Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2024

Gott und die ungeordneten Verhältnisse

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

eine Geschichte um unerfüllte Lebenswünsche und familiäre Konflikte. Um Macht und Mobbing, um Sex und (ein bisschen) Crime. Lange hat man in der Kirche einen Bogen um sie gemacht. Sie ist erst mit der neuen Ordnung der liturgischen Texte vor fünf Jahren in unseren Gottesdiensten aufgetaucht. Doch was ist eigentlich anstößig an ihr? Dass zwei offenkundig starke Frauen mit eigenem Kopf hier die Hauptrollen spielen? In der von starken Frauen heute stark geprägten evangelischen Kirche bestimmt nicht mehr. Dass der Mann in dieser Geschichte eine etwas kraftlose Nebenrolle einnimmt, seiner Frau so ergeben, dass er zu allem, was sie will, Ja und Amen sagt? Warum eigentlich nicht? Warum sollte Abraham nicht dem folgen, was die gewitzte Sara sich so ausdenkt? Bleibt nur noch die Moral von der Geschichte: die Sexualmoral. Eine Frau bringt ihren Mann dazu, mit dem Hausmädchen ins Bett zu gehen: Wenn das nicht skandalös ist, was dann? Aber Vorsicht an der Bettkante! Wir tun gut daran, das, was uns heute pikant und peinlich ist, nicht gleich für anstößig zu erklären.

I.

Klar, ungewöhnlich bleibt die Geschichte. Jedenfalls für uns. Eine kinderlose Frau veranlasst ihren Mann, sich eine Nebenfrau zu nehmen, als Gebär-Mutter, weil ihre eigene Gebärmutter verschlossen bleibt. Auf dass er so doch noch Vater und somit sie zumindest indirekt Mutter wird. Auch wenn Leihmutterschaft heutzutage fast normal geworden ist: für uns gesittete Alteuropäer ist das schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Aber: Andere Länder, andere Sitten! Vor allem: Andere Zeiten, andere Sitten! Man muss also die damaligen Sitten kennen, um halbwegs unbefangen hören zu können, was die Geschichte von Hagar zu sagen hat. Jedenfalls drei Dinge sollte man wissen.

Erstens: Damals, in der Zeit der sog. Erzväter, war es Usus, dass eine Frau eine Leibmagd mit in die Ehe brachte, über die sie souverän verfügen durfte. Selbst der Ehemann hatte nur begrenzte Verfügungsgewalt über sie. Er konnte sie nicht mit in sein Bett nehmen wie seine eigenen Sklavinnen, die er nach Lust und Laune zu Gespielinnen machen konnte. Sara hatte also eine starke Stellung. Und sie füllte sie aus. Denn sie war eine starke Frau.

Zweitens: Auch das war zur Zeit der Patriarchen ein verbreiteter Rechtsbrauch, dass die Frau bei anhaltender Kinderlosigkeit dem Ehemann ihre Leibmagd in die Arme legte, damit er mit ihr ein Kind zeuge. Im Erfolgsfall musste die Magd „auf den Knien“ der Herrin das Kind zur Welt bringen – als sei es aus deren Schoß selbst hervorgegangen. Hagars Kind würde dann Saras Kind sein. Hagar hatte also eine ganz schwache Stellung. Und doch ist sie, wie sich zeigen wird, eine ungewöhnlich starke Frau.
Und zum Dritten unterscheidet auch dies die Zeit der alttestamentlichen Väter und Mütter von unserer Gegenwart, dass Kinderlosigkeit als soziale Schmach galt. In seinen Kindern lebte man fort. Wer keine hatte, hatte keine Zukunft. Eine kinderlos bleibende Ehefrau verlor dramatisch an Ansehen. Sie drohte an den Rand der Gesellschaft zu geraten. Ihre starke Stellung war vorbei.

So war das – damals. Und zumindest so viel muss man von damals wissen, um die Geschichte von Hagar auch heute zu verstehen. Denn um Hagar vor allem geht es hier: um die ägyptische Magd der Sara, die wiederum die rechtmäßige Ehefrau des Patriarchen Abraham war. Der aber, wie gesagt, spielt in dieser Geschichte keine tragende Rolle – um es freundlich auszudrücken. Noch ist Abraham nicht Vater. Noch ist er kinderlos – obwohl ihm Gott im Kapitel davor eine große Nachkommenschaft verheißen hat, „zahlreich wie die Sterne am Himmel“ (Gen 15,5). Verständlich die Desillusionierung bei Sara, der kinderlos Gebliebenen, über diesen Gott. Damit beginnt die Geschichte. Sara überredet Abraham, mit Hagar ein Kind zu zeugen.

II.

„Abraham gehorchte Sara. Und er ging hin zu Hagar, und sie ward schwanger.“ Am Anfang ist wirklich alles gut. Sara meint es gut. Abraham findet und macht es gut. Und Hagar tut es gut. Sara meint es mit sich selber nur zu gut. Hofft sie doch, mit Hilfe der Leihmutter endlich Mutter zu werden und ihr bedrohtes Sozialprestige halten zu können. Abraham findet es ungemein gut, ein Kind zu zeugen. Und Hagar tut es richtig gut, Mutter zu werden. Doch aus dem guten Anfang geht wenig Gutes hervor. „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären“ – nicht nur! Das Leben ist komplex. Es kennt auch den Fluch der guten Tat. In unserer Geschichte ist das gleich zweimal so. Hagar tut die Schwangerschaft so gut, dass sie, die Magd, auf die Stimme der Natur, also der Mutter in sich hört. Jetzt steht sie im Mittelpunkt – und wird hochmütig, auch ihrer Herrin gegenüber. So war das schon immer: Hierarchie und Dominanz bedeuten zwar, dass der Höhergestellte geachtet werden muss, provozieren aber gerade deshalb Widerstand. Aber Hochmut kommt vor dem Fall.

Die in ihrem Stolz gekränkte Sara lässt ihre Muskeln spielen und facht den Konflikt mit der Magd an zu einem Konflikt mit ihrem Mann. Sie beschuldigt Abraham, den Hochmut der Magd angefacht zu haben. Wer weiß, was er da so liebesgeflüstert hat in der Nacht mit Hagar! Und Sara zieht Gott mit in diesen Konflikt hinein. Er soll entscheiden zwischen ihr und dem fiesen Abraham. Der, um des lieben Hausfriedens willen, gibt nach und überlässt die zur Nebenfrau aufgestiegene Magd wieder der absoluten Verfügung ihrer Herrin: „Siehe, sie ist wieder in Deiner Hand, mach mit ihr, was Du willst!“ Und das tut Sara dann auch. Sie erniedrigt Hagar, die werdende Mutter - und das so sehr, dass der die Situation irgendwann unerträglich wird. Hagars Stärke erträgt die Stärke Saras nicht mehr. Sie emanzipiert sich. Sie entflieht ihrer Herrin in die Freiheit.

Der Weg dorthin aber ist konkret ein Weg – in die Wüste. Dort kann man, auf sich selbst gestellt, nicht lange überleben. Hagar hat noch Glück, sie findet eine Wasserquelle. Aber die macht es im Grunde noch schlimmer. Denn sie gibt gerade nur so viel her, wie man braucht, um zu merken, was fehlt. Die Quelle hilft für den Moment, aber nicht darüber hinaus. Hagar weiß das. Sie weiß, dass die Flucht in die Freiheit das Leben des Kindes unter ihrem Herzen und ihr eigenes gefährdet. Die starke Frau beginnt zu flehen: nicht zu irgendeinem Menschen, aber zu Gott.

III.

Halten wir, liebe Gemeinde, an dieser Stelle inne und schauen zurück. Am Anfang, als Sara ihr Geschick in die eigenen Hände nahm und ihrem Gatten die eigene Magd ins Bett legte, schien alles gut. Aber jetzt droht der gute Anfang ein schlimmes Ende zu nehmen. Saras Plan, mit Hilfe der Leihmutter zu einem Kind zu kommen, droht an ihrer eigenen Empfindlichkeit und Härte zu scheitern. Und die sich emanzipierende Hagar wird zu einer einsamen Frau. Keiner sieht, keiner hört sie, keiner spricht mit ihr. Frei, aber unendlich einsam. Auch so mancher von uns kennt das. Hat vielleicht vor 30 Jahren, in den frühen 1990ern, irgendwie Ähnliches erlebt und erlitten. Von den Verwüstungen, die falsche Versprechungen und arrogantes Gebaren der „Wessis“ bei vielen Ostdeutschen auf dem Weg in die Freiheit sozial – aber eben auch seelisch! – angerichtet haben, ist ja inzwischen überall die Rede.

Wohl dem, dem in einer solchen Lage jemand begegnet, den man mit Fug und Recht Bote Gottes nennen kann. So wie es Hagar jetzt widerfährt. Die Person verrät nicht, wer sie ist. Aber sie macht der Wüsten-Einsamkeit Hagars ein Ende. Mit einer ganz schlichten Frage. So wie bei Hagar: „Woher kommst Du? Wohin willst Du?“ Hagar hat wohlweislich nur auf den ersten Teil, die Frage nach dem Woher geantwortet. Dann schweigt sie. Aber sie hört auf die Stimme des unbekannten Fremden, sie hört und hört. Bis ihr ein Licht aufgeht und sie erkennt, wer da wirklich mit ihr redet.

Manchmal braucht es Zeit, bis man erkennt, dass eine persönliche Anrede, dass Worte des Anderen Zukunft versprechende Worte sind. Worte, die aus der Wüste der Einsamkeit herausführen. So wie bei Hagar: „Du wirst einen Sohn gebären. Und Du sollst ihn Ismael nennen“. Als sie das hört, weiß sie, dass sie Zukunft hat, Sara hin, Sara her. Wenn sie, Hagar, dem Neugeborenen einen Namen geben kann, dann ist sie mehr als nur eine Leihmutter. Dann wird das zur Welt kommende Kind ihr Sohn sein und bleiben. Ismael, das heißt wörtlich: Gott hört. Aber Hagar gibt nicht nur ihrem Sohn, sie gibt auch ihrem Gott einen Namen und nennt ihn den „Gott, der mich sieht“. Im Rückblick ist es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen: Ich wurde gesehen! Ich wurde erkannt!

IV.

Gott hört – Gott sieht mich! Wer diese beiden Namen am Ende der Geschichte im Ohr hat, der blickt auf die ganze Geschichte nun doch noch einmal anders zurück. Am Anfang war davon ja nichts zu spüren, dass Gott hört und dass Gott sieht. Gott schien sein Versprechen an Abraham nicht gehalten und Sara Kinder versagt zu haben. Doch am Ende heißt er gerade wegen dieser Geschichte so: Gott hört – Gott sieht mich. Bedenkt man die Geschichte Hagars von ihrem Ende her, dann kann man entdecken, dass Gott auch dann genau hört und genau sieht, wenn wir nichts mehr von ihm spüren, wenn Gott sich uns verfinstert hat. Oder wenn ich gar meine, er habe sich aus meinem Leben verabschiedet. Ja, Gott hört und Gott sieht…

Die Kirche hat leider zu oft Gottes Aufmerksamkeit für uns mit der Allgegenwart eines Spions verwechselt. Sie hat aus Gottes beharrlicher Begleitung einen unerbittlichen Big brother is watching you gemacht: „Und wenn im Fall des Falles / man sich im Dunkel versteckt, / der liebe Gott sieht alles / und hat Dich längst entdeckt“, sang Hilde Knef. Nur dass ein solcher Gott kein „lieber“ Gott mehr ist. Und eine Kirche, die mit Gottes Auge und Gottes Ohr Menschen einschüchtern will, ist nicht Kirche Christi. Einer solchen Kirche ist in Hagars und in Gottes Namen zu widersprechen. Denn er ist ein Gott, der jeder und jedem von uns genau zuhört. Aber er tut es, um zu erhören.

Deshalb redet mit ihm! Redet auch dann mit ihm, wenn Ihr nichts von ihm spürt! Denn dessen sollen wir uns gewiss sein: Gott bleibt auch in größter Ferne noch der Gott, der dich hört und dich sieht. Und er hört und sieht dich gern. Ja, Gott sieht uns weiß Gott merkwürdige Gestalten ausgesprochen gern. Und er sieht uns, wie jeder wirklich Liebende, noch lieber als sich selbst.

 

Amen.

 

Ein Lied gegen den Staubsauger

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

„Der Herr erniedrigt und erhöht. Er hebt den Dürftigen und den Armen aus Staub und Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten“. Diese Worte aus Hannas Jubellied klingen wie eine alttestamentliche Ouvertüre zum Magnificat, dem Lobgesang der schwangeren Maria. Damit hebt seismographisch schon etwas an von dem, was Ostern ans Licht gebracht hat. Hergebrachte Ordnungen werden auf den Kopf gestellt, die Verhältnisse kommen zum Tanzen. Umwertung aller Werte.

I.

Das Alte Testament weiß von Ostern noch nichts. Eine Auferstehung von den Toten klingt dort nur an wenigen Rändern leise an. Aber österlich ist, dass wir heute der Spur einer Frau folgen. Neben Hanna aus unserem Predigttext haben wir vorhin im Evangelium auch Maria Magdalena, Maria und Salome namentlich genannt gehört. Gleich vier Frauennamen in den biblischen Texten eines Gottesdienstes – das gibt es sonst fast nie! Sie kennen sicher den plumpen Kalauer, den man aber auch frauenfreundlich hören kann: Warum hat sich das Christentum überhaupt ausgebreitet? Weil die ersten Zeugen der Auferstehung Frauen waren! Tatsache ist jedenfalls, dass Frauen die Wegweiser zum Auferstehungsjubel sind.

Ostern 2024 erinnert uns an eine vorösterliche Frau. Hanna, die nach dem Bericht des 1. Samuelbuchs Hunderte von Jahren vor Jesu Auferstehung eine ganz persönliche Auferstehung erlebt. „Es war ein Mann, der hieß Elkana. Der hatte zwei Frauen: die eine hieß Hanna, die andere Peninna. Peninna aber hatte Kinder, Hanna aber hatte keine Kinder.“ Mit diesen Sätzen beginnt das 1. Samuelbuch. Sie klingen lakonisch, bergen aber viel Tragik. Kinderlosigkeit bedeutete für Frauen im alten Israel den sozialen und seelischen Tod. Hanna hatte ihn erlitten. Nichts würde von ihr bleiben ohne Nachkommen. Kein Gedanke, kein Wort, kein Name. Immer wieder fleht sie zu Gott, er möge ihr doch einen einzigen Sohn schenken. Und dann kommt er doch noch. Sie kann ihn nur Samuel nennen, denn das heißt zu Deutsch: Gott hört. Durch diese Geburt wird für Hanna alles anders. Wie es dazu gekommen sein mag, interessiert sie sichtlich nicht. Was sie besingt, ist Gott, als Geber aller Gaben. Er ist der Grund ihrer Freude: „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn“.

II.

Hannas Jubel über ihr Kind und die Osterfreude über das Geschenk neuen Lebens machen nachdenklich im Blick auf die Zahl der Mütter und Väter, die ein geschenktes Leben meinen nicht annehmen zu können. Neben den immer schon vorhandenen sozialen und psychischen Gründen gibt es ein neueres Phänomen: immer weniger behinderte Kinder kommen noch zur Welt. Weil man aufgrund der heute enormen Möglichkeiten vorgeburtlicher Diagnostik ein solches Leben für nicht mehr zumutbar hält, dem Kind nicht, und sich selber nicht. Vor allem aber spiegelt Hannas Leiden auch das Leid vieler Frauen, die kinderlos geblieben sind. Die Gründe sind vielfältig. Die einen finden nicht den richtigen Partner. Andere haben den Kinderwunsch angesichts der Anforderungen in Ausbildung und Beruf und der immer noch viel zu wenig familienfreundlichen Berufsbedingungen erst mal zurückgestellt. Irgendwann merken sie schmerzlich, dass dieser Wunsch wohl unerfüllt bleiben wird. Das bekannte Wort von Konrad Adenauer, der trocken feststellte: „Kinder kriegen die Leute immer“ gilt längst nicht mehr. Auch dazu mag Ostern aufrütteln, alles Menschenmögliche zu tun, damit das Leben den Vorrang erhält vor dem Tod und ein neuer Blick auf das Aufwachsen von Kindern in dieser Welt Raum gewinnt. Da haben wir in unserem reichen Land noch viel Luft nach oben.

Hannas Geschichte lässt vermuten, dass ihre Kinderlosigkeit biologische Ursachen hatte. Aber ihr Kinderwunsch bleibt so ungebrochen wie ihre Verzweiflung. Sie klagt, und sie betet. Not lehrt beten, diese Redewendung klingt oft abschätzig. Aber wer betet, versucht, was ihn quält, nicht nur bei sich zu lassen. Wer betet, tritt gleichsam einen Schritt neben sich und kann noch einen anderen Blick auf sein Leben bekommen, weil er ahnt, dass er sein Leben nicht aus eigener Kraft meistern muss. Aber Beten versteht sich nicht von selbst. Es muss gelernt werden. Sonst kann man in der Not nicht darauf zugreifen. Als der berühmte Philosoph Karl Jaspers gefragt wurde, warum er eigentlich kein Christ sei, gab er zur Antwort: „Niemand hat mich beten gelehrt“.

Hanna lässt sich trotz vieler scheinbar unerhört gebliebener Gebete offenbar nicht irre machen. „Nicht müde werden / sondern dem Wunder / langsam / wie einem Vogel / die Hand hinhalten“, schreibt die Dichterin Hilde Domin in einem knappen Fünfzeiler. Hanna ist nicht müde geworden. Und macht dann die überwältigende Erfahrung, dass ihr Gebet nicht ins Nichts hineingesprochen war. Gott tut das Unerwartete, tut Wunder. Das lässt Hanna ein frühes „Tedeum“ anstimmen: Ihm, dem Schöpfer und Geber des Lebens gehöre ich und alles, was ist. Er allein hat die Erde gemacht und ist heilig, und er hat mein Leben verwandelt. – Wie Maria später im Magnificat, macht Hanna Gott groß. Beide Frauen greifen singend bis zum Himmel.

III.

Umso erstaunlicher, dass dieses himmelhoch jauchzende Lied zugleich ganz auf der Erde bleibt, dass das Leid nicht weggedrückt wird. Erniedrigung, Armut, Tod: all das, was einem den Himmel wie zugemauert erscheinen lässt, wird mit Gott in Verbindung gebracht. „Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht.“ Und noch stärker der Satz: „Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Gut und Böse nicht verteilt auf Gott und Teufel, sondern in den einen Gott hineingelegt. Wenn er der Grund aller Dinge ist, dann kann er auch aus dem Fürchterlichen, Unsäglichen nicht einfach ausgeklammert werden. Da sind Abgründe berührt, die den Theologen Kopfzerbrechen machen, seit es den Glauben gibt.

All das klingt an in Hannas Lied. Wir dürfen uns seine Melodie nicht wie eine Mozartarie, sondern sehr komplex, eher wie eine Mahler-Sinfonie vorstellen. Liebe Gemeinde, ja, Ostern ohne Karfreitag wäre unmöglich. Denn zu den komplexen Tonfolgen gehört auch Jesus am Kreuz. Gott lässt ihn elend sterben. Der Tod und Gott geraten an Karfreitag so intensiv an- und ineinander, dass das Nichts und das Sein, das Böse und das Gute kaum noch zu unterscheiden sind. Das ist die unerklärlich dunkle Seite Gottes. Auferstehung heißt, dass eben nicht der Tod, sondern Gott das letzte Wort in der Geschichte Jesu gesagt hat – und deshalb auch in unserer Geschichte das letzte Wort haben wird. Und zwar ein bejahendes, lebendig machendes Wort. In Hannas Lied klingt das schon an. Am Ende jeder Zeile steht die positive Aussage: Wenn Gott denn tötet, so macht er erst recht lebendig. Wenn er hinabführt zu den Toten, so bringt er erst recht wieder herauf. Wenn Menschen auf der Schattenseite leben, werden sie einmal einen Ehrenplatz bekommen.

Aber gilt das denn auch für uns heute, in unseren kleinen oder großen Katastrophen, in denen wir das Gefühl haben, das etwas in uns abgestorben ist? Kommt dadurch etwa der Partner wieder zurück, der mich verlassen hat? Ist damit etwa das Zerwürfnis mit dem eigenen Kind beigelegt, das sich seit Monaten nicht mehr gemeldet hat? Ist damit die schwere Krankheit geheilt? Ja, wenn Gott Totes wieder lebendig machen kann, dann kann das möglich sein. Wir dürfen von Gott nicht zu klein denken. Es kann aber doch auch so sein, dass es mir plötzlich gelingt, die Aufgaben anzunehmen, die mir das Alleinleben stellt. Es kann auch so sein, dass ich mit einem Mal einen anderen, verstehenden Blick darauf gewinne, dass mein Kind seine Wege jetzt ohne mich gehen will, vielleicht muss. Es kann sogar so sein, dass mir in der Krankheit die Augen für Vieles aufgehen, was ich im Getriebe der aktiven Alltagsroutine gar nicht erkannt hätte.

IV.

Beim Sinnieren über unseren Predigttext kam mir plötzlich eine skurrile Erinnerung aus der Kindheit. Meine Eltern hatte eine Zugehfrau, die die Angewohnheit hatte, beim Staubsaugen laut und ausdauernd zu singen. Das ist eine ganz schöne Energieleistung, denn ein Staubsauger heult und rauscht, er macht auf sich aufmerksam, als wolle er sagen: Staub ist überall, unter den Betten und auf den Regalen, unter dem Teppich und auf den Lampen. Nichts ist so verlässlich wie der in Windeseile wiederkehrende Staub. Ein Staubsauger wird nie arbeitslos, er kann heulen und immerfort sein altes Lied singen. Es lautet: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub.“ Die Beerdigungsformel: Du bist Erde und sollst zur Erde werden, du Pflanze, du Tier, du Mensch. Diese Wahrheit, die wir so gekonnt verdrängen, dass wir unentrinnbar vergehen: der Staubsauger heult sie uns unbeirrt in die Ohren.

Wie gesagt, bei unserer Putzfrau kam zu dem unablässigen Jaulen des Geräts fröhlicher Gesang hinzu. Ein seltsames Duett, das da ertönte, die Stimmen kämpften miteinander. Was könnte man bei solcher Tätigkeit singen? Staubsaugerlieder gibt es wohl keine. Aber Frühlingslieder würden passen. Oder jetzt zu Ostern: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Wäre das ein Missbrauch dieses schönen Händel-Arie? Das ist doch wirklich eine Gegenmelodie: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er mich aus dem Staub erheben“ (Hi 19,25), sagt der geschlagene Hiob an einem Tiefpunkt seines Lebens Auch Hanna singt ihr Lied gegen den Staub: „Gott hebt den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche.“
Dieser Gesang spinnt sich fort in unseren Osterliedern. Die sind allesamt Spott- und Protestlieder gegen den Tod und alle tödliche Gesinnung auf Erden. „Muss ich von hier nach dort – / er hat den Weg durchlitten. /Der Fluss reißt mich nicht fort, /seit Jesus ihn durchschritten“ (EG 117,3) – heißt es in dem Osterchoral, den wir jetzt singen. Dasselbe so ausgedrückt: Der laute, nervige Heulton des Staubsaugers bleibt uns erhalten. Doch darüber erheben sich die schönen Melodien, als jubelnde Oberstimme über dem Getöse. Ein schönes Gleichnis: Der Ton der Vergänglichkeit wird durchdrungen – und manchmal, in österlichen Momenten sogar übertönt vom Gesang des Lebens.

Das wäre für dieses Mal mein Ostertipp für Sie: Singen Sie doch mal beim Staubsaugen, und Sie kommen ganz von selbst, mitten im Diesseitigen, Alltäglichen auf die Spur der Auferstehung! Ja, Christus ist auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Halleluja!

 

Amen.

 

Die Taufe: Ein großes Ostern

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Osternachtsgemeinde, und in ihrer Mitte: Liebe Täuflinge,

vor einigen Jahren habe ich einen 15jährigen Jungen getauft. Beim Gespräch vorher erzählte er, dass ein Klassenkamerad, als der von seiner bevorstehenden Taufe gehört hatte, ihn erstaunt fragte: „Bist du etwa Christ?“ Das passt zu dem, was die Statistiken sagen: In unserer Stadt wird nur noch jedes sechste neugeborene Kind getauft. Und es passt zu dem, was kürzlich in der Zeitung zu lesen war. Da gab ein Jugendlicher aus Dresden auf die Frage, wie er sich von seiner Lebenseinstellung her bezeichnen würde: als Christ, als religiöser Mensch oder als Atheist, die kernige Antwort: „Keine Ahnung. Ich bin einfach nur normal.“ Der Satz hat‘s in sich!

Tatsächlich ist es ja längst so, dass man sich eher dafür rechtfertigen muss, dass man dieser verstaubten Organisation Kirche noch angehört, als dass das noch als normal gilt. Glaube, Kirche, Christsein: das wird heute von sehr vielen als uncool angesehen, irgendwie als Symptom eines realitätsfernen Gutmenschentums. So zeigt sich, dass die Frage gar nicht so abwegig ist: Seid Ihr 14, die Ihr Euch entschieden habt, in dieser Nacht getauft zu werden, irgendwie unnormal? Meine Antwort klingt vielleicht erstmal irritierend: Ja, das ist wirklich so! Und zwar deshalb, weil die Taufe etwas Besonderes, etwas absolut nicht Alltägliches, ja sogar etwas Einmaliges ist. Einmal getauft heißt nämlich: ein für alle Mal getauft! Da kann auch ein Kirchenaustritt später nichts dran rütteln. Da, wo Menschen und Gott sich berühren, da wird alles Normale durchbrochen.

I.

Das eben gehörte Predigtwort ist der sog. Taufbefehl, mit dem Jesus das Sakrament der Taufe, wie wir es in der Kirche ausdrücken, „eingesetzt“ hat. Er bildet das Ende des Matthäusevangeliums. Es sind die letzten Worte Jesu vor seinem endgültigen Abschied von dieser irdischen Welt. Letzte Worte haben es in sich. Wenn sie von einem berühmten Menschen publik werden, faszinieren sie die Nachwelt. Da wird dem letzten Wort gerne die Bedeutung eines Vermächtnisses zugeschrieben. „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Man sollte meinen, nach einem so schönen letzten Wort hätten die Jünger diesen schmerzlichen Abschied doch ganz gut bewältigen können. Ich bin bei dir: Wer das einem weinenden kleinen Kind zuflüstert, spürt, wie tröstlich und beruhigend diese Versicherung wirkt. Die Jünger aber sind zunächst mal nur untröstlich. Dieses irrsinnige Wechselbad der Gefühle, durch das sie die letzten sechs Wochen seit Karfreitag gegangen waren, überfordert sie. „Matthäi am Letzten“: diese Wendung, die von diesem Ende des Matthäusevangeliums herstammt, steht daher für Desaster, Chaos, Zusammenbruch.

Wie ist denn die Lage, als dieses letzte Kapitel im Matthäusevangelium beginnt? Jesus wurde hingerichtet am Kreuz und dann begraben. Ein Stein versiegelt das Grab, Zeichen der Endgültigkeit des Todes. Alle Hoffnungen der Jünger am Kreuz brutal durchkreuzt. Aber dann die unglaubliche Erfahrung: der Stein vor dem Grab ist am Sonntagmorgen weggewälzt. Er markiert nicht das letzte Wort über Jesus – und auch nicht das letzte Wort Gottes über uns. Damit wir unser Vertrauen ins Leben nicht unter Leid- und Todeserfahrungen begraben müssen, darum feiern wir Gottesdienst, Sonntag für Sonntag, immer ein kleines Ostern. Und erst recht feiern wir die Taufe: die mehr ist als nur ein kleines Ostern, sondern schon ein richtig großes, weil eben einmaliges. Der Grabstein Jesu wurde zur Kanzel für Gottes Engel, als er den verstörten Frauen zurief, was wir eben im Osterevangelium gehört haben: „Fürchtet euch nicht! Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden!“ (Mk 16,6) Das ist der Kern des Evangeliums, damals vor fast 2.000 Jahren in Jerusalem und heute Nacht in der Frauenkirche. Und das ist auch der Grund, warum wir taufen. Der Gekreuzigte ist auferstanden! Christus lebt und hat uns seine Begleitung und Beistand versprochen „bis an der Welt Ende“. Das gilt im doppelten Sinn: zeitlich und räumlich. Was wir in unserem Leben an aufbauender Nähe Gottes erfahren haben, wird, wenn wir einmal zu Grabe getragen werden, nicht mit uns begraben. Es bleibt. Über den Tod hinaus.

II.

Das Osterevangelium erzählt dann am Ende, dass der Engel die Jünger nach Galiläa schickt, um dort dem Auferstandenen zu begegnen. Nach Galiläa, wo Jesus seine Geschichte mit ihnen begonnen hatte, als sie noch als Fischer in den Dörfern am Ufer des See Genezareth lebten. Klingt doch wunderschön – aber Markus notiert: „Zittern und Entsetzen hatte die Jünger ergriffen“. Ich finde es ganz wichtig, dass die biblischen Osterberichte so unverblümt festhalten, dass das Wunder der Auferstehung die ersten Zeugen erst einmal nur verstört. Das sagt uns etwas Wichtiges: Wenn es selbst für die, die Jesus ihr Leben geteilt, ihn so intensiv erlebt und kennengelernt hatten, keine zweifelsfreie, unerschütterliche Glaubensgewissheit gibt, um wieviel mehr und selbstverständlicher gilt das dann auch für uns, die wir nie die Chance hatten, Jesus leibhaftig kennenzulernen!

Liebe Täuflinge, ich will Euch die Freude an dem großen Ereignis, das Euch heute widerfährt, in keinster Weise madig machen. Im Gegenteil, es soll diese Freude eher bestärken, wenn ich sage: Auch Eure Taufe ist keine Garantie vor Zweifeln und Erschütterungen im Glauben. Der Glaube, dessen Basics Ihr in den letzten Monaten kennengelernt habt, ist kein fester, unangreifbarer Besitz, kein Vorrat, den man sich gewissermaßen auf Flaschen ziehen kann, um ihn bei Bedarf jederzeit abzugreifen. Glaube ist ein Weg mit Höhen und Tiefen, und es gehören auch Sackgassen und Irrwege dazu. Eben darum kann man allein, für sich selbst auch nicht Christ*in sein. Darum gibt es die Kirche, die Gemeinde als soziale Gestalt des Glaubens. Wir brauchen die Gemeinschaft der Glaubenden, wir brauchen Paten, Freund*innen, die für uns da sind und für uns beten. Darum ist Eure Taufe heute nicht nur das Zeichen für das Band zwischen Euch und Gott. Sie knüpft auch ein Band zwischen Euch und der Gemeinde Jesu, wo immer Ihr eine gemeindliche Heimat findet.

Jesus steht in Galiläa bei seinen Jüngern, gezeichnet mit den Wunden der Kreuzigung. Eben so, nicht als Superman, als strahlender Auferstehungs-Hero, sagt er zu Beginn seines Taufbefehls: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden!“ Dieser Macht Gottes vertraut Ihr Euch heute in Eurer Taufe an. Sie wird Euch nicht einfach vor irdischem Leiden bewahren, diese Macht, denn Gott ist kein Glücksspielautomat. Er hat uns das Leben nicht als Dauer-Honeymoon versprochen. Gott bewahrt uns nicht vor Katastrophen. Aber Ihr werdet in Eurem Leben die Erfahrung machen: Er bewahrt in Katastrophen.

III.

Eine persönliche Erinnerung zum Schluss. Es war im Sommer 1990, mitten in der Wendezeit. Ich war ich mit Freunden in der damaligen Gerade-noch-DDR unterwegs. Es war ein Sonntag, wir radelten durch die Uckermark. In einer kleinen Dorfkirche gingen wir zum Gottesdienst. Die Kirche war überraschend gut gefüllt. Das hatte damit zu tun, dass eine Taufe gefeiert wurde. Wir, an Taufen gewöhnt, nahmen das als normal. Aber als die junge Pastorin zur Taufansprache ansetzte, stockte ihr bald die Stimme. Sie setzte neu an, kam aber nicht weit. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie, sie könne jetzt einfach keine Taufansprache halten, weil sie persönlich zu sehr berührt sei: drei Jahre sei es her, dass sie in dieser Kirche die letzte Taufe hatte! Sie habe sich oft leer und zermürbt gefühlt, weil die Gemeinde immer kleiner wurde und die Kinder ohne Gott heranwuchsen. Aber jetzt brachten Eltern ihr Kind zur Taufe. Das war für sie eine überwältigende Erfahrung.

Beim Kaffee hinterher kamen wir mit dem Taufvater ins Gespräch. Lupenreine DDR-Sozialisation. Bis Anfang 20 keine Kirche von innen gesehen. Dann sei er im Urlaub an der Ostsee aus purer Neugier mal in einen Gottesdienst gegangen. Nur ein paar Leute seien da gewesen. Aber die hätten ihn so freundlich aufgenommen, das habe ihm gefallen. Ein Jahr später, wieder im Urlaub, die gleiche Erfahrung in einer anderen Kirche. Dann habe ihm jemand ein „religiöses Buch“ in die Hand gegeben, das ihn gefesselt habe. So habe es angefangen. Immer öfter sei er dann zum Gottesdienst gegangen. Und irgendwann dann sei ihm völlig klar gewesen: jetzt will ich getauft werden! Seither war die Angst vor Repressionen verschwunden. Er fühle sich frei, zu dem zu stehen, was sein Leben verändert und ihm einen anderen Boden unter den Füßen gegeben habe. –

Eine unscheinbare Geschichte. Nichts Spektakuläres. Papst Benedikt wurde einmal gefragt: Wie viele Wege zu Gott gibt es eigentlich? Er gab die einfache und einfach wahre Antwort: „So viele wie es Menschen gibt!“ – Also, liebe Täuflinge: Auch Eure Wege zu dieser österlichen Nacht heute waren 12 ganz verschiedene. Und sie werden verschieden bleiben. Aber in einem waren, sind und werden sie gleich sein: Es waren Wege mit Gott und zu ihm hin. Und damit Wege hin zu der Fülle und Tiefe des Lebens. Denn der Herr ist auferstanden, Halleluja!

 

Amen.

 

Vollendete Liebe

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

vielleicht haben Sie es eben beim Hören gemerkt: Der Passionsbericht des Evangelisten Johannes stimmt zwar in wichtigen Fakten mit den drei anderen Evangelisten überein, aber in einem tieferen Sinne unterscheidet er sich doch sehr von ihnen. Bei Matthäus, Markus und Lukas fällt wenig Licht in die dunkle Szenerie auf Golgatha, gleicht die Passion Jesu eher einem Foto, das in drastischer Anschaulichkeit zeigt, was ist. Johannes‘ Passionsbericht hingegen gleicht einem Gemälde, in dem der Künstler ausdrückt, was über all das Schreckliche hinausweist, was den Blick des Betrachters transzendiert. Johannes sieht, was sich da abspielt an dem Ort namens Schädelstätte, nicht mit den Augen des Reporters und Chronisten, sondern des Glaubenden. Mit den Augen dessen, der erkennt, dass auf Golgatha mitten in all dem Schrecken – etwas Heilvolles geschieht.

Das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14): so formuliert Johannes zu Beginn seines Evangeliums das Geheimnis der Sendung Jesu. Das soll, so meint er, sogar für das Grauen auf Golgatha gelten. Was also ist an Karfreitag geschehen? Ich will mich heute mit Ihnen ganz auf das eine Wort konzentrieren, das Johannes als das letzte des Gekreuzigten überliefert. Letzte Worte eines Sterbenden haben ja ein besonderes Gewicht. Achten wir also darauf, inwiefern in diesem letzten Wort Jesu etwas von der verborgenen Herrlichkeit dessen aufscheint, der da elend zu Tode gebracht – in johanneischer Sprache: erhöht – wird. Im Griechischen ist es ein einziges Wort. Im Deutschen lässt es sich nur in einem kleinen Satz ausdrücken: „Es ist vollbracht“.

I.

Es ist vollbracht“. Das heißt zunächst ganz schlicht: Es ist vorbei, es ist überstanden! Das meint gewiss auch dies: das erleichterte Aufseufzen des Gefolterten, dass es endlich vorbei ist mit dem Schrecken. Den zermürbenden Verhören, den tiefen Enttäuschungen. Einer aus dem engsten Kreis hatte ihn den Häschern ausgeliefert; ein anderer, der immer den 150prozentigen gegeben hatte, hatte ihn verleugnet; der Rest war in Panik in alle Richtungen gestoben. Endlich vorbei damit.

„Es ist vollbracht“, es ist ausgestanden. Jede von uns kann ganz leise den Ton dieses Wortes mitnehmen: wie immer es einmal mit meinem Sterben sein wird, Gott hat diese Schwere und Einsamkeit auch durch, er wird auch mir nah sein, wenn es einmal zu Ende geht. Er wird zu mir durchdringen, mich ansprechen, wenn ich für andere nicht mehr erreichbar bin. So kann ich schon in guten, gesunden Tagen über mein Sterben nachdenken und mit Gott darüber reden – etwa mit den Trostliedern unseres Gesangbuchs: „Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür“ (EG 85,9). Als meine Mutter starb, haben wir diese Paul-Gerhardt-Strophe an ihrem Sterbebett gesungen. Das war sehr tröstlich.

II.

„Es ist vollbracht“. Im Mund des Gekreuzigten ist das nun aber noch etwas sehr anderes, noch mehr als das befreite Aufseufzen, das es nun vorbei ist mit den Qualen. Es ist zugleich, so zeichnet es Johannes in sein Gemälde ein, ein Wort der Überwindung, ja des Sieges. Es will sagen: es ist nicht nur etwas beendet, sondern es ist vollendet. Was Gott mit der Sendung des Sohnes gewollt hat: das ist vollbracht. Die Liebe, mit der Gott den Sohn in die verloren gegangene Welt gesandt hatte, um diese Welt wieder heimzuholen: diese Liebe ist an ihr Ziel gekommen. Jesus selbst hatte ja gesagt: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Diese im Wortsinn unglaubliche Liebe ist in Jesu Lebenshingabe am Kreuz zu ihrer tiefsten Auswirkung gekommen. In dieser Liebe steckt alles drin, was die Welt braucht.

„Es ist vollbracht“ – es fehlt nichts mehr. Von Gott her ist alles geschehen. Alles, was zwischen uns und Gott steht: all das hat das Lamm, das die Schuld der Welt trägt, ans Kreuz getragen und es so aus der Welt geschafft. Nun gilt, was Paulus im Römerbrief in tiefster Erleichterung ausruft: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“ (Röm 8,39). Wir sind und bleiben von Gott geliebt, und das ist das Beste und Wichtigste, was von uns zu sagen ist. Martin Luther hat das wunderbar ausgedrückt: „Gott liebt die Sünder, nicht weil sie schön sind, sondern sie werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“. Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu sein. Das gilt schon im normalen Leben. Gott hat darüber hinaus seine Liebe so vollbracht, dass sie, anders als unsere Liebe, nicht erkaltet, sondern ausreicht für immer. Damit ist das Entscheidende über uns gesagt. Von Gott geliebt zu sein, das ist im Tiefsten unsere Identität. „Wer bin ich? – Der oder jener? / Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer“, fragt sich Dietrich Bonhoeffer in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle. Am Ende seines Gedichts kommt er zu der Antwort: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott / Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott.“

III.

„Es ist vollbracht“: Das schließt alle ein. Auch wenn sie sich selbst ausschließen, weil sie vielleicht zu viel Böses erlebt haben, um noch an einen lieben(den) Gott zu glauben. Nur wer sich selbst so zum Maß aller Dinge machte, dass er meinte, er hätte das alles gar nicht nötig, es sei doch einfach lächerlich, dass Jesus sich auch seinetwegen in solche Unkosten hätte stürzen müssen – nur der würde sich selbst ausschließen, sich um alles bringen. Aber: ob die Liebe, die Jesus am Kreuz vollbracht hat, nicht auch da noch Mittel und Wege hat, um auch solche Leute zum Staunen zu bringen, dass Gott es sich für sie so viel hat kosten lassen – wer weiß das schon?! „Es ist vollbracht“. Was wir vollbringen sollen, ist nur dies: uns dieser Liebe auszusetzen, uns nicht gegen sie zu sperren (was manchmal ja verdammt schwierig ist!), und nicht zuletzt: etwas von ihr weiterzugeben. Wo Menschen sich von dieser Liebe bewegen lassen, da wird die Welt heiler.

„Es ist vollbracht“. Wenn uns Schuld, das Gefühl, dass alles irgendwie sinnlos ist, wenn uns Selbsthass und Einsamkeit in Abgründe ziehen, dann soll gelten: Schau auf ihn, auf seinen Tod! In diesem Tod ist doch der Tod schon gestorben, den Du jetzt sterben willst. Schau auf ihn – und nun kehre zurück zu denen, die Dich als Lebenden brauchen. Denken Sie an das Wort aus dem 139. Psalm: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Von allen Seiten! Also auch von der Seite des Todes. Seit er auch auf diese Seite gegangen ist, seit er das alles selbst kennengelernt hat, seither sind wir auch auf dieser Seite, auf der uns kein Mensch mehr begleiten und helfen kann, nicht verloren und verlassen. Gott will den Tod nicht mehr loswerden, damit der Tod ihn, Gott, nicht mehr loswerden kann. Und das heißt: wo immer der Tod auch hinkommt – da ist Gott immer schon da!

Was also ist vollbracht? Alles – denn Gott hat den von uns selbst zugeschütteten Weg zu ihm und zueinander wieder freigeschaufelt:

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn

muss uns die Freiheit kommen.

Dein Kerker ist der Gnadenthron,

die Heimstatt aller Frommen.

Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein,

müsst‘ unsre Knechtschaft ewig sein.

 

Amen.

Lieben und lieben lassen

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

wenn mir der Kopf gewaschen wird, ist das alles andere als angenehm. Ich meine natürlich nicht das Shampooniertwerden beim Friseur, sondern wenn ich etwas gesagt oder getan habe, das jemand anderer so unmöglich findet, dass er mich richtig rundmacht. Das kann ich dann schnell als demütigend empfinden. Jesus war zu solchen Kopfwäschen durchaus fähig. Er war ja mitnichten „das liebe antiautoritäre Kerlchen, zu dem wir ihn gerne weichzeichnen“ (F. Steffensky). Denken wir nur an die Szene, wie er wutentbrannt im Tempel großreinemacht. Oder an die harten Wehe-Rufe in Richtung „Pharisäer und Schriftgelehrte“, also der klerikalen Klasse. Jesus nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er frömmelnde Gesetzlichkeit, Heuchelei und Menschenverachtung entdeckte. Anderen den Kopf waschen: davor hatte er wahrlich keine Scheu.

I.

Heute, am Abend vor seinem Tod am Kreuz, ist es anders. Da kniet Jesus nieder, um seinen Jüngern die Füße zu waschen. Und dies nun im wortwörtlichen Sinn. Er übernimmt einen Dienst, der in „guten Häusern“ damals üblicherweise den Sklaven oblag. Damit stellt Jesu die gängige Hierarchie von Herr und Knecht auf den Kopf, oder besser gesagt, vom Kopf auf die Füße. Denn dass es bei Jesu Fußwaschung nicht einfach um die übliche Fußpflege und Körperhygiene ging, macht der Evangelist Johannes sofort klar, indem er die Fußwaschung nach dem abendlichen Mahl ansetzt. Es war damals üblich, sich die Füße waschen zu lassen, bevor man sich „zu Tisch“ begab, was konkret hieß, sich auf das Speisesofa zu legen. Also müssen die Füße der Jünger längst vom Staub des Tages gereinigt gewesen sein. Damit wird deutlich, dass Jesus mit dieser Handlung um ein besonderes Zeichen setzen will. Es ist einfach und klar: Die Liebe. Jesu Liebe zu den Seinen. Und dass diese sich multipliziert und weiter verströmt in die Liebe der Seinen untereinander. Diese Liebe ist die Liebe Gottes, die bereit ist, bis zu Äußersten zu gehen. Tags darauf wird sich das am Kreuz unüberbietbar zeigen. „Er erniedrigte sich selbst, wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich und war gehorsam bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,7): so bringt Paulus diese Liebe in großartiger sprachlicher Verdichtung auf den Punkt. Und genau dies nimmt Jesus am Abend davor zeichenhaft vorweg, indem er seinen Jüngern die Füße wäscht. Die Fußwaschung ist ein Liebesdienst. So wie man jemand, die man sehr gern mag, fest in die Arme schließt. Menschen, die etwa in der Pflege anderen die Füße waschen, wissen, dass es dabei nicht nur um Reinigung geht, sondern auch um Zeit, Nähe, Zuwendung und Geborgenheit. Wer wollte dazu Nein sagen?

II.

Einer tut es: Petrus. Ausgerechnet Petrus, der leidenschaftlichste Gefolgsmann Jesu, der spätere „Apostelfürst“. Er kann diese Umwertung der Hierarchie nur als unerträglich empfinden. „Du, Herr, willst mir die Füße waschen?“ Und auch Jesu milde Einrede kann ihn nicht umstimmen: „Niemals sollst du mir die Füße waschen!“ Demütig klingt das, und bescheiden. Ist es aber nicht! Wenn Petrus nämlich seinem Herrn nicht erlaubt, an ihm diesen Sklavendienst auszuüben, macht er sich auf eine sehr subtile Art zum Herrn über Jesus. Er hat ein klar definiertes Bild seines Herrn, und dem muss Jesus entsprechen. In diesem Wortwechsel zwischen Jesus und dem selbsternannten Klassensprecher seiner Jünger wird auch uns gesagt: Wer sich seine Liebe, sein Sich-zu-uns-Herabbeugen nicht gefallen lässt, weil das in sein Bild eines allmächtigen, souveränen Gottes nicht passt, der trennt sich vom Gott der Liebe. „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“: Erst diese klare, warnende Ansage bringt Petrus zur Einsicht.

Wie wäre es, wenn wir uns in diesem zunächst so entsetzten Petrus wiedererkennen? Wir tun uns ja auch oft schwer damit, uns helfen zu lassen. Ein chinesisches Sprichwort bringt diese Wesensart treffend auf den Punkt: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“ Ein hintergründiges Blitzlicht darauf wirft eine alte jüdische Erzählung. Als Rabbi Jishmael nach Hause kommt, will ihm seine Mutter zur Begrüßung die Füße waschen. Der Rabbi wehrt ab und erklärt, dass nach dem 4. Gebot – „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ – er verpflichtet sei, seiner Mutter die Füße zu waschen. Worauf sich die Mutter bei anderen Rabbinen heftig über ihren Sohn beschwert: Der habe gegen das 4. Gebot verstoßen, weil er ihr, seiner Mutter, die Ehre verweigere, ihm als angesehenen Lehrer die Füße zu waschen… So kompliziert ist das mit uns.

Sich helfen, sich (be)dienen zu lassen heißt eben auch, in dem Moment ein Stück eigener Selbstbestimmung preiszugeben. Wer mir hilft, bekommt auch ein Stück Macht über mich. Wer mich füttert, macht mich zum Kleinkind. Wer mich schützt, macht mich zum Schwächling. Unsere Freiheit und Selbstbestimmung sind hohe, kostbare Güter. Die Mehrzahl der Menschen weltweit lebt unter Bedingungen, wo ihnen diese Güter verwehrt bleiben. Deshalb ist es sehr menschlich, dass ich mich innerlich dagegen wehre, wenn jemand ungefragt Jesus spielen und mir die Füße –oder gar den Kopf – waschen will. Und gerade das Symbol der Fußwaschung ist ja auch zweideutig und kann zwiespältige Empfindungen auslösen.

III.

In der katholischen Kirche seit jeher Usus, hat es sich in manchen evangelischen Gemeinden über die Jahre auch eingebürgert, dass die Pfarrer*innen am Gründonnerstagabend den Gottesdienstbesuchern die Füße waschen. Für viele ist das aber doch auch eine nicht einfache, irgendwie intime Situation, auf die sich einzulassen innere Überwindung kostet. In der katholischen Kirche kommt noch ein gewichtiges inhaltliches, theologisches Moment hinzu. Der Gründonnerstag ist gewissermaßen der katholischste aller Tage im Kirchenjahr, weil er der Tag der Einsetzung von gleich zwei hochheiligen Sakramenten ist: der Eucharistie, und des Weihepriestertums – also dem Institut, mit dem die katholische Kirche steht und fällt. Deshalb ist es üblich, dass die Bischöfe an diesem Abend nur Priestern die Füße waschen. Weil Jesus ja auch „den Zwölf“, und nicht einfach jedem die Füße gewaschen habe. Von dieser ehernen Tradition her haben die Bilder von Papst Franziskus, wie er alljährlich an diesem Abend dem „Volk“ die Füße wäscht, und zwar solchen, die am unteren Ende der sozialen Skala stehen, Aufsehen erregt. Der „Stellvertreter Christi auf Erden“ beugt sich herab, wäscht und küsst fremde Füße. Sogar von Gefangenen, Frauen und Muslimen! Das hat viele beeindruckt, mich auch. In der Katholischen Kirche gab es aber auch heftige Kritik, und zwar von beiden Seiten. Die Konservativen finden das unwürdig und wittern darin eine schleichende Zersetzung des Weihepriestertums. Die Liberalen dagegen weisen darauf hin, dass auch bei diesem heiligen Spiel die Rollenverteilung in Wahrheit unveränderlich bleibt. Der Papst, Bischof oder Priester wäscht anderen die Füße: So wird zwar für diesen Moment die Hierarchie auf den Kopf gestellt – aber in dieser ritualisierten Umkehrung nur umso mehr bestätigt. Denn wer demütig die Füße anderer waschen darf, der darf ja auch in die Rolle des Herrn schlüpfen, während die anderen immer nur die Jünger spielen dürfen.

Deshalb bleibe ich, auch als Protestant, skeptisch gegenüber diesem Gründonnerstagsritual, auch wenn wir als Pfarrer*innen kein eigener „Stand“, sondern einfach Teil der Gemeinde sind. Denn wenn wir anderen die Füße waschen, wird doch irgendwie transportiert, dass wir als Pfarrer*innen ein eigener „Stand“ sind. Das ist aber nicht evangelisch, denn wir sind Teil der Gemeinde. Heute Nachmittag haben, wie Sie vielleicht in der Zeitung gelesen haben, einige Dresdner Pfarrer*innen an verschiedenen Stellen der Stadt, auch bei uns vor der Tür auf dem Neumarkt, Passant*innen die Füße gewaschen. Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein, ob ich, aus den genannten Gründen, da auch mitgemacht hätte, wenn ich gefragt worden wäre. Aber dennoch finde ich diese Aktion inmitten einer Stadt mit 80% Menschen, die gut ohne Glaube und Kirche leben, ganz großartig! So muss Kirche in einer areligiösen Umwelt wahrgenommen werden: zu den Menschen hingehen, wo sie unterwegs und zuhause sind, statt in ihren Mauern zu warten, dass die Menschen zu ihr kommen. Großer Respekt vor dem Mut der Kolleg*innen, die das heute Nachmittag gemacht haben! Denn Mut braucht es bei einer solchen Aktion schon.

IV.

Aber noch einmal zu unserer Freiheit und Selbstbestimmung. Das in hohen Ehren! Der Petrus in uns, der sich so schwer helfen, dienen lassen will, braucht das alles bei Jesus nicht zu befürchten. Wenn er uns die Füße wäscht, ist das keine falsche Demut, die Herrschaftsverhältnisse nur umso mehr zementiert. Denn Jesus lässt seine Aktion in die unmissverständliche Erwartung münden: „Wenn nun ich, euer Herr, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr einander die Füße waschen.“ „Einander“ sagt Jesus, und nicht „anderen“. Alle sind also aufgefordert und ermächtigt, sich gegenseitig zu helfen, zu dienen und nicht zuletzt in der Vielfalt der unterschiedlichen Gaben zu ergänzen. Diakonie, dienende Liebe soll keine Hierarchien aufbauen. Nicht nur die katholische, auch unsere evangelische Kirche hat an dieser Stelle noch viel Luft nach oben! Obwohl es durch den Grundgedanken des Allgemeinen Priestertums uns ja eigentlich unsere geistliche DNA eingeschrieben ist.

Was sind ansprechende Liebes-Gesten heute? Wie kann innerhalb einer christlichen Gemeinde Liebe und ein liebevoller Umgang eingeübt werden? Für mich wäre ein aktiver und teilnehmender Blickkontakt wichtiger als etwa das Überreichen einer Blume. Denn Gesehenwerden ist eines unserer Urbedürfnisse. Indem ich mein Gegenüber ansehe, gewinnt diese*r Ansehen. Die berühmte Aktionskünstlerin Marina Abramovic hat vor Jahren im Museum of Modern Art in New York eine Performance inszeniert, bei der sie zwei Stühle einander gegenübergestellt hat, dazwischen ein einfacher Tisch. Auf dem einen Stuhl saß sie selbst, regungslos und schweigend. Der Stuhl gegenüber war frei für jeden Besucher. Marina Abramovic schaut ihr jeweiliges Gegenüber an: ruhig, langanhaltend, aber aktiv und aufmerksam, teilnehmend. Einige sprechen anschließend über ihre Erfahrungen mit diesem Blick der Künstlerin, mit dem Gesehenwerden. Sie beschreiben wie die anfängliche Fremdheit zwischen ihnen und Marina Abramovic sich während dieses Anschauens in eine intensive Nähe verwandelt habe. Ein fremder Blick, in dessen Botschaft „Du, ich sehe dich“ sie ihr Ich finden konnten.

Jesus jedenfalls hat die Kirche gewollt und gesendet als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig wahrnehmen, die dienen und sich dienen lassen. Wir sagen ja gerne: Leben und leben lassen! Jesus aber traut uns noch mehr zu: Helfen und sich helfen lassen! Lieben und lieben lassen!

Amen.

 

Victor quia victima

Impuls zur Geistliche Sonntagsmusik
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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I.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945, bei der die drei Siegermächte die Neuordnung Europas nach Kriegsende absteckten, verblüffte Stalin seine Kollegen Churchill und Roosevelt mit der Frage: „Und der Papst? Wie viele Divisionen hat der Papst?“ Diese berühmt gewordene Frage verrät nicht nur Stalins Verachtung der Religion. Sie offenbart auch ein klares Glaubensbekenntnis: Das Bekenntnis zur nackten irdischen Macht. – Auch das geflügelte Wort des Alten Fritz, dass „Gott immer mit den stärkeren Bataillonen“ ist, ist ein Ausfluss dieser Weltsicht. Wer etwas werden will, braucht Machtmittel. Nur Einfluss führt zu Erfolg, weil Stärke uns Menschen imponiert.

Aber bitte nicht bequem mit dem Finger auf „die da oben“ zeigen, was in den aktuellen Zeiten ja so populär ist. Diese Vorstellung ist nämlich kein Sondergut der sog. „Mächtigen“. Wir alle sind ihr mehr oder weniger verhaftet. Wir sind Menschen, und als solche – das erzählt die Bibel schon auf ihren ersten Seiten – wollen wir über uns selbst hinaus, wollen wir nach oben. Unseren Wert, unsere Person definieren wir über unsere Leistungen und unser Prestige. „Hast du was, dann bist du was“ lautet unsere Version dessen, was der Apostel Paulus immer wieder über den Menschen „unter dem Gesetz“, wie er es ausdrückt, zu sagen hat.

In Colmar, einer Stadt im Elsass, steht der berühmte Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Er hatte diesen Altar ursprünglich für die Kapelle eines Hospitals geschaffen, in dem man das sog. Antoniusfeuer behandelte. Eine Hautkrankheit, bei der die Kranken von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt und von eitrigen Beulen befallen waren. Wenn ein solcher Kranken eingeliefert wurde, legte man ihn zunächst drei Tage in die Kapelle. Dort fiel sein Blick auf das Altarbild des Gekreuzigten, der sich im Todeskampf windet. Sein Leib ist, dem des Kranken ähnlich, voller Eiterbeulen und zeigt bereits die Farbe der Verwesung.
„Jesus Christus hielt es nicht wie einen Schatz fest, so wie Gott zu sein. Sondern er entäußerte sich und wurde ganz wie ein Mensch, und seiner Erscheinung nach nicht anders als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod an Kreuz.“ (Phil 2,6) So hat Paulus in seinem Christuslied aus dem Philipperbrief das Geheimnis der Menschwerdung Gottes ausgedrückt. Dieser neutestamentliche Psalm wird an Palmsonntag in den Kirchen gebetet. Seine Aussagen hat Grünewald jenen Kranken im Hospital so anschaulich vor Augen gehalten, dass sie mit einem Blick den am Kreuz gequälten Christus als den Mit-Leidenden, den Gefährten ihres eigenen Elends entdecken konnten. Auch eine Art des Therapiebeginns.

II.

Die frühen Christen haben dieses Christusgeheimnis mit drei kurzen Worten paradox so ausgedrückt: Victor quia victima –Sieger, weil er sich besiegen ließ! Das ist unausschöpflich und ein ganzes Leben lang nicht hinreichend zu erfassen, Gottseidank nicht. Was diese Aussage meint, lässt sich am ehesten erahnen, wenn wir uns das Gegenbild vor Augen halten: uns. Wir möchten nach oben. Er ging nach unten. – Wir halten, was wir einmal erworben haben, mit aller Kraft fest: Geld, Ansehen, Familie, Heimat. Er ließ all das hinter sich und lieferte sich total aus. – Wir halten uns gerne in der Nähe derer auf, von deren Glanz auch etwas auf uns abfällt. Er suchte die Nähe derer, um die die anderen einen weiten Bogen gemacht haben. – Wir möchten leben, etwas gelten, Einfluss wahrnehmen. Er nahm Knechtsgestalt an und endete entsprechend zwischen zwei Verbrechern. Wir haben das Bild von Gott, dass er als „Allmächtiger“ und Höchster doch dazwischenfahren und das Leid und Elend dieser Welt mit einem Federstrich beseitigen könnte, ja müsste. Er reagiert nicht auf die zynischen Rufe der Leute unter seinem Kreuz: „Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann steig doch einfach runter, das muss dir dann doch ein Leichtes sein!“

In diesem von brutaler irdischer Gewalt gezeichneten Menschen am Kreuz demonstriert Gott seine Macht und Stärke. Nicht mit Artillerie und Divisionen. Friedrich Nietzsche, Pastorensohn und großer Religionskritiker, hat das auf seine polemische Weise genau verstanden, als er gegen das Christentum seinen berühmten Vorwurf einer „Sklavenmoral“ erhob. Damit hat er sich zum aufrichtigen Anwalt einer Welt gemacht, die das Geheimnis eines solchen göttlichen Macht, dieses victor quia victima aus sich heraus niemals verstehen kann. Ein an einen Galgen genagelter Gott, der aller Welt in seiner Ohnmacht zur Schau gestellt wird: das verstehe, wer will! Gebe Gott, dass wir es zumindest verstehen wollen, auch wenn wir es mit unserem Verstand letztlich niemals verstehen – sondern es einfach nur für uns wahr sein lassen können.

Amen.

 

Den Tod opfern

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der Tod macht nicht nur traurig wie sonst nichts auf der Welt, sondern auch verlegen und hilflos wie sonst nichts auf der Welt. Das war schon damals so, als Jesus den qualvollen Tod am Kreuz starb. Seine Freunde, die ihr Leben mit ihm geteilt hatten, sind in alle Himmelsrichtungen auseinander gerannt. Und irgendwie hat sich das bis heute fortgesetzt: Verlegenheit, auch viel Aggression liegen bis heute über dem Geschehen auf Golgatha. Dass ein Mensch unsäglich leiden, und zwar für andere leiden muss, das zerschlägt alle Erklärungen. Über den Tod eines Menschen kann man nicht zur Tagesordnung übergehen. Über den Tod dieses Menschen schon gar nicht.

Aber wie dann damit umgehen? Wie kann unsere Trauerarbeit im Blick auf die Passion Jesu aussehen? Indem wir gerührt dem traurigschönen Schlusschor von Bachs Matthäuspassion lauschen: „Wir setzen uns mit Tränen nieder, (…) ruhe sanfte, sanfte Ruh“? Unser Text zeigt uns eine andere Richtung auf: „Ihr seid erlöst mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes, das schon von Ewigkeit her zu diesem Tod ausersehen war“. M.a.W.: Dieser Mensch ist nicht gestorben, um uns in Fassungslosigkeit und Verstummen zu stürzen, sondern um uns aus Abgründen zu erlösen. Die Bewegung geht hier von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Gestern zum Morgen, vom Alten zum Neuen. „Erlöst von unserem nichtigen Wandel“: das ist das Gestern, das Alte. Glaube und Hoffnung: das ist das Neue, was Zukunft eröffnet, uns den nächsten Tag verlockend macht. Und da mittendrin Jesus Christus. Ihn hat Gott von Ewigkeit her zu dem bestimmt, was hier mit dem Bild des „Lammes“ ausgedrückt wird. Wir haben hier drei entscheidende Worte: Opfer, Erlösung und Hoffnung. An ihnen müssen wir uns orientieren, wenn wir uns diesen Text mit seinen feierlich-fremd klingenden Wendungen erschließen wollen.

I.

Opfer – Erlösung – Hoffnung. Sie meinen, das spiele für uns heute keine Rolle mehr? Weit gefehlt! Unsere Alltagsrealität ist aufgeladen davon, bis in die banalsten Dinge hin: viele Werbespots spielen mit diesen Dimensionen. Das angepriesene Produkt verspricht so viel Erlösung, dass das Opfer – der Preis – harmlos dagegen ist. Oder denken Sie 23 Jahre zurück, damals auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre bei der CDU. Ihr Verursacher Helmut Kohl hatte die gut gemeinte Idee, den durch seine Umtriebe ausgelösten finanziellen Schaden für seine Partei persönlich wiedergutzumachen, indem er beträchtliche Beträge aus der eigenen Tasche sowie von befreundeten Persönlichkeiten seiner Partei zukommen ließ. Kein kleines, ein erhebliches Opfer. Aber geholfen oder irgendwie erlöst hat es ihm nicht. Kohl blieb einsam. Unser Text hat eben recht, wenn er sagt: „Nicht mit Silber oder Gold könnt Ihr erlöst werden“. Erlösung aus seiner Sicht sieht anders aus: Der alte Mensch muss vergehen, ein neuer Mensch heraufkommen.
Nur: Ein neuer Mensch werden, das Alte hinter sich lassen – wie soll das denn gehen? Um das wenigstens ein bisschen zu begreifen, müssen wir auf den Menschen schauen. Auf dich und auf mich, auf unser enormes Potential, Leben zu stören, gar zu zerstören. In wie vielen Beziehungen macht man einander kaputt. Oder das Mobbing, also den Kollegen am Arbeitsplatz durch juristisch schwer zu belangende Nadelstiche gezielt außer Gefecht zu setzen. Und auch richtig Tragisches ist da zu nennen. Ich habe es vor Jahrzehnten in meiner ersten Gemeinde erlebt. Ein Mann überfährt auf dem Weg zur Arbeit ein kleines Kind. Urplötzlich kam es hinter einem geparkten Auto hervor, der Mann hatte keine Chance auszuweichen. Das Kind stirbt noch auf der Straße. Die Staatsanwaltschaft wird keine Anklage erheben. Der Mann aber erhängt sich wenige Wochen nach dem Unfall, weil er mit dem, was er schuldlos angerichtet hat, nicht mehr leben kann.

Jeder Mensch, liebe Gemeinde, auch der mit der besten Kinderstube, ist fähig, schreckliche Schuld auf sich zu laden. Und schreckliche Schuld zieht einen Menschen immer in der Nähe des Todes – bis dahin, dass ihm kein Gott und nichts auf dieser Welt, sondern einzig der Tod als Erlöser erscheint. In diesen Tod aber, so sagt unser Text, hat sich Gott selbst hineinbegeben. Und jetzt denken Sie einmal an das Wort aus dem 139. Psalm: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Von allen Seiten! Da kann dann nur heißen: auch von der Seite des Todes! Seit er, der Lebendige, auch auf diese Seite gegangen ist, seit er selbst durch all das durch ist, seither sind wir auch auf dieser Seite, in der wir in eine letzte, abgrundtiefe Einsamkeit hinein müssen, weil uns da kein Mensch mehr begleiten und helfen kann, nicht verloren und verlassen.

Das gilt zunächst natürlich für den Tag, der auf uns alle wartet, wenn unsere letzte irdische Stunde schlägt. Dann wird er da sein, liebe Gemeinde, Jesus Christus, dem auch diese Stunde geschlagen hatte. Dann wird er da sein und unser Buch des Lebens aufschlagen. Jedes Jahr, jeder Tag ist darin festgehalten, das Gelungene und die Halbheiten, das Große und das Peinliche. Liebe, die wir gegeben und Schuld, die wir auf uns geladen haben. Kein Buch des Lebens liest sich wie das andere. Nur in einem sind sich alle Bücher gleich: Die erste Seite ist schon beschrieben! Und zwar nicht von uns, sondern von Gott. „Von Ewigkeit her“, wie es unser Text ausdrückt. Und der allererste Satz wird lauten: Jesus Christus ist auch für Dich am Kreuz gestorben! Von allen Seiten sind wir von Gott umgeben, und seit dem Tod Jesu auch auf der dunkelsten Seite.

Aber nicht nur für das Ende unseres Lebens ist wichtig, was da steht. Vielmehr gilt: Gott hat uns im Tod Jesu auch darum von der Seite des Todes her umgeben, damit uns keine Schuld, keine Verzweiflung und Not mehr in den Tod ziehen kann, und damit so die Herrschaft des Todes schon über unser Leben ein für alle Mal gebrochen wird. Und seit der Auferweckung Jesu vom Tod wissen wir: am Kreuz ist nicht nur Jesus gestorben, sondern erst recht ist da der Tod gestorben, in den es dich immer wieder zieht. Und nun kehre zurück zu den Lebenden und lebe! In dem theologisch wohl tiefgründigsten Osterlied, den wir haben, Martin Luthers „Christ lag in Todesbanden“, ist das so in Sprache gebracht (EG 101,4): „Es war ein wunderlicher Krieg, / da Tod und Leben rungen. / Das Leben, das behielt den Sieg, / es hat den Tod verschlungen. / Die Schrift hat verkündet das, /wie ein Tod den andern fraß. / Ein Spott aus dem Tod ist worden.“

II.

Der Tod nur noch ein Gespött: wer kann da noch ruhig bleiben? Nicht nur fürs letzte Stündlein ist das wichtig. Nein, es soll unser Leben schon hier und heute fundamental verändern. Wie sagte unser Text: Mittendrin zwischen alt und neu, Vergangenheit und Zukunft steht Jesus Christus. Das heißt für uns: mitten in unser Leben mischt sich der Gekreuzigte ein. Seinen Feind hat er dabei klar im Visier. Es ist der Tod in all seinen Verkleidungen, in denen er sich in unser Leben einschleicht. Wo Beziehungen abbrechen, wo Türen knallen und Schweigen sich ausbreitet, da nimmt Er das Wort und bittet uns: Schaut auf mich! Schau du auf mich, die du stumm neben deinem Partner lebst, der du deine Freundin tief verletzt hast. Schau auf mich, der du die Unversöhnlichkeit gegen den, der dich verletzt hat, nicht ablegen kannst. Schau auf mich, die du über deine Einsamkeit weinst. Schau auf mich, der du dich selbst nicht mehr ertragen kannst, wenn du in den Spiegel siehst – siehst du, dass dein schuldbeladenes Leben dort am Kreuz hängt? Du Mensch, du bist nicht allein, mein Kreuz umgibt dich von allen Seiten. Und jetzt lass, was an dir hängt und auf dir lastet, dort hängen – und kehr zurück ins Leben! Und sorge für dein Leben, so wie Gott im Tod Jesu für dein Leben gesorgt hat. So will Gottes Liebe uns neu machen.

Dem Mann, der das Kind totfuhr und sich erhängte, was könnten wir als neue Menschen, die für das Leben Sorge tragen, ihm sagen? Vielleicht dies: Du hast ein Leben beendet, du wolltest es nicht, aber es ist passiert. Gott will das Leben, das Leben des Kindes wie auch dein Leben. Deshalb denk daran, im Buch des Lebens dieses Kindes steht derselbe erste Satz wie auch in deinem: Jesus Christus ist auch für dich am Kreuz gestorben. Das Kind ist nun unverletzbar aufgehoben bei Gott. So wie auch Du – aber Jesus Christus soll das letzte Opfer gewesen sein! Deshalb wirf den Strick weg, schau auf das Kreuz und glaube, dass dort auch Deine Schuld hängt. Und nun laß sie dort hängen, geh und kehre ins Leben zurück! Jesus Christus, der für Dich Gekreuzigte, weiß wohl, wie er mit Deiner Vergangenheit fertig wird.

Und den Eheleuten, die sich nach vielen Jahren getrennt haben, was können wir denen sagen? Vielleicht dies: Ihr, die ihr euch einmal vor Gott versprochen habt, beieinander zu bleiben in hellen und dunklen Tagen, euer Versprechen ist euch zu schwer geworden. Schweigen hat sich über eure Beziehung gelegt, der Tod feiert Triumphe. Aber euer Gott steht auf der Seite des Lebens. Schaut auf das Kreuz und seht: Das Opfer, das dort gebracht wurde, hat auch eure Schuld geopfert. Sie soll euch nicht mehr belasten. Deshalb kehrt in euer Leben zurück, und lebt als solche, die um das Lamm Gottes wissen, das auch eure Schuld aushält. Jeder von euch ist mehr, und noch anderes als euer Scheitern aneinander!

Liebe Schwestern und Brüder, lasst uns so in diesen Wochen der Passionszeit den Weg zum Kreuz Jesu, zum Geheimnis des Lammes mitgehen: Durchaus verlegen und fassungslos darüber, dass das nicht nur so war, sondern offenbar auch so nötig war, in seiner ganzen Schrecklichkeit. Aber erst recht staunend über die Liebe, die in diesen Schrecken eingewickelt ist. Gott ist es im wahrsten Sinn des Wortes todernst mit uns. Und deshalb ist es etwas Besonderes mit dieser Liebe: sie übersieht nichts. Sie sagt nicht zu mir: ich bin okay, du bist okay, alles okay! Mach dir nichts aus deinen Fehlern, alles nicht so schlimm! Nein, am Kreuz müssen wir lernen, dass Gott zu uns sagt: Du bist ganz und gar nicht okay, sondern ein trauriger Sünder. Mach dir viel daraus, es ist schlimm! Es steht so schlimm um dich, dass du es selber gar nicht tragen kannst. Aber ich will, dass Du leben kannst, mit aufrechtem Gang! Deshalb nehme ich es dir ab und lade es mir auf. So wirst du okay, so wirst du der neue Mensch, den ich mir von Anfang an gedacht habe. Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Schuld unserer Welt – erbarme dich unser!

 

Amen.

 

Der Teufel steckt in uns selbst

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

kennen Sie den Hollywood-Streifen „Ein unmoralisches Angebot“? Er erzählt die Geschichte eines jungen Ehepaares, Diana und David. David ist Architekt, Diana Immobilienmaklerin. Bei beiden läuft es perfekt: sie sehen blendend aus, sind erfolgreich in ihren Berufen, verströmen eine glamouröse Aura. Umso härter treffen sie die Auswirkungen der Schuldenkrise. Nun kommt es zur Schlüsselszene, die dem Film den Titel gibt. Sie spielt in der Villa des Milliardärs John Cage, der die beiden zu sich eingeladen hat. „Sie haben etwas, was ich nicht habe“, sagt Cage zu David mit Blick auf dessen wunderschöne Frau, gespielt von Demi Moore. „Geld kauft nicht alles“, entgegnet David, „es gibt Grenzen.“ – „Aber nicht viele“, erwidert Cage, vom großen Robert Redford mit smarter Arroganz gegeben. „Nehmen wir an, ich böte Ihnen eine Million Dollar für eine Nacht mit Ihrer Frau.“ Die Kameraführung ist großartig in diesem Moment. Lange verharrt sie auf den Gesichtern von Diana und David. Empörung spiegelt sich in ihnen, und Abscheu. „So eine Nacht geht schnell vorüber, und das Geld, das ich Ihnen biete, reicht für Jahre Ihres Lebens“, sagt Cage. David und Diana sind sich einig. „Der Teufel soll Sie holen“, sagen sie unisono. Zugleich lassen ihre Gesichter Verunsicherung erkennen. Man merkt, das Böse hat seine Saat ausgeworfen. Das unmoralische Angebot des Milliardärs wird nicht ins Leere gehen.

Das Ehepaar ist sich einig. Menschen und die Liebe, sie dürfen niemals käuflich sein. Aber sie sind auch überzeugt: Wir sind stark genug als Paar, wir schaffen das. Unsere Liebe hält diese Challenge aus. Liebe ist doch stark wie der Tod, also ist unsere Liebe allemal stärker als dieser neureiche Parvenü, der mit seinen Millionen wedelt. Soll er seine Nacht kriegen – wir kriegen seine Million und können dann noch schöner miteinander leben. Meinen Körper kann er haben, meine Seele kriegt er nie. – Aber natürlich haben sie die Rechnung ohne ihre Seelen gemacht. Mit dieser einen Nacht träufelt sich schleichend und unaufhaltsam das Gift des Misstrauens und der Angst in ihre Ehe ein. Der Riss, den diese Nacht aufgetan hat, wird immer tiefer, er lässt sich nicht mehr kitten. Es wird deutlich: Ethik und Moral sind mehr als eine Frage der guten Sitten. Sie sind ein heilsamer Schutz vor den Abgründen, die wir alle in uns haben. Kein Mensch, auch kein Christenmensch ist frei von Begierden, seien sie erotischer, finanzieller oder anderer Art.

I.

Von einem unmoralischen Angebot, genau genommen sogar von dreien, erzählt auch der eben gehörte Predigttext dieses Sonntags. Die berühmte Geschichte von der Konfrontation Jesu mit dem Versucher in der Wüste. Ich möchte die Geschichte heute einmal etwas weiterspinnen und überlege mir, was sich, nachdem der unheimliche Unbekannte sich schließlich getrollt hat, sich danach noch hinter den Kulissen abgespielt hat. Vielleicht könnte es so gelaufen sein:
Als der Verführer aus der Wüste zurückgekehrt war, sein Gewand abgelegt und seinen Schal vom Gesicht gewickelt hatte, umringten ihn seine Kumpane, neugierig, was er ihnen von der Begegnung mit dem seltsamen Propheten in der Wüste berichten würde. Doch als sie sein übellauniges Gesicht sahen, ahnten sie schon, dass sein Unternehmen daneben gegangen war. Einer sagte: „Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass du einen, der so entschlossen in die Einsamkeit der Wüste geht, mit so ein paar Fragen aus den Angeln heben kannst?“

Der Versucher hatte sich hingesetzt, den Sand aus den Sandalen geschüttelt, und antwortete: „So war das nicht. Das waren ja nicht nur meine Fragen. Es waren auch seine. Und es hat ihn ganz schön mitgenommen. Gerade das mit dem Brot. Er war gerädert von dem langen Fasten. Und wenn Brot da ist, und alles, wofür es steht, also was es so materiell braucht zum Leben: Essen und Trinken, Kleider und Schuhe, Haus und Hof, Geld und Gut – na, dann ist die Welt doch fast immer in Ordnung. Aber hier war nur öde Wüste.“ – „Und“, fragten die anderen, „was hat er angenommen?“ – „Nichts“, sagte der Verführer, „er hat einfach nur geantwortet. Ziemlich clever, muss ich zugeben. Nicht nur vom Brot lebe der Mensch, sondern vor allem anderen vom Vertrauen auf Gott. Nun ja, da hab‘ ich ihn beim Wort genommen. ‚Gut‘, habe ich gesagt, ‚wenn du so sehr auf deinen Gott vertraust, sogar in den materiellen Grundlagen, dann muss man ja auch etwas von ihm zeigen, für alle, die nicht an ihn glauben.‘ Bin mit ihm also auf die Zinne des Tempels gestiegen und habe zu ihm gesagt: ‚Und jetzt wirf dich runter! Wenn es deinen Gott gibt und er hier wirklich wohnt, dann wird er schon seine Engel schicken und die werden dich tragen!‘“ – „Und“, riefen die anderen gespannt, „wie hat er reagiert?“ – „Er hat lange überlegt da oben. Schließlich habe ich ja nichts Gottloses gesagt. Im Gegenteil, ich habe sogar aus seiner Bibel zitiert, einen Psalmvers! Ich kann euch sagen, er saß ganz schön in der Klemme. Hat sich gar nicht wohl gefühlt. Aber dann hat er sich doch nicht drauf eingelassen. Irgendwas von wegen ‚Du sollst Gott nicht testen‘, hat er gemurmelt. Aber die Fragen – die bleiben ja. Irgendwann kommt der Tag, da werde ich ihn daran erinnern. Wenn sie ihn aufhängen werden – und ich sage euch voraus, das werden sie! –, dann werde ich ihm diese Frage noch einmal stellen. Unter seinem Galgen werde ich stehen, und ihm zurufen: ‚Wenn du wirklich bist, der du zu sein behauptest, dann steig doch runter vom Galgen und zeig uns, dass dein Gott dich nicht so elend hängen lässt!‘ Und ich wette, er wird sich erinnern. Darauf freue ich mich jetzt schon. Die Frage, ob wirklich Verlass ist auf seinen Gott, die wird ihn verfolgen, bis es ihn nicht mehr gibt.“

„Und weiter“, fragten die anderen, „du wolltest ihn doch noch mehr fragen?“ – „Ja, ich habe noch einen letzten Versuch gemacht. Auf den höchsten Punkt der Wüste habe ich ihn geschleppt. Gutes Wetter, grandioser Ausblick, Dörfer, Felder, die Schiffe auf dem Meer. Als ob man die ganze Welt sähe. Und dann habe ich alles auf eine Karte gesetzt. Wollte ihn überreden, auf das einzige zu setzen, worauf wirklich Verlass ist. Auf sorgfältig kalkulierte Macht. Ohne Macht, ohne Einfluss kann man ja nichts gestalten, nichts zum Besseren verändern. Mit genug Macht, sagte ich ihm, könnte er alles strategisch planen, selber in die Hand nehmen. Sich mit den jüdischen Volk verbinden und den Aufstand gegen die römischen Besatzer vorbereiten. Ist doch sowieso die einzige Hoffnung, die noch bleibt. Von allein, oder vom Beten kommt das Reich Gottes doch nie! Wir müssen es selber schaffen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich habe ihm ausgemalt, wie das Volk danach in Gerechtigkeit und Frieden leben würde – mit ihm als gefeiertem Revolutionsführer. Ihr könnt mir glauben, das hat ihm ganz schön zugesetzt. Er kennt sich ja aus. Hat ja auch ein weites Herz für die, denen es elend geht. Und ich glaube, eigentlich weiß er auch, dass dies der einzige Weg ist, etwas zu erreichen: taktisch klug vorgehen, strategisch denken. Mehrheiten organisieren, die Religion die Machtmittel gezielt einsetzen. Zum Besten der Menschen natürlich.“

„Aber das muss ihn doch endlich überzeugt haben“, meinten die Freunde des Versuchers. – „Nein, auch da hat er abgelehnt“, erwiderte er kopfschüttelnd. – „Aber warum? So weltfremd kann er doch gar nicht sein! Das ist doch etwas Gutes, gegen fremde Besatzer aufzustehen, für Freiheit und Selbstbestimmung.“ – „Ja, das weiß er wohl auch. Aber er behauptete, es käme darauf an, wem man damit dient. Mein Angebot komme ihm vor, als solle er sich mir unterwerfen. Aber anbeten könne man nur Gott und sonst keinen. Sein Weg sei ein anderer. Selbst wenn er dabei in der Welt keinen Erfolg habe. Schade eigentlich, wir hätten ihn gut gebrauchen können. Aber eins sag ich euch schon jetzt voraus: meine Fragen werden ihn nicht mehr loslassen. Ihn nicht, und seine Leute erst recht nicht. Es werden die Fragen ihres Lebens sein.“ – Sprach‘s, zog sich Mantel und Schal um, und verschwand wieder im trüben Staubnebel der Wüste, aus dem er gekommen war.

II.

Tja, liebe Gemeinde. Irgendwie so könnten sie geredet haben danach, diese geheimnisumwitterte Gestalt, die unser Text den „Versucher“ nennt, und seine Entourage. Und jetzt halten wir einmal einen Moment inne und versuchen, das Dunkel, das ihn umgibt und das er liebt, etwas aufzuhellen. Indem wir uns ausmalen, wie das wäre, wenn er uns heute ansprechen würde. Vielleicht würde er es so versuchen: „Na, ihr späten Jünger*innen des Herrn, was hat er nur gegen das Brot gehabt, euer Meister? War das nicht eine Riesendummheit? Aus Steinen Brot machen - wer wollte im Ernst dagegen etwas sagen? Ihr versucht doch Jahr für Jahr, versteinerten Herzen Bot für die Welt zu entlocken! Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, sagt ihr doch gern. Und so ist es doch nun mal im Leben: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Zynisch findet ihr das? Dann macht doch die Augen auf, geht mal in den Sudan oder die Favelas von Sao Paulo. Dann werdet ihr merken, dass in Wahrheit ihr die Zyniker seid, wenn ihr meint, das Bekenntnis zu eurem Gott im Himmel sei das erste und der Einsatz für eine gerechtere Welt erst das zweite.“

Wahrscheinlich würden wir erst einmal betreten schweigen. Bis nach einer Weile sich jemand ein Herz fassen und vielleicht so dagegen halten würde: „Natürlich müssen wir Brot für die Hungernden besorgen, keine Frage! Das hat Jesus auch gewusst. Aber die Frage ist doch, worauf man sich im letzten verlässt. Worauf ist wirklich Verlass, nicht nur im Leben, sondern dann, wenn einem auch das Brot nicht mehr hilft: im Sterben? ‚Worauf du dich eigentlich verlässt, das ist dein Gott’, hat Martin Luther gesagt.“ – „Brav zitiert“, könnte der Versucher entgegnen. „Immer gut, wenn man den Katechismus parat hat. Aber noch lange nicht überzeugend. Die Bedeutung des Materiellen könnt ihr doch gar nicht weg reden. Bis heute ist meine Empfehlung die einzig vernünftige: verlasst euch aufs Brot! Seht zu, dass ihr genügend Energiereserven habt, Öl, Gas, Kohle. Passt auf, dass euer Bruttosozialprodukt nicht absinkt. Ihr redet doch immer von Wachstum und Wohlstand für alle. Ihr sagt doch immer: Erst das Fressen, dann die Moral! Der Mensch muss satt werden, muss Geld haben für ein anständiges Leben. Euer Jesus ist doch ein naiver Gutmensch. Du sollst Gott allein dienen und sonst keiner anderen Macht?! Wie weltfremd!“
Soweit die vorgestellten Worte des „Versuchers“ zu uns Heutigen. Und nicht wahr, eigentlich wirken seine Argumente überhaupt nicht teuflisch. Sondern eher nach normalem gesunden Menschenverstand. Ich denke jedenfalls, wir hätten ihnen ehrlicherweise nicht allzu viel entgegenzusetzen. Denn unser in die Ungerechtigkeiten dieser Welt kräftig mit hinein verstricktes Leben zeigt nur zu sehr, dass er mit seiner Sichtweise so falsch nicht liegen kann.

III.

Ich denke, wir stehen viel öfter, als wir ahnen, selber auf der Zinne des Tempels und sagen: Los, Jesus, spring, damit wir wenigstens einmal einen stichfesten Beleg haben, dass es sich lohnt, etwas bringt, an dich zu glauben! Und liefere uns diesen Beweis doch möglichst jetzt, so wie wir’s brauchen! – Eben so, wie es der Versucher damals von Jesus wollte. Denn in Wahrheit, liebe Gemeinde, ist dieser sogenannte Satan nichts anderes als die Ursache für unsere allzumenschliche Neigung, nicht ins Offene, Ungesicherte zu gehen, alles sicherzustellen und die Welt, die Mitmenschen und uns selbst festzuschreiben, in Schubladen einzusortieren. Das Unerwartete, das Bruchstückhafte, das unsere Kalkulationen sprengt: das scheut der Teufel wie das Weihwasser. Der Teufel sitzt ja im Detail, wie man so sagt. Im Detail, also da, wo wir es gerne übersehen, verbirgt er sein teuflisches Wesen, um gerade so sein Unwesen zu treiben. Aber eben dieses Detail, in dem er sich eingerichtet hat, das ist nichts anderes als – wir selbst.

Und weil wir uns diese Erscheinung, anschaulich gemacht mit Hörnern, Schwanz und Pferdefuß, als den Un-Menschen schlechthin vorstellen müssen, lässt er sich so gerne im Menschen nieder. Ohne den Menschen, ohne uns ist er nichts, eine klägliche Null. Wie ein Parasit, um zu existieren, eine Niederlassung braucht, wo er sich einnisten kann, so auch der Böse. Er lebt davon, sich in uns breit zu machen, das Unterste nach oben zu kehren, um seine Niederlassung planvoll zu verwüsten und so mit Methode aus Menschen Unmenschen zu machen. Deshalb ist das Unmenschliche teuflisch, ist die Unmenschlichkeit in all ihren Formen die Hölle auf Erden.

Es gibt die etwas rätselhafte Ansage Jesu: „Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Teufel.“ Das heißt doch wohl: ein Mensch, der Ja sagt, aber Nein meint, ist unzuverlässig. Ein unzuverlässiger Mensch macht auch seine Umwelt chaotisch. Wo das passiert, wo man sich auf nichts und niemanden mehr verlassen kann, das ist wirklich – der Teufel los. Verlassen wir uns dagegen auf Gott, dann verlassen wir uns auf den Menschen in uns, nicht auf den Unmenschen. Das, denke ich mir, hat Jesus gemeint, als er dem Teufel erwiderte, dass wir allein Gott dienen sollen. Und der Teufel, der soll dorthin fahren, von wo er kommt und wo er hingehört.

 

Amen.

 

Der »13. Februar«: Nicht vom Himmel gefallen

Impuls im Rahmen der »Nacht der Stille« am Gedenktag anlässlich der Zerstörung Dresdens 1945
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Was für die New Yorker „9/11“ ist, und für die Israelis inzwischen der 7. Oktober, ist für die Dresdner der 13. Februar. Das Datum, kommt ohne Jahreszahl aus. Es gibt ein Davor und ein Danach. Jede*r Dresdner*in weiß, dass heute vor 79 Jahren um 21:45 Uhr die apokalyptischen Reiter aus der Luft ankamen. Wie in so vielen Städten in jener Zeit, die es nicht weniger verheerend, manche noch verheerender traf. Hamburg, Köln, Würzburg, Pforzheim u.v.a. Als Christen brauchen wir uns an den elenden Debatten nicht beteiligen, wie viele Dresdner am 13. Februar und in den Tagen danach ihr Leben verloren. Wir können nur sagen: Es macht den Schrecken und die Trauer über das, was vor 79 Jahren geschah, nicht größer oder kleiner, wenn die Zahl der Opfer mehr oder weniger hoch veranschlagt wird. Schrecken und Trauer machen sich doch daran fest, was Menschen, als Ebenbilder Gottes geschaffen, Böses ersinnen und einander antun können.

Quälend ist die Frage nach dem Warum. Weil sie, wie jede Frage nach historischen Wurzelgründen, niemals abschließend und für jeden rational nachvollziehbar beantwortbar sein wird so wie eine naturwissenschaftliche Frage. Und doch ist die Warum-Frage unvermeidlich, ja verzweifelt notwendig. Für jeden denkenden Menschen ist einsichtig: der Schrecken des 13. Februar hat seinen Ausgang nicht mit dem Start der britischen und amerikanischen Jagdflieger genommen. Die Bomben sind in jener Nacht nur in einem unmittelbaren, buchstäblichen Sinn vom Himmel gefallen. In einem tieferen historischen Sinn sind sie es nicht. Das Warum des 13. Februar reicht viel weiter zurück. Weiter auch als zum Beginn des 2. Weltkriegs, der sich am 1. September zum 85. Mal jähren wird. Auch der 30. Januar 1933, der „Tag der Machtergreifung“ ist nicht als der historische Wurzelgrund anzusehen dafür, dass aus deutschen Städten Trümmerwüsten wurden. Man muss noch weiter zurückblicken.

Kurz vor Weihnachten ist Gunther Emmerlich gestorben. In einer Fernsehsendung zum Wiederaufbau der Semperoper, deren Ensemble Emmerlich früher angehört hatte, sagte er, er habe ein einziges Mal von Erich Honecker einen klugen Satz gehört. Bei der Einweihung der wiederaufgebauten Semperoper am 13. Februar 1985 habe Honecker, gesagt: „Die Flammen, die von Deutschland ausgegangen waren, kamen am Ende auf uns zurück.“ Tatsächlich ein bemerkenswerter Satz. Die ideologische Position der DDR-Führung zur Zerstörung Dresdens war über 40 Jahre ja in eine ganz andere Richtung gegangen: Dresden als unschuldiges Opfer des „anglo-amerikanischen Imperialismus“. Eine Haltung, die bis heute auf fruchtbaren Boden fällt, wie wir wissen.

„Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ - ein oft zitiertes Wort aus der jüdischen Tradition. An diesem 13. Februar 2024 müssen wir uns erinnern, um einen Weg zu erkennen, der uns in der aus allen Fugen geratenen Aktualität Zukunft eröffnet. Der 13. Februar vor 79 Jahren kam ja deshalb, weil die allermeisten Menschen 1933 eben nicht sahen oder sehen wollten, was sich da anbahnte. Hitler und Konsorten kamen ja nicht mit jener brutalen Gewalt an die Macht, die sie dann entfesselten. Sie kamen ganz legal und sauber ans Ruder, auf konstitutionellem Weg, im Frack und mit Ernennungsurkunde, weil zu viele glaubten, man könne die Feinde der Demokratie, wenn sie erst einmal „eingebunden“ wären in die Regierung, schon irgendwie zähmen oder gar entzaubern. Aber die Lehre von 1933 ist, dass das nicht funktioniert. Dass man das verhindern muss, bevor es zu spät ist. Dass Demokrat*innen sich rechtzeitig verständigen müssen, wann man Stopp sagen muss, bevor man sich den Feinden der Demokratie nicht mehr entgegenstellen kann. So gesehen ist „Nie wieder“ eigentlich immer. Aber ganz konkret ist es jetzt. Viele bekommen es inzwischen mit der Angst zu tun, Geschichte könnte sich doch wiederholen. Es ist vielleicht die wichtigste Lehre aus dem Elend unserer Geschichte des letzten Jahrhunderts, dass die erste deutsche Demokratie nicht daran gescheitert ist, dass die Nazis und die Feinde der Republik zu viele waren - sondern weil die Demokraten zu wenige waren. Viel zu wenige haben vor 100 Jahren beherzt und überzeugt die Demokratie verteidigt. Wir alle sind jetzt gefragt, das uns Mögliche zu tun, dass sich diese dunkle Geschichte nicht wiederholt. Denn Demokratie wird von jeder und jedem von uns lebendig gehalten., „Die da oben“ gibt es bei Licht besehen in einer Demokratie gar nicht.

Viele, die vorher vielleicht noch nie eine Demonstration mitgemacht haben, sind aufgeschreckt worden über die bekannt gewordenen Pläne in der AfD und ihrem geistigen Umfeld, Teile der Bevölkerung unseres Landes zu stigmatisieren, zu vertreiben. Wir wissen, wo das enden kann. Genauso wachsam müssen wir aber sein, wenn es um die Freiheit der Kunst, der Kultur, der Bildung und der Forschung geht. In den Hinterzimmern der intellektuellen Rechten werden längst Strategien zur Umerziehung der Köpfe und Kulturen entwickelt. Und heute sehen wir schon in manchen Orten und Landkreisen, wie versucht wird, Mittel für politische Bildung zu streichen, ein Kulturzentrum zu schließen, ein Festival abzusägen. Das ist kein Zufall, nein, es sind neben der Justiz immer die Kultur und die Medien, an die sich die Feinde der Freiheit zuerst wagen, weil sie die Macht der kritischen Wahrheit fürchten. Im Dresden des Jahres 1933 ging die Gleichschaltung der Theater, Konzerthäuser, Bibliotheken und Hochschulen schnell und reibungslos über die Bühne. Dresden war die Stadt der ersten Bücherverbrennung im Frühjahr 1933. Es muss weiter möglich sein, dieses Land und diese Stadt zu lieben, und sich gerade deshalb kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Aber noch wichtiger ist, dass wir in diesen Kontroversen nicht verhärten und selbst ausgrenzend werden. Eine offene Gesellschaft funktioniert nur, wenn wir wieder lernen, konservativen, liberalen und linken Stimmen das gleiche Recht auf Gehör zu geben und aus unseren nur der Selbstbestätigung dienenden Meinungsblasen herauskommen. Es reicht nämlich nicht, nur auf eine bestimmte Partei zu zeigen und pauschal vor „dem Faschismus“ zu warnen. Die Zerstörung der liberalen Gesellschaft beginnt im eigenen Kopf! Wir müssen bei uns selbst anfangen, müssen die Toleranz, die wir von anderen einfordern, auch selbst üben und aufhören, uns wegen jeder Meinungsverschiedenheit oder einem vor Jahren in völlig anderem Kontext gesagten Wort zu zerfleischen. Wir sollten Menschen immer zugestehen, dass sie sich verändern können. Für Christ*innen versteht sich das sowieso von selbst. Wir müssen jetzt mehr denn je um gemeinsame Nenner ringen.

Denn das Einzige, das wirklich zählt, ist das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Verfassung, die die beste aller Gesellschaftsordnungen ist, und allemal die beste, die wir in Deutschland jemals hatten. Sie ist aber auch die Einzige, die sich selbst abschaffen kann, wenn man im Andersdenkenden schon den Feind sieht. Lassen wir das nicht länger zu, und tragen wir unsere Konflikte so aus, wie es die Verfassung vorsieht: in den Parlamenten, in Parteien und Organisationen, bei Wahlen oder eben im friedlichen Gesicht-Zeigen auf der Straße. Unser Grundgesetz basiert auf der aus den Erfahrungen der NS-Tyrannei geronnenen und für die Mütter und Väter der Verfassung nicht verhandelbaren Grundüberzeugung, dass alle Menschen die gleiche Würde haben, unabhängig von ihrer Ethnie, Kultur, Religion und sexuellen Orientierung.

Eben dies, und das ist eine neue „Qualität“, wird inzwischen von einer wachsenden Zahl an Menschen bestritten. Leider gerade auch in Dresden, das die Jugendorganisation der AfD schon zur sog. „Hauptstadt der Bewegung“ ausgerufen hat. Wenn in einer solchen Situation Christen nicht aufgerufen sind, nicht zu schweigen, sondern hörbar etwas dagegen zu setzen - wann dann? Auch als Kirche steht es uns wohl an, uns für den ersten Satz unserer Verfassung einzusetzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser schlichte und schlichtweg wunderbare Satz ist das ins Säkulare übersetzte jüdisch-christliche Menschenbild, auf das sich Politiker*innen gerne berufen. Dass diese Überzeugung ab 1933 in Deutschland nichts mehr galt, hat, was Dresden betrifft, am Ende zum 13. Februar 1945 geführt.

Die wiederaufgebaute Frauenkirche steht auf acht Pfeilern. Diese Pfeiler stehen heute Abend für acht Grundwerte der offenen, demokratischen Gesellschaft, die allen Demokrat*innen, und seien ansonsten die Meinungsunterschiede zwischen ihnen noch so groß, gemeinsam und nicht verhandelbar sind. So wird diese Kirche auch in einem metaphorischen Sinn von ihren acht Pfeilern als Platzhalter für gesellschaftliche Grundwerte getragen. Denn die Frauenkirche, das ist ihr Spezifikum, hat sich von allem Anfang an, seit 1743 als Kirche eines offenen und selbstbewussten Bürgertums verstanden.

So sind wir an diesem Abend, mit der „Nacht der Stimmen“ für das Lob unserer Demokratie und ihre Verteidigung gegen ihre Verächter ganz in der Tradition der Frauenkirche unterwegs. Ich danke allen, die diesem Anliegen in dieser Stunde ihre persönliche Stimme leihen!

Göttlicher Verriss         

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

haben Sie schon mal eine Gottesdienstkritik gelesen? Alle reden zwar vom unaufhaltsamen Niedergang der Kirchen, aber Gottesdienstkritiken haben erstaunliche Konjunktur. Auch Gottesdienste sind nicht mehr von der Mode ausgenommen, alles zu „evaluieren“, von der Universität bis zum Supermarkt um die Ecke. In einem Magazin gibt es schon seit Jahren die Rubrik „Mein Kirchgang“. Sie erzählt uns, ob in Buxtehude, in Bad Tölz oder sonstwo die Liturgie sehr gut ist (das gibt fünf Sterne) oder sehr schlecht (nur ein Stern). „Eine lebhafte Predigt, nur spricht die Pastorin einen Tick zu schnell – nicht einfach, den Gedanken immer zu folgen“, hieß es letztes Jahr über einen Gottesdienst in Rostock. Drei Sterne. Dafür war die Atmosphäre wohl toll: fünf Sterne. – Früher besorgte in der Kirche so etwas alle paar Jahre die Visitationskommission. War der Pfarrer ein eher schlichter Prediger, gab der Superintendent (Superintendentinnen gab es noch kaum) ihm hinterher in einem schriftlichen Bescheid den natürlich „brüderlich“ gemeinten Rat, doch auch mal einen wissenschaftlichen Kommentar zum Predigttext zu Rate zu ziehen. Heute würde sich das kein Superintendent mehr trauen. Dafür schreiben Journalisten Gottesdienstkritiken – und sie tun es insgesamt erstaunlich wohlwollend! „Einen Tick zu schnell“ sprach die Rostocker Pastorin. Das lässt sich doch gut korrigieren.

I.

Ganz anders ist das in diesem Predigttext des Propheten Amos. Der ist eine Gottesdienstkritik, die sich gewaschen hat. Freundlich kann man sie nun wirklich nicht nennen. Keine feinfühlige Bemerkung über den Schönheitsfehler der zu schnell vorgetragenen Predigt – nein: „Geplärr“ nennt Amos die Lieder, harsch und gnadenlos. Schärfer geht es kaum mit der Gottesdienstkritik. Da ist etwas, was man mit Freude ansehen soll, in Wahrheit unansehnlich, und der Gott, für den man feiern will, mag gar nicht mehr hinsehen. Er mag es auch nicht riechen, weil es zum Himmel stinkt. Weg mit dem Geplärr des Gesangs, mit dem Zirpen der Harfe! Dieser Text ist ein Solitär in der Bibel: Nirgendwo sonst steht dort, dass Gott die Gottesdienste seiner Leute hasst und verachtet.

Was ist es denn, dass Gott so brachial reagiert? Warum weist er die ganzen Gottesdienste, und was in ihnen musiziert wird, so in Bausch und Bogen ab? Für den Propheten Amos ist die Antwort klar: Es ist die alltägliche Ungerechtigkeit im Land Israel, die die feierlichen liturgischen Hymnen an den Gott der Gerechtigkeit Lügen straft, als Heuchelei entlarvt. Weil sie eine unübersehbare Gegenpredigt bildet gegen das, was in den gottesdienstlichen Versammlungen an schönen, poetischen Worten und Tönen produziert wird. Gott mag von all dem nichts mehr sehen, nichts mehr riechen, weil die sozialen Verwerfungen im Land dem feierlichen liturgischen Bekenntnis zum Gott des Rechtes Hohn sprechen.

Auf den wenigen Seiten, die das Buch des Propheten Amos in der Bibel umfasst, erfahren wir vieles über die katastrophalen sozialen Verhältnisse im Nordreich Israel im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Die Wohlhabenden treten die Habenichtse in den Staub und drängen sie vom Weg ab, anstatt ihnen den Weg auf den staubigen Straßen zu erleichtern. Reiche nehmen von den Armen viel zu hohe Steuern, um ihr hochmögendes Leben zu finanzieren. Sie sind korrupt, verlangen Bestechungsgelder und verhindern, dass die Armen vor Gericht ihr Recht bekommen. Sie verkaufen zu drastisch überhöhten Preisen billige Ware. „Spreu statt Korn“, sagt Amos, bebend vor Zorn über eine so verkommene Gesellschaft. Und fügt hinzu: Wer so skrupellos Gottes Recht mit Füßen tritt, der doch ein Freud der Armen und Anwalt der Rechtlosen ist, darf nicht beten und Lieder singen, als ob alles zum Besten stünde. Seine alltäglich gelebte Ungerechtigkeit macht sein sonntägliches Lied zum hohlen Geplärr und sein Beten zur verlogenen Geste. Der sonntägliche liturgische Gottesdienst muss unter der Woche im Alltag weitergehen, wie Paulus sagte. So geradlinig dachte auch schon Amos, der Prophet. Nur wenige haben das in seiner Nachfolge vermocht. Ein fernes Echo auf Amos und dessen Gottesdienstkritik ist Dietrich Bonhoeffer mit einem berühmten Satz aus dem Jahr 1935: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Sein Ruf, man muss es so sagen, ist in der Bekennenden Kirche absichtsvoll überhört verhallt.

II.

Was aber fangen wir heute Morgen mit so einer Polemik über Gottesdienste von vor 2.800 Jahren an? Auf jeden Fall sollte sie uns neu bewusst machen, dass es nicht ausreicht, wenn wir wie im Guide Michelin Liturgie, Predigt, Musik und Atmosphäre unserer Gottesdienste mit mehr oder weniger Sternchen auszeichnen. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich finde es sehr gut, dass in unserer Kirche heute viel ernsthafter als früher hingesehen wird, was die Qualität unserer Gottesdienste betrifft. Und dass die Qualität eines evangelischen Gottesdienstes sich eben nicht, wie ich es aus meiner Jugend kenne, nur in der Güte oder Dürftigkeit der Predigt erschöpft. Ein Gottesdienst ist viel mehr als die Predigt. Er ist ein komplexes Gesamtkunstwerk. Deshalb ist es gut, dass es heute professionelle Gottesdienst-Coaches gibt, die oft aus der Schauspielerei kommen.

Aber wenn wir den Propheten Amos ernst nehmen und seine Gottesdienstkritik nicht als eine Provokation in einer speziellen geschichtlichen Situation historisieren, die uns nichts mehr angeht, dann darf es bei solchen zarten Anfängen nicht bleiben. Die Fragen müssen tiefer gehen. Zum Beispiel: Wieviel haben denn unsere Gottesdienste mit dem Alltag draußen vor den Kirchentüren zu tun? Ist unsere oft sehr poetische Gottesdienstsprache, von den Gebeten bis zur Predigt, nicht zu sehr auf die fromme Einzelseele bezogen und verliert darüber die großen Fragen und Themen der Welt und unserer Zeit aus dem Blick? Sicher, nach den Hochzeiten der sog. „Politischen Predigt“ als eine Folge der 68er war die Wende hin zu einer mehr seelsorglichen Verkündigung wichtig. Aber alles zu seiner Zeit. Unsere Zeit verlangt danach, den Glauben in diese wahnsinnig komplexe Welt, die manchen Angst und viele wütend macht, hineinzudenken. Seelsorge ist nicht nur auf den einzelnen Menschen bezogen. Auch Gesellschaftssorge ist Seelsorge. Auch darum hängt seit zwei Woche draußen unser neues Banner.

Dabei ist es aber ganz wichtig, dass ich sensibel für die Frage bin: Klafft mein sonntägliches Reden über Gerechtigkeit und mein eigenes Handeln an den Wochentagen auseinander? Geißele ich vielleicht nur im Gottesdienst mit wohlfeilen Worten die zunehmende soziale Kälte, tue aber unter der Woche nichts dafür, dass es wärmer wird in diesem Land? Rede ich sonntags mal eben über obszöne Managergehälter und freue mich am Montag, wenn mein schönes krisenfestes Beamtengehalt auf mein Konto eingeht? Predige ich sonntags hier davon, dass alle Menschen von Gott mit der gleichen Würde versehen sind, und bleibe dann lieber stumm, wenn jemand wieder eine antisemitische oder gegen Migranten gerichtete Bemerkung loslässt? Wettere ich auf der Kanzel gegen unseren way of life, der mit dazu beiträgt, dass es immer mehr Klimaflüchtlinge gibt, und kaufe dann bei Aldi oder Lidl, und nehme das Auto dorthin? Ein schöner Schein von Gottesliebe ohne Auswirkung in dem, was ich nach dem Kirchgang daheim, an der Arbeit oder sonstwo tue, eine religiöse Wellness ohne Wirkung in meinem Leben? Gott, sagt Amos, hasst diese Art des Festes.

III.

Was heißt diese herbe Ansage für uns im Zusammenhang der alle anderen großen Krisen überwölbenden und diese teilweise auch bewirkenden Mega-Krise Erderwärmung? Klar ist: Was zu Amos‘ Zeit Sozialkritik war, ist in unserer Zeit ökologische Kritik, und beides sind global gesehen ja zwei Seiten derselben Sache. Klimapolitik ist im weltweiten Maßstab längst auch Sozialpolitik. Zugleich ist das bei uns ungeheuer kompliziert. Auf der einen Seite wird die Apokalypse an die Wand gemalt. Dafür stehen jene, die sich tief pessimistisch zur „Letzten Generation“ erklären. So ein Alarmismus gewinnt aber die anderen nicht, sondern schreckt sie ab, und so verpufft er. Das ist immer auch eine Gefahr von prophetischer Ansage. Vielleicht würden die „Klimakleber“, wenn sie uns Christ*innen überhaupt noch zu Kenntnis nehmen, uns wie bei Amos entgegenschleudern: Wir hassen eure Feste, das heuchlerische Getue, wenn ihr „Erntedank“ feiert. Wir können eure festlichen Schöpfungslieder nicht mehr hören, solange ihr nicht umkehrt! Das wäre eine sehr schlichte, ich würde sagen: unterkomplexe Art der „Predigt“. Aber kann ich sie deshalb einfach wegwischen? Vielleicht gräbt sie ja irgendwann mal jemand wieder aus, wenn das Bethel mit Namen Frauenkirche Dresden von der Hitze so geschliffen und verdorrt sein wird, dass wir für unsere Gottesdienste endgültig in die Sächsische Schweiz ausgewichen sind, wo Wiesen und Wald noch einen Rest an Kühlung bieten? – Eigentlich wissen wir ja alle, was in Sachen der Bewahrung von Gottes Schöpfung dran ist und nottut. Und doch ist die Macht unserer Gewohnheiten, das Festhalten unseres Lebensstils so stark und zäh, dass die Sünde des Phlegmas stärker ist als alle Einsicht.

Liebe Gemeinde, es ist und tut schon gut, sich solch unbequemen Fragen auszusetzen, wie sie der Prophet Amos hier stellt. Achten wir also in den kommenden Wochen des Zugehens auf Ostern auf diesen Zusammenhang von Lehre und Leben, Sonntag und Alltag. Achten wir miteinander darauf, dass unsere Passionsklage über unsere verwundete Welt, genauso wie dann unser Osterjubel über den Triumph des Lebens und des Friedens, offen, ehrlich und authentisch klingt, auf dass Gott hinsehen und hinhören mag. Er wird uns auf diesem Weg ein starker Fels und eine Burg sein.

 

Amen.

 

Leuchtender Schatz, lädierte Gefäße

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Pray – it pays!“ war auf einer Postkarte zu lesen, die mir einmal in die Hände kam. Bete – es zahlt sich aus! Auf der Karte waren drei Kleriker in Soutane abgebildet, die triumphierend lächelnd um ein Luxusauto herum standen. Die Postkarte war wohl ironisch gemeint – hoffe ich jedenfalls. Die Haltung, die sie aufs Korn nimmt, ist aber weiter verbreitet, als man meint. Das zeigt sich beim Blick in entferntere Gegenden der Christenheit. In Südostasien, in Teilen Afrikas, vor allem aber in Amerika, Nord und Süd, erfreut sich der prosperity gospel großer Beliebtheit. Das ist eine theologische Richtung (wenn man das denn noch „theologisch“ nennen will), die den unverblümt rüberbringt, dass sich Glauben so richtig lohnt. Und zwar nicht erst fürs Jenseits, sondern auch und erst recht schon jetzt fürs Diesseits. Je fester du glaubst, desto wahrscheinlicher, dass du zu materiellem Wohlstand kommst! Pray – it pays! eben. Vor einiger Zeit las einen Artikel über einen Gottesdienst in einer der Pfingstgemeinden, die in Brasilien seit langem überall aus dem Boden sprießen. 1.500 Menschen hoben da ihren Geldbeutel zum Himmel und beteten: „Jesus, mach mich zum Sieger, mach mich reich!“

Freilich, das ist nur ein bizarrer Auswuchs einer Haltung, die uns näher ist, als wir uns dessen bewusst sind – weil sie wohl allgemein menschlich ist. Wie oft habe ich in Gesprächen mit von schwerem Leid getroffenen Menschen Sätze gehört wie: „Herr Pfarrer, wieso ausgerechnet ich? Ich habe so viel gebetet in meinem Leben. Warum bestraft mich Gott?“ Ich sage das ohne Kritik an denen, die so empfinden. Weil ich ahne, dass etwas von dieser Haltung auch in mir selber steckt und ich nicht davor gefeit wäre, vielleicht ähnlich zu empfinden und mit Gott zu hadern, würde mich einmal etwas Schweres aus der Bahn werfen. So ein bisschen steckt in jedem von uns das Bild, dass unser Verhältnis zu Gott ein wenig dem von Vertragspartnern gleicht, wo man auf der Basis von Leistung und Gegenleistung voneinander etwas erwarten und ggf. einfordern kann.

I.

Dass der Glaube aber kein Mittel zum Zweck ist, das ist es, worum es dem Apostel Paulus in unserem Predigttext geht – ein Abschnitt, in dem ich etwas vom Herzschlag seines Glaubens, seiner Theologie vernehme. Dieser große, und doch von den Annehmlichkeiten des Lebens überhaupt nicht verwöhnte, sondern vielfach angefochtene und gequälte Mensch spricht hier erstaunlicherweise von einem Schatz, den die besitzen, die an Christus glauben. Pray – it pays etwa auch hier?? Aber es hat etwas sehr Spezielles auf sich mit dem Schatz, von dem Paulus hier spricht. Es verhält sich mit ihm ganz anders als mit dem, was für uns große, faszinierende Schätze sind. „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen“, sagt Paulus. Gar nicht so weit von hier liegt der alte böhmische Königsschatz verwahrt, im Prager Veits-Dom. In einer siebenfach verschlossenen Kammer. Deren sieben Schlüssel sind jeweils bei einem anderen Würdenträger des Staates deponiert. Ganz anders dagegen der Schatz, den Paulus hier meint. Der ruht nicht in einer verschlossenen Truhe an unerreichbarem Ort, sondern wird herumgetragen. Und dies in sehr porösen, zerbrechlichen Gefäßen. Nicht platinveredelt und durch Schlüssel abzusichern. Dieser Schatz leuchtet nicht einsam und verlassen nur für sich selbst. Nein, er leuchtet der Welt entgegen. Es ist Gottes Schatz – also unvergleichlich wertvoller, leuchtender als alle Kronjuwelen dieser Erde.

Diesen Schatz, so Paulus, gibt es seit Jesu Tod und Auferstehung. Es ist zunächst einmal ein sehr fremder Schatz. Denn er kommt von ganz weit her – und hat doch unentwegt mit uns zu tun. Es ist ein Schatz, der alles, was auf Erden wertvoll ist, in Frage stellt – und gerade so nach uns fragt. Das ist der wunderbare Schatz des Evangeliums vom Tod Jesu Christi und von seinem Leben. Und wir, liebe Gemeinde, wir sind die „irdenen Gefäße“ für diesen Schatz. Bei diesem Bild, das Paulus da gebraucht, muss man sich ganz normale Tonkrüge vorstellen. Nicht wertvoll, einfache Gebrauchsgegenstände, und doch geeignet zur Lagerung von edlem Wein, wichtigen Dokumenten wie etwa die berühmten Textrollen von Qumran am Toten Meer. Paulus sagt: Wir, die Gemeinde Jesu, sind diese einfachen, porösen Behältnisse, in denen Gott seinen Schatz auf Erden verwahrt.

Aber „verwahrt“ ist das falsche Wort. Denn Gott versteckt seinen Schatz ja nicht. Vielmehr vertraut er seinen Schatz, vertraut er Tod und Leben Jesu uns sterblichen Wesen an. Göttlicher, ewiger Schatz in menschlichen, vergänglichen Gefäßen! Weltlich, menschlich gesehen mehr als unklug. Aber bei diesem Schatz ist jede menschliche Vorsicht fehl am Platz, denn er soll den Normalsterblichen nicht unzugänglich bleiben wie Prager Königsschatz. Das Evangelium will unter die Leute, denn es will allen Sterblichen zum Leben, zu einem Leben mit Gott verhelfen.

II.

Deshalb muss dieser Schatz mit leichtem Handgepäck transportiert werden, müssen seine Gefäße offen sein. Er ist keine Reliquie zum Schauen und Bewundern wie die Kleinodien des sächsischen Königshauses nebenan im Grünen Gewölbe, sondern er ist zum Zugreifen da. Er soll ausgeteilt werden. Deshalb sind die Boten des Evangeliums nach den Regeln göttlicher Weisheit keine großen und tollen Menschen, die Abstand um sich verbreiten, wenn sie erscheinen. Nein: Wenn das Evangelium unter die Leute soll, dann müssen auch seine Boten unter die Leute. Ungeschützt, wie Paulus unter die Leute ging. Nicht wie ein Kardinal-Erzbischof, sondern so bescheiden und dürftig, dass die Leute in Korinth Anstoß nahmen an dem geplagten Mann. „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“, bekommt Paulus von Gott zu hören, als er unter dem von ihm selbst empfundenen Ungenügen als Apostel schier verzweifelt. Paulus ist das Musterbeispiel einer angeschlagenen Führungspersönlichkeit der Kirche – kein smarter Glaubensmanager. Er hat der Welt nichts zu sagen – als nur das Wort von einem am Kreuz brutal Hingerichteten. Aber das hat er zu sagen. Mit diesem Wort zieht er los, zieht er durch die Welt.

Und das ist kein Zufall. Denn es ist nun einmal Gottes Art, sich im Schwachen, Unansehnlichen, Menschlich-Allzumenschlichen erkennen zu geben. Jesus selbst: sein Gottsein ins Menschliche hinein verborgen wie die Goldmünzen in einen Tonkrug. Jesu Wort: ganz menschlich, durch kein äußeres Merkmal als Gottes Wort selbst zu erkennen. Die Sakramente: Wasser, Brot und Wein sieht man nicht an, was Gott dadurch bewirkt. Die Bibel: auf lückenlos menschliche Weise zustande gekommen, mit einer komplizierten Entstehungsgeschichte, jedem Zugriff der Kritik ausgesetzt – und doch den Schatz enthaltend. Die Kirche: ausstrahlungsarm, ohne Kraft, oft zwielichtig und deprimierend weltlich, auf Menschen mehr hörend als auf Gott – und doch Gemeinschaft der Heiligen. Wir Pfarrer*innen: immer wieder enttäuschend, ängstlich, mutlos, leisetreterisch und faustdicke Sünder wie alle anderen – und doch von Gott mit einer Sendung versehen, die nicht ungültig wird. Die Korinther irren sich in ihrer Einschätzung des Apostels, weil sie sich über Gott und die Art, wie er sich zu erkennen gibt, überhaupt irren. In der Schwachheit zeigt er sich uns.

So setzt das Evangelium denen zu, die ihm glauben. Aber gerade in dieser Zumutung des Glaubens gegen den Augenschein ist es Gottes gutes Wort, das Schluss macht mit der Übermacht des Todes. Deshalb sagt Paulus von den Sterbenden „Siehe, sie werden leben“. Denn während wir und alles Geschaffene unterwegs sind vom Anfang zum Ende, vom Werden zum Vergehen und somit vom Leben zum Tod, ist das Evangelium, das seinen Ausgang am Kreuz genommen hat, unterwegs vom Tod zum Leben. „Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns auferwecken wird und wird uns vor sich stellen“: Gott will uns bei sich haben – uns, die Taugenichtse. Und wen Gott an seiner Seite ertragen will, der hat auch das Recht und die Pflicht, sich selber zu ertragen. Denn der, der die Schuld der Welt auf seine Schultern genommen hat, spricht uns frei, von allem, womit wir einander und insgeheim uns selbst anklagen.

III.

Dann, liebe Gemeinde, sind aber auch wir, die tönernen Gefäße des Gottesschatzes, dazu da, unsererseits freizusprechen, wo die Welt verdammt und verurteilt. Wie schnell und wie oft geschieht das, gerade in der aktuellen Zeit. Und wie selten, wie mühsam wird freigesprochen! Keine Frage, es ist eine mühsame Arbeit, dem Menschen, den man nur gar zu gut zu kennen meint, von dem man ein festes Bild hat, zu vergeben. Was hat Gott sich dafür mühen müssen! Aber seit Jesu Tod sind wir für diese mühsame Arbeit da. Als in den 1960ger Jahren, mitten in der Hochzeit des Kalten Krieges, die katholischen Bischöfe Polens völlig überraschend den Christen in Deutschland die Hand reichten und die Tür zur Versöhnung aufstießen, hin zu dem Volk, das zahllose Polen vom Leben zum Tod befördert hatte, da geschah so etwas: Freispruch in Gottes Namen mitten in einer Welt, die verurteilt und verdammt. Und Nelson Mandela, der, als er endlich die Möglichkeit dazu hatte, darauf verzichtete, die zur Verantwortung zu ziehen, die ihm die besten Jahrzehnte seines Lebens genommen hatten, sondern ihnen die Hand reichte, hat es auch demonstriert, dass es das geben kann – obwohl es so wahnsinnig mühsam ist.

Liebe Schwestern und Brüder, unsere Versuche, Gottes Schatz unter die Leute zu bringen, werden oft fehlschlagen. Wo man in Gottes Namen einander freispricht, wird man schon mal als naiver Gutmensch verlacht. Auch das hat Paulus gewusst. „Ich bin ein Narr um Christi willen“: da eckt man an, da sind keine weltlichen Lorbeeren zu ernten. Aber in Gottes Namen anzuecken, Narr um seinetwillen zu sein, ist keine Schande. Denn da können wir das Bild, das Paulus verwendet, ganz unmittelbar nehmen: Je mehr wir anecken, je lädierter die Gefäße sind, desto mehr sieht man ja von dem Schatz darin. Desto besser kann eine lebenshungrige Menschheit zugreifen und Gottes Leben zu sich nehmen.

Deshalb ist uns das, was wir in der Kirche so gern und ausdauernd tun, schlichtweg verboten: darüber zu jammern, dass wir so tönerne Gefäße sind und es mit der Kirche nur noch bergab geht, wir vor lauter Abgründen stehen. Ja, es steht ernst um unsere Kirche, und wir nehmen es auch ernst, weil wir ihre miserable Lage selbst verschuldet haben. Und doch bleibt es dabei: wir haben viel Grund, zu staunen, dass Gott seine Kirche nicht insolvent erklärt, sondern unerschöpfliche Reserven für uns hat. Als tönerne, angeschlagene Gefäße sind wir für Gott so brauchbar, dass er mit uns alle Morgen neu etwas anfangen will. Seine Kraft ist in uns Schwachen mächtig.

 

Amen.

 

»Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.« 2. Mose 20; 2

Geistlicher Impuls von Maria Noth, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenkirche Dresden
anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2024

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Liebe Gemeinde, liebe Gäste,

diese Erinnerung spricht Gott auf dem Berg Sinai zu Moses bevor er die Gesetzestafeln – den ethischen Grund des Judentums und damit auch des Christentums – übergibt.

Erinnere dich!, erinnert Gott Moses und die Israeliten. Erinnert euch an die Befreiung aus der Sklaverei! Erinnert euch an den hohen Wert der Freiheit! Sie, diese Freiheit, stellt Gott den 10 Geboten voran. Aber erscheinen Freiheit und Gebot nicht als Widersprüche? Weit gefehlt: Vielmehr vermittelt Gott hier Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, um der so zerbrechlichen Freiheit ein stabiles Fundament zu geben: Du sollst nicht töten, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst nicht neiden… Freiheit ist alles andere als selbstverständlich. Sie ist eine Gnade Gottes, der die Israeliten aus der Knechtschaft befreit hat. Wir Menschen tragen die Verantwortung, durch unser Tun und Handeln dieses hohe Gut zu bewahren. Gott gibt uns mit seinen Geboten eine Orientierung dafür. Das hat nichts an Aktualität verloren!

Erinnere dich! Diese göttliche Aufforderung hat heute, am 27. Januar, eine besondere Kraft. Vor 79 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Auschwitz - ein UN-Ort, an dem mehr als eine Millionen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Polinnen und Polen und andere Verfolgte durch die deutschen Nationalsozialisten umgebracht wurden. Auschwitz: Ein Synonym für den Massenmord an über 6 Millionen Menschen; für die unbeschreiblichen Gräueltaten, die aus Rassismus, Ausgrenzung und Herrschaftsanspruch erwuchsen. Hier wurden die Freiheitsgesetze Gottes, die Juden und Christen miteinander teilen, aufs Schändlichste verachtet. Auch Abertausende Christinnen und Christen haben den Gott Moses‘ und Aarons, die als Säulen des Alten Testaments links und rechts unseres Altars sitzen, und den Juden Jesus Christus mit Füßen getreten. Auch hier in Dresden und an dieser Kirche.

Be-Freiung von Auschwitz? Am Ende der ultimativen Unfreiheit von Freiheit zu sprechen, ist kaum möglich. Es bleibt ein riesiges leeres Feld. Ein Ort, an dem Wiederaufbau unmöglich gemacht wurde. Aber Auschwitz soll uns ein Erinnerungsort; nicht ein Berg Sinai, sondern ein tiefes Tal Sinai sein, das Gottes „Erinnere dich!“ dauernd und laut in die Welt ruft. Das uns heute – gerade angesichts erstarkender rassistischer und freiheitsverachtender Strömungen – die Fragilität von Frieden und Freiheit vor Augen führt.

Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass die Dresdner Frauenkirche nur gut zwei Wochen nach dem Ende des Konzentrationslagers Auschwitz durch den Krieg zerstört wurde, den Deutschland selbst angezettelt hatte. Sie wurde wiederaufgebaut durch den versöhnenden Schulterschluss unzähliger Menschen, der irgendwie ja auch als Gottes Gnade verstanden werden kann.

Der Jude Jesus Christus, Gottes eingeborener Sohn – er kniet menschlich, all zu menschlich, die nahende Kreuzigung sehend, seinen Vater anflehend, in der Mitte des Frauenkirchen-Altarbildes: oberhalb der grob wieder zusammengefügten Bruchstücke des Altartisches, die inmitten allen barocken Glanzes wie Stachel an eigene Schuld und an die Gefahren von Unfreiheit und Zerstörung erinnern. Er kniet auf einem fragmenthaften, zerbrechlichen Fundament, über das keine noch so schön wieder errichtete Kirche hinwegtäuschen kann.

Machen wir es zu unserer persönlichen, gesellschaftlichen und christlichen Praxis, an Gottes gnädige Führung und an seine Freiheitsgebote zu erinnern; das freiheitliche Fundament, das uns Gott anvertraut hat, durch unser Tun und Wirken zu bewahren und zu stärken: an einem Gedenk-Tag wie heute und an jedem Tag und jedem Ort, an dem Menschenrechte mit Füßen getreten werde.

Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“, erinnert uns der gnädige Gott.


Amen.

Hebräers Liste

Predigt gehalten vonFrauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen; sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Ein oft gebrauchter Satz, der Antoine de Saint-Exupéry zugeschrieben wird, dem berühmten französischen Piloten und Mystiker, der den „Kleinen Prinz“ geschrieben hat. Der Satz hat seit Jahren Hochkonjunktur in Coachings, Workshops und Seminaren und längst Eingang in diverse Unternehmensphilosophien gefunden. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass man Menschen nicht gewinnt und motiviert, wenn man sie mit Appellen unter Druck setzt. Es macht allen mehr Freude und lässt sie leichter zum „Werkzeug“ greifen, wenn sie eine Vision vor Augen haben. Dann tut man am Ende auch eher das, was Sinn macht bzw. was im Sinn der Firma ist. Aber eben freiwillig und nicht wie ein Getriebener.

I.

Sehnsuchtsbilder wie solche vom weiten, endlosen Meer, und Visionen setzen Energien frei. In den USA, die als eine Willensnation aus der Kraft von Visionen gegründet wurden und bis heute daraus leben, muss jeder Politiker, der sich um die Präsidentschaft bewirbt, den Leuten möglichst erhabene Visionen präsentieren über ein Amerika, dessen beste Zeit immer erst kommen wird, in möglichst poetischen Sprachbildern. Bei uns ist das bekanntlich völlig anders. Ob Angela Merkel oder erst recht Olaf Scholz - beide würden sich eher die Zunge abbeißen, als in blumigen Worten ihre „Visionen für Deutschland“ auszubreiten und die Leute auf damit einer emotionalen Schiene in Schwung zu bringen. Der dröge Hanseat Olaf Scholz kann sich da ja auch auf seinen legendären Vorgänger und Landsmann Helmut Schmidt berufen, von dem das ebenso legendäre Wording stammt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“

So hätte Helmut Schmidt dem Verfasser des Hebräerbriefs vermutlich einen Arztbesuch nahegelegt. Denn auf eine echte Vision, eine Offenbarung im Wachtraum sozusagen, greift der vorhin gehörte Predigttext aus dieser Schrift zurück. Wenn man ihn so auf sich wirken lässt, dann könnte man glatt auf die natürlich irreale Idee kommen, unsere Unternehmensberater und Personal Coaches hätten ihre Visionskiste aus der Bibel abgekupfert. Allerdings weiß man leider gar nicht, wer den Hebräerbrief, ein Schwergewicht im Neuen Testament, verfasst hat. Man weiß noch nicht mal, an wen er eigentlich gerichtet ist. Sicher ist: Es muss ein hochgebildeter Mensch gewesen sein, sein Griechisch ist das beste, gepflegteste im Neuen Testament. Und er war bestens vertraut mit dem Glauben und der Bilderwelt des alten Israel. Was ihn spürbar umtreibt, ist die Sorge um die zum Christusglauben gekommenen Juden, deren Gemeinden Erschöpfungs- und Resignationserscheinungen zeigen. Es war ja auch frustrierend, 40 oder 50 Jahre, nachdem Jesus Christus seine bald bevorstehende Wiederkunft angesagt hatte, immer noch auf ihn zu warten - und für diesen Glauben nun auch noch Verfolgungen an Leib und Leben auf sich zu nehmen. Da waren viele versucht, zu ihren alten jüdischen Gemeinden zurückzukehren. Die jüdische Religion als traditionelle war im römischen Reich nämlich gesetzlich geschützt - noch.

II.

Am Anfang allerdings stehen keine Visionen und Sehnsuchtsbilder. Wie so oft, wenn Sorgen uns treiben, greift der Verfasser des Hebräerbriefes zu Aufforderungen, zu Imperativen. Kennen wir alle aus dem ff: Zieh dich warm an - fahr vorsichtig, ruf mich an, wenn du da bist - mach jetzt endlich deine Hausaufgaben - geh bitte zum Arzt - nimm endlich mal ein paar Tage Auszeit, du weißt ja, ich meine es nur gut mit dir. Man kann fast im Umkehrschluss sagen: Je mehr Appelle jemand von mir hören muss, desto näher steht sie mir, desto mehr liebe ich sie.

Der Autor des Hebräerbriefs fühlt sich seinen Adressaten emotional tief verbunden. Deshalb beginnt er diesen Abschnitt auch mit lauter Aufforderungen. „Stärkt“, „macht“, „jagt“, „seht darauf“, „seid nicht abtrünnig oder gottlos“, und „ihr wisst ja“. Dabei nimmt der Verfasser das Bilderalbum des Alten Israel zur Hand und blättert auf den ganz alten, schon fast vergilbten Seiten. Alte Gesetze werden in Erinnerung gerufen. Die Psalmen werden zitiert. Der berühmte Esau, der aus der einem Augenblicksbedürfnis heraus den väterlichen Segen und sein Erbe verspielt, wird warnend als Menetekel an die Wand gemalt. Den christusgläubigen Juden, verwurzelt in ihren Heiligen Schriften, werden die Ohren geklingelt haben. So viele Anspielungen! Aber wie das mit Appellen so ist: Sie bewirken oft das Gegenteil. Der Macht eines Bildes kann man kaum entkommen. Negative, unheilschwangere Bilder können eine lähmende Wirkung entfalten. Doch weil der Autor des Hebräerbriefs seine Gemeinden nicht nur liebt, sondern auch ein sehr kluger Mensch ist, weiß er das. Er besinnt sich, obwohl er Antoine de Saint-Exupéry noch nicht kennen kann, und tut, was die Propheten immer schon gerne taten: er stellt eine Vision in den Raum. Etwas freier übertragen und unsere heutige kirchliche Lage im Hinterkopf, lautet sie so:

Wenn du eine Gemeinde bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Strukturen zu entwerfen, Sitzungen vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und Gruppen und Kreise zu bestücken. Stattdessen wecke in ihnen die Sehnsucht nach der großen, ewigen Stadt!

III.

Was steckt da drin? Welchen Mut, welche Energien will der Hebräer-Autor mit dieser Vision bei seinen erschöpften Adressaten freisetzen? Ich lese ihn so: Im Himmel ist die Stadt, in der ihr leben wollt. Kein menschlicher Stadtplaner und Stararchitekt hat sie entworfen und geplant, sondern Gott selbst. Gott ist der wirkliche Richter. Die, unter denen ihr zu leiden hattet, die Täter und Unterdrücker, die werden in diese Stadt nicht reinkommen. Vor ihnen müsst ihr euch dort nicht mehr ängstigen. Woran ihr jetzt schon glaubt, oft mühsam und gegen den Augenschein, das werdet ihr dort erleben. Da werdet ihr vom anstrengenden Glauben ins befreiende, beseligende Schauen kommen. Mit Myriaden von Engeln werdet ihr singen, ihr werdet eure Eltern, Großeltern, Urgroßeltern wiedersehen - und auch alle, die irgendwann nach euch dorthin kommen. Alle eure Vorbilder, die Gerechten unter den Völkern sind schon dort. Der Verfasser nennt sie zu Beginn dieses 12. Kapitels eine „Wolke der Zeugen“. Die Festversammlung wartet auf euch. Jerusalem, die auf Erden zerstörte Sehnsuchtsstadt wird ganz neu aufgebaut sein. Gewalt und Blutvergießen, wie bei Kain und Abel und seither in jeder Menschheitsgeneration, wird es nicht mehr geben. Das einzige Blut, wovon noch die Rede sein kann, ist das Blut, das Jesus vergoss. Für euch. Erinnert euch, wie sehr er die Menschen liebte. Für euch gab er sich hin, und dort werdet ihr ihm begegnen.

Bei diesem Bild kommt mir eine mediterrane Stadt am Abend vor Augen, mit angestrahlten Mauern aus weißem Muschelkalk. Mit dem Geruch von angedünsteten Zwiebeln, Gemüse und hunderterlei Gewürzen. Kerzenschein fällt aus hohen Fenstern auf die Pflaster, Musik dringt aus den Häusern auf die Straßen. Türen öffnen sich immer wieder für Gäste. Für uns sind es Urlaubsbilder. Der Autor unseres Textes sagt seinen Adressaten: es ist nicht nur Urlaub, das wird einmal für immer so sein. Es ist schon für euch gebucht.

IV.

Aber wie konnten die Angeschriebenen hoffen, in dieser Stadt Bürgerrecht zu bekommen? Hier greifen nicht Bonusmeilen o.ä., sondern - Listenplätze. Es ist eine uralte Vorstellung, die hier mit einfließt: Die Namen der Gerechten sind im Himmel notiert. Davon sprach auch Jesus, als er sagte: „Freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind“ (Lk 10,20). So war es schon immer: Namen werden genannt und gesammelt, auf Gäste- und Akkreditierungslisten, in Kundenkarteien usw. Was tut man nicht alles, um auf diverse Listen zu kommen. Oder auch nicht zu kommen, wenn es sich um Adresslisten für Werbenewsletter handelt. Namen werden auch notiert, wenn Menschen getauft werden. Nicht nur in den Kirchenbüchern, um der kirchlichen Bürokratie willen. Taufe, das heißt, von Gott beim Namen gerufen und ins Buch des Lebens eingeschrieben zu werden. Unsere Taufe bringt einen rettenden Listenplatz für diese ewige Stadt.

Eine berühmt gewordene Liste, die sich buchstäblich lebensrettend ausgewirkt hat, hängt in der Gedenkstätte Jad Vashem in Jerusalem. Dort ist die gesamte Geschichte der Shoa, der Vernichtung der europäischen Juden dokumentiert. Wenn man als Deutscher durch ihre Säle läuft, ist das kaum auszuhalten. Drei Mal war ich bisher dort. Jedes Mal war es so: Man spricht immer weniger mit denen, mit denen man dort hin ist, damit die Sprache der Täter nicht gehört wird. Am Ende des Elends, am Ende unsagbarer Fotos, Ausstellungsstücke und Dokumente, werden dann auch Zeugnisse von Mitgefühl und Liebe gezeigt. Von den „Gerechten unter den Völkern“, wie sie in Israel genannt werden. Das sind solche, die damals dem Mut hatten, unter Einsatz ihres Lebens Juden zu helfen und retten. In einer Vitrine dort liegen einige vergilbte Papiere. Auf ihnen sind mit Schreibmaschine die Namen der 1.200 jüdischen Arbeiter*innen aufgelistet, die 1944 von einer Emaillefabrik in Krakau ins mährische Brünnlitz umgezogen wurden. Ihre Arbeit war als kriegswichtig eingestuft worden. Damit waren sie dem Zugriff der Vernichtungslager entzogen. Unterschrieben ist die Liste von einem deutschen Fabrikanten. Heute ist sein Name weltbekannt: Oskar Schindler.

Brünnlitz war keine glanzvolle Stadt wie unsere Urlaubsziele am Mittelmeer. Schon gar nicht die ewige Stadt. Aber wer auf die Liste für den Transport dorthin kam, für den änderte sich alles. Er war faktisch vom Tod zum Leben durchgedrungen. Die Liste war nicht Teil von Oskar Schindlers Unternehmensphilosophie, kein Mittel zu einem anderen Zweck, sondern die DNA, der eigentliche Zweck seines Unternehmens. Schindlers Liste - jahrzehntelang nur Eingeweihten ein Begriff, bis Steven Spielberg mit seinem epischen Film sie ans Licht der Weltöffentlichkeit brachte.

Einen Platz im Himmel zu haben, liebe Schwestern und Brüder, ändert auch alles. So ein bisschen wie Schindlers Liste hat sich das wohl für die frühen Christen an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert angefühlt. Der Verfasser des Hebräerbriefes erinnert sie daran. Versäumt nicht Gottes Gnade, wörtlich auch: Gottes Zuneigung. Der ganze Zweck, die eigentliche DNA des Unternehmens Kirche ist eure Ankunft in der himmlischen Stadt. Und darum stärkt die müden Knie und Hände und lauft geradewegs auf dieses Ziel zu. Eure Namen stehen schon auf der Liste.


Amen.

Vom Kult zum echten Leben

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Es ist jetzt bald vier Jahre her. Als damals im März 2020 der erste einschneidende Corona-Lockdown auch die Gottesdienste traf, die Orgeln ruhten und die Kanzeln und Kirchenbänke eine Staubschicht ansetzten, da fand eine ganz andere Gemeinde den Weg in die zentral gelegene Innenstadtkirche. Menschen in wirtschaftlicher Not bekamen dort Lebensmittel. Die Kunden der „Tafel“ gingen einzeln durch den Mittelgang, nahmen sich vor dem Altar eine Tasche mit gespendetem Essen und verließen die Kirche durch die Seitentür. Ganz ruhig, besonnen, mit dem nötigen Abstand. Über etliche Monate des damaligen Lockdowns fand die Tafel der norddeutschen Stadt Heimat in der großen evangelischen Kirche am Marktplatz.

I.

So könnte vielleicht aussehen, was Paulus hier mit dem Ausdruck „vernünftiger Gottesdienst“ meint. Eine merkwürdige Wendung. Wir finden einen Gottesdienst schön oder langweilig, tröstlich oder begeisternd - aber haben Sie schon mal gehört, dass jemand gesagt hat: „Das war heute ein vernünftiger Gottesdienst“?? Ich noch nicht. Was ist vernünftig? Für den Aphoristiker Lichtenberg jedenfalls nichts Heiteres. Er sagt: „Die meisten Leute glauben, alles wäre vernünftig, was man mit ernsthaftem Gesicht tut.“ Nun, aus Kindersicht hat der Mann Recht. Wenn uns in der Kindheit von den Eltern mit genervtem Ton gesagt wurde: „Jetzt seid doch mal vernünftig!“, dann bedeutete das stets, dass der Spaß jetzt vorbei ist. Aber ernsthafte Gesichter, die ja durchaus typisch für eine protestantische Gemeinde sind, machen bestimmt noch keinen „vernünftigen Gottesdienst“. Was aber dann? Paulus‘ Antwort hat es in sich: „dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei.“ Ein herbes Wording! Im besten Fall löst es Bilder aus dem Bereich der Sexualität aus. Aber das hat der alles andere als sinnenfreudige Paulus ganz bestimmt nicht gemeint. Abgesehen davon liefert mir mein Kopfkino Gruselszenen von entmündigten Klosterbrüdern und -schwestern, oder von christlichen Märtyrern, die von Islamisten ermordet wurden. Aber was für Bilder auch immer diese Ermahnung des Apostels in uns auslöst: der Anspruch einer Ganzhingabe ist, wenn wir ehrlich sind, mit unserem milde verbürgerlichten Christentum, das sich mehr in Abstand als in Verbindlichkeit eingerichtet hat, nicht vereinbar. Und überhaupt, wo bleibt da die von uns Protestanten gern beschworene christliche Freiheit? Eigentlich lässt sich dieser Anspruch nur leben, wenn man die sog. Evangelischen Räte ernstnimmt, also Keuschheit, Armut, Gehorsam. Das Gespür für den Graben zwischen biblischem Anspruch und bürgerlicher Wirklichkeit hat der Katholizismus uns voraus. Er ist da ernsthafter, radikaler.

Wie können wir diesen steilen Anspruch, den Paulus hier aufmacht, mit unserem bürgerlichen Leben zusammenbringen, das voller Absicherungen ist, weit weg von echten Opfern? Paulus ist überzeugt: Unser Getauftsein kann nicht dazu führen, dass wir einfach unser privates Glück und Wohl suchen, sondern dass wir Weihnachten, Gottes Kommen in diese Welt weiterschreiben. Oder wie es Jesus gesagt hat: Wir können und sollen Salz der Erde, Licht der Welt sein. Unser Leben soll durchscheinend sein für das ewige Licht, das zur Weihnacht dieser Welt einen neuen Schein gegeben hat. Kein Anspruch für Ängstliche. Aber ist er unerreichbar? Das ist er dann nicht, wenn wir ihn erden. Dazu gibt uns Paulus selbst eine Hilfe, obwohl er so steil formuliert. Denn eigentlich beschreibt er hier den Weg vom Kultischen zum echten Leben. Oder anders gesagt: den Weg heraus aus dem Tempel, also aus der Kirche, in den Alltag. Das Opfer wird nicht mehr kultisch inszeniert, es kehrt in das wirkliche Leben ein, es wird existenziell. Die Zuwendung zum Heiligen, das Kennzeichen des Gottesdienstes, wird fassbar in der Hinwendung zum Mitmenschen.

II.

Religionsgeschichtlich dienen Opferdienste der Besänftigung der Gottheit. In der Bibel finden wir dann das Ende des Menschenopfers: In der grausigen, aber wichtigen Geschichte von der Opferung bzw. Nicht-Opferung Isaaks, und dann natürlich in der Deutung von Jesu Tod am Kreuz als Opfer, das alle weiteren Menschenopfer ad absurdum führt. Paulus gibt diesem Gedanken in unserem Text nun noch einen anderen Spin. Einen durchaus verwegenen. Der religiöse Ernstfall findet nicht mehr im Tempel, also in der gottesdienstlichen Versammlung statt, sondern im Umgang der Gemeindeglieder miteinander, aber auch in der Familie und im Beruf. Und da komme ich noch einmal auf die harte, für viele auch traumatische Zeit während der Pandemie zurück. Denn so gesehen war jene eine Art Probe aufs Exempel für das, worum es Paulus in unserem Abschnitt geht. Als der erste Lockdown auch die Kirchen geschlossen hatte, da waren wir buchstäblich zu dieser Bewegung von innen nach außen, von der Kirche zur Welt, ins richtige Leben gezwungen. Die Gottesdienste konnte gar nicht mehr anders geschehen als außerhalb der Kirchenmauern, und sie wurden, trotz digitaler Andachten, trotz verschickter Predigten etc. mehr und mehr ein Dienst, den die Menschen in den Gemeinden einander gegenseitig getan haben. Im aufmerksameren Wahrnehmen, wer besonders einsam ist, im Einkaufen für alte Nachbarn, in mutmachenden Botschaften oder Telefonaten mit Alten und Kranken, oder mit jungen Konfis, für die es elend war, dass sie sich nicht mehr treffen können.

Was sonntags gepredigt, gebetet und gesungen wird, und was montags dann getan wird, muss also etwas miteinander zu tun haben. Es ist eine bündige - Paulus würde eben sagen: vernünftige, weil sinnhafte - Fortsetzung des sonntäglichen Gottesdienstes in der Kirche, wenn jemand seinen Geschäftspartner nicht übervorteilt, wenn einer den Dauerstreit mit den Nachbarn beilegt, wenn ein dauerschwacher oder schwieriger Schüler nicht aufgegeben wird. Gottes Liebe will sich jederzeit und überall entfalten. Deshalb soll der Gottesdienst nicht nur liturgisch schön und stimmig sein und ein Gefühl der religiösen Wellness hervorrufen - das soll er durchaus auch! -, sondern vor allem soll er auch „alltagstauglich“ sein. Dietrich Bonhoeffer hat kurz vor seinem Tod in einem geradezu prophetischen Wort geschrieben: „Es geht in der Kirche der Zukunft nur um zweierlei, nämlich um das Gebet und um das Tun des Gerechten unter den Menschen“.

III.

Wir sind am Beginn eines Jahres, das von so vielen schwierigen Rahmenbedingungen, von so viel weltweiten Mega-Krisen überschattet ist wie gefühlt seit Jahrzehnten nicht mehr. Das alles greift tief in unser Alltagsleben ein. Und die Ungewissheit, was dieses Jahr uns bringen wird, wann und wie und ob überhaupt wir wieder zu mehr gewohnter Normalität zurückkehren, war vielleicht noch nie so groß und für viele beängstigend wie dieses Jahr. Wie die Jahreslosung, ebenfalls ein Pauluswort: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Kor 16,14) ist auch der markante Anspruch, den Paulus in unserem Text auflegt, an der Stellschraube der Liebe und Barmherzigkeit festgemacht: „Ich ermahne euch aber, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer…“ Die Erneuerung des Denkens, von der Paulus im Folgenden spricht, heißt also, dass wir nicht dem hinterherlaufen, was die Welt als Maßstab setzt. Sondern dass wir der Welt das sagen und in ihr tun, was sie sich nicht selbst sagen kann, sondern so nur wir als Gemeinde Jesu sagen und tun können. Es ist die Erzählung von dem Gott, der uns nicht unseren schuldhaften Verstrickungen, unseren Trostlosigkeiten und Misstrauen überlasst, die immer dort entstehen, wo wir uns selbst an Gottes Stelle setzen und alles für machbar erklären.

„Das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“ ist unterm Strich also das, was dem Erbarmen Gottes entspricht und den Menschen gut tut, ihrem Wohl dient. Und eben das ist „vernünftig“. Es ist also nicht darum vernünftig, weil es jemand mit ernstem Gesicht tut. Sich den vernünftigen Gottesdienst im Alltag der Welt von Gottes Barmherzigkeit selbst vorgeben zu lassen, kann heiter und ausgelassen geschehen. Nach unserem evangelischen Verständnis sind Gotteshäuser wandel- und veränderbar, und Gottesdienste auch, Gottseidank. Die Gemeinde Jesu ist zu Großem fähig, wenn sie Kleine und Schwache in ihre Mitte holt, statt sich nur in kultischer „Feierlichkeit“ zu ergötzen. Wie bei der eingangs genannten Innenstadtkirche in Norddeutschland, die in Corona-Zeiten die örtliche Tafel zu sich holte. Und als die Pandemie und die Lockdowns endlich vorbei waren, konnten auch Kinder wieder auf ihrem Boden spielen, Obdachlose sich in den Gemeindehäusern ausruhen - und Gott nahm sich eine Tasse Kaffee und sah lächelnd zu. „Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“.


Amen.

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe

Predigt gehalten im Neujahrsgottesdienst von
Landesbischof Tobias Bilz

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Liebe Neujahrsgottesdienstgemeinde,

für mich war die erste halbe Stunde die größte Herausforderung.

Ich verrate Ihnen, dass ich mich auch am Experiment zur neuen Jahreslosung beteiligt habe. Bis jetzt habe ich noch nicht öffentlich davon gesprochen. Warum eigentlich? Weil ich mir nicht sicher war, welche Erfahrungen ich damit mache oder ob ich überhaupt damit durchhalte?
Ich bin mir meiner Schwächen bewusst, kenne die Grenzen meiner Fähigkeit zu lieben und mache die Erfahrung, dass gute Vorsätze – zumindest bei mir – überhaupt nicht helfen! Sie bauen sich viel zu schnell wie ein Riese vor mir auf und überfordern meine Kräfte. Ich will aber von der Liebe nicht überfordert werden. Dafür ist sie mir einfach zu schade.

Aber ich wollte ihnen von meiner ersten halben Stunde erzählen.

Es war ein Montag, schon Adventszeit. Ich war in der Bischofskanzlei und dachte: So, Tobias, jetzt gilt es! Stell dich der Herausforderung! In diesem Moment ist etwas passiert mit mir. Ich habe ungeplant und überwältigend stark zwei Dinge empfunden. Zuerst: Das kann ich nicht machen, einfach auf Liebe umschalten. Das geht so nicht. Es ist ein Geschehen, das sich ereignet oder eben nicht. Ich kann und muss natürlich etwas tun – Alles, was ihr tut… – dass es aber in Liebe geschieht, das ist ein Geheimnis. Ich habe in diesem Moment eine ganz tiefe Ohnmacht gespürt. Nicht, weil ich an Menschen gedacht hätte, die für mich nicht liebenswert sind oder an Aufgaben, die ich nur widerwillig tue, Nein! Für mich ist die Liebe eben ein Geheimnis. Wenn es sich nicht offenbart, kann ich es auch nicht machen.
Ich habe dabei empfunden, dass es hier um einen Bereich in meiner Persönlichkeit geht, auf den ich keinen Zugriff habe. Es ist der Bereich der inneren Einstellungen und Motive. Deshalb ganz zugespitzt: Entweder, ich habe dort Liebe und lasse sie einfach in alles einfließen, was mein Leben ausmacht oder ich habe dort keine, dann wird es auch mit Anstrengung nicht gelingen.

Die zweite Empfindung: Die kann ich noch schwerer beschreiben. Ich habe gedacht: Dieser Satz ist eine Provokation! Mir kam es so vor, als ob mich das Wort Gottes zum Duell herausfordert – es war, als ob eine Person vor mir steht, die mit mir kämpfen will. Für mich war es der Jakobus. Das überrascht sie wahrscheinlich. Es gibt einen Brief von ihm in der Bibel. In diesem Brief ermahnt er: Kommt mir nicht mit eurem Glauben, ich will eure Taten sehen! Jakobus schreibt, dass er mir und uns den Glauben nicht glaubt, wenn er nicht in Taten mündet. Jakobus ist der Apostel der Forderung.

Das hat mich in ein großes Dilemma gebracht. Es gilt zu handeln, die Liebe aber kann ich nicht machen. Liebe und Pflichterfüllung bekomme ich nicht zusammen. Ich habe sofort die Waffen gestreckt. Jakobus hatte gewonnen, bevor wir so richtig zu Kämpfen begonnen hatten.

Aber damit war die Sache für mich nicht erledigt. Ich hatte ja die Neujahrspredigt vor der Brust und wollte unbedingt eine ermutigende Botschaft für sie gewinnen. So habe ich den Text weiter meditiert und siehe da, es hat sich eine ganz kleine Tür aufgetan, durch die ich zum Jahresanfang gehen will:

Es geht hier nicht um besondere Taten, mit denen ich einem Anspruch gerecht werde. Noch genauer: Die Tat wird eigentlich gar nicht erwähnt! Die ganz wörtliche Übersetzung lautet: Alles von/bei euch geschehe in Liebe! Alles ist einfach alles! Nichts in eurem Leben soll von der Liebe ausgeschlossen sein. Damit wird die Liebe zum Resonanzraum, in dem sich alles abspielt. Resonanzraum, damit meine ich die uns umgebende Atmosphäre. Die Frauenkirche hier in Dresden ist zum Beispiel ein Resonanzraum. Sie schafft eine bestimmte Atmosphäre. Sie wird natürlich geprägt durch Worte und Taten – hier etwa durch die Musik. So stelle ich mir den Resonanzraum der Liebe vor. Er umgibt mich und setzt sich zusammen aus dem, was wir an Liebe mitbringen und was an Liebe von uns ausgeht.
Wir bestimmen gemeinsam die Atmosphäre, in der wir leben und in diesem Jahr soll uns das besonders bewusstwerden. Dazu dient die Jahreslosung! Dieser Vers ist nicht nur gedacht als persönliche Handlungsanweisung, sondern als Maxime für die Gemeinschaft! Dort, wo wir sind, soll ein Resonanzraum der Liebe entstehen. Wir bleiben also gefordert.

Die Liebe hat aber auch mit Gott zu tun. Sie kommt aus seiner Welt. So helfe ich mir gegen den kämpferischen Jakobus mit einem anderen Briefeschreiber aus der Bibel. Johannes, seinem ungleichen Bruder: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Für mich ist der Resonanzraum der Liebe mit der Gegenwart Gottes verbunden. Wie wunderbar, wenn man diesen Satz als Trauspruch hat.

Übrigens: Drei weitere Sätze unserer Challengeteilnehmer*innen haben mich besonders angesprochen. Frau Huntczek sagt: „Ich glaube, dass viel mehr Liebe in der Welt ist, als wir vielleicht denken.“ Herr Pontius beschreibt das Geheimnis der Liebe mit Hilfe eines „Mantels aus Segen“, der ihn in einem besonderen Moment eingehüllt hat und Frau Parade hat festgestellt, dass Liebe und Stress nicht zusammenpassen. Nein, ich muss es genauer zitieren: „In der Liebe sein“ und Stress sind wie zwei Pole, die sich abstoßen.

Liebe Neujahrsgemeinde,

mir hat sich eine ganz kleine Tür aufgetan, durch die ich mit der Jahreslosung gehen will. Hinter der Tür liegt für mich der Resonanzraum der Liebe. In diesem Raum möchte ich leben, und ihn mit anderen gemeinsam einrichten. Gott ist schon da.
Wenn es stimmt, dass genug Liebe in der Welt ist, brauche ich sie jedenfalls nicht mühsam herbeiführen.

Ich will mit dieser Einsicht meinen Lebensraum im neuen Jahr gestalten und den vielen Lieblosigkeiten, die es auch gibt, nicht gestatten, mein Leben zu bestimmen. Könnten wir uns in diesem Anliegen verbinden? Sie sollen wissen, wie ich es meine. Deshalb möchte ich ihnen ein Beispiel erzählen, wie es gehen könnte:

Mir ist es in diesen Tagen passiert, dass ich mich so sehr über jemanden geärgert habe, dass ich mich ihm gegenüber verschlossen habe. Verschlossen heißt bei mir, dass ich innerlich sage: „Jetzt ist Schluss!“ Bei der nächsten Begegnung habe ich ihn mit steifer Hand begrüßt. Mein Blick war kühl. Die gemeinsame Zeit in einer Besprechung war dann so, wie sie eben ist, wenn man nur noch „ganz sachlich“ ist, Augenkontakt eher meidet und kein Wort zu viel sagt. Danach habe ich mich vor allem unwohl mit mir selbst gefühlt. Was wird aus mir werden, wenn ich auf diesem Weg weitergehe? Beim nächsten Treffen habe ich mich wieder bewusst geöffnet. Ich habe die Erleichterung bei meinem Gegenüber gespürt. Da war tatsächlich eine Resonanz. Wir sind wieder zusammen unterwegs. Jetzt ist es auch möglich zu reden, ohne Vorwürfe, stattdessen mit der Zuversicht, dass Raum und Zeit da sind, um sich zu verständigen.

Was wäre, wenn wir das gemeinsam üben? Uns gegenseitig immer wieder eine neue Chance einräumen?

Wie gesagt, die erste halbe Stunde war für mich die größte Herausforderung. Ich fühlte mich richtig unter Druck. Dann habe ich mich entschieden, aus der Jahreslosung eine Parole zu machen. Eine Selbstaufforderung, die eigentlich nur helfen soll, mich an all das zu erinnern, was mir bewusst geworden ist. Also meine Parole lautet: “Aus Liebe!“

Damit gehe ich jetzt schon eine ganze Weile. Aus der Challenge wird ganz langsam eine Gewohnheit. Mein Unterbewusstsein jedenfalls fängt an zu glauben, dass ich es wirklich will. Und es macht mit, immer häufiger.
So bin ich sehr zuversichtlich. 2024 kann wirklich zu einem Jahr der Liebe werden. Ja, es ist eine Challenge. Gemeinsam und mit Gottes Hilfe könnte es die schönste Herausforderung werden, die vor uns liegt.

AMEN.

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