab es versucht mit allen Registern. Mit Ironie, mit Geschichten, direkt, elegant oder gemein und brutal. Alles half nicht, änderte nichts. Ihr wollt, dass ich euch am Sonntag einen kleinen lieben Gott aufs Knie setze, ihr spielt mit ihm ein bisschen Hoppereiter, und dann setzt ihr ihn mir wieder auf den Arm und ich kann sehen, wo ich mit ihm bleibe bis zum nächsten Sonntag. Unbequem darf er nicht werden, nichts soll unsere Ordnung stören. Und ihr singt ‚Liebster Jesu, wir sind hier‘ – und ich soll die Nacht durcharbeiten und euch Pflaster auf eure Seelen legen, die ihr euch gegenseitig wund geschlagen habt. Ich habe meine Munition verschossen. Ich will nicht mehr predigen. Ich denke mir keine neuen Verfahren mehr aus, mit denen ich noch weiter Gott und der Welt vorspiegele, in der Kirche sei etwas los, was die Welt verändert“.

Soweit der Original-Kanzelton eines Amtsbruders. Man soll ja keine Kollegenschelte betreiben. Aber hier kann ich sie mir nicht ganz verkneifen. Denn dieses Verfahren des Hamburger Kollegen kann nun wirklich keine Lösung sein. Nicht dass mir in meinem Pfarrerdasein Anflüge von Resignation völlig fremd wären. Aber wenn man in die Bibel schaut, findet sich dort kein einziger Fall, wo einer von sich aus abgetreten, das Predigen eingestellt und wie anno 1918 hier (angeblich) der abdankende Friedrich August „Macht euren Dreck alleene!“ gerufen und sich getrollt hätte.

I.

Das ist doch wohl ein bisschen einfach. Ganz anders der Prophet, der dieses Klagelied gebetet hat. Er klagt nicht eine elende Gemeinde an, sondern er klagt das Elend der Gemeinde zu Gott hin - der Gemeinde, der er sich zugehörig weiß, von der er sich nicht distanziert. Er geht nicht hoch, sondern er geht in die Knie. Was ihn so schrecklich lähmt, ist der Eindruck, dass Gott abwesend ist. Das Gefühl trostloser Verlorenheit in einer Welt, die auf ganzer Linie Recht zu bekommen scheint, wenn sie sich um Gott nicht mehr schert. Denn es gibt nicht das geringste Zeichen, dass er sich noch kümmert: „Wo ist dein Eifer und deine Macht?“ Wir merken nichts von Deiner Wirksamkeit. Damit ist für Israel ein Lebensnerv eingeklemmt: denn seine Identität hängt so vital an der Verbindung mit Gott, dass es sich verloren fühlt, wenn es ihn verloren hat.

Dieses ganze Elend eines verschlossenen Himmels wird hier Gott ins Ohr geschrien. Wie sollen wir vor den Menschen noch glaubwürdig davon reden, dass wir Dir gehören, von Dir beauftragt, der Welt Dein Heil bekanntzumachen, wenn „die Gottlosen dein Heiligtum zertreten?“ Müssen uns die Leute nicht auslachen, wenn wir uns auf Dich berufen, wenn wir mit der Bibel behaupten, wir seien die Vorhut von Gottes neuer Welt – und dann sind immer weniger bereit, für deine Sache noch etwas einzusetzen? Wie sollen wir von deiner Zukunft reden, wenn bei uns das Christliche scheinbar unaufhaltsam versickert und verdunstet?

II.

Liebe Gemeinde, das Entscheidende an dieser Klage ist: die Not der so bitter erlebten Abwesenheit Gottes schlägt nicht um in den Trotz der heute populären Melodie: Wenn euer Gott all das zulässt, dann kann es ihn nicht geben, dann ist er nur eine religiöse Fantasie. Nein, der Schmerz der Gottverlassenheit wird vor Gott gebracht. Er erinnert an den Schrei Jesu am Kreuz. Der rief ja auch zu eben dem Gott, von dem er sich verlassen fühlte! Der Gott, der sich uns entzieht, ist der, zu dem wir rufen können: „Kehre um, deiner Knechte wegen, die dein eigen sind!“

Der Gott, der so unerkennbar geworden ist, ist dennoch kein unbekannter Gott, sondern es ist der, der sich seinem Volk bekannt gemacht hat als Erwähler und Befreier. In bestimmten geschichtlichen Momenten hat er sich seinem Volk unauslöschlich eingeprägt: als er es aus der Sklaverei unter der Knute einer Großmacht herausholte, als er ihm einen Weg durchs scheinbar Ausweglose bahnte – dort am Schilfmeer –, und es so vor der Vernichtung rettete. Wir könnten so fortfahren: als er am Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi uns von uns selbst, von der Last unserer Schuld frei gemacht hat. In diesen geschichtlichen Taten hat sich Gott so unvergessbar als einer erwiesen, der die Gemeinschaft mit seinem Volk geschaffen und Verantwortung für es übernommen hat, der seine geknechteten Leute lieb gehabt und alles für sie eingesetzt hat, dass man ihn dabei behaften kann: „Bleib doch unser Vater, Abraham weiß ja nichts von uns und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; ‚Unser Erlöser‘ ist dein Name von Urzeit an.“

Gottes Volk tröstet sich also nicht mit einer glorreichen Vergangenheit, es beschwört nicht seine großen Gestalten. Dass wir einmal Leute hatten wie Luther oder Wichern oder Bonhoeffer oder Hempel, das hilft uns jetzt nichts. Gottes Gemeinde beruft sich nicht auf große Väter (oder Mütter), sondern auf den Vater. Sein vergangenes Tun war so voll von Zukunft und Verheißung, dass wir uns mit der aktuellen Gottesfinsternis nicht abfinden müssen, sondern herausgefordert sind, Gott zu bestürmen, er möge sich doch an seinen Namen als Erlöser erinnern: „Mein Herz hält dir vor dein Wort“. Unser Gebet beschwört Dich als den, der sein Volk in die Freiheit geführt, ihm neue Zukunft gegeben hat. Du bist kein Gott, der im Museum zu bestaunen ist, sondern immer noch unser Vater, auch wenn wir nicht mehr als deine Kinder erkennbar sind. Sei es wieder aufs Neue!

III.

Und dann dieser Ruf: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Komm doch und zeig dich so, dass dich endlich keiner mehr übersehen kann: die Adventsbitte des an der Verborgenheit seines Gottes verzweifelten Gottesvolks. Gott müsste zeigen, wer er ist. Es ist ein Ruf der Sehnsucht. Sehnsucht zeigt immer eine Erfahrung des Mangels an, die als Not erlebt wird. Mir ist das Wort Sehnsucht noch nie so oft begegnet wie in der Zeit, seit die Pandemie da ist. Ich sehne mich danach, wieder mein Geschäft öffnen zu dürfen! - Ich sehne mich nach einem Konzert, oder wieder ins Kino zu gehen! – Ich sehne mich nach dem Glühwein mit den Kollegen nach der Arbeit auf dem Weihnachtsmarkt. – Ich sehne mich nach einem Weihnachten mit Gottesdiensten, wo ich die alten Lieder singen kann und wo wir mit Kindern und Enkeln zusammenkommen können! Ach, dass du den Himmel zerrissest und endlich die Bedrohung durch den elenden unsichtbaren Feind bannst! Zwischen diesem Ruf aus der Tiefe damals und uns heute liegt die Geschichte Jesu Christi. Diese Geschichte erzählt: Ja, der Himmel hat sich geöffnet! Gott hat sein Schweigen gebrochen. Er ist gekommen zu seinem Volk, hat gezeigt, was für einer er ist. Aber eben so ganz anders als in dem alten Gebet des Propheten erhofft.

Gott kommt. Aber nicht als einer, der die Berge beben und die Völker erzittern lässt, sondern als der, der „sanftmütig und von Herzen demütig“ ist. – Er kommt. Aber nicht als einer, der seine Feinde vernichtet, sondern der sie liebt und rettet. Er verbietet seinen Jüngern, Feuer vom Himmel herab zu bitten über ein Dorf, das ihn abgewiesen hat. – Er kommt. Aber nicht unwiderstehlich. Wer ihm Contra geben will, hat alle Freiheiten dazu. – Er kommt als ein König. Aber als einer, dessen Herrschaftszeichen nicht Krone und Adler, sondern die unscheinbare Taube ist. – Er kommt: nicht auf einer Sänfte durch den Triumphbogen getragen, sondern auf einem Esel. – Er kommt. Und seine Leute sind unbewaffnet. Er heißt den Jünger, der ihm in der Gefahr das Leben retten will, gewaltlos zu bleiben und das Schwert wegzulegen.

IV.

So, liebe Gemeinde, hat Gott seinen Himmel aufgerissen. So hat er den Adventsruf seiner Leute gehört, so redet er, bringt sich zur Sprache vom hilflosen Krippenkind bis zum wehrlosen Mann am Kreuz. Und es geschah – und geschieht immer noch – das Wunder, dass harte Herzen sich öffnen, dass Menschen mit einem Mal aufhören, nur zu fragen: Was bringt mir das?, sondern fragen: Was kann ich anderen bringen? So, nicht durch einen Hokuspokus aus Jesu Munde, wie es der Versucher in der Wüste von ihm wollte, kommt Lebensbrot, Brot für die Welt zustande.

Heißt das nun, dass wir durch diese von Jesus vollzogene Korrektur der Adventsbitte des Propheten nicht mehr um Gottes Kommen beten müssen? Nein: Weil Gott in Jesus von Nazareth so anders gekommen ist als in dem alten Gebet erhofft, so ohnmächtig gegenüber dem, was für die Maßstäbe der Welt mächtig ist, gerade darum wartet seine Gemeinde auf das endgültige Kommen Jesu Christi, auf seinen Zweiten Advent, an dem nicht mehr bestreitbar sei wird, sondern alle bekennen: Er ist es, er ist der Herr, auf den wir im Leben und im Sterben setzen wollen!

Eine Gemeinde, die diese Hoffnung wach hält, die betet „Dein Reich komme“: die träumt sich nicht aus einer trostlosen Erde in einen blauen Himmel, sondern die tut das Selbstverständliche: sie zündet Lichter ihrer Hoffnung an, die in der Nacht dieser Welt aufleuchten und aufmerksam machen auf den großen Tag, den dem Er kommt und der keinen Abend mehr kennt. Und an dem kein Himmel mehr zerrissen werden muss, weil er nach allen Seiten hin offen ist. Bis es soweit ist, singen wir beherzt weiter: „O Heiland, reiß die Himmel auf! / herab, herab, vom Himmel lauf.“


AMEN.

Der verheißene König der Gerechtigkeit

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Die Worte dieses Textes kommen von weit her. Sie sind wohl etwa 600 Jahre vor Christus gesprochen worden. Ihre damaligen Adressaten haben sie sehr anders gehört als wir heute. Das Wort, das Gott durch seine Propheten sagen lässt, ist immer ein Wort, das in die Geschichte hinein geht, und dann Geschichte macht. Und zwischen den Hörern damals und uns heute liegt die Geschichte Jesu Christi, von der dieses Prophetenwort aufgenommen und durch die es ausgelegt worden ist. Und so spricht es jetzt uns an. Denn die Geschichte Jesu Christi ist ja für uns Christen unsere Geschichte geworden. Und zwar nicht die Geschichte nach Christus, sondern mit Christus und auf ihn zu. Das heißt ja Advent: Wir leben auf Jesus Christus hin.

I.

Der Prophet Jeremia hat diese kühne Verheißung eines kommenden Davidssproß in ganz dürftiger Zeit ausgesprochen. Beim Gottesvolk hatte sich eine lähmende, depressive Zukunftslosigkeit breitgemacht. Die Nachfolger auf dem von David begründeten Jerusalemer Königsthron hatten abgewirtschaftet, waren politisch und moralisch korrumpiert. Der letzte von ihnen, er hieß Zedekia, in dessen Regierungszeit Jeremia diese Worte gesprochen hat, war eine schwache Figur, Marionette seiner Spin-Doctors. Sein Name – Zedekia heißt: der Gerechte - war eine bittere Karikatur. Und Israel war nur noch ein unbedeutender Kleinstaat, im bedrohlichen Schatten der Supermacht Babylon unter dem eroberungsfreudigen Potentaten Nebukadnezar. Alles war grau in grau.

Jeremia sieht seine Aufgabe nicht darin, durch Schwarzmalerei diese Stimmung noch zu verstärken – aber auch nicht darin, schönzufärben. Sondern er kündigte an: Es wird nicht dauerhaft so bleiben! Nicht weil er irgendwo am politischen Horizont einen Silberstreifen entdeckt hätte, sondern weil Gott es so gesagt hatte: „Siehe, es kommt die Zeit, in der ich dem David einen gerechten Spross erwecken will, der als ein wirklicher König herrschen wird“. Also nicht wie die, die sie erlebt hatten. Das Kennzeichen seiner Herrschaft sollte Recht und Gerechtigkeit sein. Nie mehr sollten sie der Willkür und Grausamkeit eines Einzelnen ausgeliefert sein, sondern der kommende König würde dafür sorgen, dass ihnen allen ihr Recht zuteil wird, als Menschen in Frieden miteinander zu leben. Bezeichnenderweise fehlt in dieser Verheißung jeder Hinweis auf militärische Stärke, was die Israeliten ja gerade mit der guten alten Zeit unter König David, dem Machtmenschen, verbunden hatten. Nein, der Friede, den der kommende König bringen wird, soll kein kalter Friede, nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern ein endgültiger Friede sein.

Die Verheißungen, die Gott durch Propheten wie Jeremia aussprechen ließ, haben Israel in einzigartiger Weise zu einem Volk der Wartenden gemacht, in dem die Hoffnung auf die Zukunft immer wieder über die lähmenden Erfahrungen der Gegenwart siegte und den Blick nach vorn offen hielt. Das hat sich durch die ganze Geschichte des Judentums durchgehalten. „Nächstes Jahr in Jerusalem!“: Mit diesem aberwitzigen Ruf haben sich Juden durch die vielen Jahrhunderte ihrer Zerstreuung in der ganzen Welt voneinander verabschiedet. Die Hoffnung auf bessere Zeiten, auf die Heimkehr zum Zion, konnte durch keine noch so grausige Erfahrung zum Sterben gebracht werden. Sie ist sogar mit in die Gaskammern gegangen und nicht verbrannt. So gesehen ist das jüdische Volk das adventliche Volk schlechthin. Dass diese Hoffnung nur drei Jahre nach dem Grauen mit der Gründung des Staates Israel Realität wurde: dieses Faktum ist ein Wunder der Geschichte, ja ich möchte sagen, es ist fast eine Art „Gottesbeweis“.

II.

Diese durch Jeremias Verheißung entzündete Hoffnung auf einen gerechten König hat dazu geführt, dass Israel hinfort alle seine Führergestalten an diesem Bild gemessen hat, mit der Frage: Bist du der, der da kommen soll? Und es entsprach ihm keiner. Als dann die Zeit kam, in der die Verheißung sich erfüllte, da erkannte man ihn nicht. Denn Gott machte seine Verheißung ganz anders wahr, als sie es erwartet hatten. Anders auch, als Jeremia selbst sie wohl verstand, als er sie von Gott vernahm. Sie hatten einen charismatischen politischen Führer erwartet, der Revolution machen und die Verhältnisse wieder ins Lot bringen würde. Und dann kam einer. Ein Nachkomme Davids, das schon. Aber – ein König?

Einer, der nicht im Palast zu Jerusalem zur Welt kam, sondern unter mehr als dubiosen familiären Umständen in einem Viehstall in der Wüste. Einer, der so eigene Wege ging, dass sogar seine Familie an seinem Verstand zweifelte. Der auf staubigen Landstraßen unterwegs war, zu Fuß. Der nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Die einzigen, die wirklich zu ihm standen, waren ein paar einfache Leute ohne Ansehen. Und dass er auf breiter Front Recht und Gerechtigkeit hergestellt hätte, kann man auch nicht wirklich sagen. Eher andersherum: er litt wehrlos unter der Ungerechtigkeit seiner Zeit, als er in einem Schauprozess zur Strecke gebracht wurde. Schon sehr verständlich da die zweifelnde Nachfrage Johannes des Täufers: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ – „Selig, wer sich nicht an mir ärgert“, lässt der Mann aus Nazareth ihm ausrichten. Wohl dem also, der daran nicht irre wird, dass Gott die Sehnsucht seines Volkes so anders wahr macht, als sie es sich vorgestellt hatten. Ja, der in der Hütte zu Bethlehem zur Welt gekommene Davidssohn ist es, in dem dieser Ruf aus der Tiefe erhört und zugleich korrigiert wird. Er ist der, der da kommen soll. Wer sich von seiner Geschichte anrühren lässt, spürt: Wir kommen von ihm her und gehen auf ihn zu. Und Er kommt – auf seine Weise, leise, aber unaufhaltsam. Dabei kann uns im Licht dieser Jeremia-Verheißung zweierlei aufgehen.

1. Wir leben im Advent Jesu Christi und sehen, wie er die neue Gerechtigkeit aufrichtet. – „Der Herr unsere Gerechtigkeit“: so soll der programmatische Titel des angesagten Königs lauten. Wenn das stimmt, dann ist es auf jeden Fall aus mit unserer Selbstgerechtigkeit, die uns so oft in der Mangel hat und mit der wir uns um das schönste Menschenrecht bringen: unser Leben in Gemeinschaft mit Gott leben zu können. Der Selbstgerechte braucht Gott nicht – er missbraucht ihn allenfalls zur Bestätigung der eigenen Rechtschaffenheit, nach dem Motto: Danke Gott, dass ich nicht so bin wie der da! Niemand ist frei davon. Jeder hat da so seine Vergleichspersonen in der Hinterhand. Wie sehr das Vergleichen und die daraus erwachsende Selbstgerechtigkeit Gemeinschaft kaputt machen kann, das erleben wir ja in unserem Land gerade, und hier im Freistatt besonders bedrückend. Hier ist in dieser Zeit auch einmal von dieser Kanzel ein Wort zu den Debatten um das Impfen nötig. Man kann zu der in der Politik immer breiter erwogene Impfpflicht unterschiedlicher Meinung sein. Der öffentliche Streit darüber, den es ja gibt, steht einer offenen Gesellschaft gut an. Aber der muss so geführt werden, dass man einander nicht die Menschenwürde abspricht. Wenn immer öfter zu lesen und zu hören ist, eine Impfpflicht würde Deutschland wieder zu einem totalitären System machen, wenn gar von „Impffaschismus“ gesprochen wird, dann muss auch in den Kirchen solche „Kritik“ als das benannt werden, was sie ist: Eine schlimme Verharmlosung von Diktatur und Faschismus, und vor allem eine Verhöhnung ihrer Opfer.

Jedenfalls hat der, dessen Name „Gott unsere Gerechtigkeit“ lautet, die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner erzählt und uns vor Augen geführt: Gerecht ist, wer sich selber nicht groß machen muss, sondern wer Gott gegen sich Recht geben kann, indem er an das Recht der Gnade appelliert: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Dasselbe mit Jens Spahns viel zitiertem Satz gesagt: „Wir werden einander noch viel zu vergeben haben.“ Als Gemeinde Jesu nehmen wir dieses Gnadenrecht in jedem Gottesdienst in Anspruch, wenn wir offen eingestehen, dass bei uns nicht alles in Ordnung ist, dass wir Schatten, auch Schuld unbewältigt mit uns schleppen. Das ist das Kyrie, das Eingeständnis, dass nicht ich, sondern nur Gottes Erbarmen mich heil machen kann. Das Gloria, das dann folgt, sagt mir zu: Du bist noch mehr als deine Schatten und Defizite, ich lege dich nicht darauf fest, sondern ich sehe dich als ganze Person mit einer unantastbaren Würde. – Menschen, die aus dem gnadenlosen Zwang heraus sind, immer das letzte Wort haben zu müssen, sind eine Wohltat für das Leben in einer Gesellschaft. Unsere sich in Selbstrechtfertigungen aufreibende Welt braucht dieses Recht der Gnade. Auch dazu ist unverzichtbar, dass es die Kirche gibt.

2. Wir leben im Advent Jesu Christi und sehen, wie er den Schwachen zu ihrem Recht verhilft. Jeremia hat von dem Kommenden gesagt: „Der König wird Recht und Gerechtigkeit im Lande üben“. Das heißt, er wird für das elementarste Menschenrecht eintreten: ungeschmälert Mensch sein zu dürfen. Dieses Recht wird ja in vielen Gesellschaften den ganz Schwachen verweigert. Ihr Recht lag Jesus am Herzen. Deshalb hat er sich unter dem Kopfschütteln der Eliten mit denen an einen Tisch gesetzt, die die anderen zu Parias gestempelt hatten. Darum hat er die schuldig gewordene Frau vor der Stigmatisierung ihrer hochanständigen Ankläger in Schutz genommen. Darum hat er die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt.

III.

Wir nähern uns dem Geheimnis dieses unvergleichlichen Königs der Gerechtigkeit am besten, indem wir uns das Gegenbild vor Augen führen. Nämlich uns. Wir möchten nach oben - Er geht nach unten. Wir halten, was wir durch harte Arbeit erworben haben, beharrlich fest: Geld, berufliche Positionen, Heimat, Familie, unsere Standpunkte. – Er liefert sich total aus. Wir halten uns gern im Umfeld derer auf, von deren Image auch ein Strahl auf uns abfällt – Er sucht die, die unter dem Strich existieren: Prostituierte, Steuerbetrüger, Leprakranke. Wir möchten leben, etwas gelten und Einfluss wahrnehmen – Er nimmt Sklavengestalt an und endet jämmerlich zwischen zwei Verbrechern. Die Geschichte dieses verheißenen Königs, liebe Gemeinde, hat einen unübersehbaren Zug nach unten, zu den Schwachen hin. Deshalb kam er unbehaust in einem Futtertrog zur Welt, nicht in einem Vier-Sterne-Hotel. Und deshalb emdete sein Weg durch diese Welt an einem Folterwerkzeug, wehrlos denen ausgeliefert, die ihn aus dieser Welt wieder weghaben wollten - nicht mit Staatsbegräbnis im Tempel. „Er, der in göttlicher Gestalt war, behielt seine göttliche Macht nicht für sich wie einen Raub, sondern entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod“ dichtet der Apostel Paulus in seinem Christushymnus.

Sicher, das Kreuz führt uns immer wieder vor Augen: Wir werden es mit unserem Einsatz für eine Welt, in der der Mensch nicht des Menschen Wolf, sondern sein Bruder ist, nicht schaffen. Das gehört zur Nüchternheit unseres Glaubens. Aber wenn wir die Augen aufmachen, sehen wir, dass es unübersehbare Signale gibt, dass der am Werk ist, von dem Jeremia angekündigt hat, er werde Recht und Gerechtigkeit bringen. Eine Gemeinde, die von dieser Hoffnung lebt und die betet „Dein Reich komme“, die träumt sich nicht von der trostlosen Erde in einen Wellness-Himmel weg, sondern die tut einfach Selbstverständliches: sie zündet Lichter ihrer Hoffnung an, die in der Nacht dieser Welt aufleuchten und hinweisen auf den Tag, den dem Er kommt und der ohne Abend ist. Die hellsten Lichter in der Adventszeit sind aber nicht die Adventskerzen, so sehr wir sie lieben und brauchen. Uns können sie nicht ersetzen. Die wahren Adventskerzen in dieser Welt: sind wir. Gott selbst hat uns in unserer Taufe angezündet. Und nun wollen wir unser Licht leuchten lassen.


AMEN.

Gottesdienst zum Abschluss der Friedensdekade 2021


gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

Wir haben aus diesen unglaublichen Worten sofort etwas zu lernen, was den Anfang jeder Predigt betrifft. Der Friedenswunsch, mit dem ich Euch eben grüßte, kann nicht nur uns, der christlichen Gemeinde gelten. Sondern Gnade und Friede auch der ganzen Welt! Gnade und Friede also auch denen, die davon nichts wissen wollen, weil sie Nutznießer von gnaden- und friedlosen Verhältnissen sind. Gnade also auch Herrn Lukaschenko in Belarus, und auch Herrn Putin oder Herrn Bachmann von Pegida. Und Friede auch Herrn Kim Jong-Un in Nordkorea, unter dessen Herrschaft gerade wieder Tausende an Hunger sterben. Aber Gnade und Friede auch dem Menschen in meiner Nähe, der mir manchmal unheimlich zusetzt. Gnade und Friede ihnen allen von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Denn, so schärft uns Jesus hier ein: „Wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun dasselbe nicht auch die Heiden?“ Wir wären also schlechte Botschafter einer guten Nachricht, wenn wir diesen Gruß für uns behielten, im heimeligen Kreis der kirchlichen Insider.

I.

Jesus Christus erwartet also Besonderes. Seine Gemeinde – das ist das Unerhörte, das die Bergpredigt so provozierend macht – soll etwas Besonderes sein. Und mit einer ganz besonderen Autorität wird hier ein Einspruch laut gegen das, was uns von vielen Autoritäten gesagt wird. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist – Ich aber sage euch...“. Aber wir, protestantisch bescheiden, wie wir so sind, halten sofort dagegen. Etwas Besonderes sein wollen? Als Christen? Wir sind doch gerade in der Bergpredigt zur Sanftmut und Demut aufgerufen. Es ist ja auch nicht gut gemeint, wenn wir von einem sagen: Der will etwas Besonderes sein! Da ist Misstrauen angebracht. Und so ist es verständlich, dass es an Misstrauen gegenüber den im Namen Jesu versammelten Menschen von Anfang an nicht gefehlt hat. Aber eigentlich ist das gut so. Denn immer, wenn dieses Misstrauen der Welt gegen die Kirche Jesu Christi fehlte, war mit der Kirche ganz bestimmt etwas nicht in Ordnung. Was das konkret heißt, kann man etwa in Russland beobachten, wo die orthodoxe Kirche längst zur chauvinistischen Nationalkirche geworden ist.

Aber was ist denn das Besondere, das die Gemeinde Jesu in der Welt darstellen soll? Was ist dran an der christlichen Gemeinde, dass sie nach Jesu Worten zu allem, was irdisch ist, in einen Gegensatz gerät? Die Antwort Jesu greift hoch. Schwindelerregend. Die Bergpredigt ist ja auch im tieferen, übertragenen Sinn eine Rede von einem Berg aus. Denn ihr Anspruch ist steil, er greift bis zum Himmel. „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“. M.a.W.: das Besondere, das die Kirche darstellen soll, ist Gott selbst. Seine Vollkommenheit soll unsere Vollkommenheit sein. So will es Jesus. Wer so ausgezeichnet ist, wird aber unweigerlich in einen Gegensatz geraten zu allem, was er sonst auf Erden zu hören bekommt. Um ihn herum werden Stimmen laut, die zu diesem Anspruch empört Nein sagen. Denn wer Gott selbst auf Erden darstellt, führt ja der Welt vor Augen, dass alle anderen Rollen, die auf Erden so gespielt werden, gegenüber diesem „Ich aber sage euch“ in Wahrheit ziemlich unwichtig sind. Das war schon bei den ersten Christen so, die sich weigerten, den römischen Kaiser als Gottheit zu verehren und dieses Zeugnis der Einzigheit Gottes mit dem Leben bezahlen mussten. Und es ist bis 1989 bei vielen Christen hier in Ostdeutschland so gewesen, die sich mutig der Erziehung zum Hass auf den „Klassenfeind“ in den Schulen und in dem Waffendienst in der Volksarmee verweigert haben und dafür Ausgrenzung und gravierende berufliche Nachteile in Kauf nahmen.

 

II.

Und nun mutet uns Jesus diese Darstellung von Gottes Vollkommenheit gerade auch im Blick auf Feinde und Verfolger zu. Das ist verstörend, denn es bringt uns in völligen Gegensatz zu allem, was in dieser Welt plausibel ist, was uns der gesunde Menschenverstand sagt. Aber eben, das Evangelium, die Nachfolge Jesu ist keine billige Sache! Es kann uns in schmerzliche Gegensätze bringen. Aber, so sagt Jesus, das soll gerade nicht dazu geschehen, dass die Gräben noch breiter und tiefer werden, sondern es soll zum Heil der Welt, zu ihrem Besten sein! Denn Jesus bringt uns sozusagen in den liebevollsten Gegensatz der Welt! „Gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Und betet für eure Verfolger!“

Was für eine Zumutung: die Feinde lieben! Wer das wirklich ernst nimmt, läuft Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden. Das mindeste ist, dass er, wie das heute in gewissen Milieus als chic gilt, als „Gutmensch“ bezeichnet wird, und das ist dann natürlich verächtlich gemeint. Unsere scheidende Kanzlerin wurde seit der sog. Flüchtlingskrise 2015 immer wieder mit diesem Ausdruck gebrandmarkt. Seltsame Logik: sind denen, die „Gutmenschen“ nicht mögen, also „Bösmenschen“ lieber?! Wie auch immer, wer Feindesliebe praktiziert, setzt sich damit erst recht der Feindschaft anderer aus. Er macht sich angreifbar. Der Kabarettist Hanns-Dieter Hüsch hat dieses Jesuswort so gedeutet: „Liebe deine Feinde - nichts wird sie mehr ärgern!“ Jesus hat es so wohl nicht gemeint - aber das hat schon was. Denn es drückt das Bezwingende aus, das eine unbefangene Feindesliebe ausstrahlt. Auch da können wir nur 32 Jahre zurück denken und uns an das berühmte Wort eines SED-Häuptlings nach der gewaltlosen Revolution erinnern: „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet – nur nicht auf Kerzen und Gebete“.

Aber Jesus meint es eben doch noch anders. Seine Feinde lieben, das heißt nicht, eine besonders subtile Gegenoffensive der Großmut und Sanftheit starten, sondern es heißt: dem, der mein Verderben will, ohne Rüstung und ohne Waffen entgegen gehen. Seine Feinde lieben, das heißt: das Freund-Feind-Verhältnis einseitig für beendet erklären. Was wir ihnen gegenüber sagen und tun, soll eben nicht böse, auch nicht listig oder taktisch sein, sondern: liebevoll. Als christliche Gemeinde sind wir dazu aufgefordert. Und das ist und bleibt eine Herausforderung sondergleichen an uns. Kein Wunder, dass deshalb immer wieder bedeutende Politiker, keineswegs Atheisten, gesagt haben, man könne mit der Bergpredigt unmöglich in der Welt regieren. Bismarck, ein frommer Christ, der die Herrnhuter Losungen auf dem Nachttisch liegen hatte, hat das behauptet. Und in den 80er Jahren auch der Protestant Helmut Schmidt gegenüber der Friedensbewegung. Alle Erfahrung spricht dafür, ihnen Recht zu geben. Ich weiß auch nicht, ob man mit der Bergpredigt Politik machen kann. In unserer evangelischen Kirche, die kein Lehramt kennt, das verbindlich festleget, was wahr und was falsch ist, wird immer wieder offen über friedensethische Fragen diskutiert und gestritten. Vor einigen Jahren etwa, als es darum ging, wie der Terrorherrschaft des IS in Syrien und Irak zu begegnen ist. Da war Margot Käßmann, die als überzeugte Pazifistin militärische Interventionen und Waffenlieferungen in Krisengebiete ablehnt. Sie hat sogar mal den verwegenen Gedanken ausgeworfen, wie es wäre, wenn Deutschland auf eine Armee verzichten würde. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem”, zitiert Käßmann Paulus, und führt Gandhi, M.L. King und Mandela als Vorbilder an. Einen anderen Weg ging der gerade aus dem Amt geschiedene EKD-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. Er befürwortete seinerzeit einen internationalen Militäreinsatz im Irak, weil - ich zitiere ihn - „die schwächsten Glieder, in diesem Fall die Flüchtlinge, die Fürchterliches erlebt und panische Angst haben, geschützt werden müssen.“ Und sein Lehrer und Vorgänger Wolfgang Huber sagte: „Für mich schließt das Gebot ,Du sollst nicht töten‘ auch das Gebot ein: ,Du sollst nicht töten lassen‘. Unsere Verantwortung für den Frieden kann im äußersten Notfall den Einsatz von Waffengewalt einschließen. Wir werden auch dann schuldig, wenn wir die Opfer des IS allein lassen.“ – Wer hatte nun Recht? Ich tendierte damals eher zu Bedford-Strohms und Hubers Urteil - aber sicher war und bin ich nicht. Jedenfalls hat der frühere Bundespräsident Johannes Rau, auch er ein überzeugter evangelischer Christ, auf die These, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen, lakonisch entgegnet: „Aber ohne die Bergpredigt könnte ich erst recht keine Politik machen.“

III.

Unterschiedlichen Folgerungen aus demselben Glauben: das hat es in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. Auf der einen Seite der Versuch, bereits hier so zu leben, wie es der Blick himmelwärts verheißt. Auf der anderen Seite drängt es Christen, hier und jetzt in Jesu Namen Verantwortung zu übernehmen für die Welt, für die Leidenden - in dem Bewusstsein, dass es Situationen gibt, in denen jedes Handeln uns schuldig werden lässt.

Ein weltfremder Naivling und Phantast ist der Jesus der Bergpredigt jedenfalls nicht. Etwas in unserem Text lässt mich aufhorchen. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. M.a.W.: Gott selbst geht mit gutem Beispiel voran! Er gewährt der ganzen Welt, und nicht nur seinen Freunden, die nötigen Mittel zum Leben. So gibt er uns unaufdringlich zu verstehen, dass er nicht unser Vater sein will, ohne zugleich der Vater aller Menschen zu werden, auch derer, die nicht seine Kinder sein wollen. Was uns unmöglich erscheint, Gott leistet sich das: Nichts kann ihn darin irre machen, dass er Gott der Vater ist, der für alle seine Kinder sorgt. Mit übermenschlicher, eben göttlicher Geduld bleibt er denen nahe, die meinen, es ginge auch ohne ihn.

Aber das demonstriert er uns nicht nur natürlich, durch Sonnenschein und Regen, sondern auch noch höchst persönlich! An uns selber nämlich hat Gott anschaulich gemacht, was es heißt, seinen Feind zu lieben. Denn was ist die christliche Gemeinde, was sind wir alle anderes als die Versammlung der begnadigten, gerechtfertigten Feinde Gottes? Das ist die Pointe unseres Textes: In ihr, der Christengemeinde, soll sich Gottes Feindesliebe darstellen. Das ist das Besondere, worin wir uns von der Welt unterscheiden. Und deshalb ist diese Aufforderung nicht eine Zumutung, sondern eine Ehre, eine Auszeichnung. Warum? Weil Gott ja selbst das an uns vorexerziert hat, was es heißt, ein Freund-Feind-Verhältnis einseitig für beendet zu erklären. Und das hat er nicht mit großen Worten proklamiert. Sondern er hat es an sich selbst erlitten, was das heißt: seine Feinde lieben und für seine Peiniger beten. „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“: Am Kreuz, liebe Gemeinde, wird Feindesliebe konkret. Da sieht man, was einseitige Abrüstung ist. Das ganze NT ist eine einzige Abrüstungsverlautbarung.

Liebe Schwestern und Brüder,

so wie Sonne und Regen natürliche Gleichnisse für Gottes Liebe zu allen Menschenkindern sind, so soll also unser Leben als Christen ein persönliches Gleichnis für unseren himmlischen Vater sein. Denn wo Menschen anfangen, ihre Feinde zu lieben und für ihre Verfolger zu beten, wo sie aufhören, selber etwas darzustellen und anfangen, Gott selbst darzustellen, da werden sie Gottes Kinder. Und dazu ist man nie zu alt. Und so grüßt die Gemeinde Jesu als die Versammlung aller begnadigten, ja geliebten Feinde Gottes die feindliche oder einfach nur gleichgültige Welt und wünscht ihr das, was sie wirklich braucht: nämlich Gnade und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.


AMEN.

Predigtreihe »Heilige Dinge«
Predigt zu »Das Buch«


gehalten von
Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Es ist nichts Besonderes. Fast immer ist er so dargestellt, wie auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche. Martin Luther. Im Gelehrtenmantel mit aufrechtem Blick, in der einen Hand das Buch; die Heilige Schrift; die andere Hand zur Faust geballt scheint auf die Buchdeckel zu pochen. Hunderte solcher Lutherdarstellungen gibt es. Und wer die Bilder von der Zerstörung der Frauenkirche 1945 im Netz sucht, findet Fotos mit der abgestürzten Luther-Figur, und noch immer klopft der Reformator mit seiner Faust auf die Bibel, auch wenn die Lutherrezeption der Nazis zu Recht vom Sockel gestoßen werden musste. Nicht wenig später ist er dann wieder – noch vor der ruinierten Stadt – auf dem Sockel zu sehen. Wie zum Trotz. Wie zum Trost. Verbum manet in aeternum. Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit.

Heilige Dinge – das Buch.

Nicht nur zum Reformationstag, aber das gerade muss die neue Themenreihe der Abendgottesdienste in der Frauenkirche zur Widerspruch reizen. Denn nach evangelischem Verständnis gibt es keine Heiligen Dinge. Immer sind es Menschen, die geheiligt oder gesegnet werden, keine Sachen oder Gegenstände. Wenn man aber die Dinge darauf hin befragt, wofür sie stehen und inwiefern sie das Heilige beherbergen können, dann gewinnt diese Themenreihe ihr Recht. Zumal zum Auftakt am Reformationstag mit dem Buch.

Ist es nicht so, dass Bücher eine ganz eigene Faszination haben? Es heißt, das Buch sei nicht tot zu kriegen, trotz Hörbuch und Kindle – es ist schön, etwas in der Hand zu haben. So wie Luther sich praktisch an diesem Buch festhält, auch als er vor dem Kaiser in Worms steht – in diesem Jahr vor 500 Jahren – und nicht wiederruft, sondern sich auf die Schrift beruft. Nur von ihr würde er sich überzeugen und seine Aussagen widerlegen lassen. Und wie gern schlage ich die ersten Seiten eines Buches auf, wenn es noch frisch riecht und die ersten wie eine Verheißung sind auf das, was in der nächsten Zeit für mich zu entdecken sein könnte, in den Wochen oder Monaten, in denen ich es immer wieder in die Hand nehme oder es gar durchlese.

Antiquare haben so einen heiligen Umgang mit Büchern. Manchmal verrät schon ihr Geruch etwas über die ehemalige Nutzung oder Missachtung des Werkes. Manchmal sind es Entdeckungen wie die eines Schatzes, der ungeborgen bei einer Wohnungsentrümpelung zum Vorschein kommt. Natürlich gibt es auch die Bücherflut, eine Verramschung des gar zu Populären oder der abseitigen Interessen, die Fehlgriffe von Lektoren in den Verlagen, die zwanghaften Veröffentlichungen, die Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen wollen oder die Öffentlichkeit von der eigenen Wichtigkeit überzeugen wollen.

Die Aufforderung „lies doch mal ein gutes Buch!“ – wie meine Mutter immer sagte, kann einen auch überfordern; nicht nur weil die Auswahl an Büchern zu groß war, um Qualität wirklich beurteilen zu können, sondern auch, weil ein Buch mehr Aufmerksamkeit fordert, als ich zu geben bereit bin.

Bücher – so möchte ich einmal sehr profan formulieren – sind deshalb heilig, weil sie eine Begegnung mit einem Autor und mit Figuren oder Inhalten fordern, die mit nach dem Lesen des Buchklappentextes nur eine vage Vorstellung geben. Erlesen ist ein Buch dann, wenn diese Begegnung mit diesem Fremden zu einer guten, hilfreichen oder erhellenden Erfahrung geführt hat. Welches Buch würden Sie nie weggeben? Das ist so eine Frage nach dem Erlebnis, das mit Büchern machen kann. Erlebnisse, die über eine Planbarkeit hinausgegangen sind. Irgendwie heilige Erfahrungen, weil sie mich aus den alltäglichen und gar zu erwartbaren Erlebnissen hinausgeführt haben.

Heilige Dinge – das Buch: Im spezifisch religiösen Sinne hat das Buch natürlich noch eine andere Bedeutung. Es gibt sogenannte Buchreligionen. Das Judentum, das Christentum, der Islam gehören dazu. Gemeint sind Schriften, die zu einem Kanon gesammelt wurden, weil sie von Gotteserfahrungen zeugen. In Form der Erzählung, in gedichteter Form, als Prophetie, als Brief, als Literatur, die inspiriert ist; d.h. die begeistern konnte, weil ein Heiliger Geist in ihr lebendig war oder lebendig werden soll.

Sola scriptura – allein die Schrift, heißt es in der Reformation. Allein der Glaube, allein Christus. Das sind die Grundschneisen der religiösen Hermeneutik im Christentum, die durch die lutherische Reformation geschlagen wurden. Damit gewann die Überlieferung der biblischen Schriften des Alten wie des neuen Testamentes einen herausgehobenen Status. Heilig sind sie insofern, dass sie dem Profanen enthoben werden, weil sie zum Sprachrohr göttlicher Botschaft zu jeder Zeit werden können.

Das Buch, das Luther in Händen hält, war zu seiner Zeit allerdings noch etwas sehr Neues. Dieses neue Medium gab es noch nicht lange. Wenn Luther damals schon als Skulptur so dargestellt worden wäre, wäre das etwa so, wie wenn wir heute einen markanten Glaubenszeugen mit dem Notebook in der Hand zum Himmel weisen sähen. Nicht das neue Medium ist das Heilige. – Noch zu Luthers Zeiten waren es noch eher Schriften, Blätter, Pergamente, Rollen. Der Inhalt, die Schrift, also eigentlich die Botschaft in der Schrift ist das Heilige, auf das Luther pocht, und nicht nur er:

Zwei biblische Figuren habe ich als Lesung für diesen Gottesdienst ausgewählt, die die Heiligkeit der Schrift in besonderer Weise zum Thema machen. Aus den Propheten des 1. Testaments im Judentum Hesekiel oder Ezechiel, wie er auch genannt wird, und 2. Testament Philippus mit dem Kämmerer aus Äthiopien. Philippus ist ja hier in der Kirche ganz im Altar stehend dargestellt. Mit dem Wanderstab in der Hand. Das Buch dazu liefert der Kämmerer.

Hier nicht dargestellt, aber das ist die Geschichte über Philippus. Der reiche Kämmerer der Königin von Äthiopien sitzt auf seinem Wagen und hat gerade eine Schriftrolle gekauft. Die des Propheten Jesaja. Und er lädt den wandernden Philippus ein und gibt ihm eine Mitfahrgelegenheit. Und die beiden kommen ins Gespräch. Der christliche Apostel deutet dem Fremden die Heilige Schrift; und der versteht nicht nur, sondern ist erfüllt von dem, was Philippus ihm im Gespräch eröffnet.

Das ist die große Chance von Mitfahrgelegenheiten. Menschen begegnen sich auf Zeit. Gerade das führt oft dazu, dass intensive Gespräche entstehen. Manchmal ist gerade der Fremde der richtige Gesprächspartner, weil die Anonymität des Gegenübers mir die Chance gibt, mich weiter zu öffnen, als ich das bei einem Bekannten tun würde. Die ganz andere Perspektive des Fremden kann mir den Blick weiten und mich über eigene Horizonte hinausführen. Und schon werden die Gespräche wesentlich, werden zu neuer Wegweisung im Leben. Die Begegnung zweier Menschen über der Schrift haben das Potential zu Gottesbegegnung zu werden.

Und der andere: Hesekiel: Was Gott ihm sagt, schmeckt ihm nicht. Die Bibel schmeckt uns an vielen Stellen nicht. Sie ist schwer zugänglich. Das Buch lässt sich nicht lesen wie ein Roman. Durchlesen geht praktisch nicht. Man muss ungefähr die Zeiten kennen, in denen die verschiedenen Schriftrollen der Bibel entstanden sind, um zu verstehen. Und nicht alles schmeckt uns, weil es sofort unsere Zustimmung finden würde. Manche Botschaft fordert mich heraus. Nicht nur mein Verstehen, sondern auch meinen Willen, mich darauf einzulassen und erst einmal hinzuhören. Die Bibel sagt mir nicht immer das, was ich gern hören möchte. Auch und gerade darin ist sie heilig. Sie ist in ihrer Rätselhaftigkeit eine Chance, mich so lange an ihr zu reiben, bis sie die Wahrheit auch für meine konkrete Lebenssituation heute aufschlussreich macht. Das ist eine geistliche Übung, zu der nicht viele bereit sind, weil wir von so vielen Worten, Schriften und Botschaften umgeben sind, aus denen wir in kürzester Zeit auswählen müssen, und vieles einfach zu Seite legen, weil es zu viel Kraft kostet. Kein Wunder, dass da die Bibel mit ihren oft schwer zugänglichen Botschaften schnell unter die Räder kommt. Und doch gibt es wohl etwas wie eine Ahnung, es könne sich lohnen, zumindest ein solches Buch im Bücherregal zu haben. Und sei es nur ein Symbol dafür, dass die Trauung, die Taufe oder die Konfirmation damals als wir die Bibel geschenkt bekommen haben, ein Meilenstein in unserem Leben waren, von dem wir hoffen, dass ein göttlicher Segen davon zu uns strömt.

Und manchmal erwacht eine innere Gewissheit.
Vielleicht ein Traum, der in Erinnerung bleibt. So etwas wie ein innerer Ruf.
Eine Ahnung, dass unser Weg nicht so bleiben kann. Die Gewissheit, dass etwas falsch läuft im persönlichen Leben oder mit einem ganzen Volk.

Hesekiel kam in einen inneren Widerspruch. Einerseits fühlte er sich seinem Volk verbunden, andererseits wurde eine Stimme in ihm laut, die nicht mehr zu überhören war. Das Leben, das wir führen, steht nicht mehr im Einklang mit dem guten Willen für diese Welt. Verstockt im Widerspruch. Dagegen ohne jeden Sinn und Verstand. Jeder weiß es besser und für sich allein, was er will. Gemeinschaft und Solidarität sind verloren. Niemand fragt nach einem großen sinnstiftenden Zusammenhang. Ein Gottesbewusstsein verblasst zur Unkenntlichkeit. Du nicht, hört der Prophet Hesekiel. Widersprich nicht und öffne dich. Du sollst es sagen. Du sollst es sein, damit niemand sagen kann, es wäre kein Prophet, kein Gottesbote dagewesen, wenn die Katastrophe kommt. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde. Eine bittere Botschaft. Schon die Vorstellung im Traum. Eine Schriftrolle essen.

Heilig ist ein Buch dann, wenn beim Lesen die Erkenntnis wächst: Auch wenn Gott uns Hartes zumutet, Worte, die wir selbst nie wählen würden, die uns nicht schmecken, er will Gutes und Segen. Er will, dass unser Leben heil wird; das persönliche, das in der Gemeinschaft mit anderen, das der ganzen Welt und Heilung der Zeit bis zur Ewigkeit. Im Traum, in der Vision: Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.

Manche Heilsgewissheit, geht über den mit dem Verstand fassbaren Sinn hinaus. Man muss sie sich geradezu einverleiben. Deshalb lebt ein Gottesdienst- gerade auch der protestantische – zwar über weite Strecken vom Wort. Das Heilige Essen aber gehört eigentlich dazu. Natürlich können wir kaum beschreiben, was uns während der Pandemie gefehlt hat, wenn das Abendmahl nicht gefeiert werden konnte. Aber ein Wunsch, Gottes Botschaften mögen uns auch auf tieferen Ebenen erreichen, der bleibt in Vielen lebendig. Und das nicht nur aus einer Gewohnheit heraus, oder aus Tradition. Die Bitte um das Mahl vor dem Altar heißt immer auch: Rede zu uns. Sei nicht ferne. Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.

Für Martin Luther war das Buch nicht heilig. Aber die Schrift – sola scriptura. Er hat wohl auch sehr gern gegessen und getrunken. Seine Tischreden zeugen davon. Aber das Essen an sich ist nicht heilig. Aber er wusste mit seiner Kirche um das sichtbare Wort. Verbum visibile im Sakrament. Das war ihm heilig. Und der gläubige Mensch erwartet eine Wirkung aus diesem Essen.

Einen Vorgeschmack auf die Ewigkeit.
Eine Gemeinschaft im Namen des Höchsten.
Eine Nähe zu Jesus Christus und seinen Jüngern und zum Kreuzesgeschehen, wie in der Nacht, da er verraten ward.

Heilige Dinge – nur wenige gibt es nach protestantischem Verständnis.
Das Wort gehört dazu. Und als Sinnbild dafür dann auch das Buch.


AMEN.

Evangelisch – was ist das?

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik


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Reformationstag. In früheren Zeiten - so lange sind sie noch gar nicht her -, war das ein Tag der ganz hohen Töne. Wo zum Reformationstag dröhnend die Fanfare geblasen wurde: „Ich bin stolz, Protestant zu sein!“ Martin Luther als der Mann, der allein und todesmutig Kaiser, Papst und dem Rest der Welt die Stirn geboten hat. Die Reformation als die große Befreiungsbewegung, die die Menschen vom Joch klerikaler Bevormundung befreit und ihnen Glaubens-, Geistes- und Gewissensfreiheit gebracht hat. Und natürlich auch Luther als Geburtshelfer einer selbstbewussten Nation mit gemeinsamer Sprache und Kultur.

Nun ja. Wie an allen Klischees ist all dem ja auch einiges dran. Aber spätestens seit der Zeit, wo man das „Reich, das uns doch bleiben muss“, mit dem sog. ‚Tausendjährigen Reich‘ verwechselte, sind uns Protestanten solche Töne gründlich vergangen. Gut so. Nicht so gut, sondern eigentlich die Kehrseite derselben Medaille ist es, dass wir Protestanten über dem Bemühen, bloß nicht so etwas wie protestantischen Stolz zu zeigen, recht verdruckst geworden sind. Für mich zeigt sich das auch darin, dass wir uns immer wieder neu die anstrengende und angestrengte Frage vorlegen: Evangelisch, was ist das eigentlich?

Eine Frage, die selbst schon typisch evangelisch ist! Es hat ja was Sympathisches, sich immer wieder auf den Grund zu gehen. Aber es ist auf Dauer auch anstrengend. Die katholischen Mitchristen fragen sich so etwas viel weniger. Die sind es einfach, katholisch, in einer Selbstverständlichkeit, die uns dauerreflektierenden Protestanten fremd ist, um ich man sie aber beneide. Wenn Sie mit einem der hierzulande ja die große Mehrheit ausmachenden „liberalen Katholiken“ sprechen, der dann die notorischen Leiden an seiner Kirche anspricht: Hierarchie, Klerikalismus, Zölibat, Männerherrschaft, Sexualethik usw., dann wäre ja eigentlich eine naheliegende protestantische Frage: Warum kommst du nicht zu uns? Bei uns ist ja das meiste verwirklicht, was dir in deiner Kirche fehlt. Aber häufig habe ich dann erlebt, dass der typisch „liberale Katholik“ mir sehr selbstverständlich entgegnete: „Warum sollte ich zu euch übertreten? Ich bin doch katholisch!“ Diese Selbstverständlichkeit hat für uns etwas Irritierendes. Aber sie ist auch entlastend. Katholische Christen müssen ihr Katholischsein, anders als wir, nicht immer wieder neu erfinden und rechtfertigen. Das ist alles irgendwie immer schon da, und mehr und größer als der einzelne Mensch mit seiner Kirchenkritik.

Was könnten wir nun antworten, würden wir gefragt, warum wir evangelisch sind? Das eine oder andere würde mir dann hoffentlich einfallen. Die erste, banalste Antwort: ich bin evangelisch getauft. Meine Vorfahren waren es auch. Auf diesem Boden bin ich gewachsen, er hat mich mit zu dem werden lassen, was ich bin. Meine Eltern haben mir als erste die biblischen Geschichten erschlossen, haben zum Einschlafen Paul Gerhardts Liedstrophe „Breit aus die Flügel beide“ mit mir gebetet. Später wollte ich einige Pubertätsjahre lang von all dem wenig wissen. Das war damals gut und notwendig. Aber je älter ich werde, desto dankbarer bin ich für das, was ich als Kind mitbekommen habe. Ich verdanke dieser Abkunft vermutlich mehr, als ich weiß.

Weitere mögliche Antwort: Ich möchte die Ursprünge der speziell evangelischen Art zu glauben bewahrt sehen. Das angstfreie Nachfragendürfen, das Zutrauen in das Wort, das aus sich selber heraus wirkt und kein großes Brimborium und Inszenierungen braucht. Das Persönliche, die Eigenverantwortung, die Bereitschaft, ‚Ich‘ zu sagen. Deshalb will ich unsere Kanzeln besetzt sehen von Frauen und Männern, die dem oft sperrigen Bibelwort verpflichtet bleiben und nicht dem Mainstream. Und sie sagen, was sonst nicht zu hören ist in einer Welt, die immer mehr auf die Macht der Bilder und die einfachen, unterkomplexen Botschaften fixiert ist.

Und dann natürlich auch: Die Pflege unserer großartigen protestantischen Musikkultur, um die uns so viele beneiden. Nicht umsonst nennt man Bach den „5. Evangelisten“. Albert  Schweitzer, der nicht nur ein berühmter Arzt und bedeutender Theologe war, sondern auch ein großartiger Organist und führender Bach-Forschers einer Zeit, hat zu Bach den wunderbaren Satz geprägt: „Nicht Bach, Meer müsste er heißen, so unergründlich und tief ist seine Musik!“ Bachs Musik, unter die er immer das berühmte „s.d.g.“ notierte, das Soli Deo Gloria, hat mehr Menschen einen Weg zum evangelischen Glauben erschlossen als gute Predigten. Was, nur nebenbei bemerkt, gar nicht heißt, dass in unseren Gottesdiensten nicht auch Keyboard, Gitarre und Schlagzeug ihren Platz haben sollen. Auch die gehören längst zur protestantischen Musikkultur dazu.

Schließlich: ich will mich nicht von der Trägheit derer anstecken lassen, die ihrer Kirche so schnell den Rücken kehren, weil ihnen dieser Pfarrer oder jenes Bischofswort oder auch der Papst nicht passt. Was glauben Sie, wie viele Protestanten aus der Kirche austreten „wegen dem Papst“?! Und ich will mich nicht geistlich über die überheben, die die einfache, aber ernstzunehmende Frage stellen: was bringt es mir, dass ich zur Kirche gehöre? Was hab‘ ich davon? Es ist eine Stärke des Protestantischen, auch auf solche Fragen Antworten zu finden.

„Evangelisch aus gutem Grund“ hieß einmal eine Broschüre. Ja, es gibt viele gute Gründe, die wir hoffentlich präsent haben, wenn wir gefragt werden, warum wir evangelisch sind. Der allerbeste Grund aber ist der, den wir nicht plausibel machen können und müssen, einfach weil wir auf ihm stehen und gehen können. Wohin? In jene „feste Burg“, als die Luther unseren Gott besungen hat. Dass deren Tore nicht hermetisch abgeriegelt sind gegen Fremde und Feinde, sondern sperrangelweit offen stehen für dich und mich: darauf möchte ich dann doch auch etwas stolz sein.

Freihälse werden

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Das kann man nicht flüstern oder im Plauderton sagen. Dann wird der Satz läppisch. Dabei ist er ein Fanfarenstoß. Die Zeiten waren ja auch lange genug so, dass zum Reformationstag in der evangelischen Kirche die Fanfaren besonders laut geblasen wurden. Martin Luther Superstar als Praeceptor Germaniae, als Ahnherr einer selbstbewussten deutschen Nation mit gemeinsamer Sprache und Kultur. Davon transportiert auch der heldisch dreinschauende Luther draußen auf dem Neumarkt etwas.

Nun ja. Da ist ja auch einiges dran. Aber nicht erst das Reformationsjubiläum 2017 hat gezeigt: Diese Töne sind uns vergangen. Wir haben in der Geschichte unserer Kirche, auch in der Geschichte Deutschlands zu oft erfahren, wie weit weg wir von jener Freiheit waren, oder sie auch oft missbraucht haben, in der Luther dichten und singen konnte: „Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr Kind und Weib, / lass fahren dahin, / sie haben’s kein Gewinn. / Das Reich muss uns doch bleiben.“ Was von solch wuchtigem Freiheitspathos übriggeblieben ist, ist, dass die Evangelische Kirche mit einem selten gewordenen Anflug von Selbstbewusstsein sich Kirche der Freiheit nennt.

I.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Dieser biblische Fanfarenstoß erklingt zunächst über der Landschaft Galatiens an der kleinasiatischen Küste, und hallt über zwei Jahrtausende nach bis zu uns heute. Freiheit: das ist ein hoher Ton. Wenn wir heute von Freiheit reden, meinen wir es sehr anders als zu Luthers Zeiten. Auch anders als in vielen Teilen dieser Erde. Politisch gibt es bei uns ein weites Spektrum, unsere Gesellschaft ist prinzipiell durchlässig. Wenig ist bei uns von vornherein festgelegt, jede und jeder kann sich selbst erfinden. Ob ich mein Leben in einer bestimmten Weise leben möchte oder anders, ist zunächst einmal meine persönliche Angelegenheit. Niemand darf mich zwingen: Familie nicht, Religion nicht, Konventionen nicht. Weil aber die Freiheit aber für uns so selbstverständlich geworden ist, ist ihr etwas abhandengekommen: Das Ausrufezeichen, das Paulus hinter seinen Gedanken gesetzt hat. Die enorme Kraft. Die Sehnsucht, die in diesem Wort steckt: Freiheit!

„Freiheit, die ich meine“, wurde ein Jahrhundert lang in Deutschland patriotisch gesungen. Aber welche Freiheit meine ich denn? Die, über meinen Körper selbst zu verfügen, also zu entscheiden, ob ich mich impfen lassen oder nicht? Das ist die Freiheit von - in diesem Fall einer verordneten Impfplicht. Oder geht es um die Freiheit auch des anderen, also das Gemeinwohl an erste Stelle zu setzen und durch eine Impfung auch andere zu schützen? Das ist die Freiheit zu - in diesem Fall zu Gemeinsinn gegenüber Individualismus. Was für ein Potential an Erhitzung, ja Spaltung in der Interpretation von Freiheit steckt, wissen wir. Hier im Freistaat wissen wir es nur zu gut.

Was ist Freiheit für Sie? Vor nichts und niemandem Angst haben müssen? Keine Grenzen kennen, alles ist erlaubt: Wär’s das? Oder: mich frei strampeln, indem ich allen Ansprüchen genüge, die andere an mich stellen, von morgens bis abends? Das war Martin Luthers Projekt vor über 500 Jahren. Alles Mögliche hatte er unternommen als Erfurter Augustiner-Mönch, um nicht nur vor der Welt, sondern v.a. vor Gott bestehen zu können. Waschen, Fasten, Beten, Pilgern, Studieren, auf nacktem Fußboden schlafen. Spirituelle Selbstoptimierung, buchstäblich bis zum Gehtnichtmehr. Denn genau das spürte Luther irgendwann: ich kann es nicht, so geht es nicht mehr! Verzweiflungsspirale. Bis ihm endlich, endlich - durch ein Wort desselben Paulus - wie Schuppen von den Augen fiel: Die ersehnte Freiheit kann ich nicht erarbeiten. Sie wird mir geschenkt. Umsonst. Von Gott. Ich bin bei Gott unbedingt geliebt: nicht wegen meiner Integrität, sondern trotz all meiner Halbheiten und Peinlichkeiten. Sola gratia - allein aus Gnade. Das Beste im Leben gibt es gratis. In der Rückschau schreibt Luther ein Jahr vor seinem Tod, es habe sich damals für ihn angefühlt, als hätten sich die Tore zum Paradies geöffnet. Eine grundstürzende Lebenswende.

Diese geschenkte Freiheit hat Martin Luther eine unglaubliche innere Kraft gegeben. Das bezeugt sein Auftreten vor Kaiser und Fürsten vor genau 500 Jahren in Worms. Ob er das mit dem „Hier stehe ich“ nun in echt gesagt hat oder ob es nur eine fromme Legende ist. Entscheidend ist, dass dieses Wort der Haltung entsprach, in der er die Tage in Worms durchhielt: klar und unbeirrt bleiben, sich nicht beugen vor dem, was in Welt und Kirche mächtig ist. Ein Christ beugt sich vor keinem anderen Menschen. Wohl aber für andere Menschen. Freiheit, die Gott mir schenkt, kommt erst dann zur Erfüllung, wenn sie auch meine Mitmenschen freier macht und aufrichtet. Es ist mit dieser Freiheit wie mit dem Glück: wenn ich sie teile, wird sie nicht kleiner, sondern verdoppelt sich. Auf eine nie vergessbare Weise haben das die Berliner in der Nacht des 9. November 1989 erlebt. Deshalb hat Luther drei Jahre nach seiner umwälzenden Freiheitserkenntnis eine seiner wichtigsten und schönsten Schriften „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ überschrieben. Sie beginnt mit einem berühmten Doppelsatz, der genau das sagt, was das ist mit der geschenkten und geteilten Freiheit, und dem Sich-Beugen nicht vor, aber für andere: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Klingt total paradox. Aber gerade darum ist es wahr. Besser, schöner, genauer lässt sich Freiheit, christlich gesehen, nicht in Worte fassen.

II.

"Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und fallt nicht wieder in die Knechtschaft zurück." Paulus wusste, warum er das den Christen in den galatischen Gemeinden so mit Ausrufezeichen ins Stammbuch schrieb. Denn dort hatten sich Zweifel breitgemacht, ob das denn wirklich ausreicht, das Vertrauen auf Christus allein. Diese Zweifel fingen an, das neue Freiheitbewusstsein zu zerfressen: Braucht es nicht doch bei Gott eine entscheidende Zusatzbedingung? Eine Premiumcard, die sicherstellt: jetzt bist du Gott recht!? Für die Galater hieß diese Premiumcard Beschneidung. Viele von ihnen waren aus dem Judentum zum Christusglauben gekommen. Dieses wichtige äußere Zeichen der Gotteskindschaft: war das jetzt wirklich entbehrlich? Ist das nicht ein Zuviel, ja ein Missbrauch der christlichen Freiheit, auf die Beschneidung, dieses wichtige Zeichen, zu verzichten? In anderer Art stieß auch Martin Luther 1500 Jahre später auf ein solches Premiumcard-Denken. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“. Ein unter PR-Aspekten genialer Satz in den „Ablasspredigten“ des wortmächtigen Dominikaners Johannes Tetzel. Die verlockende Idee, man könne sich in die Gnade Gottes einkaufen. Mit Brief und Siegel. Sicher ist sicher. Aber was ist das für ein Gottvertrauen, das auf dem Abschluss irdischer Zusatzpolicen beruht? Diese bohrende Frage, die Luther nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, war die Geburtsstunde dessen, was zur Reformation wurde. Ein zum Protestantismus konvertierter ehemaliger Katholik sagte mir einmal: „Um Luther wirklich zu verstehen, muss man eigentlich katholisch gewesen sein.“ Sehr zugespitzt gesagt. Aber nachdenkenswert.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und fallt nicht wieder in die Knechtschaft zurück.“ Die Erinnerung des Apostels ist wohl zeitlos aktuell. Denn: Neben jeden Tempel der Freiheit, so sagte Luther einmal drastisch, baut der Teufel eine Kneipe der Unfreiheit. Wir Deutschen wissen, wie sehr wir von Zeit zu Zeit diese Erinnerung brauchen. Wer von der ersehnten Freiheit gekostet hat, wird sie hüten wie einen Schatz. Der will nicht mehr zurück in die Unfreiheit. Denken wir. Aber es hat ja seinen Grund, dass Paulus mahnt: „Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ So sehr Menschen sich nach Freiheit sehnen, so schwer ist sie zu leben. In unserem wieder vereinten Land mühen wir uns seit 31 Jahren damit ab, inzwischen eher wieder mehr als noch vor einigen Jahren. Man kann es aber auch in ganz Persönlichen sehen. Wie befreiend es für einen Menschen ist, dem Gefängnis einer Beziehung entronnen zu sein, die nicht gut für sie/ihn war. Wo man sich auf fatale Weise ineinander verstrickt hat. Wo selbst ein harmloser Abend mit Freunden in einer Eifersuchtsszene endet. Manch eine wagt das Ende mit Schrecken und fängt an, ein eigenes Leben zu gestalten. Vorsichtig, im Wissen, dass der Weg in die Freiheit lang und steinig ist. Manche schaffen es. Andere nicht. Ehe sie sich versehen, haben sie sich wieder in eine ungesunde Beziehung verstrickt, werden wieder abhängig. Liebe als Knechtschaft. So sehr also die Freiheit ersehnt wird, so schwer ist sie auch auszuhalten. „Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen." Das spricht auch sehr in das heutige christliche und kirchliche, aber auch gesellschaftliche Leben hinein: Das Verhaftetsein im Gewohnten und Vertrauten, obgleich man hofft, vieles möge grundlegend anders werden. Die Schwerkräfte eines angenehmen Lebensstandards, zugleich eine Sehnsucht nach mehr Einfachheit, spielerischer Leichtigkeit und klimagerechten Leben.

III.

Anders als unsere Politiker, die diese Spannung auszutarieren versuchen (müssen?), zeigt Paulus klare Kante. Entweder - oder. Christus allein genügt, solus Christus. Wer ihm glaubt, bekommt die Freiheit, nach der er sich sehnt. Ich finde eine sprachliche Entdeckung erhellend. Unser deutsches Wort Freiheit hat seine Wurzel im mittelalterlichen Wort Freihals. Freihälse, sagen Sprachforscher, waren solche, die im buchstäblichen Sinn freie Hälse hatten: Leute, deren Hals nicht in einem Sklavenring steckte. Auf deren Schultern keine fremde Last aufgeladen war. Niemand, auch der Mächtigste nicht, durfte einen Freihals vor den eigenen Karren spannen. Kein König, kein Bischof, kein Richter. So also, als Freihälse, ohne fremdes Joch, hat Gott sich uns gedacht. Mehr noch: Zu Freihälsen hat er uns längst gemacht. Zu Freihälsen wohlgemerkt. Nicht zu Schreihälsen. Freihälse können ihren Blick ungehindert heben. Sie können in den Himmel sehen - und einander offen ins Gesicht. Was übrigens auch mit Mund-Nasenschutz besser geht als man denkt; Augen können so viel ausdrücken. Freihälse Gottes sind in die Lage versetzt, mehr und anderes zu sehen als den eigenen Bauchnabel. Sie machen den Mund auf, wo die Würde und die Freiheit anderer in den Dreck gezogen werden, weil sie eine andere Hautfarbe, Religion oder sexuelle Orientierung haben. Sie packen mit an, wo Herzen und Hände gefragt sind. Wie in unserer Stadt die Initiative „Herz statt Hetze - Für ein buntes, weltoffenes Dresden“. Deshalb wird von den deutschen Lutherstädten alle zwei Jahre der Preis „Das unerschrockene Wort“ verliehen. Er gilt Frauen und Männern, die die innere Freiheit haben, den Mund aufzumachen, widerständig zu sein und öffentlich zu ihrem Glauben zu stehen, wo der Mainstream lieber wegschaut. Und, besonders wichtig: Freihälse Gottes müssen keine Angst haben sich zu verlieren. Denn sie sind ja längst gefunden.

Liebe Gemeinde,

die Kirche ist eine Gemeinschaft von Freihälsen. Sie ist der Raum, in dem Menschen über sich hinaus und aufeinander zu kommen. In dem sie sich einschwingen in den Klang der von Gott geschenkten Freiheit. Die wir nicht erkämpfen müssen, sondern nur empfangen brauchen. Ich muss mir nicht selbst aus meinem Innern sagen, was ich mir eh nie selbst sagen kann. Ich muss mir nicht nach den Gesetzen eines Positive thinking ständig einhämmern: „Ich bin okay, alles okay!“ Stattdessen kriege ich durch das Evangelium von Gott zu hören: Nein, so okay bis du nicht - sondern ein trauriger Sünder! Aber gerade so habe ich dich grenzenlos lieb! - Und nicht nur die Wahrheit, erst recht die Liebe wird uns frei machen.


AMEN.

Die Wahrheit braucht keine Dome

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Die Wahrheit braucht keine Dome. Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm.“ Mit diesem Satz begann der damalige Präses der rheinischen Kirche Peter Beier seine denk-würdige Predigt bei der feierlichen Wiederindienstnahme des restaurierten Berliner Doms vor 28 Jahren im Juni 1993. Ich finde das einen unglaublich guten und wahren Satz. Gut und wahr auch für uns hier und heute, wo wir in unserer wieder aufgebauten Frauenkirche zum 16. Mal den Kirchweihsonntag feiern. Es steht uns nicht nur gut an, es ist auch geistlich entscheidend, dass wir uns bewusst bleiben: Gott braucht keine Dome. Sein liebes Evangelium kriecht in der kleinsten Erzgebirger oder Lausitzer Dorfkirche unter und hält sie warm. Also braucht er auch keine Frauenkirche. Als Aussage über Gott und sein Wort ist jener Satz von Peter Beier einfach nur wahr. Anders wäre es, wenn dieser Satz eine Aussage über uns wäre. Dann käme er in Schieflage und würde so nicht mehr stimmen. Dazu nachher. Jedenfalls sind wir schon mitten drin im Predigttext dieses Festsonntages. Es ist ein kurzer Abschnitt aus dem 8. Kapitel des 1. Buchs der Könige.

I.

Die Verse unseres Textes sind nur ein kleiner Teil eines langen, feierlichen Gebetes, mit dem Israels großer König Salomo den neu erbauten Tempel seiner Bestimmung übergibt. Es war ein erstaunlicher, ja man muss sagen, ein verstörender Akt in der Glaubensgeschichte Israels bis dahin, ein Haus zu errichten, in dem Gott wohnen soll. Denkt Salomo, verwurzelt im Glauben seines Volkes, auf einmal wie die Heiden? Die sehen ihre Tempel als Wohnungen Gottes an, bisweilen wird die Gottheit nahezu identisch mit dem Bauwerk. Israel hat doch das Gebot, sich von Gott kein Bild zu machen. Salomo spürt, dass durch das Bauen des Tempels eine Spannung zur bisherigen Glaubensgeschichte aufkommt. Auf jeden Fall ist das eine tiefe Zäsur. Deshalb legt Salomo größten Wert darauf, das Band zur Tradition nicht abreißen zu lassen und die Erinnerungen an Gottes Geschichte mit seinem Volk in das Neue des Tempels mit einzuzeichnen. So werden die Dinge, die in der Vergangenheit zeichenhaft an den bildlosen Gott erinnert und ihn für seine Menschen sozusagen geerdet haben, von den Priestern jetzt feierlich in den Tempel gebracht.

Da ist die Bundeslade. Eine äußerlich schmucklose längliche Kiste, in der die Gesetzestafeln aufbewahrt waren, in die Mose am Sinai Gottes Gebote als Hilfe zum Leben gemeißelt hatte. Seit der Wüstenwanderung der Kinder Israel war die Bundeslade das geheiligte Symbol von Gottes Gegenwart. Ließen die Priester sie nieder, so wusste man Gott bei sich im Lager. Hob man sie auf, so machte Gott sich selber auf, um mit seinem Volk unterwegs zu sein. - Ebenso erinnert die Stiftshütte an Gottes Bund, ein Gerüst mit vergoldeten Brettern und kostbaren Teppichen. Sie war das Heiligtum Israels in den Zeiten der Wanderung, ein „Zelt der Begegnung“, wie sie es nannten. Denn hier begegnete Gott dem Mose immer wieder in einer Wolke, um ihm Wegweisung zu geben. - Eine solche Wolke erfüllt jetzt auch den neu errichteten Tempel, nachdem die Priester Lade und Stiftshütte hineingetragen haben. Wie einst Mose Gott nicht unmittelbar, sondern nur in der Verhüllung einer Wolke begegnen konnte, so ist es jetzt Salomo, der vor dieser Wolke für sein Volk betet, Gott um Nachsicht und Verstehen bittet für den Traditionsbruch des Tempelbaus.

Wer von denen unter uns, die den 30. Oktober 2005 erlebt haben, an den Bildschirmen oder auf dem brechend vollen Neumarkt, oder sogar unter den Glücklichen, die den Weihegottesdienst in der in neuem Glanz erstrahlenden Frauenkirche mitfeiern konnten: wer von all denen hätte bei jenen Bildern von der Einweihung des Jerusalemer Tempels nicht die Bilder von vor 16 Jahren vor Augen?! Statt Bundeslade und Stiftshütte waren es damals die sog. Prinzipalien, also Taufstein, Altarbibel, Abendmahlsgeschirr u.a., die damals durch Landesbischof Bohl und andere feierlich wieder in ihren liturgischen Dienst genommen wurden. Man kann das ja immer noch auf Youtube ansehen. Manchmal tue ich das, und dann läuft es mir immer noch den Rücken runter. Obwohl ich damals weit weg von hier lebte und das nur staunend am Fernseher verfolgt habe.

Beides war in jenem unvergesslichen Gottesdienst zu spüren: Wir können einen Kirchenraum mit anschaulichen Zeichen der Treue Gottes ausstatten. Wir können ihn mit Glanz versehen, als Gleichnis für den himmlischen Überschuss der unbegreiflichen Gnade Gottes - so wie das damals George Bähr und dann die Wiedererbauer in dieser Kirche so einmalig vollbracht haben. Aber alles Gold, alle Deckengemälde der Frauenkirche mit ihrer alles überstrahlenden Gloriole, sie können Gottes Gegenwart und die Gabe seines Geistes nicht ersetzen. Auch im herrlichsten Kirchenraum sind wir nicht im Himmel, denn „aller Himmel Himmel können dich nicht fassen“, wie Salomo so nüchtern wie fasziniert in seinem Gebet formulierte, als er den neuen Tempel betrat.

II.

Wie gesagt, die vier Verse unseres Predigttextes sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus einem nicht enden wollenden langen, auch etwas langatmigen Gebet, das Salomo zu diesem Anlass spricht. Das könnte sich heute kein Liturg mehr erlauben, wo der Satz „Man darf über alles predigen, nur nicht über 12 Minuten“ längst zum Mantra der Pastor*innen geworden ist. Es scheint fast, als fühle sich Salomo Gott gegenüber unter riesigem Rechtfertigungsdruck für dieses Projekt Tempel, das für den Glauben Israels etwas Neues, noch nie Dagewesenes bedeutet. Auch da gibt es verblüffende Bezüge zur Wiederaufbau-Geschichte der Frauenkirche. Auch dieses Jahrhundertprojekt war ja nicht so glatt und unumstritten gelaufen, wie es von heute her aussieht. Im Mai kurz nach meinem Beginn als neuer Frauenkirchenpfarrer lief mir ein alter Pfarrer hier auf dem Neumarkt über den Weg. Er sprach mich an und sagte, er habe die Frauenkirche noch nie betreten und werde das in diesem Leben auch nicht tun. Auch solches gibt es. Man kann darüber den Kopf schütteln, das als verstockt ansehen. Aber es schwingt darin wohl noch etwas von dem nach, was vor über 30 Jahren, als der berühmte „Ruf aus Dresden“ in die Welt hinaus ging, viele in der Landeskirche empfanden: Steht uns das an, als evangelische Kirche mit solch barocker Pracht und Prunk verbunden zu werden? Wird dadurch nicht überlagert, ja verdunkelt, was doch Kern und Stern des Protestantischen ist: Einfachheit, Bescheidenheit, Knappheit, die Konzentration auf Gottes Wort, das sich seinen Weg zu den Menschen bahnt ohne Brimborium und große sinnliche Stützen? Und überhaupt, nach dem elenden 20. Jahrhundert: wäre der Erhalt der Ruine nicht die eindringlichere Botschaft gewesen, näher dran auch an dem, wofür die Evangelische Kirche gerade in der DDR friedensethisch stand und was dann zu der wunderbaren Rolle geführt hat, die sie im Wendeherbst 1989 spielte? Sind wir als Protestanten nicht Kirche des Kreuzes, einer theologia crucis verpflichtet und weniger der theologia gloriae, deren steinerne Zeugin die Frauenkirche war? So dachten damals viele Christ*innen - nicht nur in der sächsischen Landeskirche. So war es zunächst auch weniger die Christengemeinde, sondern die Bürgergemeinde, die durch das enorme Echo auf den „Ruf aus Dresden“, und durch den staunenswerten Einsatz beherzter Männer und Frauen aus Dresden und anderswo eine Dynamik für den Wiederaufbau in Gang brachte, die übermächtig wurde. Und die dann - heute sagen wir alle: Gottseidank - auch die Kirche erfasste und zu einem Ja zum Wiederaufbaus brachte. Das alles mündete in den 30. Oktober 2005.

So steht sie nun wieder an ihrem Ort, die Frauenkirche, im altneuen Glanz. Mit ihrer einzigartigen Kuppel Fokus und Krönung des „Canaletto-Blicks“, der Dresden zum „Elbflorenz“ gemacht hat. Sie ist eine Kirche, und doch nicht nur, sondern mehr als das, nämlich ein Hybrid, wie man neudeutsch sagt, wo sich Christengemeinde und Bürgergemeinde wie selten an einem Ort begegnen, vermischen, auch Reibungen untereinander, Funken erzeugen. Genau so soll es sein. Aber zuerst und zuletzt bleibt sie doch ein Gotteshaus. Wie damals der Jerusalemer Tempel.

III.

Wir sind Protestanten, also eher cool und rational, religiös in der gemäßigten Zone beheimatet. Wir wissen gut, dass Gott nicht an heilige Räumen und besondere Zeiten gebunden ist. Wir wissen es zu gut, leider. „Ich glaube an meinen Herrgott, aber dazu muss ich nicht in die Kirche rennen; ich erfahre ihn mehr am Sonntag in der Sächsischen Schweiz“ - wird einem Pfarrer oft gesagt. Nun ja, die Erzketzerei ist das nicht, schon Luther hat gesagt: „Wo Gottes Wort klingt, sei es im Wald oder im Wasser, da ist ein Bethel, ein Gotteshaus“. Das stimmt - nur habe ich Gottes Wort im Rauschen der Waldwipfel eher selten erklingen hören. Über allen Gipfeln ist ja eher die Ruh. Und dass ich wieder aufatmen kann, weil mir Schuld vergeben wird, dass ich Verbindung zu anderen finde, die auch zu glauben versuchen: das habe ich im Elbsandsteingebirge auch noch nicht wirklich erfahren. Dazu brauche ich den Gottesdienst, deshalb bleibt er unverzichtbar.

Klar, Gott begegnet uns nicht nur in den Kirchen. Aber im Gotteshaus will er uns begegnen, dort dürfen wir ihn ganz gewiss erwarten: da, wo wir als seine Gemeinde beieinander sind, sein Wort hören, mit ihm im Gebet sprechen können und wo er sich uns in den Sakramenten schenkt. Natürlich: Er, den alle Himmel nicht fassen, braucht keine festen Orte und festen Zeiten. Die Wahrheit, wie gesagt, braucht keine Dome und Barockkirchen. Aber wir, gehetzt, zerrissen wie wir oft sind, wir brauchen sie. Es ist ein Segen, dass wir diese festen, schönen Orte und festen Zeiten haben. Ohne sie hätten wir Gott längst verloren. Serva ordinem et ordo te servabit - Halte die Ordnung ein, und die Ordnung wird dich halten und tragen: heißt es geistlich und psychologisch sehr weise in der alten Regel der Benediktiner. Ein Dichter hat einmal gesagt: „Als der Mensch den ersten Altar baute, wurde er Mensch. Wenn er den letzten abreißt, wird er wieder zum Tier“. Gott ist überall da, sonst wäre er nicht Gott. Aber er ist nicht überall für uns offenbar und erfahrbar. Im Gegenteil, Gott kann uns zusetzen und quälen, wenn er uns rätselhaft und unheimlich bleibt. Wir ertragen den Gott nicht, der für uns dunkel bleibt, in Katastrophen, Schicksalsschlägen verborgen, weil wir nicht wissen, ob er für uns oder gegen uns ist.

Gott weiß das. Und deshalb weiß er auch, dass uns nur geholfen ist, indem er sich uns an bestimmten Orten zu erkennen gibt und sich dort finden lässt. Deshalb spielt er das religiöse Spiel der Israeliten mit und lässt sich, vielleicht mit einem leisen himmlischen Seufzer, auf den Tempelbau ein. Luther hat gesagt: „Gott ist frei und ungebunden allenthalben, wo er ist, und muss nicht dastehen als ein Bube am Pranger oder Halseisen geschmiedet“. Das ist wahr. Aber wenn der freie, himmlische Gott sich bindet und „erdet“, vom Bau des Tempels über die Sendung Jesu in diese Welt bis zum Ausgießen des Geistes, dann tun wir gut daran, uns eben dort an ihn zu wenden. In einem alten Adventschoral heißt es: „Seht, wie so mancher Ort / hochtröstlich ist zu nennen, / da wir ihn finden können / in Nachtmahl, Tauf‘ und Wort“.

Das gilt auch für unsere Frauenkirche. Sie ist nicht nur das Missing link zum berühmten Dresdner Stadtbild, mehr als die klaffende Wunde des 15. Februar 1945, die 60 Jahre später endlich geschlossen wurde. Sie ist für viele Menschen, in Dresden, aber auch weit weg von hier, zu einem solchen hochtröstlichen Ort geworden. An dem sie Gott näher kommen, etwas von dem „Geschmack fürs Unendliche“ kosten, wie der große Theologe Schleiermacher das genannt hat. Und wo sie ganz persönlich erfahren, dass die Bitte Salomos nicht ins Leere gesprochen blieb: „Lass deine Augen offen stehen über diesem Haus Tag und Nacht. (…) Erhöre das Bitten deines Knechtes und deines Volkes Israel, wenn sie an dieser Stätte bitten werden. Und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein.“

AMEN.

Altwerden geht auch für Feiglinge

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

„Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Sachen. (…) Alles, alles, was wir sehen, das muss fallen und vergehen“ haben wir eben gesungen. Novembertöne des Barockdichters Michael Franck. Das spielerische Miteinander der Gegensätze von Leben und Tod, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Weltflucht und Weltsucht, das die Kunst des Barock geprägt hat, lässt sich Francks Lied nicht abspüren. Es ist ganz bestimmt von der inneren Seelennot, der allein das Vertrauen auf Gott standhalten kann. Auch das Schöne steht unter dem Verdikt des „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig sind der Menschen Tage!“ Dieses Memento mori hat sich Michael Franck bei einem Dichterkollegen aus der Spätzeit des Alten Testaments abgelauscht: dem sog. Prediger, einem Vertreter der alttestamentlichen Weisheit, aus dessen Sentenzen der heutige Predigttext kommt. Er steht im Buch des Predigers im 12. Kapitel.

I.

Das hebräische Wort, das Luther mit „Prediger“ übersetzt hat, lautet Kohelet. Zu Deutsch heißt das „Versammlungsleiter“. Ob bei seinen Versammlungen Freude aufgekommen ist, darf man bezweifeln. Denn das unterscheidet ihn von den meisten Stimmen in der Bibel, dass gerade dieser sog. Prediger keinen Verkündigungsauftrag, kein hilfreiches Wort mehr hat für eine Zeit, die immer hybrider wird. Der Glaube Israels trägt nicht mehr. Jetzt, im dritten vorchristlichen Jahrhundert, strömt der Hellenismus ein, der griechische Geist der Antike mit ihren großartigen Philosophen. Das kommt in der flirrenden Stadtluft Jerusalems, wo der Prediger unterwegs ist, attraktiver rüber als der überkommene Glaube an den Gott Israels. Das Wort „Gott“ hat seinen Reiz, seine Größe verloren. Der Prediger ist zwar kein solcher - aber reden, das kann er! Sein Reizwort lautet „Häbäl“, zu Deutsch Nichtigkeit, Eitelkeit. Entsprechend endet auch unser Textabschnitt mit der Feststellung, die sich mit ermüdender Monotonie durch das gesamte Buch des Predigers zieht: „Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel.“


Wir können uns diesen Prediger, der keiner mehr sein will, ganz gut in einem in hellenistischem Stil gehaltenen Haus in Jerusalem vorstellen. Eine Art orientalischer Salon: Man hat Zeit zum Philosophieren, was unter den modernen Jerusalemer Intellektuellen gerade sehr en vogue ist. Auf der Dachterrasse lässt es sich im Kreis Gleichgesinnter bei einem guten Wein von den Höhen des Libanon bis in die Nacht anregend über den Menschen räsonieren. Überall ist der Mensch sich selbst zum vornehmsten Gegenstand geworden. Das Gespräch dreht sich immer weiter und kreist doch eigentlich nur um die eine Frage: Was soll all unser Machen und Tun, wenn wir sowieso sterben müssen? Kurzum: Es geht um Leben und Tod. Aber nicht im Sinn des Überlebens in todbringenden Verhältnissen. Sondern es geht darum, wie wir unsere Endlichkeit ertragen können.

Die Einsicht in unsere Endlichkeit wirft uns zurück auf die Grundfragen unserer Existenz. Man kann versuchen, das mit Humor nehmen. Als der Regisseur Woody Allen einmal ironisch über das Älterwerden sprach, wurde er nach seiner Haltung zum Tod gefragt. Die habe sich, so Woody Allen, nie geändert: er sei vehement dagegen. Die Antwort kann man schräg finden, trotzig oder auch einfach ehrlich. So oder so, bei Woody Allen bringt sie das vergebliche Bemühen auf den Punkt, im Absurden seinen Platz zu finden. Darin gleicht Woody Allen dem Prediger und seinem Cantus firmus „Alles ist flüchtig und Haschen nach dem Wind.“


II.

Unser Textabschnitt ist in der Lutherbibel mit „Jugend und Alter“ überschrieben, wobei die Gewichte ungleich verteilt sind. Die Jugend wird mit kurzen Ratschlägen abgehandelt, umso üppiger dann die reichlich ernüchternde Darstellung des Alterns und das Memento mori, die Erinnerung an den Tod. Die Mahnungen des Predigers atmen, typisch ist für die späte Weisheit Israels, einen lebensklugen Pragmatismus. Alter wie Jugend sind flüchtig, weder das eine noch das andere ist privilegiert. Das Leben soll in der jeweiligen Gegenwart genossen und die Freude nicht auf eine unsichere Zukunft verschoben werden. Carpe diem.


Zum Alter fällt dem Prediger nichts Erfreulicheres ein als diese Lebenszeit mit dem Verdikt „böse Tage“ zu belegen. Das Alter, es sind „die Jahre, da du sagen wirst: Sie gefallen mir nicht“. Es geht einem bei diesen Einlassungen der sprichwörtliche Satz einer amerikanischen Schauspielerin durch den Sinn: „Altwerden ist nichts für Feiglinge“. Das trifft heute einen Nerv. Die Angst vor dem Altwerden lässt Wirtschaftszweige blühen: Kosmetik- und Pharmaindustrie, Schönheitschirurgen, Fitnesscenter, Gesundheitsmessen. Von Second-life-people spricht man heute, oder von den Goldies oder den Herbstzeitlosen. Viele sind fasziniert von dem Narrativ, das Udo Jürgens vor 50 Jahren in Wort und Ton brachte: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an…“ An prominenten Belegen für diese forsche These fehlt es ja nicht. Zum Problem wird aber, dass wir dabei Gefahr laufen zu vergessen, dass das Leben nicht unser Produkt ist, sondern Geschenk. Dass wir nicht Schöpfer, sondern Geschöpf sind. Die genannten Industrien suggerieren, dass wir die Herren unseres Lebens sind, dass es allein an uns liegt, ob wir im Alter noch fit und unbeschwert sind.

Der Prediger sieht das anders. Er findet starke, fast unheimlichen Bilder für die Altersjahre, die der Jugend nicht gefallen werden. Der Körper des alternden Menschen erscheint im Bild eines baufälligen, vielleicht schon verlassenen Hauses. Die zitternden Torwächter repräsentieren die Arme. Die Männer, die sich krümmen, die Beine. Die wenigen Müllerinnen, die immer leiser mahlen, stehen für die Zähne. Die Frauen, die aus den Fenstern ins Finstere schauen, sind die Augen. Die geschlossenen Türen die Ohren. Nebenbei bemerkt, genau von diesem biblischen Bild kommt unsere deutsche Redewendung „Du altes Haus!“ Es ist wie eine dunkle Negativ-Folie zum Bild des Paulus von Leib Christi als einem quicklebendigen Organismus mit vielen Gliedern, die alle aufeinander eingestimmmt ist. Der Prediger muss dieses Bild für das Älterwerden gar nicht ausdeuten. Es ist selbsterklärend. Der Mensch wird schwächer, sein Leben gleicht dem auf- und abschwellenden Gesang der Vögel und die Natur vollzieht ihren Kreislauf. Der ewigen Wiederholung in der Natur ist der Weg des Menschen entgegengestellt, der unerbittlich in den Tod, sein ewiges Haus, führt. Die Jugend soll an den Tod denken, solange noch Zeit ist. Denn nur das Wissen um den Tod führt zur Weisheit: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden“, sagt der 90. Psalm. Allein das Bedenken unserer Vergänglichkeit macht uns dazu fähig, die Kostbarkeit des Lebens zu ermessen, die schönen Momente dankbar als Geschenk zu nehmen.

Sicher, der Mensch und, was er schafft, ist alles vergänglich. Doch wird das menschliche Leben damit weder sinnlos oder, wie Woody Allen meinte, eine makabre Groteske. Der Cellist Pablo Casals, einer der größten Musiker des 20. Jahrhunderts, hatte so gesehen ein überaus gelingendes Leben. Auch als über 90jähriger übte er noch täglich vier bis fünf Stunden Cello. Auf die Frage, warum, antwortet er lakonisch: „Weil ich den Eindruck habe, ich mache Fortschritte“. Und über sein Alter sagte er: „Ich bin jetzt über 93, also nicht gerade jung, jedenfalls nicht mehr so jung wie ich mit 90 war. Aber Alter ist etwas Relatives. Wenn man weiter arbeitet und empfänglich bleibt für die Schönheit der Welt, dann entdeckt man, dass das Alter nicht zwingend Altern bedeutet, wenigstens nicht im landläufigen Sinne. Ich empfinde heute viele Dinge intensiver als früher, und das Leben fasziniert mich noch genauso wie vor 40 Jahren.“

III.

Nun sind genial begabte Menschen wie Pablo Casals Ausnahmeerscheinungen. Aber auch für uns Normalsterbliche gilt: Altwerden kann durchaus auch was für Feiglinge sein! Menschen, die das Alter nur noch oder überwiegend als Last erleiden, vielleicht auch die Sehnsucht haben, davon durch den Tod befreit zu werden, gilt es schon ernst zu nehmen. Aber das kann auch heißen, mit ihnen auszuloten, ob nicht auch in dem als Last gefühlten Leben nicht doch noch Potenzen stecken, die es lohnend machen. Drei solcher möglichen Potentiale will ich zum Schluss andeuten.

Zum ersten. Ich muss nicht mehr in der ersten Reihe stehen. Ich muss niemand mehr etwas beweisen. Allenfalls noch mir selbst. Und das dann auf ganz anderen Ebenen als auf der Prestigeschiene. Die Karriereleiter ist Vergangenheit, auf die ich gelassenen und hoffentlich sogar lächelnd zurückschauen kann. Es wird leichter, anzunehmen, dass ich nicht Herr im eigenen Haus bin, mein Leben nicht bis ins Letzte verantworten muss. Das gilt zwar in jeder Lebensphase, aber im Alter erkenne ich das besser. Ich bin einfach da, weil es Gott gefällt - nicht, weil ich für irgendeinen Zweck verwendbar bin. Das zu erkennen kann sehr befreiend und tröstend sein.

Zum zweiten. Das Geschenk, Enkel zu haben. Als meine Eltern vor 25 Jahren ihr erstes Enkelkind bekamen, hing bald ein Button an der Pinwand ihrer Küche Da stand drauf: „Wenn ich gewusst hätte, wieviel Freude Enkel machen, hätte ich die zuerst bekommen.“ Damit ist etwas von dem Zauber ausgedrückt, Großeltern zu sein. Es ist alles so viel lockerer als es mit den eigenen Kindern war. Ich bin nicht für die Erziehung verantwortlich; naja ein bisschen vielleicht doch, aber es ist ganz anders. Ich muss sie nicht anhalten, ihre Hausaufgaben zu machen oder aufzuräumen. Ich kann mit ihnen spielen und herumtoben. Ich kann ihnen Geschichten erzählen. Nicht mit dem Unterton: Früher war alles besser. Aber ich kann erzählen von dem, was gut und interessant war in meinem Leben. Erzählen war schon immer die Sache der Großeltern. Und nicht zuletzt, ich kann mit ihnen singen. Immer weniger Eltern tun das ja noch mit ihren Kindern.

Und zum letzten. Je älter ich werde, desto breiter wirft der Tod seine Schatten. Unser Text beschreibt das wieder in starken Bildern: „Denn der Mensch fährt dahin (…), der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad fällt zerbrochen in den Brunnen.“ Ich sterbe nicht erst, wenn der Tod eintritt; jeder Tag bringt mich näher dahin. Wie ein langsames Sich-aus-dem-Leben-Rausstehlen. Im Alter erfährt man das elementar: Der Radius an Kontakten verkleinert sich, die Beweglichkeit lässt nach. Was geht, wird weniger; was nicht mehr geht, wird mehr. Und: Es geht immer öfter auf den Friedhof. Man ist auf der Zielgeraden. Das ist die Zeit zum Entrümpeln. Wie bei einem Umzug: Was nicht mehr gebraucht wird, wird weggegeben. Das Lebenshaus leert sich, nur die wirklich wesentlichen Dinge werden mitgenommen. Wenn ich nur noch ganz wenig um mich habe, in einem Kranken- oder Sterbezimmer, ist dann mein Leben entrümpelt? Bin ich dann beim Wesentlichen angekommen?

Ob ich dann wohl auch frei werde von dieser oder jener Last, die ich lange mit mir herumgeschleppt habe? Frei von meiner Schuld, wo ich einem anderen Menschen sehr weh getan habe? Frei von dem, was ich versäumt, wo ich meine Gaben brachliegen gelassen habe? Ist noch Zeit, etwas in Ordnung zu bringen? Hoffentlich begreife ich aber auch: manches kann ich nicht mehr gutmachen. Was geschehen ist, ist geschehen. Rückgängig kann ich es nicht mehr machen. Aber ich muss nicht mein eigener Richter sein. Das ist einer, der nicht nur gerecht, sondern barmherzig ist, einer, der mich unbedingt liebt, einer, der mir die Hände unter den Kopf legt, wenn ich sterbe. Weil er versprochen hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28).

Altwerden: wirklich nichts für Feiglinge? So oder so, auf jeden Fall könnte Altwerden etwas für Träumer sein. Denn im Alter drehen sich Träume nicht mehr so sehr um das, was war in diesem Leben. Sie schauen mehr nach vorne, auf einen neuen Anfang, auf ein Ziel. „Denk an deinen Schöpfer“, so beginnt unser Text. Weil ich aus Gottes Hand bin, werde ich in seiner Hand bleiben. So gesehen ist das Alter ein Zieleinlauf nach einem Marathon mit all seinen schönen und harten Abschnitten. Es ist schön, wenn ich auf der Zielgeraden mit Goethes Türmer sagen kann: „Es sei wie es wolle, es war doch so schön.“ Aber jetzt habe ich das Ziel vor Augen. Das Glück, die Erleichterung, wenn ich über die Ziellinie bin. Und dann die Siegerehrung: Willkommen bei Gott!


AMEN.

gehalten im Rahmen des Gottesdienstes mit Traujubiläum von
Superintendent Sebastian Feydt, Leipzig
(und von 2007-2020 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Liebe Gemeinde,

es muss gar nicht immer den ganz großen Knall geben. Dass etwas zu Bruch geht, das kann auch leise passieren; schleichend, im Verborgenen. Da höhlt sich stillschweigend etwas aus, das lange getragen hat: meine Beziehung zu anderen, mein Wertegerüst, mein Selbstvertrauen – auch mein Glaube?

Ja, aufhören oder zu Bruch gehen kann auch meine Beziehung zu Gott. Mose, von dem wir gehört haben, hatte die steinernen Tafeln mit den An-Geboten Gottes mit lautem Knall zu Bruch gehen lassen. Und nun heißt es wieder: Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand dann morgens früh auf und stieg auf den Berg Sinai...Und Gott ging vor seinem Angesicht vorüber. Und Mose rief aus: Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Herr, habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte.
Liebe Gemeinde,

diese Bitte kennen wir nur zu gut: Gott möge in der Mitte gehen; mitten unter uns sein. Wie oft sprechen wir so, wenn wir uns mit einem Blick nach oben an Gott wenden? Wie oft kommt diese Bitte ganz tief aus unserem Innersten: Gott möge doch bitte endlich dafür sorgen, dass diese Krankheit heilt, der Tod aufgeschoben ist, Gerechtigkeit gestiftet wird, für Frieden gesorgt ist; So verständlich all diese wohlmeinenden Bitten an Gott sind: Es wird nicht geschehen!

Gott selbst rückt diese Vorstellung zurecht: Haben Sie es noch im Ohr?
Gott sagt zu Mose: Ich will Wunder tun an den Menschen, in deren Mitte du! gehst.

Von Gott her hören wir hier eine ganz klare Weigerung, uns Menschen aus der Verantwortung zu entlassen. Kein Bruch im Leben, kein Ablassen von Gottes, keine Missetat kann Gott dazu bringen, uns Menschen die Mündigkeit und Selbstständigkeit und Verantwortung für das Leben abzunehmen. Das weiter zu denken ist ein aufklärerischer Vorgang. Gott lässt sich nicht in eine Macht-Vorstellung, schon gar nicht in die Vorstellung einer Gottesherrschaft bringen, die Menschen als das Abbild Gottes entmündigen würde, sondern wir werden vielmehr in unserer Verantwortung vor Gott gestärkt. Nicht, ohne dennoch Gottes Gegenwart zu vertrauen, nicht ohne Gottes wunderbares und Wunder wirkendes Handeln anzunehmen. Aber wir werden nicht auf den Irrweg geführt, mit Gott in unserer Mitte uns selbst zurücknehmen zu können, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, dass Gott schon das Notwendige tun wird. Das wäre letztlich die Vorstellung einer Art Theokratie, einer Herrschaft Gottes, der in der Bibel nie das Wort geredet wird und schon gar nicht der Weg geebnet ist.

Nein, vor aller Welt will Gott Wunder tun, vor einer Welt, in deren Mitte Menschen wie Mose oder Sarah oder Abraham oder Paulus oder Maria oder Jesus Christus – und in seiner Nachfolge Sie und ich, wir stehen.

Wir können uns auf Gott berufen und verlassen. Einstimmen in das Bekenntnis des Mose: Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Wir können uns auf Gott verlassen. Ohne Angst!

Wirklich, ohne Angst, werden Sie jetzt vielleicht fragen! Spricht der alte Text nicht eine ganz andere Sprache und letztlich dagegen? Das ist Ihnen sicher hängen geblieben bei der Lesung: aber ungestraft lässt Gott niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindes-Kindern bis ins dritte und vierte Glied.

Dass Missetaten, zumal in der Erziehung, Spätfolgen zeigen können, verwundert heute nicht mehr wirklich. Wer in den letzten zehn Jahren Kinder begleitet hat, sich bemüht hat ihnen ein gutes Elternteil zu sein, der weiß: unser Lebenswandel hat Folgen für sie und ihre Kinder, unser Enkel und Urenkel. Unsere Art zu wirtschaften hat heute schon abgewirtschaftet, nicht erst in der nächsten und übernächsten Generation. Und als Kinder unserer eigenen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern wissen wir um die Spätfolgen deren Verstrickungen in Krieg und Verbrechen vor 80 Jahren; die Traumatisierung dauert über Generationen bis heute an.

Und doch: So sehr wir uns diesen Spätfolgen gedanklich nähern: Die Vorstellung von einem strafenden Gott, ist in Vielen von uns doch tief verankert. Selbst bei Menschen, die wenig oder gar nicht fromm sind. Gar nicht glauben. Wie viele Schicksalsschläge unter uns werden heute immer noch als Strafe Gottes verstanden? Da ist die Erfahrung mit dem Tod von Kindern, den Missbrauch von jungen Menschen, die Auseinandersetzung mit einer unheilbaren Krankheit. Wie schnell sind wir dabei, das, was wir nicht einordnen können, als Strafe Gottes anzusehen?

Und umgekehrt: Um wie viel schwerer fällt es uns, den liebenden, langmütigen, geduldigen und gütigen Gott anzunehmen und diesem Gott zu vertrauen? Vielleicht ist das ja sogar die weitaus größere Aufgabe oder vielleicht ist diese Vorstellung von Gott sogar die größere Provokation, angesichts unseres Lebens, dem Kranksein und Sterben müssen, dem Brüche und Katastrophen unweigerlich eingeschrieben sind.

Liebe Gemeinde,

Sie merken: Hier steht unsere Vorstellung von Gott in Rede. Genauer gesagt steht hier meine Vorstellung, meine Beziehung zu Gott in Rede. Was ich wirklich glaube. Dass die Rede von einem lieben Gott eine schöne Erfindung ist? Oder glaube ich an Gott, der sich mir – als Mensch – als Person, als Frau oder Mann oder Jugendlichen oder Älterem unmittelbar und ganz direkt zuwendet? Glaube ich das? Glaube ich, dass es einen ganz unmittelbaren Bundesschluss Gottes mit mir gibt? Dass Gott etwas mit mir zu tun haben will?

Es zeichnet den christlichen Glauben aus zu vertreten, dass jeder Mensch, ausnahmslos direkt vor Gott, ganz unabhängig von seiner Herkunft, von seinem Geschlecht, von seinen Äußeren, von seiner Abstimmung etc. vor Gott steht. Nicht wir alle zusammen in einer anonymen Gruppe, nicht als Volk, oder als Menschheit, sondern jede und jeder für sich, ganz individuell. So kritisch wir heute die Tendenz zur Individualisierung innerhalb aller Lebensvollzüge sehen: In meiner Beziehung zu Gott ist die Individualisierung sogar christlich begründet. Durch das Kreuz. In dem Leiden Jesu Christi am Kreuz wird ein Leiden stellvertretend des Einen für andere, für alle anderen Menschen verstanden. Das nachzuvollziehen fällt uns heutigen modernen Menschen sehr schwer.

Aber gerade darin liegt ein Schlüssel, die Angst vor einem strafenden Gott, die Vorstellung von der ständig drohenden Strafe Gottes ablegen zu können und dem Gott der Liebe zu vertrauen. Weil ich diesen Gott mit leidend und mit gehend und mit sterbend und mit neu ins Leben findend  ansehen kann. Weil ich in diesem Gott mein Gegenüber erkenne, der, oder die, das mich so annimmt, wie ich bin. Es geht nicht mehr darum, was ich getan habe oder was du getan hast. Ob es richtig oder falsch war. Es geht nicht in erster Linie um schuldhaftes Verhalten und Reden. Es geht darum, dass ich als ein Mensch bei Gott bin und bleibe. Nicht allein auf mich gestellt bleibe, nicht verlassen mit mir allein zurechtkommen soll, sondern Gott recht bin, gerechtfertigt bin vor Gott. Das geht nicht mit einem strafenden Gott, sondern ausschließlich in der engen Beziehung zu dem mich liebenden Gott, der mich sucht.

Ich gebe zu, dass das nicht ganz leicht ist. Seit 500 Jahren trägt diese auf den einzelnen Menschen orientierte rechtfertigende Lehre durch die Reformation bis heute durch. Nicht meine Verantwortung an Gott wegdelegieren zu wollen. Sondern selbst Verantwortung zu übernehmen. In der Mitte zu stehen und mich von Gott gehalten zu wissen. Und umgekehrt mich von Gott in die Freiheit hinein lieben zu lassen. Das ist wunderbar. So wie es Gott sagt: Wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

Wenn das keine Verheißung ist.


AMEN.

gehalten im Rahmen des Gottesdienstes mit Traujubiläum von
Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Das Herz ist vernarbt.

Der alte Baum hat es nicht übel genommen, damals als das frisch verliebte Paar in seinem Schatten sein Glück fand. Als wollten sie ewig bleiben, bauten sie sich ihr Liebesnest, aßen, tranken, liebten sich, erzählten sich ihre Geschichte, redeten unablässig, nicht ohne sich immer wieder in die Arme zu nehmen und mit den Lippen zu berühren. Irgendwann nahm er das Küchenmesser, das sie für das Picknick einpackt hatten, und ritzte ein Herz in die Rinde der Buche direkt über den Ort, wo sie ihre Fahrräder angelehnt hatten. Zwei Buchstaben, ein Datum. Der Baum ertrug es mit Gelassenheit. Damals schon übertraf er das Lebensalter der beiden um Jahrzehnte. Heute steht er noch immer.

Das Herz wie ein Tattoo auf seiner Rinde. Immer noch etwa auf Augenhöhe, nur dicker ist es geworden und vernarbt. Die Buchstaben und Zahlen nur noch schwer zu lesen. Mehr eine Ahnung. War es die erste Liebe, die wie ein Strohfeuer schnell erloschen ist? Oder haben die beiden Jahre, vielleicht Jahrzehnte miteinander verbracht? Sind sie je wiederkommen; gemeinsam oder einzeln; mit Glück im Herzen oder mit Tränen in den Augen? Haben sie es ihm gedankt oder ihn gar verspottet, dass der Baum seine Botschaft in der Rinde konserviert hat?

Und ich, ich stehe nun auch vor ihm, halb mitleidig, dass man ihm mit dem Messer Gewalt angetan hat, halb ehrfürchtig, dass ihm keine Liebe zu gering ist, um nicht bewahrt zu werden.

Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen, heißt es in der Bibel. Liebe sucht Ewigkeit. Wie brüchig unsere Fähigkeit zu lieben auch immer sein mag, der Wert der geschenkten Zuwendung zweier Menschen wird bleiben. Mögen Herzen auch vernarben in der Mühe um das Gelingen einer Ehe, im Schmerz über Enttäuschung und Trennung oder in der Angst vor Verlust und Einsamkeit – Liebe ist niemals sinnlos oder vergeblich. Auch wenn sie sich auf Erden nur zum Teil erfüllt, so bleibt sie doch ein Angeld auf die Ewigkeit.

Denn die Liebe glaubt,
glaubt an Gott oder wie die himmlische Kraft auch immer heißt;
sie hofft über alle Grenzen hinaus.
Sie ist die Größte.


AMEN.

Vom Glück »Gott sei Dank« zu sagen

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

alle fünf, sechs Jahre, fallen der Erntedanktag und der 3. Oktober, unser Nationalfeiertag, aufeinander. Ob das nur ein Zufall ist, oder ob da nicht doch auch ein wenig himmlische Regie spielt? Heute ist es wieder einmal so: wir feiern Erntedank, in Magdeburg feiern sie den „Tag der deutschen Einheit“, zum 31. Mal inzwischen. Ich komme aus der alten Bundesrepublik, da trug der 17. Juni diesen Namen. Es gab zwar auch schulfrei, aber gefeiert hat eigentlich keiner. Weil kaum einer wirklich an die Wiedervereinigung geglaubt hat, obwohl man zumindest an diesem Tag gerne von „unseren Brüdern und Schwestern drüben“ redete. Man ließ die Politiker ihre Reden halten, freute sich über den freien Sommertag, machte Ausflüge oder besuchte die Oma.

Auch nach 31 Jahren im neuen Deutschland haben wir kein wirklich geklärtes Verhältnis zu unserem Nationalfeiertag. Das hat wohl mit unserer Geschichte zu tun. Aber etwas ist doch anders geworden gegenüber dem „17. Juni“. Die Repräsentanten des öffentlichen Lebens aus ganz Deutschland feiern die „Wiedervereinigung“ wie eine Art Erntedankfest. Sie versuchen es jedenfalls. Obwohl sie und wir alle wissen: trotz etlicher „blühender Landschaften“, die inzwischen wirklich entstanden sind in den neuen Bundesländern - überwältigend üppig ist die Ernte der bisherigen Vereinigungsbemühungen bisher nicht. Die so unterschiedlichen Ergebnisse der Wahl vor einer Woche in West und Ost zeigen einmal mehr: die Wahrnehmung der Realität zwischen Regierenden und Regierten klafft weit auseinander. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz, Beauftragter der Regierung für die neuen Länder, hat durch seinen Klartext hierzu im Frühsommer eine heftige Debatte ausgelöst. Wie immer man zu seinen Aussagen steht, es zeigt wohl, dass er da in eine offene Wunde gegangen ist. Aber trotz alldem, sie feiern jetzt in Magdeburg. Und das ist gut so! Nicht obwohl, sondern durchaus weil die Probleme nicht wenige sind. Das klingt widersprüchlich. Aber genau mit diesem Paradox sind im Kern des Erntedankfestes.

I.

Unser Unser Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief hilft uns, auf die Spur zu kommen. Dieser Brief - er ist unter den Paulusbriefen der farbigste, erfahrungsgesättigste - ist nicht an Menschen im ländlichen Bauernidyll, sondern an Großstädter gerichtet. Und zwar an solche, die mehr zu kämpfen hatten als wir. Die Menschen der jungen, von Paulus gegründeten Christengemeinde in der pulsierenden Hafenstadt Korinth gehören nicht zur urbanen Elite. Es sind „kleine Leute“: einige sind Sklaven, viele Hafenarbeiter. Heute würden viele von ihnen unter Hartz IV fallen. Denen wird das Danken nicht leichter gefallen sein als uns. Aber Paulus traut ihnen ganz offensichtlich zu, dass sie sehen: materiell sind wir zwar dürftig dran, aber wir haben einen Reichtum, der sich gar nicht in Geld aufwiegen lässt - nämlich einen reichen Gott! Mit diesem Predigttext werden wir vor einer falschen Erntedank-Romantik bewahrt. Denn er macht dieses Fest durchsichtig für sein eigentliches Geheimnis:

„Er sendet Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein, / er wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein; / und bringt ihn dann behende in unser Feld und Brot: / es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott“.

Die menschlichen Anstrengungen um die Gestaltbarkeit des Lebens werden immer ausgeklügelter und in vielen Bereichen auch erfolgreicher: Agrarindustrie, Biochemie, Reproduktionsmedizin, KI. Und doch wird auch immer deutlicher der Kontrast dazu, also wo das nicht gelingt. Wo Leben kontingent, unverfügbar bleibt. Unter den vielen neuen Worten, die uns Corona beschert hat, ist Vulnerabilität vielleicht das wichtigste, weil es eine unveränderliche Grunddimension des Menschlichen kennzeichnet. Das hat unsere Ahnung verstärkt, dass unser Leben, unser alltägliches Tun auf Voraussetzungen beruht, die wir selbst nicht garantieren können. Wir haben durch die Pandemie wieder ein sensibleres Gespür für das bekommen, was das eigentlich meint: Ernte-Dank.

Unser Text ist eigentlich eine Kollektenabkündigung - wie wir das aus unseren Gottesdiensten kennen. Paulus bittet die Gemeinde in Korinth um einen Obolus für die „Heiligen“ - damit meint er die Mitglieder der Urgemeinde in Jerusalem. Die waren materiell keineswegs besser dran. Zugleich geht es sicher auch um ein starkes Statement für die Gemeinschaft, die Paulus, der Heidenapostel, mit der judenchristlich geprägten Jerusalemer Gemeinde aufrechterhalten will. Die hatte eine historische Vorrangstellung. Das erinnert ein bisschen an den sog. Peterspfennig, der in der katholischen Kirche einmal im Jahr weltweit als Kollekte für den Vatikan erhoben wird. Paulus hofft, dass die Kollekte für Jerusalem nicht kärglich ausfällt, sondern „im Segen“. Das traut und mutet er den Korinthern zu, dass sie trotz ihrem Wenigen dennoch etwas abgeben können.

II.

Den Grund dafür finden wir am Ende unseres Abschnitts. Dort bricht Paulus in den Jubelruf aus: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ „Gott sei Dank!“ - normalerweise geht uns das eher gedankenlos über die Lippen. Und doch hat das Wort „Gott“ als Adressat unserer Dankbarkeit in diesem Ausruf seinen tiefen Sinn. „Gott sei Dank“: so rufen wir, wenn wir an einem kritischen Punkt endlich weitergekommen sind, wenn wir aus einer zugespitzten Lage unverhofft rausgekommen sind und wieder eine Perspektive sehen. Zum Beispiel: Wir gehen zum Arzt. Völlig unerwartet stellt der etwas Verdächtiges fest. Dann nach Tagen des Bangens das erlösende Ergebnis: Die Gewebeprobe war ohne Befund. „Gott sei Dank!“, die Gefahr ist vorbei. - Oder: Eltern haben lange nichts mehr von ihrer Tochter gehört. Es hatte immer wieder Streit gegeben, und irgendwann war sie von Zuhause weggereist. „Irgendwohin nach Südamerika“, stand auf dem Zettel, den sie hinterlassen hatte. Dann, nach Monaten der Ungewissheit, kommt ein Brief. „Gott sei Dank!“, ein Lebenszeichen. Die Zeit des Verstummens, der Angst ist vorbei. - „Gott sei Dank!“: Immer zeigt dieser Ausruf, dass wir spüren: wir sind nicht festgefahren, das Leben bewegt sich wieder.

So auch Paulus: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ Gott sei Dank, dass dieser Gott so sehr interessiert an uns ist, dass er alles riskiert, um uns aus der Sackgasse unserer Selbstbezogenheit, unserer Schuld herauszuführen. „Unaussprechlich“ - er will damit sagen, dass Gottes Gabe von einer Art und Größe ist, dass unsere Sprache viel zu klein ist, das zu fassen. Ein schöner Kanon in unserem Gesangbuch von Angelus Silesius fasst das in Worte: „Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben. / Ach, dass wir Armen, nur so kleine Herzen haben“ (EG 411). Paulus will damit etwas von dem tiefsten Geheimnis Gottes andeuten, in dem auch sein Reichtum beschlossen liegt: dass dieser Gott einer ist, der nicht nur etwas, oder auch sehr viel, sondern nicht weniger als alles uns zum Geschenk gibt: nämlich sich selbst. Dass er also etwas tut, was kein Mensch tut, weil es keiner kann, auch in der glücklichsten Liebe nicht: „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32). Diese Gabe ist es, die er als „unaussprechlich“ preist.

Und das tut er zum Schluss eines ausführlichen Abschnitts, in dem keine steilen theologischen Gedanken ausgebreitet werden über Menschwerdung, Kreuz und Erlösung, sondern in dem ganz praktisch und konkret zum Geldsammeln aufgefordert wird. Der sog. „schnöde Mammon“ gehört also nicht in den glaubensfreien Raum, er ist nichts Unheiliges, sondern hat unmittelbar zu tun mit Gottes großen Taten an uns. Wer an Gott glaubt, der selber die unaussprechliche Gabe ist, meint Paulus, der kann gar nicht anders als Herz und Hände weit zu öffnen.

III.

Liebe Gemeinde,deshalb ist das Erntedankfest ein Ruf zur Diakonie. Wenn es eine schöne liturgische Feier bleibt, wo wir nur den Anblick der Blumen um den Altar genießen, dann verfehlen wir diesen Tag. Der Erntedankaltar steht ja nicht für sich selbst, sondern er ist ein Fingerzeig auf etwas anderes: Hinter der Welt, wie wir sie erleben, stehen nicht nur Mühe und Arbeit, Scheitern und Leid. Hinter dieser Welt steht auch und zuerst ein großes Schenken. Jeder Apfel, jede Ähre am Altar will uns nahebringen: Wir sind Leute, an denen Gott sein Interesse nicht verloren hat.

„Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her, / der Strohhalm und die Sterne, das Sandkorn und das Meer“.

Wenn wir diesen Tag ernst nehmen, dann erwächst aus ihm die Erkenntnis, dass alles, was wir haben, materiell und innerlich, Geschenke sind, die Gott uns zu treuen Händen anvertraut hat. Und wie jeder, der jemand anderem ein Geschenk aus Liebe macht, hofft Gott, dass wir mit dem großen Geschenk des Lebens in und mit seiner Schöpfung liebevoll umgehen.

„Wer da kärglich sät, wird auch kärglich ernten“, meint Paulus. Das ist natürlich nicht so gemeint, als würde erst auf einer drei- oder vierstelligen Spende Gottes Segen ruhen. Die innere Haltung ist das Entscheidende. „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“, sagt Paulus. Das heißt: Wer nur wenig geben kann für „Bot für die Welt“, aber weiß, dass das, was für uns wenig ist, anderswo richtig viel ist, der verändert die Welt mehr als der, der von seinem Steuerberater den Tipp bekommt, dass diese oder jene Spende auch noch clever ist. Und solche Saat bewirkt, dass über Meere und Erdteile hinweg Verbundenheit entsteht. Das Geldsammeln für die, die sich selber kaum helfen können, ist eine Nagelprobe, ob in einer Gemeinde Glaube, Hoffnung und Liebe lebendig sind. So tauchen die Geschwister aus Jerusalem, die damals in die Geschichte der Korinther verwoben waren, heute wieder auf, aus vielen Richtungen: in dem teppichknüpfenden Kind aus Bangladesh, in der Frau aus den Favelas in Sao Paulo, in den bis aufs Skelett abgemagerten Leuten im Südsudan. Sie sind deshalb unsere Geschwister, weil sie genauso das Recht haben, so dankbar wie wir singen zu können: „Herr, die Erde ist gesegnet von dem Wohltun deiner Hand.“ Solange es so viele gibt, die das nicht singen können, solange dürfen wir das nie ohne etwas Erschrecken singen.

Als Kinder konnten wir gar nicht genug von unseren Eltern aus deren Kindheit erzählt bekommen. Am spannendsten fanden wir die Erzählungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Unser Vater erzählte uns oft, wie überwältigend das für ihn war mit den berühmten Care-Paketen. Sie hatten entfernte Verwandte in den USA. Es hatte nie Kontakte gegeben, sie waren ihnen unbekannt. Die Verwandten dort hatten für den Kauf eines Autos gespart. Aber dann lasen sie 1945 in der Zeitung von der Not in Germany, erinnerten sich, dass es dort Verwandte gab, legten den Autokauf ad acta und investierten ihre Ersparnisse jahrelang in prall gefüllte Care-Pakete. Für unseren Vater waren Schokolade und Erdnüsse noch mehr als Kostbarkeiten, die auf der Zunge zergingen. Da waren unbekannte Verwandte, die ihm zeigten: du bist uns nicht gleichgültig, du bist uns etwas wert!

Auch mit Care-Paketen kann man diesen Jubel des Paulus einstimmen: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ Unser Leben ist so viel wert, wie wir es Gott verdanken. Und darum ist es auch so viel wert, wie wir es für andere leben. Singen wir uns deshalb jetzt dankbar zu:

Keiner kann allein Segen sich bewahren.
Weil du reichlich gibst, müssen wir nicht sparen.
Segen kann gedeihn,
wo wir alles teilen,
schlimmen Schaden heilen,
lieben und verzeihn.
(EG 170,2)


AMEN.

Wir glauben, Herr, hilf unserem Unglauben!

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Gerade nur aus zwei Versen besteht dieser Predigttext. Aber die haben es in sich. „Herr, stärke uns den Glauben“: frommer geht’s kaum. Demütig erbitten die Apostel, was man nur empfangen kann. Aber auch krasser geht’s kaum: Statt milde zu geben, sinniert Jesus über botanische Mehr-fachwunder. In dieser Bitte der Jünger jedenfalls „Herr, stärke uns den Glauben!“ steckt eigentlich alles drin, worauf es ankommt, wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen. Nicht erst seit Corona über uns gekommen ist, durchleben wir Zeiten, in der wir das so sehr brauchen: Glaubensstärkung. Das Leben die Woche über setzt uns zu. Wir werden von Montag bis Samstag hin- und her gerissen zwischen all dem, was wir eigentlich tun sollten, und dem, was wir anderen, manchmal auch uns selbst, schuldig bleiben. Und wenn wir, wie Ende Juli, Bilder mitten aus Deutschland sehen, die wir uns hierzulande kaum vorstellen konnten mit dem Ausmaß an Verwüstung, durch Starkregen ausgelöst, und Menschen, die binnen Stunden fast alles verloren haben: dann können wir sehr klein und mutlos werden in unserem Glauben an einen Gott, „der alles so herrlich regieret“. Da wird mir diese Bitte der Jünger sehr nah: „Stärke uns den Glauben!“, damit ich trotz allem daran festhalten kann, dass es sich zu leben lohnt in dieser schönen, schrecklichen Welt.

I.

Die Kirche kann keine bessere Funktion haben, als uns immer wieder aus unserer Resignation und Traurigkeit zum Gottesdienst zu rufen, damit unser Glaube gestärkt wird. Der Gottesdienst, liebe Gemeinde, ist eben nicht nur ein religiöses Ritual, sondern ein Therapeutikum: Er will die Lebensgeister wecken, er will uns Mut machen und Freude wecken in einer Welt, die mut- und freudlos machen kann. Wo der garstige Graben zwischen den großen biblischen Verheißungen und der Welt, wie sie ist, Ohnmachtsgefühle, Zweifel, Herzenstraurigkeit auslösen kann, so dass darüber der eigene Glaube eingehen kann wie eine Primel. Heute vor 20 Jahren, am 12. September 2001 machte die Bild-Zeitung mit der in riesigen Lettern über die gesamte Vorderseite gezogenen Headline auf: „Großer Gott, steh uns bei!“ Gewöhnlich lobt man „Bild“ in der Kirche nicht, gibt es auch wenig Grund zu. Aber diese Schlagzeile war großartig, weil sie für das, was eigentlich jede Sprache gesprengt hat, doch Worte fand, und zwar die einzigen, die überhaupt noch irgendwie angemessen waren. Weil dieser Ruf „Großer Gott, steh uns bei!“ präzise aus-drückte, dass es Situationen gibt, wo wir ganz unten sind, wo nichts mehr geht mit Vertrauen auf unsere Kräfte und Ressourcen, wo wir nur noch angewiesen sind – oder wir vergehen. Deshalb sind mir die Jünger in unserem Text sympathisch. Auch sie, das zeigt ihre Bitte, sind keine Glaubenshelden, sondern Verunsicherte, Zweifler wie du und ich. Hier in dieser Szene kommen sie mit leeren Händen zu Jesus. Sie kennen die großen Verheißungen der Bibel, sie kennen vor allem Jesus, auf den sie alles gesetzt haben - und doch spüren genau, dass sie weit hinter diesen Verheißungen, hinter Jesu Anspruch zurückbleiben. Uns in ihnen wiederzuerkennen ist nicht schwer. Das wünsche ich uns, dass wir immer wieder mit dieser Sehnsucht im Herzen zum Gottesdienst kommen: „Herr, stärke mir den Glauben!“

II.

„Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn“ - das genügt! Eine erstaunliche, beim ersten Hören fast unsinnig erscheinende Antwort. Erwartet Jesus gar nicht den starken Glauben, sondern nur eine Minimaldosis davon? Wie ist das zu begreifen? Weiß Jesus etwas von der Versuchung, im Glauben felsenfest verankert sein zu wollen, damit die Not der Welt einem nicht so quälend nicht zu Herzen geht? „Keine schlimmere Häresie als solche Orthodoxie!“, hat der große Theologe Karl Barth dazu gesagt. Es gibt ein Im-Glauben-Stehen, eine unangefochtene Glaubenssicherheit, die gefährlicher sein können als Unglauben. Nach der Melodie „Ein Christ, der schaut in Glaubensruh / dem Einsturz ganzer Welten zu“. Manchmal wollen wir diesen starken Glauben, um für uns allein den ruhigen Ort zu finden, während rings um uns herum vieles in Brüche geht: Ehen gehen kaputt, Kinder brechen mit ihren Eltern, Familienväter verlieren ihre Arbeit, Ausländer oder Homosexuelle werden gejagt. Einen starken, großen Glauben zu haben, so dass ich all die kleinen und großen Dramen auf Abstand halte: das wäre doch was. Jesus macht uns einen Strich durch diesen frommen Wunsch: Ihr wollt eindrucksvolle Glaubensstärke, um unbeeindruckt zu bleiben von der Not der Welt, von der Not derer, die gar nicht die Luft haben, um sich ihrerseits um ihren Glauben zu sorgen - so nicht, liebe Leute!

Das wünsche ich uns, dass wir in unseren Gottesdiensten erfahren, dass wir nicht nur in unseren religiösen oder sonstigen Bedürfnissen bestätigt werden; dass wir die Botschaft des Evangeliums nicht nur so hören, wie es unserem Gusto entspricht; dass wir von unserer Kirche und ihren Vertretern nicht nur erwarten, dass sie es uns selber recht macht und Recht gibt, und den anderen ordentlich austeilt. Wer zum Gottesdienst kommt, kann immer damit rechnen, dass er von Jesus zurechtgewiesen und auf eine neue Spur gebracht wird - so wie dort die Jünger.

Jesus erklärt dann seine Zurechtweisung näher: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn und sagt zu diesem Maulbeerbaum: Reiß deine Wurzeln aus und verpflanze dich ins Meer!, so wird er auch gehorsam sein“. Das ist ein merkwürdiges, ja ein bizarres Bild. Wofür steht es? Was den Glauben in Jesu Augen zum rechten Glauben macht, ist nicht Unerschütterlichkeit, imponierende innere Stärke, Verwurzeltsein um jeden Preis, sondern das Vertrauen darauf, dass uns Gott bis in die Wurzeln unserer Existenz zu neuen Menschen verwandeln kann. Was wir nicht hinkriegen, weil wir immer wieder die Alten bleiben - oft bleiben wir ja hinter unserem scheinbar starken Glauben die alten misstrauischen, wehleidigen, von Angst besetzten Leute -, das können wir Gott zutrauen: dass tief eingewurzelte Gewohnheiten, Stimmungen und Launen von Grund auf verändert werden. Das brauchen wir in einer Zeit, da mörderischer religiöser Fanatismus und Hass vielerorts mit Gegenhass beantwortet wird und wo, wenn wir ehrlich sind, auch wir nicht frei sind davon, beim Wort „Islam“ sofort an Fanatismus und Gewalt zu denken. Aber dann bleiben wir die Alten, dann verharren wir in unserem Unglauben.

III.

Wir sollen jedenfalls nicht darauf aus sein, einen starken Vorzeigeglauben zu haben, an den man die Messlatte anlegen kann. Wir sollen uns - und erst recht anderen - nicht ständig den Glaubenspuls fühlen. Wer das tut, kommt von sich selbst nie und nimmer los. Das war ja Luthers Drama in seinen sog. Klosterkämpfen mit der Frage „Wie werde ich Gott recht?“ als junger Mönch im Erfurter Augustinerkloster. Er kam mit seinen verbissenen Frömmigkeitsübungen immer weniger von sich selber los - bis er die alles verändernde, befreiende Entdeckung machte: nicht mein Frommsein ist’s, wodurch ich Gott recht und lieb werde, sondern er liebt mich grundlos, wie eine Mutter ihr Kind, und sei es noch so nervig. Und gerade das lässt mich an ihn glauben. So begegnete Luther Jesus, und so will Jesus auch uns begegnen, indem er uns ins Herz brennen will: Euer Glaube, wenn er „rechter“ Glaube ist, glaubt nicht an sich selbst, sondern er glaubt an Gott! Er sagt nicht: Ich traue mir dies und das zu; er sagt: Ich will es Gott zutrauen, dass er mich stark macht! „Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön wären, sondern die Sünder werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“, lautet einer der tiefsten Sätze von Luther. Das ist es!

Bei einer internationalen ökumenischen Begegnung in den 50er Jahren erzählte ein Franzose: Meine Eltern wurden im Krieg von der SS erschossen. Ich hatte mir damals geschworen, die Deutschen mein Leben lang zu hassen. Ich bin hierher gekommen, um französische Freunde zu treffen. Heute Morgen beim Gottesdienst unter den Kastanien war neben mir ein Platz frei. Ein Deutscher kam und setzte sich neben mich. Es war kalt. Ich legte meinen Umhang um uns beide. Aber ich sagte mir: Er ist nicht dein Freund, er ist ja Deutscher. Dann, beim Abendmahl, standen wir vorne am Altar wieder nebeneinander. Als ich neben ihm das Brot und den Kelch empfing, wusste ich auf einmal: Christus ist auch für diesen Deutschen gestorben. Er ist dein Bruder“.

Das ist für mich eine eindrucksvolle Auslegung dieses Glaubensgesprächs der Jünger mit Jesus. Dieser Franzose hat nicht aus sich selbst heraus, aus irgendwelchen inneren Ressourcen an Moral, Glauben und Barmherzigkeit den Weg zum Bruder gefunden. Da war nur tief eingewurzelte Wut und Bitterkeit. Aber dann hat er Christus, seine Nähe erfahren, und konnte plötzlich auf Gottes vergebende Kraft vertrauen. Das ist Senfkornglaube, der kein starker Vorzeigeglaube ist.

Gebe Gott, dass wir miteinander diese Kraft Jesu suchen und erfahren, die an die Wurzeln unseres eigenen Lebens und der Welt geht, tief eingewurzelte Hoffnungslosigkeiten überwindet, und uns inmitten unseres kleinen Glaubens mit Gottes Verheißungen rechnen lässt, die unser Leben und unsere Welt verwandeln. Wir glauben, Herr, hilf du unserem Unglauben!

AMEN.

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

was für ein fremd klingender Text. Er scheint aus ganz weit entfernten Welten zu uns zu kommen. Er geht schon merkwürdig los- als hätten die, die ihn ausgewählt haben, etwas abgeschnitten. Der Text setzt ein mit einem „aber“: „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit…“ Bevor dieser Textabschnitt Gottes Taten rühmt, ist ihm etwas ganz anderes vorangestellt. Eine knallherbe Aussage nämlich: „Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gelebt habt nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams. Unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unseres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Sinne und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern.“

I.

Da gibt es also Leute - die anderen nämlich - die wohl immer noch tot sind durch ihre Übertretungen und Sünden. Und dann gibt es die einen - nämlich uns -, die waren tot durch ihre Übertretungen und Sünden. Wir sind es also nicht mehr. Warum? Womit haben wir das verdient? Der Predigttext sagt glasklar: durch gar nichts! Denn: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch, sondern Gottes Gabe ist es.“ Aus purer Gnade und Barmherzigkeit also. Oder eher aus purer Willkür Gottes? Je näher man diesen Text anschaut, desto ungemütlicher kann einem werden. Denn die Voraussetzungen dieses Gotteslobes sind nicht wirklich anschlussfähig an das Selbstbild von uns sog. modernen Menschen. Da ist zum einen, als erstes Ärgernis, diese Unterscheidung zwischen den anderen und uns. Die anderen sind immer noch tot in Sünde und Übertretung - wir aber längst nicht mehr. Irritierend für uns ist diese Exklusivität, oder althergebracht gesprochen: dieses Auserwähltsein. Und was für eines: „Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war“ (Eph 1,4). Noch bevor wir lebten, bevor wir einen Schnaufer, geschweige denn eine Sünde taten, waren wir auserwählt. Die anderen aber nicht. Das verstehe wer will.

Nun ja, so mochte ja der Absender des Briefes wohl noch an die Gemeinde in Ephesus schreiben. Er wollte seine Adressaten nämlich vor einem anderen Exklusivitätsanspruch in Schutz nehmen. Er wollte sie über den Makel der damaligen Zeit trösten, keine Judenchristen, also zur Urgemeinde konvertierte Juden zu sein, sondern arme Heidenchristen. Leute also, die aus dem religiösen Nichts zu den Christen gestoßen waren. Denen ruft er zu: Ihr alle seid auserwählt, von Anfang an!

Aber heute? Können Christen noch so reden, dass sie eine derart exklusive Grenze ziehen zwischen sich und den anderen? Wir scheuen ja heute exklusives Denken wie der Teufel das Weihwasser, wir wollen auf allen möglichen, manchmal vielleicht auch unmöglichen Ebenen inklusiv sein. Was ja auch verständlich ist, weil wir auf die schrecklichen Vereinfacher schauen, deren Weltbild aus Gegenüberstellungen besteht: wir-die; weiß-schwarz; deutsch-fremd; rechts-links, etc. pp. Und die postulieren, dass sich alle diese Pole zueinander verhalten wie Feuer und Wasser, die also unser Gemeinwesen spalten wollen. Also allein schon mit Blick darauf: Könnten wir je so tun, dass wir eine Grenze ziehen zwischen allen Christen, also auch jenen Christen, die einmal Juden gewesen waren, und jenen vielen Menschen, die immer noch und immer nur - Juden waren, sind und bleiben wollen? Solche Grenzziehungen bleiben uns, nach all der christlichen Judenfeindschaft und ihren grausigen Folgen, uns im Halse stecken.

Überhaupt, dass wir Menschen jemals besser sein könnten als wir es einmal waren; oder noch schärfer, wie es unser Text zu sagen scheint: dass wir früher total schlecht waren, und heute ganz und gar gut sind, das ist doch klassisch fundamentalistische Schwarz-Malerei. Die nehmen wir uns selber nicht mehr ab. Wie gesagt, wir haben es ja nicht mehr mit den scharfen Unterscheidungen, auch nicht mehr zwischen katholisch und evangelisch. Allenfalls noch in der eigenen Kirche: zwischen evangelisch und evangelikal, konservativ und liberal, lutherisch und reformiert… Ja, wir Menschen sind eine merkwürdige Spezies: Wir machen unsere Unterschiede am ehesten dort, wo es keine geben sollte. Ansonsten lassen wir lieber fünfe grade sein, und alle Katzen grau.

II.

Nun kommt aber noch ein zweites Ärgernis hinzu. Und da verfangen wir uns in der selbstgestellten Falle – aus der uns letztlich, wie wir noch sehen werden, nur die Aussagen unseres Predigttextes befreien können. Wir modernen Menschen glauben nämlich, zum einen, nicht wirklich an die Verbesserung des Menschengeschlechtes. Dass wir gestern Sünder waren und tot in all unseren Fehlleistungen, dass wir aber heute das alles nicht mehr sein sollen: das kommt uns ziemlich spanisch vor. Woran kann man denn dergleichen festmachen? Viel sympathischer und plausibler ist uns die Auffassung, dass der Mensch an sich eigentlich ja schon gut ist – dass er aber durch soziale Bedingungen, für die er in der Regel nichts kann, dann leider ziemlich korrumpiert wird.

Wir glauben also schon deshalb nicht an eine fundamentale Veränderung des Menschen, weil wir gar nicht wahrhaben wollen, dass der Mensch (und zwar nicht irgendein Mensch, sondern ganz konkret wir selbst) jemals so total schlecht, so verworfen sein könnte, dass man mit unserem Predigttext von ihm sagen müsste: „Auch du bist – und zwar wie jeder – tot durch deine Übertretungen und Sünden, in denen du lebst nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams.“

Will ich mir wirklich so etwas über mich sagen lassen? Und sei es nur, dass ich früher mal so war? Im Klartext: Das ist Fundamentalismus pur. Es erinnert mich an eine Predigt, die ich vor über 30 Jahren einmal in einer Baptistenkirche in New York gehört habe. Der Pastor predigte eine dreiviertel Stunde lang mit nicht enden wollenden Leidenschaft und Beredsamkeit nur einen immer neu illustrierten Satz. Er lautete, in der Sache niemals variiert: You all are dreadful sinners! – Ihr seid alle schreckliche Sünder! In einer schon monumentalen Monotonie: Because you all are dreadful sinners! Nicht nur die heutige Predigtlehre würde das wohl kaum als überzeugende Darbietung des Evangeliums durchgehen lassen.

Trotzdem ist mir diese Predigt sehr gut haften geblieben. Und das durchaus nicht nur als skurriles Negativ-Beispiel! Denn wenn wir uns einmal wirklich und unverstellt auf unsere Verfasstheit, auf das Wesen und Motiv unserer Entscheidungen, auf die Grundmuster unseres Verhaltens einlassen – kommt uns dann nicht doch langsam, heimlich und unheimlich die Gefangenschaft, die Verstrickung in mancherlei Schlingen den Sinn, die zumindest auch eine Potenz zum Tod erkennen lassen, zum Ersticken in all den Stricken? Entdecken wir dann nicht doch auch manches Verkehrte, Verdrehte in unserem Leben – das sich immer weiter dreht und verdreht?

Und einmal angenommen, wir akzeptieren, dass es auch solches in uns zu entdecken gibt: glauben wir wirklich, wir könnten diesen Sachverhalt ad acta legen? Vielleicht leben mitten unter uns mehr Menschen, als wir ahnen, die sich derart heillos verstrickt und gefangen fühlen. Und die diesen Alpdruck nicht abschütteln können, schon gar nicht aus eigenen Kräften, im Gegenteil: Ein Alpdruck, der sich immer fester setzt, je wehrloser und heilloser man ihn verjagen möchte. Und dann klingt dieser Satz aus New York dann doch gar nicht mehr so skurril und daneben: You all are dreadful sinners! Vielleicht sind wir wirklich schreckliche Sünder – auf schreckliche Weise Gefangene der Sünde und Übertretung? Wenn ich ehrlich mit mir selbst und der Welt bin, in der ich lebe, dann finde ich diese robuste Aussage fast realistischer als das blanke Gegenteil, das heute so oft verbreitet wird: Alles wird gut! Ihr seid doch alle gut! Passt nur gut auf Euch auf!

Das also ist die Lage, in die hinein unser Predigttext spricht. Er sagt uns: Auch dort, wo ihr selbst, aus eurer Kraft, nichts ändern könnt an all dem Verfehlten und Verdrehten, wo ihr euch buchstäblich in einer unentrinnbaren Falle wiederfindet – selbst dort ist noch nicht aller Tage Abend. Ja, noch mehr, und erst recht: Solange ihr euch aus eigener Anstrengung von diesem Alpdruck befreien wollt - solange wird es finster bleiben!

III.

Vergessen wir also für einen Moment all das Merkwürdige, worauf unser Text zurückweist. Schauen wir auf das, worin er nach vorne weist. Dass es da überhaupt heißt, es gebe eine Möglichkeit, all diesen Verstrickungen und Verdrehungen zu entkommen, und zwar ganz ohne eigenes Zutun, ja geradezu: nur ohne eigenes Zutun: Ist das nicht schon ein Wunder für sich? Ist nicht allein die Tatsache, dass davon geschrieben und dass das geglaubt werden kann, ein Keim der Befreiung? Die christliche Sündenpredigt – auch das immer wiederkehrende: You all are dreadful sinners! – hat selbst etwas Verkehrtes an sich, jedenfalls dann, wenn daraus folgen sollte: Ihr müsst endlich bessere Menschen werden. Reißt Euch zusammen! Das wäre plumper Moralismus. Aber so spricht der Epheserbrief in seiner uns fremden Sprache und Strenge über die Sünde – eben gerade nicht! Denn unser Predigttext erklärt die Sünde, erklärt all das tödlich Verkehrte und Verdrehte in unserem Leben als bereits überwunden. Und das eben nicht durch menschlich-übermenschliche moralische Anstrengung an uns selbst, sondern durch Gottes freie Zuwendung und liebevolle Gnade – selbst zu uns.

Ich versuche das mit einem Bild anschaulich zu machen. Ich frühen Mittelalter gab es eine merkwürdige Sitte. Der König konnte ja nicht überall sein, also auch nicht überall seine Gnade walten lassen. Deshalb sandte er Boten aus, Leute, die vom König das Recht erhalten hatten, i jede Gerichtsverhandlung einzugreifen. Sie trugen einen langen Mantel und konnten ihn über jeden angeklagten Menschen werfen, auch wenn die weltliche Justiz ihn schuldig gesprochen hatte. Damit stand dieser Mensch unter der Gnade des Königs und kam auf der Stelle frei. Der König übernahm in der Person seines Boten alle Verantwortung und Verpflichtung für ihn.

Das finde ich ein schönes Bild für den schwierig zu begreifenden Sachverhalt, den unser Epheser-Text in so hohe Worte leidet. Denn genau so wirft unser Gott seinen Mantel über dich und mich uns sagt Ja zu uns. Mit diesem Ja nimmt er alle Verantwortung für dein und mein mehr oder weniger verfehltes, rätselhaftes Leben auf sich. Du bist frei – nicht weil du dir das verdient hast, sondern weil ich dich so sehr liebe, das ich dich frei sehen will. Du hast es deshalb auch nicht mehr nötig, dein Leben ständig selbst zu kontrollieren, dich immer wieder selbst zu rechtfertigen.

Man muss sich das nur gefallen lassen - und dran glauben. Das klingt vielleicht schwierig, an so etwas zu glauben. Aber im Kern ist Glauben einfach, wie der frühere Papst Benedikt XVI. gerne sagte. Und da hatte er Recht. Denn Glauben heißt im Kern sehr einfach: Ja dazu sagen, dass wir von Gott unbedingt bejaht sind! Oder wie es der Verfasser des Epheserbriefs leider um einiges umständlicher ausdrückt: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“ Und da gilt dann wirklich in einem hoch erfreulichen Sinn: Wer’s glaubt, wird selig!


AMEN.

gehalten von
Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Liebe Gemeinde,

Manchmal muss man das Glück auch zwingen.
Es gibt solche Situationen im Leben, die lange in der Schwebe blieben.
Und dann spitzt es sich zu.
Durch ein äußeres Ereignis.
Durch eine Entscheidung anderer.
Durch einen Wendepunkt in der Geschichte.
Durch eine Krise der Gesundheit oder einfach durch ein Lebensjahrzehnt, das sich rundet.

Manchmal muss man das Glück auch zwingen.
Das heißt, eine Entscheidung treffen, von der man meint, dass es die richtigen ist. Wir sind es nicht mehr gewohnt zu fragen, welchen Plan Gott für unsere Leben hat. Und es ist auch die Frage, ob das überhaupt die richtige Frage ist. Sitzt er wirklich da oben und hat alles vorherbestimmt, was werden soll? Oder müssen wir es anders denken? Etwa so: Wie webt sich unser Lebensfaden ein in das große Muster des Gewebes, das Gott entstehen lassen will? Das heißt konkret: Welche unserer Entscheidungen erweisen sich als letzte Wahrheit auch unter den Augen Gottes. Und wenn wir glauben dürfen, dass Gott es gut mit uns meint, dann ist mit jeder Frage nach dem Glück auch die Frage gestellt, was die letzte Wahrheit auch über unser Leben ist. Welche hat Gott über uns und über die Geschichte der Welt ausgesprochen? Das zu beurteilen, sind wir nicht in der Lage, weil der Faden nicht das Muster kennt. Das mögen wir getrost Gott überlassen.

Befiehl du deine Wege, und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege, des, der den Himmel lenkt, dichtet Paul Gerhardt.

Da sitzen Menschen in einem Zug zurück von München nach Ostberlin im Jahre 1961, ziemlich genau heute vor 60 Jahren. 13. August. So erzählt es der Film „3 ½ Stunden“, der gestern in der ARD gezeigt wurde. Verschiedene 6er-Abteile. Verschiedene Lebensgeschichten, von jungen Leuten, die gerade noch vor oder im Krieg geboren wurden; von Alten, die beide Weltkriege erlebt haben; von solchen, die wild entschlossen eine bessere Welt im Sozialismus eines ostdeutschen Staates realisieren wollten; und anderen, die mit den Kriegsereignissen im Gepäck auf die Schiene in eine Zukunft gesetzt sind, die neue Entscheidungen erfordern, ohne dass die alten schon verarbeitet wären.

Die Stärke des Films ist, dass er nahezu unparteiisch ist, weder für Ost noch West. Und noch besser darin, dass er sich über jede Lebensgeschichte, wie immer sie ablief, eines letzten Urteils enthält. Es ist, wie es eben ist, oder war.

Problem des Films: Es ist eine etwas künstliche Szene, die hier in den ablaufenden Minuten zwischen dem Bahnhof in München über die Oberfränkischen Städte bis zum Übergang in die noch junge DDR gezeichnet ist. Mit jedem Bahnkilometer steigt der Entscheidungsdruck: Ost oder West. Denn im Transistorradio melden die Nachrichten, wie unter militärischer Bewaffnung, am 13. August  Stacheldraht und Mauer in der Mitte zwischen den Sektoren hochgezogen werden.

Manchmal muss man das Glück auch zwingen.
Wer hat damals schon wissen können, wie und wo das Glück für den je einzelnen tatsächlich zu finden wäre? Und wer will eigentlich in der Geschichte entscheiden, wo das bessere oder das wahrere Leben zu finden gewesen ist. Die Sieger schreiben die Geschichte. Und unsere Deutungen hängen immer vom späteren Verlauf der Geschichte ab. Wie sich das aus Gottes Perspektive darstellt, wo mehr letztliche Wahrheit zu finden ist und gelebt wurde – wer mag das allgemein formuliert überhaupt sagen. Das Urteil bleibt allein Gott vorbehalten, auch wenn der einzelne oder die einzelne mehr oder weniger gute ethische Entscheidungen getroffen hat. Nicht alles kann auch bei größter Enthaltsamkeit einem Urteil über andere gegenüber für gut erklärt werden oder verständlich. Manches muss auch aus menschlicher Sicht beurteilt und verurteilt werden, auch im Wissen dass das letzte Urteil nur Gott zusteht.

Aber für den je einzelnen stellt sich die je eigene Lebensgeschichte so dar, wie sie verlaufen ist. Und es gibt ein mehr oder weniger an Reue und ein mehr oder weniger zumindest an Erklärung dafür, dass es so gekommen ist, wie es war. Und so teilen sie sich den Zug auf dem Gleis in die Zukunft. Die überzeugte Sozialistin und der alte schweigsame Nazi. Die hoffnungsvolle Jungsportlerin und die Band, die die Weite der Welt erleben will. Das alt gewordene Paar, das sich nichts mehr traut und Angst vor neuem Krieg hat. Und dazwischen in verschiedenen Schattierungen Menschen, die eben sind wie sie sind. Alle vor die Entscheidung gestellt: Noch vor der Grenze aussteigen oder weiterfahren in einen Staat, der gerade dabei ist, sich abzuriegeln, d.h. die getroffene Entscheidung zu ver-endgültigen.

Wie gesagt, eine unwirkliche Szene.

Eine unwirkliche Szene auch, die die Bibel im 1. Buch der Könige beschreibt: Elia, der Prophet, will das Glück zwingen, oder besser die Wahrheit. Gott zwingen, zu offenbaren, ob er und wer der wahre Gott ist. Die ewige Wahrheit zwingen, das Muster in der Geschichte zu offenbaren. Und er baut geradezu eine Versuchsanordnung auf dem Berg Karmel. Da wo auch die Baalspriester ihren Gott und die Fruchtbarkeitsgötter verehren. Einen Graben im Kreis um einen alten Altar seines Gottes, den Gott Israels. Er legt ein zerteiltes Kalb darauf zum Opfer für seinen Gott. Durchtränkt alles mit viel Wasser, so dass auch der Graben sich rundherum mit Wasser füllt, und fordert das Gottesurteil. Wer mit Feuer antworten wird, der sei der wahre Gott.

Und die Baalspriester und das Volk rufen Baal an, und nichts passiert. Der Gott des inzwischen einsam dastehenden Elia antwortet mit Feuer; bewahrheitet, dass er da ist und Macht hat, auch wenn das Volk sich inzwischen arrangiert hat damit, dass es andere Götter geben könnte und man eine friedlich Koexistenz pflegen könnte. Dem Eiferer ist es gelungen. Sein Gott antwortet und setzt ihn ins Recht, der so lange darauf warten musste, dass die Zeichen vom Himmel ihm deuten, dass Gott ihn nicht verlassen hat.

Und dann gerät die Szene außer Kontrolle. Elia, so beschreibt es die Bibel, vollzieht den alten Bann, wie sie die Väter als sesshaft gewordene Nomaden noch um der inneren Einigkeit willen vollzogen hatten. Sie töten alle anders Gläubigen. Ein Blutbad im Eifer und in der Meinung, im Recht zu sein, legitimiert vom Höchsten selbst. Die Bibel lässt offen, ob das tatsächlich der Wille Gottes ist, den Elia da ausführt, oder ob es der persönliche Eifer des Propheten war, der da weit über das Ziel hinausschießt und nur sich selbst Genugtuung verschaffen will. Die biblische Geschichte ist vielschichtiger, als dass eine klare theologische Entscheidung zu treffen wäre.

Ich sehe in dem, was danach erzählt wird, eine klare Kritik am Verhalten Elias. Gott hätte es nicht nötig, zu schlachten, um seine Wahrheit in der Geschichte durchzusetzen. Denn, was kommt, ist eine merkwürdige Leere. Gott kritisiert Elia nicht, aber er zieht sich zurück. Das, was kommt, war zu erwarten. Die Königin Isebel, die um eine schiedlich, friedliche Koexistenz der Religionen bemüht war und auch deren Mischung befördert hat, lässt diese Gewalttat nicht ungesühnt. Und schon ihre Androhung reicht, dass Elia sich verfolgt fühlt. Er irrt durch die Wüste getrieben von Angst bis er sich schließlich unter dem Ginster niedersetzt. Auch wenn gar keine Verfolger hinter ihm her sind, verfolgen ihn die Ängste bis in die Träume.

Denn, da bleibt etwas hängen, wenn man knöcheltief im Blut der Feinde gestanden hat; oder wenn man über Tote auf dem Schlachtfeld gestiegen ist. Unsere Großväter haben nicht darüber geredet. Da bleibt etwas hängen, wenn man Menschen in Züge verladen hat, und nicht wissen wollte, wo sie wieder aussteigen werden. Da bleibt auch etwas hängen in unserer eigenen Geschichte, wenn man über andere berichtet hat aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Ja, wenn man den Mut hat, sich alle die Männer oder Frauen vorzustellen, denen man im Leben geschadet hat oder geschadet haben könnte. Da muss man nicht im Unrechtsstaat oder im Krieg gelebt haben. Die Schatten der Vergangenheit verfolgen Menschen; auch die, die es eigentlich immer nur gut gemeint haben. Und da denke ich an die exemplarischen Menschen im Zug oder an alle, die in der Nachkriegszeit und in der jüngeren Vergangenheit ihren Weg genau an ihrem Ort und zu ihrer Zeit finden mussten und ihr Glück gesucht haben; auch auf Kosten manchen Schattens, den sie geworfen haben oder bis heute in sich tragen.

Dann kann es sein, wir wünschen uns gar keinen Gott mehr; kein letztes Urteil, kein Erbarmen, keine Rechtfertigung, nicht einmal mehr Liebe. So wie Elia unter dem Ginsterstrauch. Er wünscht sich zu sterben. So nimm nun, Herr, meine Seele. Ich bin nicht besser als meine Väter.

Und dann stehen da nur ein Krug und etwas Brot.
Die Bibel spricht von Engeln, um es zu vereinfachen, was sich nicht fassen lässt. Eine Zuwendung ohne Worte von einem Gott, der sich entfernt hat; fremd bleiben will den allzu klaren Vorstellungen der Menschen davon, wie Gott zu sein hätte. Um die Leere zu füllen, isst Elia, und es keimt die Ahnung, dass sein Weg noch weit sein könnte. Es führt ihn wieder durch die Wüste, vierzig Tage und vierzig Nächte, hin zum Horeb. Wenn sich Leben bewahrheiten kann, dann im Rückgriff auf die alten Verheißungen und zugleich in der Sehnsucht und im Vorgriff darauf, dass Gottes Wahrheit sich in der Zukunft erweisen wird.

Aber Elia zieht es nicht auf den Berg, sondern in eine Höhle;
Und fragt er sich selbst, oder fragt ihn Gott?
Was willst du hier?
Und als wüsste es Gott nicht längst, resümiert Elia über sein Leben: Ich habe geeifert für den Herrn. Und jetzt stehe ich allein da, verfolgt von Ängsten und ohne eine Gewissheit um die Nähe Gottes.

Und jetzt, da er das Glück nicht mehr zwingen will; der Wahrheit und Offenbarung Gottes nicht mehr die Pistole auf die Brust setzt; seinen Gott nicht in Versuchung führt, sondern leer ist, tritt er heraus aus der Höhle und lässt geschehen, was will.

Sturm, Erdbeben, Feuersbrunst. Er ist ernüchtert genug und geheilt von der Vorstellung, dass sich darin Gottes Gegenwart ereignet; geheilt von der Vorstellung, es müsste Außerordentliches passieren, um Gott als Gott zu erkennen. Die Bibel konstatiert nüchtern: aber der Herr war nicht im Feuer, im Erdbeben, im Sturm.

Fürwahr, es sind stürmische Zeiten. Viele ahnen, dass eine neue Epoche anbricht. Die Zeichen der Zeit sind nicht zu übersehen. Feuersbrunst, Sturm und Überschwemmung, Wind und Klimaveränderung. Grassierende Mächte im viralen Bereich. Seien wir nicht zu schnell, darin Gottes Botschaften zu lesen. Vielmehr gilt für Elia, wie für uns: Wenn geschichtliche, gesellschaftliche oder persönliche Verwandlungen sich ankündigen, lohnt es sich, leer zu werden; Gott nicht mit seinen eigenen Wünschen zu verwechseln; zu warten, wie er sich erweisen will; stille sein.

Ein lautloses Verwehen hörte Elia, wenn denn Sinneseindrücke überhaupt erfassen können, wie das Dasein des entfernten Gottes angemessen zu beschreiben ist. Ein stilles, sanftes Sausen. Eigentlich sieht und hört man nichts. Nur Elia selbst, der behutsam seinen Mantel nimmt und sein Angesicht verhüllt vor einer Gegenwart und Wahrheit, die höher ist alle Vernunft.


AMEN.

In der Wüste – Vom Sinai nach Babylon

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

Wüste: eigentlich braucht das keiner. Eine weitgehend tote Landschaft. Ausgetrocknet, leblos, oft auch ein endloses heißes Nichts. Hunderte von Kilometern nur Sand und Steine. Kein Baum, allenfalls vertrocknete Sträucher. Keine Ahnung, ob vielleicht doch irgendwo eine Oase liegt. Und wenn – wer weiß, ob ich da hinfinde, ob die Vorräte reichen bis dorthin.

I.

Und dann gibt es auch die anderen Wüsten. Die, in die man gerät, ohne eine weite Reise zu unternehmen. Weil eben auch das Leben Wüsten bereithält. Monate, manchmal Jahre, durch die man sich schleppt, wo es Momente gibt, da man sich fragt, ob da überhaupt Leben ist in diesem „Leben“. Gefühlt blüht und atmet da nichts mehr, es geht eigentlich nur noch ums Ertragen und irgendwie Durchhalten. Während meines Studium geriet ich gefühlt mal in so eine Wüstenzeit, weil eine Beziehung zu Bruch gegangen war, was sehr weh tat. Ein guter Freund sagte mir damals: „Ich kann dich nicht weiter trösten, außer dir zu sagen: akzeptiere das jetzt als Wüstenzeit für dich, und halte das aus, statt dich in die Landschaft vor der Wüste zurückzuträumen.“ Nur aushalten – am Anfang kam mir das gar nicht tröstlich und hilfreich vor. Aber je länger je mehr merkte ich, das war ein kluger Rat. Und dann kamen, fast unmerklich zunächst, wieder mehr und mehr Oasen zurück. Es wurde wieder grüner in mir, das Leben kam mir wieder entgegen. Irgendwann merkte ich: die Wüste lag hinter mir, ich war wieder ein vollwertiger Teil des Lebendigen um mich herum. Vor allem aber, und das war das eigentlich Wichtige an dieser Erfahrung: ich merkte in der Rückschau auf die Wüstenwanderung, dass ich sie gar nicht mehr missen wollte. Weil ich an dieser Phase gewachsen war.

Deshalb muss ich den Eingangssatz meiner Predigt eigentlich revidieren, zumindest relativieren. Vielleicht kann man die Wüste manchmal doch auch brauchen. Auf diese Idee kann man auch mit durch Bibel kommen. Dort ist die Wüste nämlich ein Bild von tiefer Doppeldeutigkeit und Ambivalenz. Die Bibel weiß: gerade auch in der Wüste kann Leben wachsen. Der heutige Predigttext, den wir gleich hören, führt uns an den Anfang der 40jährigen Odyssee der Kinder Israel durch die Sinai–Wüste. Drei Monate ist es her, dass sie durch das Wunder am Schilfmeer sich vor den Häschern des Pharao in den Schutz der unwirtlichen Wüste gerettet hatten. Und dann wird dieses berichtet:


Man sieht sie förmlich vor sich, die sog. Kinder Israel, wie sie dasitzen und über diese Worte Gottes den Kopf schütteln. Unter hochriskanten Begleitumständen hatten sie Ägypten verlassen, um ins gelobte Land zu kommen. Aber nun schon fast 100 Tage unterwegs, und nicht die geringste Spur von der Milch und dem Honig, das dort angeblich fließt. Stattdessen rieselt ihnen überall Sand und Staub entgegen. Es geht nicht richtig vorwärts, es gibt die ersten Konflikte, das Essen ist auch knapp und immer das gleiche. Das hatten sie sich doch sehr anders vorgestellt.

II.

Liebe Gemeinde, in diesen Text werden Erfahrungen eingetragen und verarbeitet, die das Gottesvolk viele hundert Jahre später gemacht hat und die die Identität, das kollektive Gedächtnis des Judentums bis heute fast so sehr prägen wie der Auszug aus Ägypten. Es geht dabei auch um eine Wüstenzeit, dieses Mal aber um eine der genannten anderen Art, also im übertragenen Sinn: die Zeit des babylonischen Exils, also der zwangsweisen Deportierung der Jerusalemer Eliten in die Metropole des babylonischen Herrschers Nebukadnezar im Jahre 587 v.Chr. Für Israel war die Deportation ins sogenannte babylonische Exil eine traumatisierende Katastrophe, verbunden mit schwerwiegenden religiösen Fragen: Warum hatte Gott sie nicht geschützt? Was hatten sie getan, um solch eine Strafe zu verdienen? Wie sollten sie leben in dieser Mega–Stadt im Zweistromland, voll von fremden Göttern und Tempeln, und Sprachen, die sie nicht verstanden? Hatte Gott sie nun für immer verlassen? Und wenn nicht, was wollte er mit all dem von ihnen? Wie sollten sie ihn verehren, so weit weg vom Jerusalemer Tempel?

Erstaunlicherweise hat ausgerechnet diese zutiefst traumatisierende Erfahrung für das Judentum eine der produktivsten Phasen seiner Geschichte bewirkt. Manche Theologen sagen, dass damals und dort eigentlich erst entstanden ist, was wir heute Judentum nennen. Ohne Tempel und Priesterkult mussten die Deportierten im fremden Babylon neue Formen finden, ihre religiösen Traditionen zu bewahren und fortzuentwickeln: Das Judentum wurde eine Schriftreligion! Im Zuge dieser Entwicklung entstand, was wir heute Altes Testament oder Hebräische Bibel nennen.

Damit auch unser Text. Der berichtet: Kaum haben die Israeliten die gebirgige Sinai–Wüste erreicht, steigt Mose auf den Berg, um Gott zu treffen. Damals, am brennenden Dornbusch hatte er den Auftrag erhalten, sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten zu befreien. Jetzt wäre es also Zeit, Vollzug zu melden und sich vielleicht auch etwas Lob abzuholen. Es war ja weiß Gott kein einfaches Unternehmen gewesen, diese Flucht. Aber während Mose noch am Aufstieg ist, ruft Gott schon Neues von oben zu ihm herunter. Ernüchterndes für den erschöpften Mose. Offenbar ist sein Auftrag noch nicht erfüllt. Gott hat noch mehr vor mit Israel. Dabei gibt Gott den befreiten Sklaven einen neuen Namen: Er nennt sie „Haus Jakob“. Im Buch Exodus fällt dieser Name hier zum ersten Mal. Die befreiten Sklaven, im Frondienst unter den Ägyptern nur zu Nummern gestempelt, erhalten einen Namen – und damit eine Identität: Sie sind in Gottes Augen kein geflohener Haufen mehr, sondern das „Haus“ Jakob. Sie gehören zusammen und werden so etwas in der Richtung, was wir modern mit dem Begriff „Nation“ meinen. Auf jeden Fall werden sie ein Volk. Dieses Volk soll an seine Erfahrungen mit Gott erinnert werden: Gott hat es aus der Sklaverei befreit. Und ein Kapitel nach unserem Text kommen die berühmten 10 Gebote. Das gilt für das gesamte Alte Testament: Bevor Gott Gebote gibt, erinnert er immer daran, dass er der Befreier ist. Erst Geschenk, dann Verpflichtung. Das heißt auch, dass kein Gebot der Befreiung widersprechen darf. Hier in diesem Text erinnert Gott Mose daran, wie die ägyptischen Verfolger durch sein Wirken im Schilfmeer ertranken. Das wird man in Babylon viele Jahrhunderte später sehr aufmerksam gehört, aufgeschrieben und gelesen haben.

Gott bringt das hier in ein wunderbares Bild: „…wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln“. Mich erinnert das an das – bewusst „Operation Moses“ benannte – Unternehmen, mit dem die israelische Armee vor fast 40 Jahren innerhalb weniger Wochen 8.000 afrikanische Juden nachts heimlich von Sudan und Äthiopien nach Israel ausgeflogen hat, um sie vor dem wachsenden Judenhass dort in Sicherheit zu bringen. Für die Deportierten in Babylon gab es keine Operation Moses, aber das Bild von Gottes Adlerflügeln wird Hoffnung gemacht haben. Die Befreiten aber, mit denen Moses am Berg Sinai angelangt war, hatten eine wochenlange Flucht durch die Wüste hinter sich. Zu Fuß. Schwitzend, hungrig, durstig und mit viel Angst. Sicherlich musste manch lieber Mensch zurückgelassen werden. Nicht alle werden überlebt haben. Auf Adlerflügeln getragen? Das entsprach wohl kaum ihrem Erleben. Aber es entsprach der Sehnsucht der Deportierten in Babylon. Menschen, die in Ängsten gefangen sind, brauchen solche starken Hoffnungsbilder, um irgendwann im Vertrauen auf den befreienden Gott selbst wieder fliegen zu können.

III.

Den Befreiten am Sinai unterbreitet Gott nun ein Angebot: Wenn sie seiner Stimme gehorchen und den Bund einhalten, dann sollen sie Gottes Eigentum sein. „Eigentum“ klingt übrigens sehr prosaisch, denn das Wort, das dafür im hebräischen Urtext steht, klingt mehr nach einem Schatz. Preziosen, wertvolle Edelsteine. Das spricht dafür, dass hier eigentlich die Sprache der Liebe gemeint ist. So wie ich zum geliebten Du „Schatz“ sage, so spricht Gott hier vermutlich auch. Sie sollen sein Schatz sein. Es kann hier eigentlich nur um Liebe gehen – denn es gibt keinen anderen Grund, sich ausgerechnet diesem kleinen Haufen befreiter Sklaven zuzuwenden, wo Gott doch betont, dass die ganze Erde und alle Völker sein sind. Da würde er schönere, größere, frömmere Völker finden. Aber nein, sein Antrag gilt diesem. Für die nach Babylon Deportierten ist das ermutigend.

Ebenso wie auch die Antwort, die unser Text auf ihre Frage gibt, wie sie fern von Jerusalem und vom Tempel ihre Gottesbeziehung leben können: sie sollen auf Gottes Stimme hören und seinen Bund halten. Es hängt also an den Geboten, am Sabbat und an der Beschneidung. Ort und Kult sind unwichtig. Möglich, dass das nicht allen Deportierten zusagte: Das klang doch alles recht nüchtern, als ginge es vor allem um Ethik. Wo bleibt die Schönheit der rituellen Feiern im Tempel? Wie kann ich Kontakt zu Gott haben, wenn es keine Priester mehr gibt, die für mich opfern? Die Leiblichkeit, die Ekstase, die heiligen Handlungen? Alles nicht mehr nötig, denn: „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“. Eine ungeheuerliche Zusage: Jede einzelne, jeder einzelne in direktem unmittelbaren Kontakt zu Gott. Das richtet die Zerschlagenen auf, spricht unendliche Würde zu und ist eine Zumutung, denn als Priester kann ich wohl einzelne religiöse Aufgaben delegieren, nicht aber die Verantwortung. Ich muss religiös erwachsen werden. Das ist revolutionär und stellt bestehende Ordnungen auf den Kopf. Aber damals in Babylon sicherte diese Revolution das Überleben des Judentums. Martin Buber, der große jüdische Religionsphilosoph, liest in diesem Text die Antwort auf die Frage: Wie wurden wir, was wir sind?

In dieser Ermächtigung Gottes steckt auch die biblische Grundlage für das, was wir Protestanten mit Martin Luther das „Allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ nennen. Worauf wir zurecht stolz sind, weil das auch in der Christentumsgeschichte ein ungeheurer Fortschritt und eine Befreiung von klerikaler Herrschaft gewesen ist. So sind die Juden nicht nur für uns als Christen, die wir uns seit Jesu Auferstehung auch Kinder Gottes nennen dürfen, sondern gerade auch für uns als Protestanten unsere großen Geschwister im Glauben.

Hier in Ostdeutschland finden sich nicht wenige Christen in der alten Geschichte vom Auszug aus Ägypten wieder. Der Mauerfall 1989, die unblutige Revolution wurde von vielen Christen in der damaligen DDR als ein Schilfmeerwunder eigener Art erlebt. Andere trugen die Geschichte der DDR in die 40jährige Wüstenwanderung Israels ein. Auch wenn viele das heute vielleicht so nicht mehr sagen würden: Damals nach der Wende waren die großen Bilder der Exodusgeschichte kraftvolle Deutungen des eigenen Erlebens. Und auch im neuen Südafrika nach dem Ende der Apartheid waren vielerorts Bilder vom Auszug aus der Sklaverei und dem Tod des Pharaos wirkmächtig. Gott ist und bleibt der große Befreier!

IV.

Ich schließe, indem ich auf den Anfang zurückkomme. Wie gut, dass, wenn wir in die Wüste geraten sind und das manchmal droht, uns um den Verstand zu bringen, dass da mal ein Wort kommt, bei dem es sich lohnt, hinzuhören – weil es mehr ist, als nur eine Durchhalteparole: „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln“. Das kennen wir doch: „Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret. / Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet. / Der dich erhält, wie es dir selber gefällt; hast du nicht dieses verspüret. – Ja, es gab sie, diese Momente: Erfahrungen, wo „Gott sei Dank“ mehr war als eine Redensart. Wo ich gespürt habe, dass da eine Kraft war, die etwas in meinem Leben zum Guten bewirkt hat, ohne dass ich genau wusste, wie mir geschieht. Dass Gebete nicht vergeblich waren, und mir der buchstäbliche Stein vom Herzen gefallen ist. Die Entdeckung, dass in einer Lebensphase Gott es richtig gut mit mir gemeint hat.

„Er ist dein Licht, / Seele, vergiss es ja nicht“: Ja, es ist so schnell vergessen – nicht nur in der Wüstenzeit. Aber auch die Wüste lebt. Und wir in ihr. Und irgendwann kommt dann wieder die Zeit, da wir aus der Wüste auffliegen können wie Adler. Weil Gottes Geist uns ordentlich Auftrieb unter die Flügel gibt.


AMEN.

Urlaub: die temporale Struktur der Rechtfertigung …

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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„Urlaub, endlich Urlaub, komm, wir packen unsre Siebensachen“ – trällerte ein Schlager aus den 1980er Jahren. Trivial, aber doch nah an unserem aktuellen Lebensgefühl. Zumal jetzt in der Zeit der hoffentlich ihrem Ende entgegengehenden Pandemie. Eigentlich kraxele ich leidenschaftlich gerne im Gebirge herum. Aber zum Haupturlaub im Sommer zieht es mich dann doch immer wieder in den Norden. Sobald ich an Nordsee oder Ostsee bin, empfinde ich ein ganz intuitives Gefühl von Heimat. Obwohl ich nie dort gelebt habe. Das hat viel mit dem Himmel dort oben zu tun. Jeder Nordlandreisende weiß, dass der Himmel dort so ganz anders ist als hier bei uns. Irgendwie weiträumiger, offener, mit einer ganz anderen Dynamik der Wolken. Man blickt in einen anderen, größeren, weiter gespannten Kosmos, wenn man im Norden zum Himmel schaut. Ich muss dann oft an das schöne Wort aus dem 31. Psalm denken: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ „Der bestirnte Himmel über uns“, den der Philosoph Kant als eine der beiden unumstößlichen Grundkonstanten des Daseins ausmachte, oder wie es die Bibel immer wieder sagt: der Himmel, der sich öffnet. Das gehört zu den elementaren Lebensvollzügen, die uns aufatmen und dankbar werden lassen, dass wir da sind in dieser oft schrecklichen, und dennoch so schönen Welt.

Und ich denke dann auch daran, dass Jesus in der Bergpredigt daran erinnert, dass Gott die Sonne am Himmel verlässlich aufgehen lässt, und dass sie „über Gerechte und Ungerechte“ scheint, beide. Ich bin also nicht allein für mich, kann auch das Schöne, das Gott schenkt, nicht einfach für mich abschöpfen. Sondern ich teile meine Existenz und diese Schöpfung mit allen Menschenkindern - auch mit solchen, die mir zu schaffen machen oder über die ich zornig bin. Alle miteinander leben und sind wir aus Gott und dem, was er uns für ein gutes, gelingendes Leben schenkt. Das kann mir manchmal helfen, nicht vorschnell über andere zu urteilen und damit selbst ungerecht zu werden.

Wie auch immer: der offene, weite Himmel über mir lässt mich dankbar werden und erinnert mich daran, dass ich mich in meinem Dasein nicht mir selbst, sondern anderen verdanke. Das öffnet das Herz. Paul Gerhardt hatte einfach Recht, dass er seinen vielleicht populärsten Choral als Sommerlied konzipierte: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerszeit, an deines Gottes Gaben…“ Geh aus dir heraus, mein Herz, und bleib nicht in den Traurigkeiten oder Verbitterungen dieser bleiernen Corona-Zeit über stecken! Ja, du musst dich schon auf den Weg machen, musst dir einen Ruck geben und die Freude suchen, denn sie liegt in dieser Zeit der Pandemie für uns nicht so offen auf der Straße herum. Du findest sie, indem du alles so ansiehst, als hätte Gott es dir, gerade dir, zum Geschenk gemacht. Wenn du das versuchst, wer weiß, ob du dann nicht entdeckst, dass Dein Leben wieder neu aufblühen kann. Nimm das als Zeichen, dass Gott sich nicht zurückgezogen hat aus deinem Leben.

Wenn wir, jedenfalls dann und wann, jetzt im Urlaub in dieser Sommerzeit solches spüren, dann sind wir auf der richtigen Spur, Gerade indem wir uns ein Stück weit verlassen und, wie Hölderlin auffordert, „ins Offene“ gehen, finde ich mich wieder neu. So dass ich sagen kann – ob im hohen Norden, oder an einem Gebirgssee, oder vor der Haustür auf einer Blumenwiese in der sächsischen Schweiz: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Dann erfahren wir das, was Paulus und Luther mit dem schwierigen Wort von der Rechtfertigung gemeint haben. Vor allem Machen, Schaffen, Tun und Haben sind wir einfach Daseiende, die allein dadurch, dass wir sind, dass Gott uns Leben geschenkt hat in dieser Welt, eine unveräußerliche Würde haben. Deshalb wünsche ich Ihnen, gerade jetzt in dieser immer noch belasteten Zeit, eine Sommer- und Urlaubszeit mit ganz wenig Machen und ganz viel Sein. Bleiben Sie behütet!


AMEN.

Auch Sex ist ein Gleichnis fürs Himmelreich

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

es ist Hochsommer. Lau(t)e Nächte am Elbufer und im Großen Garten. Chillen, grillen, tanzen, trinken. Endlich das elende social distancing hinter sich lassen. Die Leute sind leicht bekleidet, spüren sich und ihren Körper intensiver als zu anderen Zeiten und genießen das. Und wie das so ist, jedenfalls wenn Menschen noch jünger sind: Mit der Lebenslust wächst die Sinnlichkeit, die Freude an der Erotik.

In diese sinnenflirrende Sommerstimmungslage treffen diese Briefzeilen des Apostels Paulus wie ein völlig überraschend hereingebrochenes Gewitter. Gewalt, Missbrauch, Prostitution: Thema ist das Abgründige, die dunklen Seiten der Sexualität, die doch eigentlich, wie alles Geschöpfliche, eine gute Gabe Gottes ist. Aber die Stichworte sind notorisch und beelendend: die weltweite MeToo–Bewegung; die nicht enden wollenden Missbrauchsfälle von der Kirche bis zum Sportverein; die Prostitution und das Elend der Frauen, die in diesem Bereich unterwegs sind, als alltägliche, viel zu selbstverständlich genommene Realität in unserem Land. Rund drei Millionen Männer in Deutschland suchen regelmäßig Prostituierte auf und tragen damit auch zu diesem Elend bei.

I.

In der Welt, in der die ersten Christen lebten, waren sie offen ausgelebter Sexualität, und damit verbunden auch Gewalt, ständig ausgesetzt. Sex war allgegenwärtig und öffentlich, weil es noch gar nicht so gab, was wir Privatsphäre nennen. In der damaligen antiken Umwelt war die nicht– und außerehelich gelebte Sexualität etwas ebenso Normales, Natürliches wie das tägliche Essen. Niemand musste damals Kinder aufklären, wie es geht. Da war es allerdings eine Revolution, mit welcher Klarheit Paulus hier diesen selbstverständlichen way of life angreift, indem er auch den Körper als Gott zugehörig ansieht, ja ihn in unserem Text sogar zum „Tempel des Heiligen Geistes“ erhebt. Von daher ist für ihn jede Kommerzialisierung des Leiblichen ein absoluter no go. Paulus nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Aufs Klartextreden hat er sich ja verstanden. Gleich fünf Mal taucht in unserem Text das Wort „Hurerei“ auf. Das Wort im griechischen Urtext, das Luther so übersetzt – „porneia“ –, gibt es auch bei uns: wir sprechen von „Porno“. Es gibt dankbarere Themen zum Predigen. Mir ging es beim ersten Lesen dieses Textes so, dass mir ein berühmter Filmtitel von Woody Allen in den Sinn kam, den ich leicht abwandeln würde: Was wir schon immer nicht über Sex wissen wollten… Aber nun hat die Liturgie diesen Text für heute vorgesehen, da will man als Prediger denn doch nicht kneifen.

Der Hintergrund dieser ziemlich übellaunig klingenden apostolischen Ermahnungen ist sehr konkret. Paulus hat Informationen über bestimmte Vorgänge in der korinthischen Gemeinde bekommen, die schwierige Fragen aufwerfen. Etwa: dürfen Gemeindeglieder vor einem weltlichen Gericht gegeneinander prozessieren? Oder, und darum geht es in unserem Text: Darf ein Christ mit einer Prostituierten sexuell verkehren? In Korinth gab es einen prächtigen Tempel der Aphrodite, in dem viele hundert geweihte Dirnen den männlichen Besuchern „zur Verfügung“ waren. Es hat in der Gemeinde Männer gegeben, die dort regelmäßig hingingen. „Alles ist uns erlaubt!“, war ihr Schlagwort. Möglicherweise haben sie sich dabei sogar auf Paulus selbst berufen: „Ihr seid zur Freiheit berufen! Lasst euch nicht wieder zu Sklaven von Vorschriften und Reglementierungen machen!“, schreibt Paulus im Galaterbrief. Wahrscheinlich haben sie so argumentiert: Gott hat es mit unserer Seele, unserem unsterblichen Kern zu tun. Dort, im „inwendigen Menschen“, spielt unser geistliches Leben. Unser Leib hat daran keinen Anteil. Er ist vergängliche Hülle, von Staub genommen und zum Staub zurückkehrend, viel zu irdisch, zu banal für das erhabene Göttliche. So nach der Melodie: „Es sitzt der Körper auf dem Kanapee, die Seele schwingt sich in die Höh“ (Reinhard Mey). Und wenn die Seele mal so weit sich erhoben hat, ist es dann auch egal, dass der Körper auf dem Kanapee noch andere Dinge machen kann als nur dasitzen. Was mit unserem Leib geschieht – die Befriedigung des Hungers oder des Geschlechtstriebes –, das hat mit der Religion nichts zu tun. Da sind wir ganz frei. So etwa haben diese Gemeindeglieder argumentiert.

II.

Darüber beginnt der Apostel mit der Gemeinde ein Gespräch. Es geht darin eigentlich um die Frage: Was bedeutet die Tatsache, dass wir als Glieder der Gemeinde Jesu mit Leib und Seele Christus gehören und von ihm zur Freiheit berufen sind, für unsere Sexualität? „Alles ist uns erlaubt“, hatten jene männlichen Gemeindeglieder im Blick auf ihre Sexualität proklamiert. Diese Einstellung ist bei uns heute gang und gebe. Freilich mit einer sehr anderen Begründung, in der Religion keine Rolle mehr spielt. Wir sind autonom. Wir lassen uns nicht mehr bevormunden. Was ich mit meiner Sexualität anfange, ist meine ureigene Sache. Da hat mir keiner reinzureden – schon gar nicht die Kirche! Denn dass die Kirche mit ihren Moralvorstellungen von vorgestern ist – angstbesetzt, lustfeindlich, verklemmt –, dieses Narrativ ist ja heute mainstream. Da wird dann auch unsere evangelische Kirche munter in einen Topf mit der katholischen geworfen – und manche treten aus unserer Kirche aus, wenn der Papst gegen Kondome wettert. Und so ist denn der Sex–Business in all seinen Erscheinungsformen längst mehr als nur ein leider unvermeidlicher Bodensatz unserer Marktwirtschaft. Er ist ein Geschäftsfeld, in dem Milliarden umgesetzt werden.

Aber es hilft nichts, über den Zeitgeist zu jammern. Schon gar nicht, wenn man sich klarmacht, dass die sog. „sexuelle Revolution“ eben auch eine – sehr plausible! – Gegenreaktion war auf eine jahrhundertealte, entscheidend vom Christentum mitverschuldete Tabuisierung, ja Verteufelung alles Sexuellen. Viele können sich die Kirche ja gar nicht anders vorstellen, als dass sie rund um das Feld des Geschlechtlichen lauter Verbotsschilder aufgestellt hat. Gott erscheint ihnen als ein Griesgram, der es ihnen nicht gönnt, dass ihre Liebe sich ihre Sprache sucht und eben auch in der Sprache des Körpers sich mitteilen möchte: wie ein brausendes Meer, oder wie ein stilles Streicheln des Windes. Leider ist dieser populäre Verdacht, die Kirche habe zur Sexualität ein gebrochenes Verhältnis, so falsch nicht. „Alles mit möglichst wenig Lust, und nur für die Fortpflanzung“: das ist über Jahrhunderte die traurige Devise christlicher Sexualmoral gewesen, und ist es in manchen Kirchen heute noch. Das hat die bürgerliche Sexualmoral hervorgebracht, mit ihrer oft verlogenen Doppelbödigkeit. Theodor Fontane hat das in seinen Romanen oft verarbeitet, mit den Frauenfiguren, die hinter einer leblosen Fassade bürgerlicher „Anständigkeit“ gelitten haben und daran kaputt gegangen sind. Von den Pastoren sind sie im Stich gelassen worden.

Hier lässt sich dann doch einiges von Paulus lernen. Er stellt die selbstbewusste Parole „Uns ist alles erlaubt“ als solche nicht in Frage. Aber er stellt Fragen an sie. Und nun noch von einer anderen Seite: „Alles ist mir erlaubt. Aber es soll mich nichts gefangen nehmen“. – Ja, ihr seid frei! Aber seht ihr die Gefahr, dass das Sexuelle so beherrschend werden kann, dass es alle anderen Lebensinhalte nebensächlich macht? Es gibt ja einen Trend, in der Erfüllung sexueller Wünsche die Summe des Glücks zu sehen. Die Paartherapeuten können ihre Lieder davon singen. Diese Einstellung pervertiert die behauptete Freiheit in eine oft würdelose Abhängigkeit. Es war kein freudloser Frömmler, sondern der junge, durchaus sinnenfrohe Mann Dietrich Bonhoeffer, der gesagt hat: „Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht“. Das ist sehr herb, wir würden nicht mehr so reden. Aber was Bonhoeffer damit sagen wollte, da ist viel Wahres dran. „Serva ordinem et ordo te servabit“, zu deutsch: Bewahre die Ordnung, halte eine gewisse Disziplin, und sie wird dich halten und tragen – ein lebenskluger Satz in der der Ordensregel der Benediktiner. Jede/r von uns wird die Wahrheit dieses Satzes für sich selbst schon erfahren haben.

III.

Bisher freilich hat Paulus den Korinthern noch nichts anderes gesagt als was gute Berater und Psychologen auch sagen. Aber er redet ja nicht als Ethiklehrer, sondern als Bote des Evangeliums. Da ist nun noch von einem anderen Grund her über unsere Leiblichkeit zu reden. Paulus bringt seiner Gemeinde ein paar Grundeinsichten des Evangeliums in Erinnerung. „Wisst ihr nicht, dass ihr nicht euch selbst gehört?“, fragt er: Ihr gehört Jesus Christus – und zwar mit Seele und Leib, mit „Psyche“ und „Soma“, wie es im Griechischen heißt. Ihr gehört ihm psychosomatisch, also mit eurem ganzen Menschsein. Und weiter: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist?“ Euer Leib, nicht nur eure hehre inwendige Seele! „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Christi Glieder sind?“ Immer wieder wird vom Leib geredet. Der Leib, unser Körper – das ist nicht etwas an uns, sondern das sind wir, wie wir sichtbar werden, woran man uns erkennt: unsere Bewegungen, Gebärden, unser Verhalten. Mit diesem unserem Leib haben wir Gemeinschaft mit Jesus Christus. Paulus schreibt: „Der Leib ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib“.

Das klingt erstmal verdächtig nach Leibeigenschaft. Aber es heißt ja eben auch: „Der Herr ist für den Leib da“! Das ist eine Anspielung auf das Kreuz, für Paulus der Dreh– und Angelpunkt. Jesus Christus hat nicht nur mit schönen Worten, sondern „ganzheitlich“, wie wir heute sagen, buchstäblich mit Haut und Haaren, mit seinem Leib dafür bezahlt, was wir mit unserem Leib angerichtet haben. „Ihr seid teuer erkauft“, schreibt Paulus. Jesus hat sich für euch alles kosten lassen! Deshalb gehören wir ihm – nicht als Leibeigene, sondern als Geliebte. Und weil wir Ihm gehören, den Gott mit seinem für uns geopferten Leib auferweckt hat, haben wir mit unserem Leib Anteil an seiner Auferstehung. „Gott hat den Herrn auferweckt, und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft“, schreibt Paulus. Unsere Leiber – die schönen, um die sich die Modelfotographen reißen würden, und die verunstalteten, von denen sich viele hilflos abwenden –, alle sind sie zur Auferstehung bestimmt. „Leibfeindlichkeit des Christentums“ – ja, im Blick auf die Kirchengeschichte stimmt das leider. Aber ganz bestimmt nicht Leibfeindlichkeit der Bibel! Kann es eine größere Würde für unsere Leiber geben, als dass über sie am Ende noch mehr zu sagen ist als „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“?!

„Ihr seid teuer erkauft. Darum preist Gott mit eurem Leib!“: darauf läuft es hinaus. Das ist natürlich noch viel umfassender als was wir in der Liebe dem geliebten Menschen an Beglückung bereiten möchten. Wir preisen Gott mit unserem Leib auch, indem wir uns aufmachen zu einem Menschen, der unsere Zuwendung, unsere Zärtlichkeit braucht. Oder auch indem wir leiblich dazwischen gehen, wenn einem Menschen auf offener Straße Gewalt angetan wird, weil er eine andere Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung hat.

Aber eben, auch die Sexualität ist Lob des Schöpfers, der uns als Beziehungswesen geschaffen hat. Auch Sexualität kann ein Gleichnis fürs Himmelreich sein. Du bist teuer erkauft, weil du Gott teuer bist, weil er sich für dich alles kosten lässt – wenn uns aufgeht, was das bedeutet, dann werden auch unsere Leiber einander mit Zärtlichkeit, Leidenschaft, Achtung und Phantasie begegnen. Daran wird Freude sein nicht nur bei uns, sondern auch im Himmel.


AMEN.

Lauter Grenzüberschreitungen

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

mit diesem Text tritt der Prophet Elia in die Bibel und die Geschichte Israels ein. Ganz unvermittelt, wir erfahren nichts über seine Herkunft, er ist einfach plötzlich da. Wer die Elia–Geschichten etwas kennt, vielleicht aus dem grandiosem Oratorium von Mendelssohn, weiß: dieser Elia ist eine extrem faszinierende, aber auch unheimliche Gestalt! Ein großer Alttestamentler nannte ihn „eine geschichtliche Gestalt von fast übermenschlicher Größe“. Elia ist auf jeden Fall ein Alphatier, berstend selbstbewusst, dessen Weg durchzogen ist von triumphalen Erfolgen, aber auch tiefen Abstürzen. Und auch von verstörender Gewalttätigkeit. Hunderte von heidnischen Baalspriestern bringt er eigenhändig um. Diese Militanz macht den charismatischen Propheten auch zu einer abgründigen Figur. Aber er ist in der Geschichte Israels der Ausleger des ersten Gebots geworden: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Sein Name ist Programm: Elija heiß: Er ist mein Gott. Deshalb ist Elia für die Juden eine ganz zentrale Figur.

Gegenüber dem, was dann alles kommt, mutet unser Predigttext als die Ouvertüre der Elia–Geschichten noch verhalten, ja geradezu leise an. Elia wird am Leben gehalten: erst durch die nichtmenschliche Kreatur in Gestalt von Raben, dann durch eine verarmte Frau. Aber der Hintergrund des Ganzen ist alles andere als verhalten, sondern bedrohlich: „Es sollen diese Jahre weder Tau noch Regen kommen“: eine verheerende Dürre wird hier von Gott angekündigt. Auch uns muss man heute nicht mehr sagen, was das heißt. Diesen Sommer geht es bisher noch, aber davor hatten wir drei Dürresommer in Folge und es ist uns immer bewusster geworden, was das ist: drückende, manchmal auch nachts kaum erträgliche Hitze, braun vertrocknete Laub– und Nadelbäume schon Anfang September, Bäche, die keine mehr sind, sondern nur noch Rinnsale. Der Klimawandel, und auch die Pandemie als handfeste Wechselwirkungen zwischen der globalen Zivilisation und unserem erschöpften Planeten, der zurückschlägt. Das Selbstverständliche, unser unbewusstes Vertrauen auf die Stabilität der Verhältnisse und der Natur, ist brüchig geworden. Wie können wir da weiter darauf bauen, dass wir mit dem täglichen Brot versorgt bleiben, um das wir im Vaterunser beten? Das meint ja mehr als nur die tägliche Nahrungsaufnahme. Es meint die elementaren Mittel, die wir zu einem guten, menschlichen Leben brauchen.

Vielleicht gibt uns diese Geschichte von Elia in der Dürre Hinweise. Zu ihrer ersten Szenerie, der wundersamen Versorgung Elias ausgerechnet durch Raben, gäbe es manches zu sagen. Raben galten im Alten Testament als kultisch unreine Tiere. Es ist erstaunlich, dass Gott gerade denen eine solche Handlungsmacht verleiht. Aber ich möchte ich mich heute auf die zweite Szene konzentrieren: Elias Kommen nach Sarpat (Sarepta) zu einer Witwe. In ihrer Not ist sie der Inbegriff von Armut und Hilflosigkeit. Wir sehen sie vor uns, wie sie die letzten Reste dürren Holzes sammelt, in der Hoffnung, über dem Feuer noch etwas Essbares kochen zu können. Wir sehen sie – und in ihr sehen wir viele Notleidende dieser Welt, denen monatelange Dürrezeiten immer wieder die Lebensgrundlagen entziehen. Sie sind uns längst vertraut, die Bilder von trostloser Trockenheit, in der alles Leben verdorrt. Unvorstellbar die Not im Volk, nachdem der Prophet seinem König Ahab angekündigt hatte: „Es wird diese Jahre nicht Tau noch Regen geben.“

Indes, auch Elia, der Prophet, der Mann Gottes ist dadurch nicht davor geschützt, selbst unter der verheerenden Dürre zu leiden. Er hatte beherzt dem König Ahab ins Angesicht widerstanden, der nicht nur dem einen Gott Israels dienen will, sondern unter dem Einfluss seiner heidnischen Gattin auch anderen Göttern. Diesem Synchretismus bei Hofe hat Elia unerbittlich den Kampf angesagt. Aber nun haben die Folgen seiner Drohbotschaft auch ihn getroffen. Zunächst hatte er sich an den Bach Krit zurückgezogen, weit im Osten im Jordangebiet am Rand der Wüste gelegen. Raben haben ihn dort versorgt, verlässlich wie damals das vom Himmel regnende Manna die Kinder Israel im Sinai. Aber irgendwann ist auch dieser Bach ausgetrocknet. Wie der Psalmist ruft Elia: „Meine Seele dürstet zu Gott.“ Und Gott ruft zu ihm: „Mach dich auf und geh nach Zarpat.“ Auf Gottes Wort hin zieht er los. Und erlebt auf diesem Weg mehrere Grenzüberschreitungen.

Zarpat ist weit westwärts, ein kleiner Ort am Mittelmeer, unweit von Sidon. Das ist die Herkunftsstadt der Königin Isebel, der heidnischen Ehefrau des israelitischen Königs. Sie ist Elia in innigem Hass verbunden – und umgekehrt. Das ist die erste Grenzüberschreitung in dieser Geschichte. Der bis zur Grenze des Fanatischen gläubige Elia muss sich überwinden, ins heidnische Gebiet zu gehen, gottloses Feindesland. Dort begegnet er dieser Witwe. Einer Ungläubigen. Der Mann Gottes begegnet der Heidin. Damit kommt es zur zweiten Grenzüberschreitung, einer ziemlich unerhörten. Denn einem Mann war jeder Kontakt mit einer Witwe verboten. Elia hätte sie gar nicht ansprechen dürfen. Aber er tut es. Not macht erfinderisch und alle Konvention nebensächlich. Und eine Dürre macht keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Heiden. Die gemeinsam erlebte Not verbindet Elia und die Witwe. Und sie lässt Elia auf Gottes Wort hin die Grenze des Anstands überschreiten. Fast scheint es, als kümmere Gott sich nicht um Konventionen. Und erst recht hat diese zweite Grenzüberschreitung auch noch etwas Unverfrorenes. Während die Witwe im Vorgefühl des baldigen Hungertodes für sich und ihren Sohn die Henkersmahlzeit zubereitet, fordert Elia sie auf, ihm ein kleines Brot zu backen. Was sollen die Witwe und ihr Kind dann noch essen?!

Aber da kommt es zu einer dritten Grenzüberschreitung – einer Grenzüberschreitung des Glaubens sozusagen. Gegen alle totale Hoffnungslosigkeit lässt sich die Witwe ein auf den Gottesmann aus dem fremden Land. Sie tut etwas eigentlich Verrücktes. In ihrer Not hilft sie dem Fremden und setzt dabei ihr eigenes Leben und das ihres Sohnes aufs Spiel. Aber so kann das sein im Leben mit dem Glauben, und sollte es wohl auch sein: Erst wenn wir an unsere definitiven Grenzen kommen, erst wenn wir bereit sind, Grenzen unserer religiösen Gestimmtheit, Grenzen der Konvention zu überschreiten, erst wenn wir bereit sind zu neuen Begegnungen, wenn wir bereit sind, Glauben gegen alle Erfahrung zu wagen, auf Hoffnung hin zu handeln: erst dann können Brücken des Lebens gebaut, Wege in die Zukunft beschritten werden. Die eigentlich ungläubige Witwe ist zu einem solch verrückten Glauben fähig, und dieser Glaube wird zur Quelle neuen Lebens, für sie, ihren Sohn und für Elia. „Das Mehl im Topf soll nicht verzehrt werden und dem Krug soll nichts mangeln bis zu dem Tag, wo der Herr regnen lassen wird auf Erden.“

III.

Dann wird auch noch eine weitere Grenze überschritten wird in dieser Geschichte. Eine Grenze in der Welt der Politik und Religion. Zarpat unweit von Sidon liegt im Feindesland, im Land des Baal, einer Natur– und Fruchtbarkeitsgottheit. Und Sidon ist die Stadt Isebels, der militant heidnischen Frau des Königs Ahab. Elia – das ist der Mann Gottes, der den Gottesglauben in Israel rein erhalten, besser gesagt: wieder zu seinem reinen Ursprung zurückbringen will. Ein früher Reformator im Alten Testament. Damit scheint in dieser wundersamen Story zwischen Elia und der Witwe auch die Geschichte einer mörderischen politisch–religiösen Auseinandersetzung durch. Und auch in der Welt der Politik reißt diese Geschichte Grenzen ein: Im Ausland, unter Fremden, mit denen er eigentlich nichts zu schaffen hat, ja die er verachtet, findet Elia Mitmenschlichkeit. Mehr noch: im heidnischen Land findet er einen Glauben, nach dem er in seinem vermeintlich frommen Israel lange suchen kann. Was 700 Jahre später Jesus zum heidnischen Hauptmann von Kapernaum sagen wird „Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden“ (Mt 8,10), das klingt wie ein Kommentar zum Glauben der Witwe von Zarpat. Das macht mich schon nachdenklich im Blick auf die Zeit, in der wir leben. In der in manchen Milieus, die gar nicht mehr nur an den Rändern beheimatet sind, nur der als deutsch im eigentlichen Sinn anerkannt wird, der dies, mit einem deutschen Namen ausweisbar, von Herkunft und Geblüt ist. Der also „autochthon deutsch“ ist, wie man mit einem scheinbar harmlosen Fremdwort zu bemänteln versucht, was man sich – noch – nicht so direkt auszusprechen traut. Ich habe in Freiburg, von wo ich komme, in den letzten Jahren gelegentlich Gottesdienste von Christ*innen mit nicht–deutschen Namen und nicht–deutscher Hautfarbe miterlebt, die seit 2015 zu uns gekommen sind. Was dort an Intensität und Freude des Glaubens mit Händen zu greifen war, hat mich manchmal beschämt. Der Weg von Zarpat nach Lesbos und Lampedusa ist gar nicht so weit.


Und last but not least erzählt unsere Geschichte von einer letzten Grenzüberschreitung, einer heilvollen. Sie spielt gewissermaßen in Gott selbst. Denn hier entgrenzt Gott seine eigene Heilsgeschichte. Im Herrschaftsbereich des Baal erweist er sich als Herr über Leben und Tod. Seine Herrschaft hilft den durch die große Politik unverschuldet in Not Geratenen, ohne Rücksicht auf Grenzen der Politik oder der Religion. Mit der Errettung der Witwe und ihres Sohnes bekennt sich Gott zugleich zu allen seinen Kindern in aller Welt. „Das Mehl im Topf soll nicht verzehrt werden, und dem Ölkrug soll nichts mangeln bis auf den Tag, an dem der Herr regnen lassen wird auf Erden.“ So erhalten die Habenichtse dieser Welt Zukunft und Brot, ob sie nun rechtgläubig sind oder nicht. Gottes Heil ist nicht begrenzt auf ein Land, auch nicht auf ein „christliches Abendland“. Gottes Herrschaft umgreift die ganze Welt. Sie kennt keine Grenzen. Aller Welt wird Gott später seinen Sohn dahingeben. Aus dem Mehl im Topf und dem Öl im Krug werden das Brot in der Schale und der Wein im Kelch, als Zeichen seiner Hingabe an die ganze Welt. So wie wir es jetzt gleich, nach eineinhalb Jahren Abendmahlsfasten, endlich wieder schmecken und sehen können. Über beides, Brot und Wein verspricht uns Christus: „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ Dafür können wir nur grenzenlos dankbar sein.



AMEN.

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

unser Predigttext enthält die letzten Worte Jesu vor seinem endgültigen Abschied von dieser irdischen Welt. Letzte Worte haben es in sich. Wenn sie von einem berühmten Menschen publik werden, faszinieren sie die Nachwelt. Da wird dem letzten Wort gerne die Bedeutungsschwere eines Vermächtnisses zugeschrieben. Dabei ist das keineswegs immer so. Goethe hat in seinem langen Leben weiß Gott Nachdenkenswerteres von sich gegeben als den Ruf nach „mehr Licht“, mit dem er angeblich sein Leben aushauchte. Martin Luther hat auf seinem Sterbebett, als er nicht mehr sprechen konnte, als letztes Wort auf einem Zettel notiert: „Wir sind Bettler. Das ist wahr.“ Das ist ein letztes Wort von anderem Kaliber, darüber kann man lange nachdenken.

I.

Hier also das letzte Wort des irdischen Jesus: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Man sollte denken, nach einem so schönen letzten Wort hätten die Jünger diesen Abschied gut bewältigen können. Ich bin bei dir: wie kaum ein anderes Wort kann diese Versicherung trösten und beruhigen. Wer das einem weinenden kleinen Kind zuflüstert, spürt es. Die Jünger dagegen sind zunächst nur untröstlich. Dieses irrsinnige emotionale Wechselbad, durch das sie die letzten 43 Tage seit Karfreitag getrieben worden waren, ist zu viel, es würde auch die abgebrühtesten Figuren überfordern. „Matthäi am Letzten“, diese von unserem Abschnitt am Ende des Matthäusevangeliums herrührende Wendung steht eben deshalb für Desaster, Chaos, Zusammenbruch.

Wie war es denn zu Beginn dieses letzten Kapitels im Matthäusevangelium? Jesus wurde hingerichtet auf Golgatha und dann begraben. Ein Stein versiegelt das Grab, Zeichen der Endgültigkeit, Unwiderruflichkeit des Todes. Alle Hoffnungen der Jünger wie Seifenblasen zerplatzt. Aber dann die unglaubliche Erfahrung: der Stein vor dem Grab war am Morgen des Ostersonntags weggewälzt. Er markiert nicht das letzte Wort über Jesus und auch nicht das letzte Wort Gottes über uns. Damit wir unser Vertrauen ins Leben, unser Hoffen und Lieben nicht unter Leid– und Todeserfahrungen begraben müssen, darum feiern wir Gottesdienst, und darum feiern wir die Taufe. Für Gott hatte der Tod nicht das letzte Wort. Der Grabstein Jesu wurde zur Kanzel für den Engel Gottes, als er den verstörten Frauen am Grab Jesu zurief: „Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden!“ (Mt 28,5) Das ist der Kern des Evangeliums, damals vor fast 2000 Jahren in Jerusalem und heute hier in der Frauenkirche. Und das ist auch der Grund, warum wir taufen. Der Gekreuzigte ist auferstanden! Christus lebt und hat uns seine Begleitung, seinen Beistand versprochen „bis an der Welt Ende“. Das ist im doppelten Sinn zu hören: zeitlich und räumlich. Was wir in unserem Leben an wohltuender, aufbauender Gegenwart Gottes erfahren haben, muss nicht begraben werden. Es bleibt über den Tod hinaus.

Matthäus erzählt dann  am Anfang unseres Textes, dass der Engel die Jünger nach Galiläa schickte, um dort dem Auferstandenen zu begegnen. Nach Galiläa, wo Jesus seine Geschichte mit ihnen begonnen hatte, als sie noch als Fischer in den Dörfern am Ufer des See Genezareth lebten. Eben dort, in Galiläa, begegnen die Jünger nun dem Auferstandenen und einige von ihnen – zweifeln! Es ist wohltuend, dass Matthäus auch davon berichtet. Selbst für sie, die den Gottessohn direkt sehen und hören und anfassen konnten, selbst für seine engsten Gefährten gibt es keine zweifelsfreie, unerschütterliche Glaubensgewissheit. Wir wissen es sicher aus eigenem Erleben: auch die Taufe ist keine Garantie dafür. Sie lässt den Glauben nicht zu einem festen, unangreifbaren Besitz werden. Glaube ist ein Weg, der Höhen und Tiefen kennt, dem auch Sackgassen und Irrwege, Fragen und Zweifel nicht fremd sind. Und eben darum kann man allein, für sich selbst auch nicht Christ sein. Darum gibt es die Kirche, die Gemeinde als soziale Gestalt des Glaubens. Wir brauchen die Gemeinschaft der Glaubenden, wir brauchen Eltern und Paten, Freundinnen und Freunde, die für uns da sind und für uns beten. Darum ist Friedas Taufe nicht nur das äußere Zeichen für das Band zwischen ihr und Gott, sondern sie knüpft auch ein Band zwischen ihr und der Gemeinde Jesu.

II.

In Galiläa gibt der Auferstandene seinen Jüngern einen einzigartigen Auftrag. Einen Auftrag, dessen Erfüllung Geschichte gemacht hat und immer noch macht, wie wir heute in diesem Gottesdienst mit Friedas Taufe erleben. Hören wir noch einmal die Worte, die der Auferstandene zu ihnen sprach, seine letzten Worte zu ihnen: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Mit einer starken Selbstaussage begründet der Auferstandene die Sendung seiner Leute zur weltweiten Mission: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Wahrscheinlich ist es dieser robusten Übersetzung Martin Luthers geschuldet, dass in unseren Bibeln dieses letzte Wort Jesu immer noch mit dem militärisch klingenden Wort „Missionsbefehl“ überschrieben ist. Jesus steht in Galiläa bei seinen Jüngern, gezeichnet mit den Wunden der Kreuzigung, und gerade als so Gezeichneter sagte er von sich: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden!“ Dieser Macht Gottes vertrauen wir uns in der Taufe an. Sie bewahrt uns nicht einfach vor irdischem Leiden, diese Macht, denn Gott ist kein Glücksspielautomat. Er hat uns das Leben nicht als dauerhaften Honeymoon versprochen. Auch der Tod wir einmal nach jedem von uns greifen. Aber er wird sich nicht an uns vergreifen. Der Auferstandene mit seiner Macht wird dann zwischen uns und den Tod gehen. Im Vertrauen, dass diese Macht Gottes für uns in Jesus Christus erfahrbar und wirksam ist, können wir trotz aller gefühlten Übermacht des Todes glauben, hoffen und lieben.

Und deshalb lassen wir uns von dem auferstandenen Christus in Dienst nehmen und beauftragen und gehen hin, um allen in Wort und Tat das Evangelium nahezubringen und sie zur Nachfolge Jesu zu verlocken. Jede und jeder Getaufte ist gesegnet und beladen mit einer Verantwortung für die „draußen vor der Tür“. Das gilt ganz besonders für diese Kirche hier im Herzens Dresdens, die so viele Menschen anzieht. Deshalb sind wir Tag für Tag eine Offene Kirche, was viel mehr bedeutet als dass man hier hinein kann. Als ich letzten Herbst entschied, mich auf diese Pfarrstelle zu bewerben, war es auch die Formulierung in der Ausschreibung, die mich gereizt hat: „Pfarrstelle an der Frauenkirche zur Wahrnehmung missionarischer Aufgaben“. Das Wort „missionarisch“ ist umstritten. Und die Christen haben selbst genug dazu beigetragen, leider. Und doch bleibt, was das Wort meint, alternativlos. Weil es dem Willen und der Sendung Jesu entspricht. Die Außenorientierung statt dem Kreisen um uns selbst ist der Herzschlag unseres Kirche-Seins. Die Kirche ist keine geschlossene Gesellschaft, keine Trutzburg, sondern das Offene Haus schlechthin. Über ihrem Eingang steht nicht: Vorsicht, bissiger Hund! Sondern: Herzlich Willkommen!

III.

So weit so schön so wahr – und so idealtypisch! Denn um ehrlich zu sein: Die Mehrheit in unserer Kirche fremdelt mit dem, was man für „missionarisch“ hält. Das Dynamische, sich selbst Riskierende, was jeder missionarischen Bewegung innewohnt, scheuen wir. Wir richten uns lieber ein in uns vertrauter überkommener „Kirchlichkeit“. Nicht die Frage: Wie wird einer Christ?, bestimmt unser Agenda–Setting. Sondern die Frage: Wie können wir Volkskirche bleiben? Ich spitze bewusst zu: Die Rettung der Institution liegt obenauf. Weniger die Rettung der Menschen.

Kommt das alles von Konstantin her? War er der Sündenfall in der Christentumsgeschichte? Als jener römische Kaiser im 4. Jahrhundert den Grund legte, dass das Christentum Staatsreligion wurde, war das die Geburtsstunde der Volkskirche. Der Kirchenvater Augustinus hat sie ein corpus permixtum genannt: das meint ein oft diffuses Gemisch aus Entschiedenen, die singen und sagen können: „Ich weiß, woran ich glaube“, und aus den vielen, die durch ihre Taufe im Kleinkindalter da hineingeraten sind, ohne gefragt zu werden. Diese vielen wollen wir aber nicht verlieren. Denn wir brauchen sie, um es uns weiter leisten zu können, als Volkskirche „in der Fläche“ präsent zu sein. Was gerade aus missionarischem Blickwinkel sehr hoch zu schätzen ist. Zugleich denken wir oft, wir riskieren den Verlust dieser sog. Treuen Kirchenfernen, wenn wir zu „missionarisch“ werden. Das assoziieren wir mit übergriffig, unser bürgerliches Bedürfnis nach Abstand missachtend. Eigentlich müsste man sagen: Die Volkskirche hat enorme missionarische Möglichkeiten – und ist doch eine institutionalisierte Missionsbremse. Ganz schön kompliziert.

Also: Volkskirche bleiben? Ja, ich meine, immer noch. Trotz vieler Wenns und Abers. Ich sage es frei nach Churchill: Die Volkskirche ist das schlechteste aller Kirchenformen – ausgenommen alle anderen. Missionarische Volkskirche sein: Ja, unbedingt! Viel stärker als wir es bisher, ihre missionarischen Möglichkeiten zu wenig ausschöpfend, sind. Mir hilft der kluge Satz des Dichters und gläubigen Katholiken Paul Claudel. Rede nur von Christus, wenn du gefragt wirst – aber lebe so, dass man dich nach Christus fragt!


AMEN.

gehalten von

Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

 

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Liebe Gemeinde,

„Und, wie immer? Einen Aperol Spritz für die Dame und für dich ein großes Helles?“
„Genauso“, antworten die beiden, und nachdem sie Platz genommen haben in der Außengastronomie dauert es nicht lange bis er mit dem Tablett zurückkehrt, schwungvoll die Bierdeckel auf den Tisch wirft und die zwei kühlen Getränke serviert:
„Schön, euch wiederzusehen!“
„Ja, geht uns auch so! Es war eine komische Zeit. Ständig gefangen in den eigenen vier Wänden. Und hier? der Laden? brummt wieder?“
„Ja, es geht so. Jedenfalls kommen alle mal wieder aus ihren Löchern.“
„Na ja, Durst haben die Leute doch immer.“
„Ja, zum Glück. Aber ganz so wie vorher, wird’s wohl nicht wieder.“
Noch ehe, die beiden zurückfragen, ist er wieder weg. Am Nachbartisch heben die Gäste schon die Hände und winken ihn heran.

Schön, so ein Gastwirt mit Leib und Seele.
Der kennt seine Leute und sieht schon Weitem, was einer braucht und will.
Der hat seinen Beruf gefunden.

Es heißt, früher wäre er zur See gefahren, dann auf dem Bau gewesen. Hatte Frau und Familie, hat aber nicht lange gehalten, und dann hat er sich selbständig gemacht und hier sein Glück gesucht. Bestimmt ne harte Zeit für die Gastronomie.

Liebe Gemeinde,

Durst haben die Leute doch immer. Ja, das ist es, was uns über die Jahrhunderte hinweg verbindet mit der Szene heute im Biergarten und damals am Brunnen in Samaria, als die unbekannte Frau auf Jesus trifft. Allerdings, wer Gast ist, und wer Kellner, scheint in diesem Wortwechsel am Brunnen nicht ganz klar zu sein.

Du siehst mich – durstig.

Schön, wenn Menschen sich einen Blick dafür bewahren, wonach der andere oder die andere wohl dürstet. Dazu muss man nicht Gastwirt sein. Man kann diesen Blick auch anders schulen. Aber ein guter Wirt hat wohl genau diese Qualität. Er sieht, wenn Menschen tiefer ins Glas sehen, als nur bis zum Boden unter dem Füllstrich. Er sieht die Armut eines Geistes, der für das halbe Lokal eine Runde wirft, damit die Leute ihm zuprosten. Er sieht den Bettler, der seine kleinen Münzen zählt, um herauszufinden, ob er noch Durst hat. Und er sieht die Frau, die sich nur zu gern einladen lässt auf einen Champagner von dem, der weiß, dass mit Geld fast alles zu bekommen ist.

Durst nach Leben.

Da sitzt Jesus zur Mittagszeit und macht Pause. Seine Jünger holen Essen aus der Stadt. In den Pausen geschieht ja bekanntlich oft das Entscheidende. Und da kommt die Frau, um zu schöpfen, wie jeden Tag. Und es entspinnt sich ein Gespräch, das zwischen Missverständnis und Klarheit genauso changiert wie zwischen Distanz und großer Nähe. Fast scheint es, als liege der Reiz eines Flirts in der Luft. Denn beide gehen sich ziemlich direkt an, und weisen sich gegenseitig ziemlich direkt in die Schranken. Und dazwischen entsteht so etwas wie ein gegenseitiges Wahrnehmen, ja Erkennen.

Du siehst mich.

Gott sieht mich. Und: Ich sehe einen Menschen und darin Gott?
Durstig sind sie beide.
Gib mir zu trinken, sagt Jesus.
Die Frau wehrt ab. Anmache oder Anspruchsgehabe eines Mannes, egal.
Sie geht auf eine andere Ebene, um auszuweichen.
Juden und Samariter haben keine Gemeinschaft.
Ihr wollt es doch so. Also lass mich in Ruhe.

Wenn du wüsstest, wer vor dir steht, antwortet Jesus, du müsstest eigentlich bitten!

Die Frau bleibt auf Distanz vor solcher Überheblichkeit und führt ihr scheinbar stolzes Gegenüber sehr geschickt vor: Du hast ja noch nicht mal einen Krug um Wasser zu schöpfen. Und weißt du eigentlich, wie tief der Brunnen der Vergangenheit ist? Weißt du eigentlich wie viele Menschen über die Jahrhunderte angefangen vom Erzvater Jakob ihr durstiges Spiegelbild auf der Wasseroberfläche dieses Brunnens angesehen haben? Und nicht nur die Menschen, auch die Tiere! Hast du eine Ahnung vom Durst nach Leben, die jedem Geschöpf innewohnt?

Mich dürstet – an dieser Stelle hat Jesus das noch nicht gesagt. Erst später am Kreuz ruft er es. Hier sagt er nur: Gib mir zu trinken. Der, der die Quelle allen Leben ist, wird es nur dadurch, dass er den ewigen Durst der Menschen selbst spürt und durchlebt.

Ja, man könnte sogar einen Schritt weiter gehen. Spiegelt sich im immer wieder neuen Durst der Menschen nicht auch ihre Sehnsucht nach dem Ewigen? Und wenn Jesus selbst sich hier als Durstiger zeigt – spiegelt sich darin nicht auch die große Sehnsucht Gottes nach dem Menschen?

Nein, es ist kein protziges Gehabe:
Wenn du erkenntest die Gabe Gottes, und wer der ist, der zu dir sagt:
Gib mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.
Gott hat Sehnsucht nach dir! Kannst du dir das vorstellen? Er dürstet nach dir Menschenkind und deinem Zutrauen, deinem Glauben.

Lebendiges Wasser, fließendes, frisches Wasser, nichts Abgestandenes über die Jahrhunderte im tiefen Brunnen gegen den immer neuen Durst. Das wohl war der Schlüssel für die Frau, ihre Abwehr aufzugeben. Wer von dem Wasser trinkt, wird nie mehr dürsten. Der wird trinksatt werden. Oder welches Wort gebe es in unserer Sprache für nicht-mehr-durstig-sein?

Ist es ein Zufall, dass es dafür kein Wort gibt? Durst kann bei uns immer nur gelöscht werden. Den Durst können wir stillen auf Zeit. Bis der neue kommt. Wie lange würde das Kind an der Brust der Mutter trinken, wenn diese es nicht irgendwann „abstillen“ würde. Du musst mit deinem Lebensdurst jetzt selbst klar kommen, liebes Kind! Ein ehrlicher, aber auch trauriger Prozess in dieser Welt. Das ist Menschsein. Und vielleicht trinkt der alte Mensch deshalb zu wenig, weil sich der Lebensdurst auch dem Ende neigt, weil die irdischen Brunnen nicht mehr trinksatt machen, sondern die Sehnsucht nach der Quelle ewigen Lebens  größer wird.

Und dann macht Jesus einsichtig, wo die Quelle eines Wassers zu finden ist, das nicht abgestanden ist, sondern lebendig sprudelt. Und er formuliert diesen schönen Satz: Das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt. Es geht um eine innere Quelle im Glauben und Erkennen, dass Gott nach uns, nach dir und nach mir, dürstet. Sehnsucht.

Noch bleibt die Frau im scheinbaren Missverständnis.

Gib mir solches Wasser, damit ich nicht immer wieder hier her kommen muss, um zu schöpfen. Vielleicht spricht sie aber damit auch schon eine tiefere Wahrheit aus. Denn wir haben so unsere Wiederholungszwänge, die immer wieder die gleiche Strategie wählen, um glücklicher zu werden, uns lebendiger zu erfahren, unsere Sehnsüchte zu stillen. Jetzt einen anderen Weg einschlagen. Das Vertrauen auf Gott wagen. Er wird neue Perspektiven öffnen, lebenstüchtiger machen, freier und wahrhaftiger zu leben. Gelassen im Wissen darum, dass die innere Quelle niemals versiegt, sondern uns zum ewigen Leben führt.

Für die Frau waren es wohl ihre Beziehungen zu den Männern, die nie erfüllend waren, aber erst mal trinksatt machen. Für andere sind es andere Wiederholungen, die das Leben ein wenig mehr lebenswert machen, aber doch die tiefe Sehnsucht nach Erfüllung nicht stillen können.

Die Frau jedenfalls geht weg. Ohne Wasser. Den Krug lässt sie stehen am Brunnen. Erfüllt von einem neuen Leben geht sie, und erzählt den anderen in der Stadt, wem sie begegnet ist. Offensichtlich ganz ohne trockene Zunge.

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„Und? nochmal dasselbe. Aperol Spritz und ein Großes?“
Wieder bringt er die Gläser, die nicht nur von innen gut gefüllt sind.
Außen sammeln sich kleine Perlen vom Kondenswasser am kühlen Glas.
Ein Genuss.
„Ich mach dann mal Kasse“, wirft er noch ein und legt die Rechnung auf den Tisch.
Trinkgeld stimmt. Er nimmt es gern.
„Schon Feierabend?“
„Ja, Schluss für heute, der Laden gehört mir nicht mehr.
Immer bis spät in die Nacht, das ist nichts für mich. Jetzt geht’s nach Hause. Ich hab was ganz anderes gefunden.“
Er geht weg, gibt keine weitere Auskunft, aber er sieht sehr glücklich aus.


AMEN.

»Und bliebe am äußersten Meer«

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

heute gibt es eine Gottesdienst–Premiere: Das Buch Jona, dieses kleine, aber feine Bibelbuch, wächst endlich über den Kindergottesdienst hinaus. Sein Inhalt ist irgendwie allerweltsbekannt. Aber eben nur aus Kinderkirche und Kinderbibeln. In den liturgischen Texten unserer Gottesdienste kam dieses Buch seltsamerweise nie vor. Mit der neuen Ordnung der Sonntagstexte, die vor drei Jahren in Geltung kam, ist das nun anders geworden.

Also heute endlich einmal Jona – noch nicht vom Walfisch verschluckt. An diesem Frühsommersonntag gehen wir mit Jona zum Hafen, an Bord, auf See. Das kann Urlaubs–Fernweh wecken, in Pandemiezeiten erst recht. Zugleich kommt hier der Alltag von Menschen in den Blick, die dafür arbeiten, dass andere einen schönen Urlaub genießen – bzw. dass wir überhaupt gut leben können. Man kann mit Schiffsreisen Romantik und Abenteuer verbinden. Sie sind aber auch Realität der Globalisierung, in mancher Hinsicht eine bedrückende. Jedenfalls bekommt die oft übersehene Profession der Seeleute in diesem Bibeltext endlich einmal Raum. Das ist mehr als angebracht, schließlich kommen über 90% der Dinge, die uns umgeben, über See per Schiff zu uns.

I.

Jona, der Prophet, geht auch aufs Schiff, um Urlaub zu machen. Einen Urlaub eigener Art: Urlaub von Gott! Wir sind hier in der Frauenkirche, weil wir etwas von Gott und seiner Nähe erfahren wollen. Jona will nichts weniger als das, deshalb schlägt er die entgegengesetzte Richtung ein: er will Gott loswerden! Obwohl er, wie das bei Propheten so ist, Gott mit höchster Verbindlichkeit, mit einem klaren, ganz wichtigen Auftrag zu sich hat sprechen hören, will er von ihm nichts mehr hören. Nichts wie weg von hier! Statt in die Stadt geht er ans Meer.

Auf dem Schiff dann lässt Jona es sich nicht auf Deck in der warmen Sonne gut gehen. Er zieht sich zurück: noch nicht im Bauch des Fisches, aber im Bauch des Schiffes. Wie ein blinder Passagier. Er will die Stürme der Welt, die Schreie seiner Mitmenschen verschlafen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Prophetenexistenz, die ja gekennzeichnet ist durch extreme Sensibilität für die Zeitläufte, in ihr Gegenteil verkehrt. Unwetter und drohender Schiffbruch, angstvolle Gebete und Ladung über Bord – Jona verpennt es. Nicht einmal auf die zunächst gut gemeinten Anreden von Kapitän und Crew geht er ein. Total auf Distanz, meterdicke Mauern aufgerichtet. Es sind zwei scheinbar gegenläufige Bewegungen, die Jona hier macht: er läuft davon, aus der Enge seiner Heimat in die vermeintlich große weite Welt – und zugleich verkriecht er sich. Während der Sturm wütet, findet er tiefen Schlaf. Ist er in dieser Szene ein Vorläufer Jesu, der ja genauso auf den Seesturm reagierte: mit tiefem Schlaf?! Ja und nein. Aber natürlich wird er im weiteren Verlauf seiner skurrilen Geschichte die Erfahrung machen: Vor Gott weglaufen, sich vor Gott verkriechen, das funktioniert nicht. Einer der schönsten Psalmen bringt das unübertrefflich ins Wort: „Wohin sollte ich fliehen vor deinem Angesicht? (…) Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, dann würde auch dort deine Hand mich führen“. So heißt es in Psalm 139. Ja, Gott ist überall, und überall ist er Gott. Sonst wäre er ja nicht Gott. Das weiß schon jedes Kind.

II.

Als Prophet, als einer, der mit Gott auf du und du ist, weiß Jona das auch sehr gut. Aber er weiß es nur noch, er fühlt es nicht mehr. Als die Crew des Schiffes, mit dem er bis nach Tharsis will, das liegt in Spanien, in der damaligen Welt wirklich „am äußersten Meer“, ihn zur Rede stellt und nach seiner Herkunft fragt, antwortet Jona standesgemäß, mit einem frommen Bekenntnis: „Ich bin ein Hebräer und verehre Jahwe, den Gott des Himmels, der das Meer und das Land gemacht hat.“ Ein korrektes Credo. Aber es bedeutet für Jona nichts mehr. Es ist nur noch eine theologische Formel. Der Gott, zu dem er sich da bekennt, ist ihm kein lebendiges Gegenüber mehr. Für Jona ist sein Gott jetzt weniger als für die heidnischen Matrosen ihre Götter sind, die sie um ihr Leben anflehen, während Jona schläft. Aus dem Propheten ist ein in die Gottlosigkeit abgeglittener Frommer geworden, dem von Gott nichts mehr geblieben ist als Katechismuswissen. Darin ist er ein Spiegel, den der unbekannte Verfasser dieses Buches im 4. Jahrhundert v. Chr. seinem Volk vorhält, damit es sich selbst in Jona erkennt: ein Volk, eine Kirche von frommen Gottlosen, für die Gott nur noch eine Phrase ist, eine Ideologie zur Übertünchung einer trostlosen Lage. Der Name Jona bedeutet zu Deutsch Taube. Durch die Bibel ist die Taube zum Symbol für den Sieg des neuen Lebens über die Kräfte des Todes geworden. Hier bei Jona ist das nur noch bittere Ironie.

Der Kapitän des Schiffs stellt Jona die erstaunliche Frage: „Warum betest du nicht zu deinem Gott?“ So fragt ein Heide den frommen Juden. Gott appelliert an die Reste an Glauben, die Jona noch in sich tragen mag, durch die Menschlichkeit dieser heidnischen Schiffscrew, die es nicht übers Herz bringt, Jona über Bord zu werfen, obwohl das Los so entschieden hat. Noch einmal und noch einmal versuchen sie, das Schiff aus dem bedrohlichen Unwetter zu retten. Aber Jona, der berufene Prophet, begreift nichts. Ihm fällt zu Gott nichts mehr ein. Mir wird daran deutlich: Gott ist zwar überall – aber man kann ihm dennoch mit Erfolg davonlaufen. Denn uns erwartet er nicht überall. Er braucht zwar überall Menschen, die sich für ihn einspannen lassen. Aber er braucht nicht jeden Menschen überall, sondern jede und jeden an bestimmten Orten, auf bestimmte Weise. Wir sind jeweils an bestimmte Orte gestellt, auf bestimmte Weise mit Gott verabredet. Natürlich ist jeder Gottesdienst, den wir feiern, eine feste Verabredung mit Gott. Aber es gibt auch unzählige andere, weitere, die ganz persönlich gelten. Und Gott hatte sich mit Jona nun einmal nicht für Tharsis in Spanien verabredet, sondern für Ninive, der Metropole im Zweistromland.

III.

Ninive wird an anderer Stelle in der Bibel „Blutstadt“ genannt. Das klingt schauerlich. Nach Zone des Bösen, des Unheilvollen, dessen, was dem Menschen nicht gut tut, sondern Leid bringt. Lange nach der Zerstörung der historischen Stadt Ninive ist ihr Name für die Juden des 4. Jahrhunderts ein Platzhalter für die Hölle auf Erden. Für das, was man flieht, wenn man leben will. Auschwitz, Srebrenica, Pjöngjang. Ninive ist der äußerste Gegensatz zu Gott und allem, wofür er steht. Genau an diesem Ort will Gott Jona haben. An dem Ort, den er in keiner Weise mit Gott zusammendenken kann. Aber Gott sagt ihm: Gerade dort ist jetzt dein Platz! Denn dort sind so viele Menschen, deren Leid mir ans Herz geht und die ich retten will. Und dazu brauche ich dich.

Ich deutete eben, mit Blick auf den Tiefschlaf mitten im Sturm, schon an, dass wir in Jona manche Züge entdecken können, die wir im Neuen Testament bei Jesus wiederfinden. An dieser Stelle hier, also Gottes Aufforderung, dorthin zu gehen, wo Jona auf gar keinen Fall hin will, wird das noch augenfälliger. Denn auch Jesus wird von Gott genau an den Ort bestellt, der für ihn der denkbar tiefste Gegensatz zu seinem Vater im Himmel ist: das Kreuz, Hinrichtungsinstrument für Schwerverbrecher, der Ort der totalen Gottverlassenheit. Wenn wir nicht wenigstens ahnen, warum es so menschlich ist, dass Jesus in Gethsemane gebetet hat „Bitte nicht, Vater!“, dann verstehen wir auch nicht, warum Jona von Gott wegläuft. Jona im Bauch des Schiffes und erst recht dann in dem des Fisches: es ist sozusagen seine Gethsemane–Stunde. Aber das ist dann ein neues Kapitel in dieser faszinierenden biblischen Novelle.

IV.

Unser heutiger Textabschnitt, sozusagen die Ouvertüre des Jonabuches, gibt mir abschließend einige Fragen auf, die hoffentlich ein bisschen mit mir gehen. Gottes Aufforderung zum Beispiel, mit der alles beginnt: „Mache dich auf und geh!“ Sie könnte vielleicht ja auch mir gelten. In welchen Situationen höre, erfahre ich eine Art Beauftragung, einen Ruf, der mich, auf welchen Umwegen auch immer, losgehen lässt, der meinem Leben eine andere Richtung weist? Gibt es Erfahrungen, in denen sich vielleicht auch Gottes Anruf an mich verbirgt, mein Leben zu ändern? „Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden“, heißt es in einem der schönsten und denkwürdigsten Gedichte deutscher Sprache über die nie endende Bewegung und Veränderung im Leben. Und die Jona–Geschichte fragt mich natürlich auch: wo habe ich vielleicht einen Ruf von Gott gehört, ihn aber schnell ad acta gelegt, weil er mir unbequem war, weil ich mich zu sehr eingerichtet habe?

Eine weitere Frage, die dieser Text mir stellt: Wie erlebe und erleide ich Lebenskrisen – aber wie kann ich sie auch bestehen, so dass ich am Ende stärker aus ihnen hervorgehe? Überall, wo wir zum Gottesdienst zusammenkommen, sind auch Menschen darunter, die einen Angehörigen verloren haben, deren Partnerschaft zerbrochen ist, die einen schlimme Diagnose erhalten haben und und und… Menschen, die sich als ganz weit weg von Gott erfahren und darunter, anders als Jona, unendlich leiden. Bei Jona kehrt das Leiden am fernen Gott erst dann zurück, als er im nächsten Kapitel vom Walfisch verschluckt sich in dessen Bauch wiederfindet. Wiederfindet im mehrfachen Sinn: denn da, in der denkbar größten Dunkelheit und einer gefühlten totalen Gottesferne betet er einen Psalm. Da sagt er keine Katechismusformeln mehr auf, sondern kann sich wieder hinein stellen in die Gebetstradition seines Volkes. Gott ist kein fremdes, fernes, abstraktes Etwas mehr. Er wird Jona wieder zum Gegenüber, zum Du, auf das er sich in seiner Not total angewiesen weiß. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt, dass wir Gott gerade dann am nächsten sind, wenn wir uns von ihm am fernsten fühlen. „Gott nötig haben ist des Menschen höchste Vollkommenheit“, sagte er. Wir denken ja oft, Gott ist uns dann besonders nah, wenn uns Gutes wiederfährt. Was wir an Glück erfahren, wo wir uns beschenkt sehen, da fällt s uns nicht schwer, das als Zeichen für den Segen Gottes anzusehen. Das ist ja auch nicht falsch. Aber in der Bibel entdecken wir: am nächsten kommt uns Gott im Unglück, da wo wir wirklich auf ihn angewiesen sind, wie wir selbst nicht mehr ein noch aus wissen.

Wie es auch immer gerade stehen mag mit Ihrer und meiner Beziehung zu Gott, eines möchte ich aus unserem heutigen Text mit in die kommende Zeit nehmen. Vielleicht bin ich gerade erst eingeschifft mit Jona, schlafe mit Jona, und bin kurz davor, aufgeweckt zu werden von einem aufgeregten Kapitän, der mir die berechtigte Frage stellt: Wie kannst du schlafen? Steh auf, ruf deinen Gott an. Vielleicht denkt dieser Gott ja auch an uns, damit wir nicht untergehen.


AMEN.

In einem Geist verschieden sein

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

DSDS – dieses Kürzel wird auch hier in der Frauenkirche vielen vertraut sein. Seit fast 20 Jahren beglückt sie uns, die berühmte, eher berüchtigte Casting–Show „Deutschland sucht den Superstar“. DSDS. Griffiger Titel, knalliges Format und Jury um die (kürzlich dann doch gefeuerte) Trash–Ikone Dieter Bohlen bescheren dem Sender RTL immer noch beachtliche Einschaltquoten.

I.

„Deutschland sucht den Superstar“: es sieht so aus, als sei diese Devise inzwischen viral gegangen ist in unserer Gesellschaft. Das Normale, Durchschnittliche gilt als langweilig, also uninteressant. Du musst ein Star sein in dieser Welt. Oft stehen schon Kinder unter entsprechendem Druck. In der Schule müssen sie gut, besser noch herausragend sein. Auch in anderen Bereichen, im Sport oder in der Musik, sollen sie doch bitte mit Spitzenleistungen aufwarten. Manche Eltern stellen ihren Kindern Terminkalender zusammen, als ginge es darum, sie zu potentiellen Nobelpreisträgern fit zu machen. Dieses Denken in Superlativen hat aber auch vor der Kirche nicht Halt gemacht. Man muss sich nur mal so manche Ausschreibungen für Pfarrstellen ansehen. Die folgende Anzeige hat unter Pfarrer*innen traurige Berühmtheit erlangt: „In der Kirchengemeinde B. ist die Pfarrstelle zum nächstmöglichen Zeitpunkt neu zu besetzen. Wir wünschen uns eine/n Pfarrer*in mit breiten Erfahrungen in der Gemeindearbeit. Er sollte eine engagierte und kooperative Persönlichkeit sein, die bereit ist, Bewährtes fortzuführen, sich aber auch darauf freut, Neues zu entwickeln. Unter den vielfältigen Arbeitsfeldern sollten ihm eine bibel– und lebensnahe Predigt, kreative Gottesdienstgestaltung, einfühlsame Seelsorge, Freude an der Arbeit mit Kindern, missionarische Jugendarbeit, Frauenarbeit, Seniorenarbeit, Haus– und Krankenbesuche besonders am Herzen liegen. Ferner ist uns die Kontaktpflege zur nichtkirchlichen Öffentlichkeit besonders wichtig. Erwartet werden gute Kenntnisse in der kirchlichen Verwaltung, insbesondere im Finanzwesen.“

Interessant. Offenbar hat diese Gemeinde B. jemand gesucht, der/die in jeder Hinsicht premium ist – die sprichwörtliche Eierlegende Wollmilchsau. Wie so eine Ausschreibung wohl auf potentielle Interessenten wirkt? Nicht nur, dass so ein Anforderungsprofil eigentlich jeden überfordert. Zu fragen ist auch, ob Stars und multitaskige Alleskönner der Gemeinde Jesu wirklich gut tun.

Deshalb noch ein zweiter Spot. Der kommt aus der Gegenrichtung. „Sein Platz im Gottesdienst war hinter dem zweiten Pfeiler links, da wo man die Beine ausstrecken kann und man ihn fröhlich singen hören konnte.“ So begann der Nachruf auf ein treues Gemeindeglied, der letztes Jahr im Gemeindebrief einer Freiburger Gemeinde zu lesen war. Es stand dann noch allerhand darin über die vielen Engagements des Mannes für seine Gemeinde, und dass er in seinem Leben auch Schweres erlebt hatte. Er hatte als junger Mann bei einem Motorradunfall ein Bein verloren, und blieb doch bis zum Schluss ein herzlicher, lebensbejahender Mensch, den viele gemocht hatten.

„Sein Platz im Gottesdienst war hinter dem zweiten Pfeiler links, da wo man die Beine ausstrecken kann und man ihn fröhlich singen hören konnte.“ So den Nachruf eines Gemeindeglieds zu beginnen ist ungewöhnlich, aber sehr sachgemäß. Das wichtigste, vornehmste Wirken von Gottes Geist, den wir zu Pfingsten feiern, ist nämlich, dass Menschen, gerade wenn es das Leben ihnen nicht leicht macht, an Gott glauben können, ihn als den Herrn über ihr Leben erkennen und sich seine Liebe gefallen lassen. Und dass sie erfahren und zeigen, dass sie auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen sind, dass sie sich nicht zu stolz dazu fühlen.

II.

Um Stolz, und die Probleme, der er machen kann, ging es auch in der Gemeinde in Korinth, die Paulus gegründet und an die er zwei dichte Briefe geschrieben hat. Diese Gemeinde war springlebendig – und doch weit entfernt von einer Vorzeigegemeinde. Im Gegenteil, es hat dort heftig gekracht. Manche Gemeindeglieder waren überzeugt, über besonders tolle Gaben zu verfügen, und machten sich damit wichtig. Es gab welche, die brillant und hochgescheit reden konnten. Es gab Wunderheiler und Propheten, die die Gabe der Weissagung hatten. Und dann waren da auch Leute, die „in Zungen“ reden konnten: sie stießen unter Zuckungen unverständliche Laute aus. Wieder andere konnten diesem so sinnlosen wie eindrucksvollen Gestammel einen Sinn verleihen. Diese Zungenrede haben manche Gemeindeglieder, weil sie so spektakulär wirkte, als besonders kräftigen Beweis des Geistwirkens verstanden. Manche glaubten, je übernatürlicher, spektakulärer es zugeht, desto mehr ist das ein Hinweis, dass Gottes Geist wirkt. Andere wiederum, die mehr rational unterwegs waren, sahen eben darin eine gefährliche Entwicklung. Darüber kamen in der korinthischen Gemeinde schwere Spannungen auf.

Was macht Paulus damit? Er setzt klug ein, indem er zunächst mal ein Lob der Verschiedenheit anstimmt. Dreimal beginnt er mit „verschieden sind“: die Charismen, die Dienste, die Energien. Dreimal aber sagt er auch, was sich bei all dieser Verschiedenheit gleich bleibt: derselbe Geist, derselbe Herr, derselbe Gott. Es geht ihm um das Gemeinsame gerade in unseren Verschiedenheiten. Natürlich hält Paulus nichts von der unseligen Parole: Du bist nichts, dein Volk, oder in diesem Fall: deine Gemeinde ist alles. Was wäre das für ein Volk, eine Gemeinde, die aus lauter Nichtsen besteht? Er hält aber auch nichts von der Haltung, die dem Starkult zugrunde liegt, also dem Getue um die einzigartige, ständig an ihrer Optimierung modellierenden Persönlichkeit. Was wäre das für eine Gemeinde mit lauter aus allem heraus ragenden Einzelnen, die sich an sich selbst berauschen? Paulus will uns nicht gleichmachen. Aber uns sozialisieren, gemeinschaftsfähig machen, das will er. Christentum ohne Gemeinschaft, nur im Inneren, im Herzen: diese sehr protestantische Versuchung ist für Paulus ein No go. Christsein heißt für ihn: ein Glied am Leib Christi, also Teil eines Organismus sein. In den Versen direkt nach unserem heutigen Text führt er genau das näher aus, mit dem bekannten Bild vom einen Leib und den vielen Gliedern.

Paulus zielt sehr klar auf die Vielfalt der Gaben ab. In einer Gesellschaft, die ein viel gelesener Soziologe „Gesellschaft der Singularitäten“ nennt, die wie noch nie von Individualisierung und Zerfaserung gekennzeichnet ist, von Verlust des Gemeinsinns, ist das ein Plädoyer für Vielfalt auch in der Kirche. Die Geistesgaben, die Paulus hier nennt, kennzeichnen sehr unterschiedliche Stile, Christsein zu leben. Zwischen denen, die mehr vom Denken herkommen und sich um ein tiefes Verstehen der heiligen Texte bemühen, und solchen, die das emotionale Erleben suchen, können Welten liegen. Da wird es schwierig, in einer Gemeinde zusammenzuleben, ein gemeinsames Körpergefühl für den Leib Christi zu haben. Auch darum ist unser Protestantismus weltweit ja so divers, oft auch zersplittert, weil es so schwierig ist, diese ganz unterschiedlichen Stile beieinander zu halten. Da wird die Bildung neuer Gemeinden manchmal auch zur Bildung neuer Blasen, wo nur noch geistlich Gleichgesinnte zusammen sind. Das ist die Stärke der Volkskirche, die wir zwar längst nicht mehr zahlenmäßig, aber als Organisation immer noch sind, dass unter ihrem Dach sehr Unterschiedliches beieinander bleiben kann. Weil in ihr eher möglich ist, worum Paulus hier wirbt: auch Andersartiges gelten zu lassen, den eigenen Stil nicht absolut zu setzen.

III.

Spannend ist nun, dass Paulus eine solche Gemeinschaft von Verschiedenen auch in Gott selbst erkennt. In dem genannten Dreiklang vom selben Geist, selben Herrn und selben Gott klingt schon an erst die Jahrhunderte später entwickelte Lehre von der Trinität. Also von Gottes Wesen als „Einer in Dreien“, von der Gemeinschaft aus Geist, Sohn und Vater. Um die wird es nächsten Sonntag gehen, der den Namen Trinitatis trägt. Diese schwierige, hoch abstrakt wirkende Lehre hat einen einfachen Kern. Sie soll uns hindern, vom dreifaltigen Gott einfältig zu reden, simpel, eindimensional. Denn Gott ist nicht erst in der Gemeinschaft mit uns, sondern schon in sich selbst ein soziales Wesen: als Vater, Sohn und Geist in sich reich an Beziehung und Gemeinschaft. Paulus zeigt das auf an den Wirkungen Gottes nach außen. Zwar lässt sich von diesem Gott insgesamt sagen, dass er barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte ist. Aber die Auswirkung dieses Wesens, die Gnadengaben, Charismen sind Gaben seines Geistes.

Verschiedene Charismen, aber derselbe Geist. Der Sohn ist zugleich der Herr der Kirche, der uns Dienstaufträge erteilt: verschiedene Dienste, aber derselbe Herr. Aber die Charismen blieben womöglich ungenützt, die verschiedenen Dienste ungetan, wenn nicht Gott der Vater auch uns energisch und kräftig, der Schöpfer auch die Geschöpfe schöpferisch, kreativ macht. Verschiedene Wirkkräfte, aber ein Gott, der alles in allem bewirkt. So kann Gemeinde Jesu als Gemeinschaft der Verschiedenen zum Ebenbild Gottes werden. Schon zu Anfang der Bibel, in der Schöpfungsgeschichte wird deutlich, dass der Mensch nicht in der Vereinzelung, sondern erst in Gemeinschaft, also auch in der Verschiedenheit, wirklich Ebenbild Gottes sein kann. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, lautet eines der ersten Gottesworte über die Krone seiner Schöpfung. Um nochmal auf den Starkult zurückzukommen: Wenn schon, dann gilt für die Kirche, die Gemeinschaft der Christen der Satz eines früheren Bundestrainers: „Der Star ist die Mannschaft“! Im folgenden Kapitel, dem berühmten Hohelied der Liebe, wird die Kritik an Selbstverliebtheit und Egoismus noch einmal zugespitzt. „…und hätte die Liebe nicht“: Ohne Liebe sind die tollsten Gaben am Ende Schall und Rauch.

Unser Text macht jedenfalls deutlich, mit wie viel einzelnen Beiträgern zum Gesamten der Gemeinde Paulus rechnet. Offensichtlich hat er keine Gemeinde vor Augen, in der die Pfarrer alles in allem können und tun, also keine eierlegenden Wollmilchsäue. Die eingangs zitierte Pfarrstellenausschreibung hätte Paulus sofort in den Papierkorb befördert. Menschen, die nicht nur durch ihre Lebenserfahrung, sondern auch durch göttliche Inspiration begabt sind, Worte der Weisheit zu sagen, Worte, die anderen zu einem gelingenden Leben verhelfen, müssen nicht dieselben sein, die Worte der Erkenntnis beisteuern, uns tiefere Einblicke in biblische und politische Zusammenhänge ermöglichen. Sogar der Glaube an sich ist für Paulus eine bestimmte Geistesgabe einiger, die allen zugutekommen soll. Wer also fähig ist, Gott und Jesus mit ganzem Herzen, ohne Zwiespalt und Zweifel zu vertrauen, soll sich nicht erheben über den Un– oder Kleinglauben anderer, sondern er soll diese mittragen, für sie mitglauben.

Der Mann, von dessen Nachruf ich erzählte, war in seiner Gemeinde auf verschiedene Weise engagiert, als Schatzmeister beim Gemeindefest, als Mitglied im Kirchenvorstand und im Besuchsdienstkreis. Das ist alles wertvoll. Wichtiger aber ist, dass er ein Zeuge war, mit seiner treuen Präsenz im Gottesdienst, mit seiner Gelassenheit, und einem bei allem Schweren, das er erlebt hatte, bewahrten Humor. So verstehe ich den Satz des Nachrufs: „Sein Platz im Gottesdienst war hinter dem zweiten Pfeiler links, da wo man die Beine ausstrecken kann und man ihn fröhlich singen hören konnte.“ Schöner kann man das nicht sagen über einen 87jährigen, der in der Jugend ein Bein durch einen Motorradunfall verloren hatte. Er war, was nach Paulus wir alle sind: begabt, oder ich sollte sagen: hochbegabt, weil vom Höchsten begabt. Mit Gaben beschenkt, ausgerüstet. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen, Sinne und Gaben in Jesus Christus.



AMEN.

Gott stillt Durst anders

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

Nikodemus war also auch dabei. Den Namen hat man doch schon mal gehört. Das war jener gelehrte Rabbiner, der beides war, gläubig und kritisch–intellektuell, und der Jesus einmal im Schutz der Nacht zu einem denkwürdigen Gespräch über Gott aufgesucht hatte. Jetzt, bei seiner zweiten Begegnung mit Jesus – am helllichten Tag diesmal – ist er nicht ganz so nah dran. Aber Wesentliches bekommt er mit und macht sich prompt suspekt bei seinen Kollegen, den Theologen. Als potentieller Sympathisant jenes seltsamen Predigers aus Nazareth.

I.

In Jerusalem ist was los. Das Laubhüttenfest wird gefeiert. Es ist nach Pessach das zweithöchste Fest der Juden, eine Art Erntedank– und Erntebittfest in einem. An seinem achten und letzten Tag schöpft der Priester aus der Quelle Siloah Wasser mit einem goldenen Krug. Der wird dann in feierlicher Prozession in den Tempel gebracht. Dort gießt der Priester den Krug über dem Altar aus, und alle, die dabei sind, bitten um Regen. Zugleich wird auch dankbar daran erinnert, dass einst in der Wüste, in jenen 40 Jahren des Umherirrens der Israeliten zwischen Sklaverei und gelobtem Land, das Wasser aus dem Fels gesprudelt war und ihnen das Überleben gesichert hatte.

Und dann geschieht es. Jesus macht sich bemerkbar. Es hatte gedauert bis zu diesem Moment. Er hatte lange gezögert, aus der Provinz ins Zentrum, von Galiläa nach Jerusalem zu gehen. Aber dann geht er. Nicht öffentlich, sondern ziemlich still und leise. Unter denen, die es vom Hörensagen erfahren, gibt es Geraune. Das ist einer, den müsst ihr hören – sagen die einen. Ein Sektierer, ein gefährlicher Verführer – so die anderen. Die Leute im Tempel sind gerade dabei, die alte Verheißung des Jesaja zu singen: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen“. Wie bei den Kindern vor Weihnachten, breitet sich eine gespannte Erwartung aus, dass Gott dieses Wort bald wahrmachen und seine Herrlichkeit wie ein breiter Wasserstrom vom Zion her durch die ganze Welt gehen und allen Durst stillen werde.

Für die einen mag es also keine Störung des Festes, sondern seine schönste Erfüllung sein, wenn Jesus mitten in die feierliche Liturgie ruft: „Kommt zu mir! Hier, bei und in mir ist der Gottesstrom, das Wasser des Lebens. Kommt einfach, und trinkt euch satt!“ Und so heißt es in unserem Text, dass viele danach ausrufen: „Dieser ist wirklich der Prophet, ein Mann Gottes! Der, auf den wir schon so lang gewartet haben. Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser!“ Aber klar ist auch, dass es für die anderen eine schlimme Gotteslästerung ist. Sie halten entgegen: „Wenn der Prophet schon kommt, dann ganz sicher nicht aus Galiläa, diesem Palästinisch–Sibirien! Habt ihr euch verführen lassen? Gibt es denn auch nur einen von den gelehrten Theologen, der ihm glaubt? Nur das Prekariat, die Ungebildeten hören auf ihn!“ Und so heißt es dann: „Also entstand Zwietracht im Volk über ihn“. Und das ist ja auch nicht verwunderlich. Dort im Vorhof des Tempels steht ja keine himmlische Gestalt in gleißendem Licht. Da steht ein gelernter Schreiner aus Galiläa, in einfacher ländlicher Kleidung, ohne klerikales Gewand. Nach außen hin einer wie alle anderen nach Leben Dürstenden auch. Und er, der ihnen zuruft: „Kommt zu mir und trinkt euch satt!“, wird ja bis zum Ende einer von ihnen bleiben. Am Galgen wird er unter rasenden Schmerzen nach kühlendem Wasser schreien. So einer preist sich als das lebendige Wasser an. Schwer zu fassen. Und leicht nachvollziehbar, dass das nicht der Durstlöscher ist, den die Leute brauchen. Für den Durst nach Wissen, Macht, nach Prestige und Attraktivität ist das nicht das passende Getränk.

Nun ja. Jedenfalls braucht es da nicht viel zum Einvernehmen der religiösen Elite: Weg mit diesem Störenfried und Verführer! Sie brauchen nicht mehr zu trinken. Sie sind genug berauscht von ihrer eigenen Theologie. Auf alle komplizierten Fragen haben sie eine einfache Antwort, für jedes Problem gleich das passende Bibelzitat. Einer, der sagt: „Bei mir, einer Person, einem Namen ist die Quelle des Lebens, nicht in euren Gedanken und Ideen, und auch nicht in Schriftbuchstaben!“, so einer ist eine Provokation für die, die immer schon alles wissen.

Aber seltsam: Die Sicherheitskräfte, die von den Hohepriestern mobilisiert werden, packen Jesus nicht an. Als wäre ein unsichtbarer Schutzschild um Jesus. Noch hat die Stunde der Häscher nicht geschlagen. Was Jesus seinen Verfolgern sagt, atmet eine unglaubliche innere Freiheit: „Noch eine kleine Zeit bin ich unter euch, und dann gehe ich zu dem, der mich gesandt hat. Nicht ihr werdet mich greifen, sondern ich werde weggehen, wenn es meines Vaters Wille ist. (…) Auch ihr werdet einmal Durst bekommen nach dem Wasser des Heils“.

II.

Rein menschlich gesehen mag bei dieser vorläufigen Verschonung auch Nikodemus mitgemischt haben. Da dieser Theologe mit wachem Geist und großer Neugier das jetzt miterlebt mit Jesus – diesen Szenenwechsel vom einem steinernen Altar zu einem lebendigen Menschen, weg vom Wasseropfer hin zum Opfer eines Menschen –, mag er sich an den einen oder anderen Nachtgedanken erinnern, den Jesus damals zu ihm geäußert hatte. Vielleicht an das Wort: „Wenn einer nicht von neuem geboren wird, aus Wasser und Geist, kann er nicht in das Reich Gottes gelangen“. Wasser, ja, das war Nikodemus damals schon einleuchtend. Das ist ein Grundlebensmittel. Aber dass Jesus auch den Geist genannt hatte, daran hatte er lange rumgerätselt. So wirklich verstanden hatte er es in jener Nacht noch nicht. Aber mit ihm mitgegangen war es. Sonst hätte Nikodemus wohl kaum in den erhitzten Disput Jesus eingeworfen: „Richtet denn euer Gesetz einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkannt hat, was er tut?“ Freilich, nachdenklicher machen kann er mit dieser einfachen Rückfrage seine Kollegen nicht mehr. Sie sind schon zu sehr im Rad: „Kommst du etwa auch aus dieser Gegend da oben?“ geben sie ihm zurück.

Wie wird es für Nikodemus nun weitergehen? Vergessen kann er das gerade Erlebte nicht mehr. Wie Jesus aufgetreten war! Mit welcher Ruhe und Klarheit er geredet hatte! „Wenn einer Durst hat, komme er zu mir und trinke! Ich bin das Wasser des Lebens.“ Nikodemus dämmert, dass es um ganz anderes geht bei diesem Ruf. Wir tun viel im Beruf, im Alltag, vielleicht auch in unserem Glauben. Was aber Leben in seiner Tiefe ist, das können wir nicht tun, das haben wir nicht gemacht. Nikodemus fängt an zu überlegen: Was mache ich? Vor allem aber: Was bekomme ich? Das hatte Jesus ja eindrücklich deutlich gemacht anlässlich der Wasserspende beim Erntefest: das Spenden, das Opfern soll den Blick nicht erschöpfen. Die entscheidende Spende, das wirkliche Opfer kommt andersherum. Gott spendet und opfert. Freilich, das ist jetzt, zu diesem Zeitpunkt, noch nicht verständlich. Jetzt ist es noch zu früh.

Ob die klerikalen Kreise, in denen Nikodemus verkehrte, etwas von seiner Entwicklung gemerkt haben? Wie war sein Stand unter seinesgleichen, den Pharisäern? Beobachtete ihn vielleicht jemand einige Zeit später, als er sich Jesus ein drittes Mal näherte? Zu spät näherte, könnte man meinen. Denn Nikodemus war in Jerusalem geblieben und machte sich auf dem Weg nach Golgatha. Bei sich hatte er hundert Pfund Myrrhe zum Einbalsamieren des toten Jesus. Zu spät?

Johannes, der all das aufgeschrieben hat, gibt uns einen Hinweis, der in eine andere Richtung deutet. Jene drei einschneidenden Begegnungen von Nikodemus mit Jesus sollen ja noch überholt werden. Und zwar dann, als der Geist auf Jesu Leute kam, als er sie sendete. Eben jener Geist, von dem Jesus Nikodemus gegenüber so rätselhaft gesprochen hatte. Jesus kam ja wieder, als Auferstandener. Er kam als der gleiche Jesus wie vorher, aber nicht mehr als derselbe Mensch. Er zeigte ihnen seine gefolterten Hände und seine durchstochene Seite. Er grüßte seine Leute und gab ihnen seinen Geist: „Wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich euch. Nehmt den heiligen Geist!“ Und die Jesus–Leute spürten auf einmal eine nie gekannte Kraft – wie von außen angeflogen.

Jetzt wurde Wahrheit, was vorher nur dunkel vorausschien. Jesus ging seinen Leuten richtig auf. Ob Nikodemus von Golgatha mit herübergekommen war? Wasser, Opfer, Umkehr: alles wichtig und gut zu einem besseren, vertieften Leben. Aber nicht ausschlaggebend zum Heil. Das, was wirklich auf die Beine stellt, das kann nur Gott selbst tun. Sein Geist erst lässt das von sich aus absolut Unverständliche, die Hinrichtung auf Golgatha, verstehen und das Leben ergreifen. Jetzt war heraus, was Gott mit Jesus angefangen und vollendet hatte. Aus dieser umwerfenden Erfahrung, aus diesem neuen Verstehen heraus entstand die Kirche. Aber das ist wieder eine neue Geschichte. Und mit der können wir ruhig noch eine Woche warten. Dann ist nämlich Pfingsten.


AMEN.

Heavly sky

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

viele werden das schon erlebt haben: man sitzt im Flieger, noch ganz früh am Morgen, der Start geht in den noch dunklen Himmel. Und dann der Sonnenaufgang weit über den Wolken! Das ist traumhaft schön, das schlechte Gewissen, dass man überhaupt im Flieger sitzt, kommt zumindest für diesen Moment nicht gegen das Überwältigungsgefühl an. Eine buchstäbliche himmlische Erfahrung, 10.000 Meter über der Erde. Aber kommt man so dem Himmel näher? Ein Blick aufs Englische ist erhellend. Da gibt es zwei Wörter für den Himmel: sky und heaven. Wenn ich die Hochhäuser von Frankfurt/M. sehe, wie sie schier in den Himmel wachsen, dann sehe ich die skyline, nicht die heavenline. Wenn ein Gebäude so hoch hinausragt, dass wir es „Wolkenkratzer“ nennen, dann ist das englische Wort dafür skyscraper, nicht heavenscraper. Wie so oft enthält die Sprache eine tiefe Wahrheit: Man ist dem Himmel nicht näher, je höher man fliegt. Die uralte Geschichte vom desaströsen Turmbau zu Babel steht dafür. Wir mögen den sky streifen, aber den heaven, den Himmel erreichen wir nicht.

In meinen Jahren als Gemeindepfarrer hat es mich im Religionsunterricht in der Grundschule oft berührt, wie wichtig den Kindern, wenn sie malten, der Himmel war. Keine Pflanze malten sie ohne Himmel darüber. Sein Licht und sein Glanz, das war ihnen wichtig. Besondere Sorgfalt verwendeten sie auf die Wolken, auch auf den Regen. Manche malten Bilder, auf denen der Himmel den allergrößten Teil einnahm. Wenn Kinder so malen, dann meinen sie nicht nur den sky, sondern auch den heaven. In ihrem Malen wollen sie etwas von dem ausdrücken, was man gar nicht malen kann: die Quelle des Lebens. Sie malen das Licht und das Wasser, weil sie spüren, dass man ohne Licht und Wasser nicht sein kann. Aber ihre Bilder sagen auch: Der Mensch lebt nicht von Licht und Wasser allein, sondern er lebt eigentlich von dem, was dahinter ist. So wird der Himmel, den wir sehen – „der bestirnte Himmel über uns“, wie ihn der Philosoph Kant ehrfürchtig nannte – zum Gleichnis für den Himmel, den wir nicht sehen. Der Himmel, nach dem wir uns ausstrecken können, wird zum Gleichnis für das Geheimnis der Welt, für die Wahrheit über unser Leben.

Der Himmel, den wir nicht sehen, aber in dem, so sagt es unser heutiger Predigttext, aus dem Epheserbrief, Jesus sitzt und regiert. Über dem Weltkreis thronend, ein Zepter in der Hand, eine Aura, die sich weit ins All hinein erstreckt: so erscheint der Himmelfahrtschristus auf vielen Bildern. Heaven eben. Solche Darstellungen wecken das für uns moderne Menschen zwiespältige Gefühl, dass Christus nichts entgeht, er die Dinge auf Erden unter Kontrolle hat und von einer höheren, geheimnisvollen Warte aus alles Sinn und Ordnung hat. Aber was macht Christus „dort“ eigentlich? Was haben wir von der Vorstellung eines Himmelthronenden, wenn uns auf der Erde die Ressourcen ausgehen, die Kriege nicht weniger werden und eine Pandemie eine verwüstende Spur durch sie zieht? Hat sich Gott mit der Himmelfahrt nicht aus der Verantwortung gezogen? Wäre ein irdischer Jesus, der wenigstens einige Kranke heilt oder hier und dort für etwas mehr Brot sorgt nicht allemal hilfreicher, als der erdenferne Himmelschristus?

Als Kind fand ich es verstörend und auch gemein, dass Jesus einfach so plötzlich weg ist und die Jünger, die sich doch bestimmt so gefreut hatten, dass ihr Jesus doch nicht wirklich tot war, nun wieder alleine da standen. Als ich etwas älter war, starb ein Onkel an einer schlimmen Krankheit. Weniger Monate nur, nachdem er in Rente gegangen war und mit meiner Tante für den neuen Abschnitt so viel geplant hatte. Aber nun war alles wie Seifenblasen zerplatzt, und ich war überzeugt, dass für meine Tante jetzt eine Welt zusammenbricht. Erstaunlicherweise war das aber nicht so. Meine Tante war traurig, klar, aber sie hatte sehr bald für sich herausgefunden, dass ihr Georg nicht wirklich weg, sondern sie immer noch mit ihm verbunden war. Auf etwas geheimnisvolle, aber beeindruckende Weise blieb ihr diese Liebe Hilfe in vielen Lebenslagen. Das half mir damals, die „Himmelfahrtsgemeinheit“ aus einer anderen Perspektive zu sehen: Nichts, was auf der Erde lebt, verschwindet einfach. Alles hat noch eine Entsprechung im Himmel. Und der Himmel hat eine Entsprechung auf der Erde. Und in Jesus verbindet sich beides auf einzigartige Weise. Jesus kann „in den Himmel auffahren“, weil er von der Erde gar nicht mehr verschwinden kann, weil er sie mit sich verbunden hat und nun ganz mit dem Himmel verbindet.

Dass Jesus „zum Himmel gefahren“ ist, heißt zunächst einmal ganz schlicht: Er hat an dem Geheimnis des Himmels, der heaven ist, nicht sky, Anteil, er ist selber ein Teil davon. Seine Macht ist unendlich viel weiter gespannt, als wir uns vorstellen können. Unser Abschnitt aus dem Epheserbrief sagt das in großer Eindringlichkeit: „Er ist eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen“. Das ist, durch alle feierliche, steile Sprache hindurch, eine großartige Aussage, weil sie uns Jesus Christus hier einmal von seiner anderen Seite vor Augen malt. Also nicht den Sohn Gottes, der gehorsam den Weg nach ganz unten ging und uns in allem gleich wurde, sondern den Christus Pantokrator, den Christus, der als König souverän über alle Dinge herrscht.

Wir rationalistischen Protestanten, denen das Kreuz der Kern des Glaubens ist, tun uns damit eher schwer. Uns ist Jesus, der „wahre Mensch“, näher als Christus, „der wahre Gott“. Der von Wunden und Dornen entstellte Gekreuzigte auf Grünewalds berühmten Isenheimer Altar erschließt sich uns eher als der überirdische, mit Goldglanz gezeichnete Christus auf den orthodoxen Ikonen. Aber es ist mit den beiden Seiten Jesu Christi wie mit Kreuz und Auferstehung: Ohne Ostern bliebe Karfreitag ein trostloser Tag, bliebe das Kreuz ein schreckliches Symbol für unsere dunkelsten Abgründe. Und ohne die göttliche Seite bliebe Jesus einfach ein „großer Mensch“, ein eindrucksvolles Vorbild der Humanität – aber nicht der, in dem unser Heil ist.

Der Himmel ist die uns entzogene umfassende Wirklichkeit Gottes, in ihm entfaltet Gott sich als der, der alles in allem erfüllt. Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, hat an dieser Fülle Anteil. In diesen geheimnisvollen Bereich zieht er uns mit hinein. Dass er zu Gott erhöht wird, heißt eben nicht, dass er uns verlässt. Er bleibt uns nah durch seinen Geist, er bleibt uns nah, wenn wir sein Wort hören, seine Sakramente feiern. Der Christus, der am Kreuz unendlich erniedrigt und gedemütigt wurde, herrscht über alle Reiche und Gewalten, über alles, was einen „großen Namen“ beansprucht. Das ist die Botschaft dieses Tages. Christus, so sagt es der Epheserbrief, „ist die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“ Wie sollten wir ihm dann nicht auch die Herrschaft über unser Leben anvertrauen? Das Himmelreich ist eben mehr als der Horizont, bis zu dem mein Auge reicht. Es ist auch ein Standpunkt jenseits meiner Perspektive, der mein Leben über seine Todesgrenze hinaus umfasst und in sich birgt. Ich kann das nicht immer so einfach glauben. Aber ich kann es mir immer wieder sagen und mich hineinziehen lassen in diese himmlische Herrschaft.

Besonders eindrücklich kann ich mir das sagen lassen von dem berühmten Theologen Karl Barth. Am Abend vor seinem Tod im Dezember 1968 telefonierte Barth mit einem engen Freund und theologischen Weggefährten. Sie sprachen über die auch damals düstere Weltlage: Vietnam, Biafra, Tschechoslowakei. Am Ende, so hat der Freund berichtet, sagte Barth, bevor er den Hörer auflegte, fast beschwörend: „Aber ja nicht den Kopf hängen lassen! Denn es wird regiert!“ In der Nacht starb er. Oder anders gesagt – er vertraute die Herrschaft über sein Leben ganz Gott an.

Und wenn uns das bei unserer ähnlich trostlosen Weltlage als ein hilflos–frommes Pfeifen im Wald erscheint? Dazu zum Schluss etwas zum Mitnehmen und Weiterdenken. In einem Roman des siebenbürgischen Pfarrers und Schriftstellers Eginald Schlattner gibt es ein beeindruckendes Zwiegespräch zwischen zwei Liebenden über den Glauben. Dort heißt es:

„Glaubst du an die Auferstehung der Toten?“ – „Ja“, hörte ich mich laut sagen, indem ich die Augen auf sie richtete. – „Wie gut!“ sagte sie. – „Ja“, sagte ich, obschon ich es nicht glaubte. – „Du glaubst es! Wie mich das tröstet.“ – „Ja“, hatte ich gesagt, obschon ich es nicht glaubte. Aber ich glaube, es gibt Augenblicke, wo man Ja sagen muss, auf Teufel komm raus, sofort, ohne mit der Wimper zu zucken... Wobei man die seltsame Erfahrung macht: Es gibt ein Ja, auch ins Leere gesprochen, das sich mit der Zeit seine Wahrheit schafft, in Erfüllung geht“.

Liebe Gemeinde, das wirft für mich ein schönes Licht auf diesen schwergewichtigen Text aus dem Epheserbrief. Dass Menschen in dieser von vielen Höllenspuren gezeichneten Welt an den Himmel glauben können, ist Grund genug zu danken. Und es ist Grund für die Bitte, dass das Ja des Glaubens, manchmal nur stammelnd und voller Zweifel gesprochen, sich „mit der Zeit seine Wahrheit schafft und in Erfüllung geht“.


AMEN.

Beten heißt dran bleiben

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des Gottesdienstes zur Einführung in das Amt als Pfarrer an der Frauenkirche Dresden

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Liebe Gemeinde,

Rogate heißt dieser Sonntag. Zu Deutsch: Betet! Eine sperrige Ansage. Sie wirkt wie aus der Zeit gefallen und braucht Zeit, ihren Weg in unsere Herzen und unseren Tageslauf finden. In einer durchgetakteten 24/7-Woche steht das Beten, wenn überhaupt noch, dann für die meisten nicht weit oben auf der To-do-Liste. Und schon gar nicht verträgt sich so ein Imperativ, die Aufforderung zum Beten damit, dass das Gebet für viele eine sehr intime Angelegenheit ist, über die man kaum mit anderen spricht. Manchmal kann es aber auch sehr anders sein. Da muss man nicht eigens zum Beten gebeten werden, sondern das Bedürfnis kommt ganz von selbst. Und: es kann auch eine sehr öffentliche Sache werden mit dem Beten.

I.

Wie etwa vor 16 Jahren in Rom. Manche werden sich erinnern, wie das war in den Tagen nach Ostern 2005 - auch das Jahr, in dem der Wiederaufbau dieser Kirche vollendet wurde. Johannes Paul II. lag damals im Sterben. Mir ist das immer noch vor Augen: die Tausende junger Leute, die damals aus vielen Ländern nach Rom gekommen waren. Nächtelang harrten sie auf dem Petersplatz aus und stimmten immer wieder die alten, über Jahrhunderte gewachsenen Trost- und Hoffnungsgebete und Gesänge der Kirche an. Das war eine eindrucksvolle kollektive Sterbebegleitung. Wie selten wurde da spürbar, welche Kraft liturgische Rituale aus sich heraus entfalten. Wie sie da tragen, wo pure Menschenworte nicht ausreichen. Ich bin in der Wolle gefärbt evangelisch. Aber damals habe ich die Katholiken beneidet um ihren liturgischen Reichtum.

Wenige Verse vor unserem eben gehörten Predigttext bitten die Jünger Jesus: „Herr, lehre uns beten“. Als der Philosoph Karl Jaspers im Alter gefragt wurde, warum er eigentlich kein Christ sei, antwortete er nicht hochphilosophisch, sondern entwaffnend einfach: „Niemand hat mich beten gelehrt.“ Beten will offenbar gelernt sein. Es wird einem nicht in die Wiege gelegt. Auch wenn man mit den Händen gerade nichts macht und sie eben darum faltet, ist das Gebet, wie Martin Luther sagte, auch ein Handwerk. Als solches braucht es Schulung, Einübung. Jesus bietet sie uns an mit einer Geschichte. Mitten aus dem Alltagsleben eines palästinischen Dorfes gegriffen. Um Gastfreundschaft geht es, um Bewirtung - und um eine ziemlich heikle Lage.

Bäckereien, in denen man Brot auf Vorrat kaufen könnte, gibt es keine. Die „Hausfrau“ backt es am frühen Morgen, so viel, wie die Familie für den Tag braucht. So dass am späten Abend, als ein offenbar unerwarteter Gast nach langer Reise eintrifft, nichts mehr zu essen da ist. Im Orient ist die Gastfreundschaft heilig. Was kann der Hausherr jetzt tun? Auf dem Dorf weiß man, was bei den Nachbarn los ist: dort haben sie heute Morgen doch mehr als sonst gebacken! Also nichts wie rüber und um eine Ration Brot bitten. Peinlich aber: es ist schon Mitternacht. Der Bittsteller muss den Nachbarn aus dem Schlaf reißen. Wir hören ihn anklopfen. Mit wispernder Stimme wird er dem Nachbarn sein Anliegen vortragen. „Freund“, redet er ihn an. Der Nachbar erwidert in anderer Tonlage: ohne Anrede, unwirsch. Denn sie schlafen alle dicht beieinander, Eltern und Kinder, in einem palästinischen Fellachenhaus mit seinem einen Wohnraum. Wie kann der Hausherr, mit der Bitte seines Nachbarn konfrontiert, einen Familienkrach vermeiden?

Ich habe das Gleichnis bis hierhin nacherzählt - in einer Hinsicht aber falsch. Ich habe nämlich außen vor gelassen, dass Jesus das ganze Gleichnis als eine einzige rhetorische Frage anlegt. Könnt ihr euch vorstellen, dass, wenn jemand von euch einen Freund hat, und... - nun käme die Geschichte bis zu der verärgerten Ablehnung des Nachbarn. Das Gleichnis müsste dann so enden, dass die Anfangsfrage wiederholt wird: Könnt ihr euch so etwas wirklich vorstellen? Antwort: Nein, dass die Gastfreundschaft so mit Füßen getreten wird: ein No go! Anders gesagt: Bei allem Unmut des Nachbarn, der Bittsteller wird am Ende Erfolg haben, weil es dem Nachbarn letztlich doch ehrenrührig vorkommt, ihn in seiner Not abblitzen zu lassen. So sagt es Jesus in seiner Antwort auf die Frage, die sein Gleichnis darstellt: „Ich sage euch: Wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, was er braucht“. Luther hat hier übersetzt: „um seines unverschämten Geilens willen“. Das klingt schön drastisch - geht aber doch etwas an der Sache vorbei, denn der Mann bittet ja nicht zum eigenen Vorteil, sondern für jemand anderen, weil er sich einem hohen Wert verpflichtet weiß. Jesus geht es jedenfalls darum: Bei einer ethisch so ernsthaften, Bitte soll man sich nicht so einfach abspeisen lassen, da muss man beharrlich sein, dran bleiben. Wie ein Fußballteam beim „Gegenpressing“, wie man das neudeutsch nennt.

II.

Aber im Blick auf sein Thema, das Gebet, ist dieses Gleichnis durchaus brisant. Das Gebet, das ja eine Bewegung von unten nach oben, zum „Herrn aller Herren“ ist, wird hier nicht in Bilder aus der höfischen Welt gebracht. Sondern aus dem Bereich dörflich-nachbarlicher Beziehungen. Die beiden, die da nachts verhandeln, sind auf Augenhöhe. Es gibt keinen Standesunterschied. Man wohnt um die Ecke und kennt sich aus dem ff. Und: Der Gebetene gibt am Ende nicht aus Güte und moralischer Einsicht nach, sondern weil ihm sein Nachbar mit seiner Penetranz einfach auf den Wecker geht. Er will wieder seine Nachtruhe haben. Es ist eine kühle Abwägung des kleineren Übels. Statt eines edlen Wohltäters sehen wir hier einen nüchternen Pragmatiker.

So gesehen erscheint Gott hier in einem fragwürdigen Licht. Unser Glaubens-Taktgefühl tut sich schwer, Gott in der Figur dieses Nachbars zu entdecken. Martin Luther aber, ein großer Beter und Seelsorger, hat da keine große Scheu gehabt, Gott auch so diesseitig zu sehen. Ich bin ja nun Pfarrer in einer lutherischen Kirche. Da darf es erlaubt sein, Luther mit einem starken Wort zu zitieren:

„Erstlich sollen wir bitten. Wenn wir nun anfahen zu bitten, so verkreucht er sich irgends hin und will nicht hören. Will er sich nicht lassen finden, so muß man ihn denn suchen, das ist: mit Beten anhalten. Wenn man ihn denn sucht, so verschleußt er sich in ein Kämmerlein; will man zu ihm, nein, so muß man denn kloppen. Wenn man dann einmal oder zwei gekloppt hat, so überhöret er. Letztlich, wenn man des Kloppens will zu viel machen, so tut er auf und spricht: Was willst du denn? Herr, ich will das oder jenes haben. So spricht er: So hab dirs doch! Also muß man ihn aufwecken.“

So weit Luther. Eine robuste Ermunterung, fern von jedem religiösen Knigge, in den Dingen, die uns unter den Nägeln brennen, bei Gott nicht die Schultern einzuziehen, sondern groß zu denken, ungeniert, ja fordernd zu sein. Luther meint das wohl kaum so, als könne Gott erst durch unser Rufen, Klopfen, Poltern zu etwas genötigt werden, was er von sich aus gar nicht will. Die Bibel sagt an vielen Stellen, dass er eigentlich mehr als genug Gutes für uns bereit hält. Aber Gott geht eben nicht darin auf, Lieferant zu sein für das, was wir ersehnen, ansonsten, als Person, aber uninteressant zu sein. Nein, er ist der Gott, dem es um den persönlichen Kontakt mit uns geht und für den das, was er uns gibt, ein Ausdruck seiner persönlichen Liebe ist. Dass er meistens nicht so flott und nach unserem Gusto mit unseren Bitten umgeht, könnte also auch ein Anreiz für uns sein, beharrlicher auf ihn zuzugehen und eben nicht nur die ersehnte Gabe, sondern in der ersehnten Gabe auch den Geber zu suchen. Die Geschenke, über die ich mich am meisten freue, sind ja die, wo mir noch wichtiger als das Geschenk selbst ist, von wem ich es bekomme.

Vielleicht kann man unsere Erfahrung, dass Gott unsere Bitten manchmal nur zögernd oder gar nicht zu erhören scheint, in dieses Bild übertragen. Es ist wie bei Eltern, deren ganz kleines Kind gerade laufen lernt. Sie strecken ihm die Hände entgegen und weichen vor dem auf sie zulaufenden Kind zurück, damit es jedes Mal ein paar mehr Schritte lernt. Vielleicht will Gott dadurch, dass er auf unsere konkreten Bitten so oft scheinbar stumm bleibt, uns in die Schule des Betens nehmen, in der wir ja oft wie kleine Kinder sind, und uns dazu locken, unsere unsicheren Schritte zu tun und Schritt für Schritt trittfester im Beten zu werden. Das Erstaunliche ist ja letztlich nicht, dass Gott Bitten erhören kann, sondern dass er es will. Wir sind ja nicht Gottes Vertragspartner, die aufgrund von Vorleistungen etwas erwarten, einfordern könnten. Gott ist uns in nichts verpflichtet.

III.

Heute ist der 9. Mai. Der Tag, an dem vor 76 Jahren endlich die Waffen schwiegen in Europa. Keine drei Monate, nachdem Dresden und mitten darin diese einzigartige Kirche zum Trümmerfeld gebombt worden war. So sehr dieser 9. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war, aber die für uns Heutige unvorstellbare Not, die damals gelitten wurde, war noch lange nicht vorbei. Vor allem der Hunger. Unser Gleichnis hat in die damalige Zeit eins zu eins gepasst und hineingesprochen. Meine Eltern haben uns, als wir Kinder waren, viel von ihren Kindheitserfahrungen aus dem Krieg erzählt. Wie Kinder so sind, fanden wir das damals eher spannend als schaurig. Nicht zuletzt, wenn sie uns Geschichten vom „Hamstern“ in der Zeit nach Kriegsende erzählten. Wie ihre Eltern viele Kilometer unter die Füße oder unters Fahrrad nahmen, um bei Bauern auf dem Land um etwas Essbares zu bitten, manchmal richtig zu betteln. Und wie unterschiedlich auch damals die Reaktionen sein konnten. Die Not war so groß, dass da kein Platz für bürgerliche Etikette, allzu viel Höflichkeit war. Bis dahin, dass der Tatbestand des sog. Mundraubs auf den Feldern durch den Kardinal von Köln als mit der kirchlichen Morallehre vereinbar erklärt wurde. Worauf das Wort „Fringsen“ Einzug in die Alltagssprache hielt. Wenn wir auch diese Erfahrungen der Notzeit vor 75 Jahren als Bild für das Beten nehmen, dann kann man Luther nur Recht geben: „Will er sich nicht lassen finden, so muss man ihn suchen, das ist: mit Beten anhalten“…

Liebe Gemeinde,

so möchte ich gerne Pfarrer an dieser Kirche sein, die ja aus sich selbst schon ein eindrucksvolles Gleichnis ist für die Kraft, die das Dranbleiben am Beten in der ganzen Welt entbinden kann: Ihnen immer wieder zurufen, und gegen die eigene Gebetsmüdigkeit, von der ein Frauenkirchenpfarrer weiß Gott auch nicht verschont bleibt, von Ihnen sagen lassen: Es gibt wirklich keinen Ort, keine Zeit, keine Worte, die zu „unpassend“ sein könnten, als dass wir Gott nicht suchend, anklopfend, bittend auf den Leib rücken dürften. Dann werden wir die Erfahrung machen, die Dietrich Bonhoeffer so ins Wort gebracht hat: Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen. So wie es auch die Erfahrung dieser schwer gebeutelten Stadt gewesen ist: Gott bewahrt nicht vor Katastrophen. Aber er bewahrt in Katastrophen. Daraus kann Neues erwachsen.

AMEN.