Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2022

Gottes Liebe: alle Jahre frisch und neu    

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Altjahrsabend: das ist wie das wie das nachdenkliche, etwas melancholische Betrachten einer herunterbrennenden Kerze. In den letzten Stunden des Jahres flackert sie noch einmal auf und wirft einen Schein auf Erlebtes im vergehenden Jahr. Sie lässt mich fragen: wie war dieses Jahr 2022? Und natürlich auch: wie war es für mich, und für die, die ich liebe?

In diese Stimmung hinein gibt uns unser Predigttext eine alles entscheidende Antwort. Wie immer dieses 2022 für uns gewesen ist, was immer 2023 für uns bringen wird, eines ist auf jeden Fall gewiss: Wir haben einen Gott, der für uns ist! – „Ist Gott für uns, wer sollte dann noch gegen uns sein?“: diese rhetorische Frage, mit der Paulus diesen Predigtabschnitt beginnt, klingt wie ein Fanfarenstoß! Hätte Bach diese Aussage vertont, er hätte dazu sicherlich Pauken und Trompeten eingesetzt wie beim Anfang des Weihnachtsoratoriums. Diese Schlussverse aus dem 8. Kapitel sind ein Gipfelpunkt in dem grandiosen Gebirge des Römerbriefs.

I.

Gott ist für uns! Gott ist keine rätselhafte, undurchdringliche „Vorsehung“, die in einem Stellwerk sitzt und den einen Lebenszug gut durchkommen, den anderen schrecklich entgleisen lässt. Von nichts und niemandem gezwungen, hat Gott neben sich noch Anderem Existenz und Freiheit gegönnt: uns Menschen als seinem Bild, bestimmt zur Gemeinschaft mit ihm. Auch wenn dieses Jahr 2023 wie selten eines in der jüngeren Vergangenheit gezeigt hat, wie sehr wir Menschen diese Gemeinschaft bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Gott aber lässt sich davon nicht verzagen, sondern brennt nur in umso tieferem Heimweh nach uns und seiner Welt. „Welt ging verloren, Christ ist geboren!“ In dem Kind in der Krippe, dem größten Geschenk, das wir Menschen bekommen können, verdichtet sich wie in einem Brennglas: Gott ist für uns! „Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“, fragt Paulus hier.

Dass er für mich ist: das ist das Wichtigste, was wir von einem anderen Menschen wissen und sagen können, jedenfalls wenn er uns etwas bedeutet. Am intensivsten, existentiellsten wird das natürlich in der Liebe. Auch in diesem Paulustext ist dies das entscheidende Wort, auf das alles wie auf einen strahlenden Schlussakkord zuläuft. Die Liebe zwischen uns Menschen lebt ja, wenn sie gelingt, immer in einer Balance von Selbsthingabe und Selbstbehauptung. Besonders schön hat das der Dichter Reiner Kunze in Sprache gebracht:

Rudern zwei ein Boot,
der eine kundig der sterne,
der andre kundig der stürme,
wird der eine führn durch die sterne,
wird der andre führn durch die stürme,
und am ende ganz am ende
wird das meer in der erinnerung
blau sein

Glücklich, wem es geschenkt ist, das so von seiner Liebe sagen zu können! Es kann ja auch ganz anders gehen. Unsere Liebe hat Grenzen. Sie kann nicht alles. Wie viele Menschen meinen, sie könnten mit ihrer Liebe die Depressionen, den Alkoholismus oder die Arbeitswut des Partners heilen. Das ist verständlich, aber es übersteigt unser menschliches Maß. Liebe vermag enorm viel - aber eben im Maß des Menschlichen. Und das bleibt immer bruchstückhaft.

Paulus hat nun aber nicht unsere menschliche Liebe vor Augen. Sondern den, der nicht nur, wie wir, Liebe hat - mal mehr, mal weniger -, sondern der selber die Liebe, und nichts als die Liebe ist. Mit einem Glaubensstolz, der uns heute unendlich fern gerückt scheint, buchstabiert Paulus hier, dass Gott ein für alle Mal Ja zu uns gesagt hat, dass er ein Immanuel, ein Gott-für-uns ist. Paulus hat überreich erfahren, was Gottes Liebe ist und bewirken kann. Er kann wahrlich ein Lied davon singen und er hat keine falsche Bescheidenheit, es zu tun. Dieser von Menschen verfolgte, von Krankheit und Ängsten gequälte Apostel könnte von ganz anderen Dingen Lieder singen: von Trübsal und Angst, von Hunger, Gefahr und mörderischem Schwert. Dennoch stimmt er selbstvergessen, fast übermütig ein Werbelied für die Liebe Gottes an. Es wirbt in einer Welt, die damals wie heute voll von Macht, Gewalt, Lieblosigkeit ist, unbeirrt für die Ohnmacht der Liebe Gottes. Sieben eindringliche Worte bringt Paulus hier, um anschaulich zu machen, was die sog. unerlöste Welt ausmacht. Das ablaufende Jahr hat das beklemmend konkret werden lassen.

II.

Am unmittelbarsten gilt das wohl für das Wort Schwert. Es steht für das, was den 24. Februar zu einem tiefen Einschnitt gemacht hat. Mit einem Vorher und Nachher. Nicht zufällig ist Olaf Scholz‘ Wording von der „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres gewählt worden. Das Schwert, die unselige Macht der Waffen scheint wieder den Lauf der großen Politik zu bestimmen. Vermeintliche Gewissheiten, bei uns in der evangelischen Kirche ein in den letzten Jahren dominierender Pazifismus, sind brüchig geworden, haben an Glaubwürdigkeit verloren. Es ist uns wie Schuppen von den Augen gefallen, auf wie dünnem Eis wir unterwegs sind. Mit Paulus‘ Eingangsfrage zu unserem Textabschnitt gesprochen: Was sollen wir hierzu sagen?

Nicht für uns, aber im globalen Süden beklemmend unmittelbar dann das Wort Hunger, das Paulus hier auch nennt. Die Auswirkungen von Putins Krieg auf die weltweiten Lieferketten haben die Bemühungen um ein Zurückdrängen des Hungers v.a. in Afrika um Jahre zurückgeworfen. Bei uns wiederum geraten Menschen aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten in Existenznöte. Ich denke an eine Familie, drei Kinder, die gerade ein Haus gebaut hat. Beide Eltern berufstätig - und doch wissen sie gerade nicht, ob sie das neue Haus halten können, weil die Inflation ihren Finanzierungsplan total durcheinandergeworfen hat.

Oder die Worte Trübsal und Angst aus unserem Text. Für wie viele Menschen ist Corona noch lange nicht Vergangenheit, weil sie an Long-Covid-Schäden leiden, oder weil sie - vor allem junge Leute - von Angststörungen gequält werden aufgrund der langen sozialen Isolationen. Der Krieg hat das dann noch potenziert, so dass mancher sich nur noch vorstellen konnte, seinen Alltag im geschützten Raum einer Psychiatrie zuzubringen.

In all diese Erfahrungen der Gebrochenheit der Welt und unseres Lebens, die Paulus mit den sieben großen Worten zur Sprache bringt, mischt er sich mit seinem Werbelied für Gottes Liebe ein. Denn gerade diese nach allen weltlichen Maßstäben ohnmächtige, ja lächerliche Liebe wird für Paulus am Ende einmal alles zum Besten wenden. Paulus wirbt hier für Gottes Liebe, indem er von dem spricht, der uns diese Liebe greifbar, anschaulich macht: „Jesu Christus ist hier, der gestorben, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ Das klingt wie ein feierliches, steiles Bekenntnis. Zugleich sagt Paulus hier etwas sehr Elementares. Wen ich gern habe, den habe ich auch gern bei mir. Und wen ich gern bei mir habe, der darf auch ein wichtiges Wort bei mir mitreden. Christus ist ganz nah bei Gott, „zu seiner Rechten“, wie Paulus schreibt. Er redet mit, wenn Gott „regiert“: zu unseren Gunsten, als unser Anwalt. Er mobilisiert Gottes Liebe, um sie mit vollen Händen an uns auszuteilen.

III.

Aber Vorsicht an der Bahnsteigkante: von Gottes Liebe ist die Rede - nicht von Gottes Macht. Gottes Liebe und seine Allmacht: sie sind zwar nicht voneinander zu trennen, aber sie sind genau zu unterscheiden. Anders als wir will Gott seine Siege durch Liebe erringen, nicht durch Ausübung von Macht. Darum wirbt Gott durch die Ohnmacht des Todes Jesu. Deshalb darf auch die Kirche kein weltlicher Machtfaktor sein, wie wir es verstörend bei der Kirche in Russland sehen. Sie ist nur Kirche Christi, wenn sie ein Faktor der Liebe ist. Deshalb kann die Kirche nicht anders als immer wieder durch offene Herzen und Hände zu bezeugen, dass die Tradition des christlichen Abendlandes nicht bei Ressentiments, Kraftmeierei und Aggressionen zuhause ist.

Paulus‘ Werbelied für Gottes Liebe verspricht keinen weltlichen Erfolg. Keine revolutionären Veränderungen unserer weiß Gott verbesserungsbedürftigen Welt. Es verspricht auch keine Gesundheit an Leib und Seele. Gottes Liebe macht keinen Arzt, keinen Therapeuten überflüssig. Nicht einmal den Tod, auch nicht den gewaltsamen, von ihm ausdrücklich verbotenen Tod kann Gottes Liebe verhindern. Denn mit seiner Allmacht mischt er sich nicht ein in die Machtkämpfe der Welt. Die überlässt er uns. Von Gottes Allmacht, liebe Gemeinde, trennen uns Welten. Wenn wir auf Kraftakte Gottes warten, weil wir all das Leid in dieser Welt nicht mehr aushalten und meinen, Gott müsse da doch dazwischenfahren, dann warten wir umsonst. Denn es ist das Wesen der Liebe, dass sie ohnmächtig ist gegenüber allem, was nicht Liebe ist. Das hat jede/r von uns beim ersten Liebeskummer auf dem Schulhof erfahren. Diese Ohnmacht, die Gewaltlosigkeit der Liebe braucht unsere Welt mehr als alle Macht und Gewalt. Und weil Gott das weiß, mischt er sich mit seiner Macht nicht in den Lauf dieser Welt. Uns hat er seine Erde anvertraut. Es ist unser, nicht Gottes Versagen, das sich in den Geschehnissen spiegelt, die 2022 für viele Menschen zu einem annus horriblis gemacht haben. Martin Luther hat gesagt: „Wir sollen beten, als ob alles Arbeiten nichts nützte. Wir sollen arbeiten, als ob alles Beten nichts nützte.“ Das gilt auch für die Lage in Europas Osten. Wir Menschen müssen es schaffen, dass in der Ukraine einmal wieder die Waffen schweigen. Und neben allen gewaltlosen Mitteln der Hilfe kann zu dieser Friedensarbeit - wir haben es in diesem Jahr vielleicht wieder lernen müssen zu akzeptieren - auch die Lieferung von Waffen gehören.

IV.

Am Ende des Tages aber – so singt Paulus in seinem Lied – werden wir „in dem allen einen herrlichen Sieg erringen durch den, der uns liebt.“ Und deshalb ist Paulus, deshalb ist der Glaube, deshalb bin ich gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Weltmächte, weder die Gegenwart noch die Zukunft, weder Höhen noch Tiefen noch sonst irgendetwas uns von Gottes Liebe trennen können, die in Jesus Christus greifbar und anschaulich da ist. Von Gottes Allmacht, wie gesagt, trennen uns Welten. Von seiner Liebe trennt uns kein Augenblick. Es mag alles gegen mich sprechen. Gottes Liebe spricht für mich. Und anders als unsere menschliche Liebe ist sie unerschöpflich. Zwischen ihn und die Welt, die er aus Liebe ins Dasein gerufen hat, kann nichts endgültig Trennendes treten. Gottes Verliebtheit in diese Welt kommt nicht nur nie ans Ende, sie ist alle Morgen – und alle Jahre! – frisch und neu.

Wie gut, liebe Gemeinde, dass dieser rein weltliche, christlich gesehen belanglose Wechsel eines Kalenderjahres vom anderen Rhythmus des Kirchenjahres umgriffen ist. „Heut schließt er wieder auf die Tür…“: es ist die Tür zu einer Welt, in der „der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein wird“ (Off 21,4). So wird im letzten Bibelbuch beschrieben, was hinter dieser Tür auf uns wartet. Wir können vertrauensvoll den Ausgang unseres Lebensspiels erwarten: weil wir einen Anwalt „zur Rechten Gottes“ haben, der unseren Prozess schon gewonnen hat, noch ehe der begonnen hat. Was immer uns das neue Jahr vielleicht an Niederlagen, Tiefschlägen bescheren mag – am Ende sind wir Gewinner. Wir wissen nicht, was 2023 uns bringen wird. Aber wir wissen, wen es uns bringen wird. Es ist der, der von sich und uns gesagt hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28).


AMEN.

Die PR-Agenten der Weihnacht

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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„Und es waren Hirten in derselben gegen auf dem Felde“. Zwar ist eines der populärsten Bilder, das die Bibel für Gott findet, das eines Hirten. Aber die durch zahllose kitschige Darstellungen beförderte Vorstellung eines romantischen Naturidylls ist fehl am Platz. Als Hirte zu arbeiten war damals ein extrem hartes Brot. Einheimische gaben sich für dieses trostlose Leben unter freiem Himmel selten her. So stellte man als Aufseher für die Schafherden umherziehende Wanderarbeiter ein, die sich in der Fremde ihr Geld verdienten. Eher eine zweifelhafte Corona, wie häufig bei vagabundierenden Leuten. Hartgesotten waren sie und abgebrüht, manche sicher mit so mancher Leiche im Keller. Bezeichnend jedenfalls, dass wir eigentlich nichts über sie wissen. Wir wissen nicht, wie viele da nachts ihre Schafe hüteten vor den Toren von Bethlehem. Kein Hirte wird in der Weihnachtsgeschichte beim Namen genannt. Dabei ist der erste von ihnen, der schließlich den Stall erreicht hat, doch ein Zeuge von welthistorischer Bedeutung, der es wahrlich verdient hätte, mit seinem Namen in die Geschichtsbücher einzugehen!

Wenn ich darüber nachsinne, finde ich es immer wieder erstaunlich und auch ein Zeichen für das Wunderbare, all unser Verstehen Übersteigende dieser Heiligen Nacht, dass diese abgezockten Figuren nicht ihre Ohren nicht auf Durchzug stellen gegenüber dem, was sie da in ihrer Tiefe aus der Höhe zu hören bekommen. Sie lassen sich auf die unglaubliche Mitteilung aus Engelsmund ein. Freilich, und darin sind sie uns Heutigen durchaus nah: ein Stück Skepsis hat den Hirten auch der Engel nicht austreiben können. „Ich glaube nur, was ich sehe“ – dieses Dogma unserer Zeit scheint auch das Motto der Hirten zu sein. Mit eigenen Augen sich überzeugen wollen sie schon, ob da was dran ist. Das wollen wir doch erstmal sehen! Sie machen die Probe aufs Exempel und ziehen los.

Der Engel hat sie dazu nicht aufgefordert. Das kommt aus eigenem Antrieb; ein Sekundeneinfall, der sich wie ein Lauffeuer zwischen ihnen ausbreitet: „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist“! Wer im Ohr hat, wie Bach im Weihnachtsoratorium diesen Ausruf in Töne bringt, in Form einer unruhigen, immer drängender werdenden Chor-Fuge, der hat das so richtig vor sich, was für ein hektisches Gerenne da einsetzt auf dem Feld. Was immer es ist, das die Hirten treibt, bei manchen sicherlich pure Neugier oder Sensationslust: Irgendwie beginnen sie an ihrem Unglauben zu zweifeln und lassen sich auf die Botschaft von der Geburt des Heilands der Welt ein.

Und dann finden sie den Stall mit dem Neugeborenen. Was sie da sehen, ist gar nichts Außergewöhnliches. Ein brüllender Säugling, über ihm die Eltern mit der geburtstypischen Mischung aus Erschöpfung, Glück und Überforderung: das war und ist immer und überall so. Zudem sind die Rahmenbedingungen dieser Geburt ja noch dürftiger als gewöhnlich. Aber für die Hirten ist entscheidend, dass es gerade so ist. „Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“: Gerade diese profane Kläglichkeit von Stall und Futtertrog ist für die Hirten das unwiderlegbare Signal, dass ihnen der Engel nichts vorgemacht hat. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Es ist also kein Opium fürs Hirtenvolk, sondern es ist wahr: Gott ist mitten drin im Alltag der Welt, greifbar und anschaubar.

Und doch ist das alles bis zu diesem entscheidenden Moment erst ein Vorspiel gewesen. Denn die eigentliche, die unverzichtbar wichtige Rolle der Hirten in jener Nacht - die beginnt jetzt erst. „Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war...“: Sie behalten das, was sie gehört und gesehen haben, nicht für sich, als Herrschaftswissen einer elitären Blase. Nein, sie bringen ihr Erlebnis unter die Leute, sie werden zu Lobbyisten des Krippengeschehens. Offenbar waren sie d auch ohne Fernsehen und Internet durchaus erfolgreich. Sonst wären nicht alle Jahre wieder in der Heiligen Nacht die Kirchen so brechend voll.

Fast genauso erstaunlich wie, dass ausgerechnet sie die ersten Zeugen und Ausleger des Weihnachtswunders werden, ist es, dass sie danach keine steile Karriere machen, ihre abgewetzten Feldjacken nicht gegen schicke Designerklamotten eintauschen und von Agenturen unter Vertrag genommen werden. Wäre das alles heute passiert, die Hirten wären vor keiner Einladung zu Lanz und Maischberger sicher gewesen. Stattdessen tauchen sie wieder ins Dunkel der Nacht ein, aus dem sie gekommen waren. Als Menschen aus Fleisch und Blut verlieren sie sich wieder; die Bibel erwähnt sie kein einziges Mal mehr. So teilen sie das Schicksal eines Homer oder Shakespeare, von denen man kaum mehr weiß als dass es sie gegeben hat - aber ihre Spur in Gestalt ihrer Verse bewegt die Welt bis heute. So auch die Spur, die die Hirten durch ihre Kommunikationsarbeit gelegt haben: die hat sich tief und unverlierbar in die Geschichte dieser Welt eingegraben. Sonst stünde nicht noch heute, nach mehr als 2000 Jahren, in der Heiligen Nacht die Welt still.

 

Amen.

 

»Willkommen, süßer Bräutigam!«

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Weihnachten: der große unendliche Gott wird ein kleiner endlicher Mensch. Das ist das denkbar größte, unfasslichste Geheimnis. Unsere gesamte, in diesen Zeiten oft und mit vielen schrägen Tönen beschworene abendländisch-christliche Kultur kommt und lebt aus diesem Geschehen, in dem Himmel und Erde sich nicht nur für einen kurzen, seligen Moment berühren, sondern unauflöslich für alle Zeit miteinander verbinden. Das sprengt alle Möglichkeiten, dieses Wunder mit sprachlichen Mitteln irgendwie zu fassen. Da gilt erst recht: Mehr als Worte sagt ein Lied! So hat Weihnachten wie kein anderes Fest der Christenheit Klänge, Lieder, Kompositionen in unendlicher Fülle hervorgebracht. Und deshalb nehmen wir uns heute am auch besonders viel Zeit und Raum zum Singen - auch mancher Weihnachtslieder, die an Heiligabend und am 1. Christtag kaum gesungen werden, einfach weil sie nicht so populär sind.

I.

Zu diesen gehört auch der eben gesungene Choral „Brich an, du schönes Morgenlicht“. Musikliebhabern ist er wahrscheinlich aus Bachs Weihnachtsoratorium vertraut. Weihnachten, „Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute“! Das heißt: Gott hat unendliches Heimweh nach dieser ihm verloren gegangenen Welt. Heimweh kann nur ein wirklich liebendes Herz empfinden. Gott hat sich in diese Welt hineingeliebt. Sonst gäbe es Weihnachten nicht. In der 2. Strophe von „Brich an, du schönes Morgenlicht“ haben wir gesungen: „Willkommen, süßer Bräutigam, du König aller Ehren!“ Auch hier also, wie vor allem in etlichen Adventsliedern, eine zarte, gefühlige Liebesmetaphorik, um das Kommen Gottes in diese Welt ins Wort zu bringen. Gott wird hier in das Bild des liebenden, aber auch des geliebten Bräutigams gebracht. Biblisch verbinden dieses Bild eher mit dem Ewigkeitssonntag und seinem Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen, die auf den zur Hochzeit kommenden Bräutigam warten. Aber so unweihnachtlich ist das Bild gar nicht, denn es taucht auch in etlichen Arien- und Rezitativtexten in Bachs Weihnachtsoratorium auf.

Dieser Weihnachtschoral will sagen: Das Betrachten der weihnachtlichen Geschichte zieht uns in eine große Liebesgeschichte hinein, in die zwischen Gott mit uns. Wenn Gott hinabsteigt in diese Welt, dann kommt er eben nicht nur als „König aller Königreich“ in seine Schöpfung. Dann will er uns unendlich nahe kommen - wie ein Liebhaber der Geliebten. Ein Liebesstrom beginnt zu fließen und kommt an sein Ziel, wenn - wie es in der 3. Strophe heißt - das Krippenkind die Krippe, „sein“ lässt und in unser „Herz hinein“ eilt. Dort ist der Ort, für den die beherzte Devise gilt: „Komm, komm, ich will beizeiten / dein Lager dir bereiten“. Nicht also, dass Jesus einst zu Bethlehem geboren wurde, ist entscheidend an Weihnachten, sondern dass er in dir, in mir zur Welt kommt. Mit dem berühmten Vers von Johann Scheffler (Angelus Silesius) gesagt: „Wär‘ Christus tausend Mal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir / so bliebst du doch verloren.“

II.

Lob, Preis und Dank, Herr Jesu Christ, / sei dir von mir gesungen, / dass du mein Bruder worden bist / und hast die Welt bezwungen”, heißt es in der letzten Strophe. Gott verwandelt sich vom majestätisch, aber unerreichbar über uns thronenden rätselhaften Weltenlenker zu unserem Bruder. Ganz geerdet und auf Augenhöhe. Warum machen wir uns zu Weihnachten so gerne und viele Geschenke? Den meisten ist das nicht mehr bewusst, aber eigentlich ist es sehr einfach: Wir tun das, weil wir alle, ohne Ausnahme, an Weihnachten das größte Geschenk bekommen haben, das sich denken lässt. Wir haben an Weihnachten einen gemeinsamen Bruder bekommen! Vielleicht ist es uns durch die Jahrzehnte doch haften geblieben, wie das war, als unsere Eltern uns das erste Mal gesagt haben: Du bekommst ein Brüderchen, oder ein Schwesterchen! Ich war drei Jahre alt, als meine Eltern mir das gesagt haben. Und das weiß ich bis heute, was für ein aufregendes Glücksgefühl mich durchströmte, als ich diese Botschaft hörte. Nicht mehr das einzige Kind zu sein, nicht mehr allein im Kinderzimmer spielen zu müssen, sondern einen Bruder zu bekommen: das war das Größte!

Genau das kündigt uns Gott an Weihnachten an: Ihr seid nicht mehr allein auf euch selbst gestellt, ihr bekommt einen Bruder! Im Hebräerbrief heißt es von Jesus: „Er schämte sich nicht, sie alle Brüder und Schwestern zu nennen“ (Hebr 2,11). Und der das von uns sagte, ist ja der, von dem Gott gesagt hat: „Das ist mein lieber Sohn, den ich lieb habe“ (Mt 3,17). Du, Jesus, Sohn der Maria, du gehörst zu mir wie keiner sonst. In dir ist - wie bei mir - nichts als Liebe. Liebe, die nie aufhört, und die vor keinem zurückschreckt. Wenn so einer uns seine Brüder und Schwestern nennt, dann sagt er uns doch: Wir haben alle denselben Vater. Ihr und ich, wir sind miteinander Gottes Kinder. Nach ihm genannt, von ihm geliebt.

Dass Jesus, obwohl er das gar nicht nötig hätte, sich nicht zu gut ist, sich zu uns zu stellen, uns seine Geschwister zu nennen: das ist auch ein Wunder von Weihnachten. Und deshalb ist Weihnachten das größte Geschenk aller Zeiten. Anders als wir schenkt Gott uns nicht etwas, sondern nicht weniger als - sich selbst. Indem er in dem Krippenkind selbst zur Welt kommt, teilt er der ganzen Welt mit: Hier bin ich! Ich wollte nicht mehr länger weit weg von Euch über den Wolken sein - ich hatte solche Sehnsucht nach euch, nach der Welt, das ich einer von euch werden wollte. In der Welt sein wie ihr, glücklich und traurig sein, geboren werden und am Ende sterben wie ihr auch! Ein unglaubliches Geschenk.

Also: dass dieser Jesus, der Sohn Gottes, mich und uns alle seine Brüder und Schwestern nennt, darüber will ich mich an Weihnachten freuen! Jesus unser gemeinsamer Bruder: das verbindet uns mehr als alles andere.

 

Amen.

 

Weihnachtsfreude - Weihnachtsrauer     

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

„Wie in allen protestantischen Städten spielt Weihnachten hier die Hauptrolle in der großen Winterkomödie“ - notiert Heinrich Heine vor gut 200 Jahren aus Berlin. Er schildert, wie die Menschen „wie Schmetterlinge von Laden zu Laden flattern und von einem Geschäft zum nächsten wallfahren, als wären es Passionsstationen.“ 1819? Nein, das ist zeitlos, es könnte auch jetzt 2022 so gesagt sein. Gerade hier in Dresden, dem Epizentrum des „Weihnachtswunderland Sachsen“. Für manche wird dieser Heilige Abend, den wir so anders erleben als alle anderen Abende, vielleicht eher wie eine Passionsstation sein. Etwa so: die Familie unter dem Christbaum, und die Mutter auf der Palme, fix und fertig. Das ist dann die „Bescherung“. Andere haben vor diesem Abend einfach nur Angst. Ihnen graut davor, weil ihnen die Liebe fehlt und sie keine Wärme erwarten können, weil sie in diesem Jahr einen geliebten Menschen verloren haben. Oder weil sie schon lange einsam sind, ohne stabiles Netzwerk. Wieder andere werden an Weihnachten enttäuscht sein, weil sie anderes bekommen als sie erhofft haben, auch jenseits der Geschenke.

Es gibt das eigenartige, bei manchen sehr schmerzende Phänomen der Weihnachtstraurigkeit. Warum gehört Weihnachten für gar nicht so wenige zu den Momenten, vor denen sie am meisten Angst haben? Warum werden in der stillen, der heiligen Nacht mehr Tränen geweint als in jeder anderen? Ein Grund für diese Weihnachtstraurigkeit liegt vielleicht darin, dass das Christfest nach landläufiger Meinung irgendwie Freude verordnet. Wir haben das Gefühl, wir müssen zu Weinachten froh gestimmt sein. Ist es doch das Ereignis, das - wie es in einem Weihnachtslied heißt - „Gott gemacht“ hat, um seine Liebe über uns auszuschütten. Und wir, in unserem komplexen Gemisch aus familiären Ritualen, bürgerlichen Konventionen und dem, was wir noch an Religion haben, fühlen uns irgendwie zur Liebe verpflichtet, die der Ausdruck unserer „Weihnachtsfreude“ sein soll. Diese christlich verordnete Liebe und Freude, die sich alle Jahre wieder als Selbstanspruch vor uns aufbaut: das ist es, was Weihnachten für wache und sensible Menschen manchmal eher zu einer Passionsstation macht. Sie stimmt uns traurig, weil uns Kälte, Unversöhnlichkeit und Trauer um uns her, vielleicht auch ins uns, ans Herz greifen.

I.

Die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist allerweltsbekannt und zugleich ein literarisches Wunderwerk. Weil sie uralt ist und doch nie veraltet, und wir uns in ihren vertrauten wärmenden Klang fallen lassen können. Dieser Weihnachtsgeschichte ist das alles gar nicht fremd. Sie hebt nicht an mit Pauken, Trompeten und dem triumphalen „Jauchzet, frohlocket“ wie das Weihnachtsoratorium. Leise, eher beiläufig erklingt ihr erster Ton: „Es begab sich aber zu der Zeit“. Aber: unauffällig und bescheiden mischt sich die Weihnachtsgeschichte mit diesem Wörtchen in den Lauf der Dinge ein. Es deutet an, es gebe da noch etwas anderes, quer zum Üblichen, zum Gewöhnlichen. Leicht zu übersehen, aber nicht mehr wegzukriegen: „Es begab sich aber…“

Der Kaiser, der seine Provinzen mit eiserner Faust zusammenhält, erfasst seine Untertanen zu Steuerzwecken mit demographischen Mitteln. Ja, so ist es, sagt die heilige Geschichte. Aber - während all dem geschieht noch etwas ganz anderes. - Flüchtlinge, die Schutz vor Hunger, Bomben und Aussichtslosigkeit suchen, finden keinen Viehstall, sie landen, falls sie es lebend übers Mittelmeer geschafft haben, erstmal hinter Stacheldraht. Aber, sagte die heilige Geschichte, in Bethlehem… - Junge Menschen können sich nicht mehr vorstellen, ein Kind in diese aus den Fugen geratene Welt zu bringen, weil sie angesichts der Zukunft nur noch Verzweiflung fühlen. Aber, sagt die heilige Geschichte, Maria gebar, obgleich sie unter dubiosen Umständen in andere solche gekommen war. - Herden brauchen bei uns keine Hirten mehr, Elektrozäune sichern das Vieh. Aber, sagt die heilige Geschichte, „da waren Hirten auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde“. Das gibt es also in dieser Welt, dass Leben in die Hut, in Obhut genommen wird.

Mit ihrem schlichten aber schafft die weihnachtliche Geschichte eine Gegenwelt zu der unseren. So fängt sie an, in uns zu spielen und sich auszubreiten. Sie schafft mit ihren eindringlichen Bildern, ihrem unverwechselbaren Klang eine neue Wirklichkeit in uns.

II.

Nur: spüren wir denn etwas von diesem Neuen, das Weihnachten in diese Welt und in unser Leben bringt? Ist uns wenige Tage nach dem Fest nicht doch wieder vieles so alt und gewohnt wie davor? Unsere Angst, zu kurz zu kommen. Unsere Bitterkeit gegen die, von denen wir uns unfair behandelt fühlen. Unsere Furcht vor dem Neuen, Unerwarteten, was die sog. Zeitenwende dieses Jahres gebracht hat und was tief in unser tägliches Leben reicht. Das Licht der heiligen Nacht ist für manche eher ein Zwielicht geworden, wenn sie den hellen Schein Gottes wie eine Weihnachtskerze anzünden möchten und dabei spüren, wie ausgebrannt sie selber sind. Weihnachten mit seiner Botschaft vom Frieden auf Erden, seiner Aufforderung zum hehren Ideal der Liebe und Freude, das ist für viele ein Anlass, den breiten Graben zwischen Ideal und Wirklichkeit schärfer zu sehen als sonst - auch indem man ihn an sich selber erfährt.

Auch wenn ich als Pfarrer quasi von Berufs wegen zur Zuversicht und an Weihnachten zur Freude verpflichtet bin, aber manchmal sind mir solche Befindlichkeiten nicht fremd. Mir hilft dann der Blick auf die weihnachtliche Geschichte. Das Wunderbare an ihr ist, dass sie so konkret, anschaulich ist, weit weg von aller blutleeren Abstraktion. Sie führt uns vor: Gott bleibt nicht bei einem allgemeinen Ideal von „Mitmenschlichkeit“ und hoher Moral stehen, das die Freude nur verordnen kann und letztlich in die Traurigkeit treibt. Die Botschaft des Engels vom Frieden und Erden und Gottes Wohlgefallen an uns wäre am Ende nur ein theoretisches Prinzip, wenn es nicht vorher heißen würde: „Euch ist heute der Heiland geboren“.

In dieser knappen Mittelung verdichtet sich alles, was Weihnachten unvergleichlich macht, in Freude oder Traurigkeit. Durch den, dessen Geburt wir heute Nacht feiern, wird das mit dem Frieden und dem Wohlgefallen nämlich erst anschaulich, im buchstäblichen Sinn geerdet. Indem deutlich wird, dass sein Ursprung eben nicht auf der Erde, sondern im Himmel ist. Gott kommt als Heiland, d.h. als Retter zu uns. Nicht als Führer, als starker (weißer) Mann, wie das inzwischen für viele so populär ist. Nicht als einer, der top down diktiert, wo es lang geht. Nein Gott kommt - und dann hält er an. Er macht Halt meinem beschädigten Dasein mit seinen Rissen und Brüchen. Er macht Halt an meinem Leben mit allem, was ich schuldig geblieben bin. Er macht Halt, wo ich gnadenlos mit mir selbst umgehe, weil ich mir und anderen nicht vergebe. Gott will heilen, wo wir heillos sind. Du und ich mit unseren unverwechselbaren Namen und Geschichten, wir sind in den Mittelpunkt des Christfestes gestellt. Wegen Dir und mir ist Gott Mensch geworden. Gott sagt uns: Euch, Ihr Christnachtleute 2022, ist heute der Heiland geboren! Ich, Gott, bin euer Geschenk!

III.

Ein Geschenk, wenn es für jemand ist, den wir richtig gern haben, ist eine Zuwendung von Herz zu Herz. In seinem Geschenk, dem Krippenkind, schließt uns Gott vorbehaltlos sein Herz auf und lässt uns sehen, wer er ist, wie er es mir uns meint. Gott ist kein Appell, keine Forderung. Er wendet sich einfach uns zu. Und deshalb konnte es gar nicht anders sein als dass er als Kind sich uns zu sehen gab Denn nur Kinder sind ja zu vorbehaltloser Zuwendung und Hingabe fähig. Deshalb rühren sie uns so an. Ein Kind ist das größte Geschenk, das wir bekommen können. Das ist der eigentliche Grund, weshalb Geschenke zur Weihnacht gehören wie das Amen zur Kirche und die Frauenkirchenkuppel zu Dresden. Die Reverenz, die Gott uns erweist, geben wir im Geschenk weiter an andere. Und so kann ganz überraschend, ganz von außen, die weihnachtliche Freude über uns kommen und uns doch mit sich ziehen.

„Lasset fahrn, o liebe Brüder, / was euch quält, was euch fehlt, / ich bring alles wieder“ (EG 36,5), heißt es in Paul Gerhardts Weihnachtlied, das wir jetzt singen. Etwas fahren, also loslassen: manchmal kann das anstrengender sein als alles Festhalten. Aber wenn es geschafft ist, ist man befreiter. Weihnachten ist jedenfalls eine große Einladung an uns, einfach einmal abzustreifen, loszulassen, was wir an Lasten so durch die letzten Wochen und Monate geschleppt haben - und all das an der Krippe liegen lassen. Wenn wir das hinkriegen, wenigstens ein bisschen, dann wird uns Weihnachten nicht schwer, sondern ein Glück. Das wünsche ich uns allen.

 

Amen.

»Weihnachtsstress«

Geistliches Wort gehalten im Rahmen des Adventsliederdingens von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Die »Geistliche Besinnung« soll heute über ein (prima vista) ziemlich ungeistliches und unbesinnliches Thema gehen: den sog. »Weihnachtsstress«. Ein Wort, das alle Jahre wieder in diesen Wochen vielen, nicht zuletzt uns Pfarrer*innen flott über die Lippen kommt. Dieser elende »Weihnachtsstress«! Aber was ist das eigentlich?

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, und mit ihm all der vorweihnachtliche Zinnober, den wir gerne als »Pervertierung von Weihnachten« brandmarken. In meinen frühen Jahren als Pfarrer, wo man gerne mal nassforsch ist und noch nicht so zu verbaler Abrüstung tendiert, habe ich das auch wortreich getan. Die Lebkuchen schon im Frühherbst, die zu vielen Herrnhuter Sterne über den Fußgängerzonen, das »Stille Nacht«-Gedudel in den Kaufhäusern, das aggressive Gedränge vor den Verkaufstischen, der Geschenke-Overkill: ja, das kann man ohne großen Aufwand locker als »Pervertierung von Weihnachten« brandmarken. Vor 10 Jahren brauste ein ziemlicher Empörungshype durch die Kirche wegen des Werbeslogans einer Elektronik-Kette: »Weihnachten wird unterm Christbaum entschieden«. Dabei wäre dieser Slogan eine prima Steilvorlage gewesen, sich einmal wieder über die tiefere Bedeutung von Weihnachten Gedanken zu machen. Dann hätte man vielleicht entdeckt, dass Weihnachten in einem tiefen Sinn tatsächlich unterm Christbaum entschieden wird – ja wo denn sonst?

Jedenfalls dämmerte mir mit den Jahren: Was sich an Kitsch, Kommerz, Hektik um Advent und Weihnachten herum aufbaut, ist nur oberflächlich betrachtet eine Banalisierung. In Wahrheit ist es eher ein viele Male übertünchter, aber immer noch freilegbarer Abglanz dessen, was der Kern des Christfestes ist. Was wir so schnell als Weihnachtskitsch geißeln, ist Ausdruck unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, Zusammengehören, Angekommensein. Nach all dem also, was in dem großen biblischen Wort Schalom drinsteckt: der Erfahrung des endlich gelingenden Lebens mit Gott und miteinander. Es ist doch gut, dass uns wenigstens einmal im Jahr die Sehnsucht nach der heilen, gelungenen Welt so richtig packt. Deshalb bleiben auch längst erwachsen gewordene Leute mit ihren Kindern zu Weihnachten nicht unter sich, sondern fahren hunderte von Kilometern »nach Hause«, zu den Eltern, um dort die eigene Ur-Heimat zu spüren, die so ganz nie weggeht. Dass wir an Weihnachten nicht genug kriegen können mit der Erfahrung von Harmonie und gegenseitiger Zuwendung, und, ja, auch mit Schenken und Beschenktwerden: dahinter steckt die tiefe Sehnsucht, unser Leben nicht nur selbst meistern zu müssen, sondern auch als das zu erfahren, was es letztlich ist: ein Geschenk. Deshalb lassen wir uns das Häuslichwerden und Miteinander-Feiern so viel an vorheriger Hektik und Erschöpfung kosten. Bis dahin, dass – wie ich mal in der Zeitung las – die Herzinfarkte zu Weihnachten um ein Drittel ansteigen.

Weihnachten ist eben nicht die Flucht vor einer bedrohlichen Welt in ein heuchlerisches Idyll, sondern es ist ein Vorschein der neuen, gelungenen Welt: der Welt, die nicht dem Dunkel und dem Leid ausgeliefert bleibt, sondern in der Wärme, Friede, Licht erfahrbar sind. Nicht umsonst spricht Paul Gerhardt in einem Adventschoral vom »Reich, da Fried und Freude lacht«. Ich meine: in der Hektik, die manchen bis in den Mittag des Heiligabends den Atem nimmt, spiegelt sich eine ferne Ahnung davon, dass Gott mit der Geburt Jesu Christi unsere Welt in Bewegung gebracht hat, dass mit jener Nacht, die wir die Heilige nennen, etwas grundstürzend Neues, noch nie Dagewesenes in diese alte Welt gekommen ist: Wer kann da noch ruhig bleiben??

So atemlos und unruhig diese Tage vor Weihnachten auch sind - wir alle sind in der Situation der Hirten auf dem Feld vor Bethlehem. Mitten in ihren immergleichen Alltag kommt senkrecht von oben die Botschaft von der Geburt Jesu. Daraufhin lassen sie alles stehen und liegen, geraten erst recht in Unruhe: »Und sie kamen eilend«. Bach hat diese Unruhe im Weihnachtsoratorium genial erfasst, in der drängenden, immer hektischer werdenden Chorfuge »Lasset uns nun gehen nach Bethlehem«. Lassen wir uns nicht einreden, Weihnachten könne nur feiern, wer besinnlich gestimmt ist! Ich bin immer irritiert, wenn mir auf den Weihnachtskarten eine »besinnliche Weihnacht« gewünscht wird. Wie auch immer: dieses Fest macht vor keinem halt. Es übt eine unwiderstehliche Kraft aus, und wir alle sind alle Jahre wieder in sein Kraftfeld hineingezogen.

Kurz und treffend gibt, worum es mir geht, eine kleine Geschichte wieder. Sie stammt von dem großen Denker des Christlichen Clive Staples Lewis. Die Geschichte spielt in New York und endet so:

Unser Taxi schaffte in jener Vorweihnachtszeit in 20 Minuten zwei Häuserblocks. »Dieser Weihnachtsverkehr ist eine Katastrophe«, schimpfte Bob. »Er nimmt mir das ganz bisschen Weihnachtsstimmung, das ich habe.« April dagegen war philosophischer. »Es ist unglaublich«, sinnierte sie, »ganz und gar unglaublich. Denk doch bloß: Da ist vor über zweitausend Jahren irgendwo in der palästinischen Wüste, mehr als achttausend Kilometer von hier ein Kind zur Welt gekommen - und das verursacht ein Verkehrschaos auf der Fifth Avenue in Manhattan.«

Ja, das ist wirklich unglaublich. Anders gesagt: Weihnachten ohne Stress, Hektik und blank liegende Nerven (es muss ja nicht gleich ein Herzinfarkt sein): das geht gar nicht. Es wäre wie Dresden ohne Stollen und wie die Kirche ohne Amen.

„Und abermals sage ich: Freuet euch!“

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Eigentlich hat die Adventszeit im Kirchenjahr ja einen stillen, ernsten Charakter. Die Kanzeln und Altäre sind in Lila gekleidet, die kirchliche Farbe der Buße und Selbstbesinnung. In diesem Jahr spüren wir diesen Ernst vielleicht noch stärker als in den vergangenen beiden, durch die Corona-Lockdowns bestimmten Adventszeiten. Da hinein diese steile Aufforderung: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ Wie Worte aus einer anderen Welt, einer sorgloseren Zeit, so klingt dieser Ruf. Wir hören ihn inmitten der bangen Fragen, ob und wie es weitergehen kann im Betrieb, im Laden oder auf dem Hof. Der 4. Advent trägt einen neuen Akzent in den Ernst, wie ein Farbtupfer im Grau, wie ein Kinderlachen, das auf eine leere Straße dringt. Sein Thema ist die Freude. Der 4. Advent öffnet die Räume, damit die Freude einziehen kann.

I.

„Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich euch: Freuet euch. Der Herr ist nahe.“ So schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi, einer Stadt in Nordgriechenland. Den Menschen dort fliegt die Freude nicht zu. Sie leben in einer Situation der Bedrohung. In der noch jungen Gemeinde, die Paulus gegründet hatte, erleben sie Anfeindungen und Isolation von ihrer Umwelt. Intern haben sie harte Konflikte um den richtigen Kurs. Erstaunlich ist auch, dass gerade Paulus sie so eindringlich zur Freude auffordert. Der Mann war ja nicht wirklich für die Leichtigkeit des Seins bekannt. Paulus war eher ein Angefochtener, er hat sehr an seinem apostolischen Dasein getragen. Und noch erstaunlicher ist, dass er in denkbar freudloser Lage zur Freude aufruft: Paulus sitzt in Ephesus im Gefängnis. Er wartet auf den Prozess wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er muss mit dem Schlimmsten, d.h. mit der Todesstrafe rechnen. Die Christen in Philippi auf der anderen Seite des Meeres sind in Unruhe über sein Schicksal. Was Paulus ihnen aus der Zelle schreibt, das atmet eine beeindruckende Gelassenheit. Seine Antwort auf besorgte Nachfragen aus Philippi, wie es ihm geht: „Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten“. Zu Deutsch: Danke der Nachfrage, dem Evangelium geht‘s bestens! Etwas von so einer inneren Freiheit den eigenen Stimmungen gegenüber täte uns gut - kurz vor einem Weihnachten, auf das wir aufgrund der Weltlage mit vielen gemischten Gefühlen zugehen. Da kann man diesen doppelten Imperativ, doch fröhlich zu sein, fast als etwas zynisch empfinden.

Und doch schreibt Paulus so, aus seiner Zelle heraus: „Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich euch: Freuet euch. Der Herr ist nahe.“ Das ist keine Freude, die einem so zufliegt. Es ist eine Trotzdem-Freude. Fast befohlen wird sie, mit doppeltem Imperativ: Freuet euch!

Freut euch - wie hört das der alte Mann, der dieses Jahr seine Frau verloren hat und nun doppelt allein ist. Seine Frau fehlt unendlich, und seine beiden Kinder leben im Ausland und können zu Weihnachten nicht zu ihm reisen.

Freut euch - wie hört das die Pflegerin, der Nacken und Rücken schmerzen, die manchmal still vor sich hin weint, einfach, weil sie so erschöpft ist, weil sie die letzten Kraftreserven zusammentrommeln muss, um den Tag zu überstehen.

Freut euch - wie hört das die Studentin, die nach den ersten Monaten in der noch fremden Unistadt noch keine Freunde gefunden hat und allein durch die festlich geschmückten Straßen geht.

Freut euch - wie hört das der Bürgermeister, der in diesem Jahr völlig erschöpft und mit den Nerven am Ende sein Amt niedergelegt hat, weil er und vor allem seine Familie die vielen Drohungen und Anfeindungen „besorgter Bürger“ nicht mehr aushalten konnten.

Freut euch - wie hört das die junge Frau aus der Ukraine, die es mit ihren Kindern hierher geschafft hat, in Sicherheit ist - aber oft spürt, dass sie nicht willkommen ist und jeden Morgen in Angst aufwacht, ob ihr Mann an der Front, der Vater ihrer Kinder noch am Leben ist.

Freut euch - wie höre ich das, wie hörst Du das, sechs Tage von einem Weihnachten entfernt, das - obwohl wir wieder ungehinderter zusammenkommen können - so überschattet ist von Mega-Krisen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

II.

Paulus, wie gesagt, hat keinen Grund zum Lachen. Aber er spricht von der Freude, unbeirrt. Ein kleines Wort fällt auf: allewege. Das Wort im Griechischen dafür schillert, man kann es auf verschiedene Art übersetzen. „Freut euch allewege“: immer, freut euch in jeder Situation. Oder: Freut euch auf viele Weisen. Freude kann sehr verschieden sein. Laut, aber auch ganz leise. Ganz unterschiedliche Gewänder kann die Freude sich überziehen in verschiedenen Colors of Christmas. Das warme Rot der Erinnerung. Das glänzende Gold des Festes. Das nachdenkliche Lila der Stille. Das zarte Weißrosa eines Wintermorgens. Das frische Grün eines neuen Gedankens.

Die Freude kommt nicht irgendwann, wenn alles wieder gut ist, sondern allewege. Das will sagen: sie ist schon da. Paulus nennt den Grund: „Der Herr ist nahe“. Der Herr kommt, er ist schon ganz nahe und er kommt auch zu dir. Es ist jetzt schon da, was sein wird, worauf du zugehst und was die Bibel Heil nennt. Das ist die Haltung des Paulus. Ich finde sie wieder bei einem anderen Häftling. Auch er sitzt in einer Zelle und schreibt einen Brief, von dem er ahnt, es könnte sein letzter sein. Er richtet ihn an die, die ihm die Nächsten sind: an seine junge Verlobte und an seine alten Eltern. Er schreibt Verse, die - weil ein menschlicher Aufseher den Brief nach außen passieren lässt - weltberühmt geworden sind: „Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Dietrich Bonhoeffer ist der Schöpfer dieser Verse. Auch er spricht von der Freude, die Gott schenken wird: Freude an der Welt und ihrer Sonne Glanz und von der Dankbarkeit, weil jeder Tag ein Tag aus Gottes Hand ist, jeder Weg ein Weg, den Gott mitgeht. Und er sagt noch etwas anderes: Christus geht auch durch die Gefängnisse. Christus geht auch durch die allzu stillen Wohnungen, an den Tischen vorbei, wo manch einer fehlt. Christus geht durch die Alten- und Flüchtlingsheime und durch die Intensivstationen. Christus geht durch die stillen Straßen, durch die Büros, in denen Menschen voller Sorge über Rechnungen sitzen.

III.

Ich sehe die junge Studentin, die von ihrem Weg durch die lange Fußgängerzone in ihr stilles Zimmer zurückkommt und ihr Handy in die Hand nimmt. Welche Botschaft postet sie? „Ich bin neu und allein in dieser Stadt, ich kann nicht nach Hause, geht es anderen auch so?“ Ich denke, wenn Menschen den Mut haben, anderen eine Botschaft zu senden: ich brauche euer Interesse, ich brauche eure Wärme, eure Aufmerksamkeit, dann wird diese Botschaft gehört. Das hat uns dieses Jahr ja auch gelehrt. Es war in vielen kleinen und großen Situationen eben nicht nur das Jahr von Krieg und Gewalt, sondern auch ein Jahr unglaublicher Solidarität und Mitmenschlichkeit.

Ich sehe den Witwer vor mir. Er ist traurig und es gibt Stunden, da übermannt ihn das Alleinsein. Aber inmitten des Schweren sehe ich ihn auch besondere Augenblicke setzen wie Lichtmarken. Vielleicht noch keine Freude, aber etwas Helles. Wenn er die Kerze anzündet am Grab seiner Frau und in der Stille mit ihr spricht. Beim Telefonieren mit seinem Sohn in den USA und beim Schreiben von WhatsApp-Nachrichten an seinen alten Freund. Er ahnt: ich bin doch von guten Mächten treu und still umgeben. Es gibt sie, sie sind da, auch wenn sie heute nicht hier sind.

Ich sehe die Pflegerin vor mir. Sie lehnt an der Wand in einem kurzen Augenblick des Atemholens. Ein Kollege kommt und reicht ihr eine Tasse Kaffee. Eine Tasse Kaffee, das ist für viele Erschöpfte der einzige Moment des Atemholens inmitten der Flut von Aufgaben. Der andere legt ihr die Hand auf die Schulter. Auch er ist total müde. Hilft ja nichts, sagt er. Dem Patienten, um den sie so gerungen haben, geht es heute etwas besser. Es ist nicht umsonst, was ich hier tue, denkt die Schwester in ihre Tasse Kaffee hinein. Es macht einen Unterschied.

Welche Augenblicke der Freude wirst Du sammeln? Welche wirst Du schenken? Es macht einen Unterschied. Es macht einen Unterschied, dass Gott kommt, dass er uns schon ganz nahe ist, dass seine Nähe aufblüht in jedem guten Wort, in jeder Geste der Hilfe, in jeder Aufmerksamkeit, die Menschen einander schenken. Gott kommt; er ist schon ganz nahe; er kommt auch in unsere Sorge und in unsere Ratlosigkeit. Gott kommt und er kommt auch zu Dir. Freue dich! Allewege. „Und abermals sage ich: Freue ich!“

 

Amen.

Ad limina amoris         

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Frühlingsgefühle im Dezember. Blütenträume im Advent. Erotisch flirrende Sprache im Gottesdienst. Intimes Liebesgeflüster in diesem barocken Dom. - Geht’s noch? Ist Helene Fischer zur Frauenkirche unterwegs? Warum dieser ziemlich spezielle Predigttext an einem Adventssonntag?

Eigentlich klingen diese Verse aus dem Hohelied der Liebe ja wunderschön. Zärtlich und zugewandt, voll von Liebe und Leidenschaft. Nur sind wir in der evangelischen Kirche so einen Sound halt nicht gewohnt. Der Protestantismus ist ja eher als herb und sinnenfeindlich beleumundet. Da finden sich Anklänge an sinnliches Begehren, an Erotik noch am ehesten bei manchen Arien-Texten in Bachkantaten. Dabei sollte doch auch in der Kirche Eichendorffs Vierzeiler gelten: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ Das Zauberwort schlechthin, das wirklich in allen Dingen ein Lied erwecken kann, ist natürlich - die Liebe. Und eben sie - und zwar zwischen zwei liebenden Menschen, nicht zwischen Gott und Mensch - ist das große Thema dieses kleinen, aber feinen Buches im Alten Testament, das man zu Recht „Hohelied der Liebe“ nennt.

I.

„Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Sieh doch, dahin ist der Winter, vorbei, vorüber der Regen. Die Blumen sind im Land zu sehen, die Zeit des Singens ist gekommen, und das Gurren der Taube hört man in unserem Land. Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften.“ Liebesgeflüster, Blütenträume, Frühlingsgefühle im Advent! Seltsam. Jedenfalls ist es absolut bemerkenswert, dass diese Liebesdichtung, diese erotische Poesie in der Bibel enthalten ist. Gott ist hier eigentlich kein Thema. Die naheliegende Frage, wie eine so weltliche Liebespoesie einen Platz in der Bibel hat finden können, die kann bis heute keiner beantworten. Man weiß es einfach nicht. Irgendwann war das „Buch Liebe“ drin in der Bibel, geriet das Lied der Lieder in das Buch der Bücher. Und man fragt sich bis heute, was dieses Liebeslied nun mit Gott zu tun hat.

Im Judentum ist es eine Tradition, diese Beziehung zwischen dem Geliebten und seiner Freundin auf die Beziehung zwischen Israel und Jahwe, seinem Gott hin zu deuten. So ist es nicht verwunderlich, dass später die christliche Auslegung sich ähnlich entwickelt hat. Zum Geliebten wurde Christus und die Freundin war die Kirche (das ist die katholische Lesart), oder die Seele des gläubigen Menschen (das ist die protestantische Deutung). Ein mehr oder auch weniger überzeugender Versuch, das Lied der Lieder gleichsam zu taufen, mit ihm von Gott zu reden, obwohl von Gott darin nicht die Rede ist. Auch wenn die heutige Bibelauslegung ganz anders verfährt, finde ich es hier doch hilfreich, uns einmal auf diese Sicht einzulassen. Denn unsere Beziehung zu Gott hat doch auch etwas mit Liebe, Intimität und Sehnsucht zu tun. Wir reden nur nicht davon.

II.

Was sehen wir? „Horch, mein Geliebter! Sieh, da kommt er, springend über die Berge, hüpfend über die Hügel. Einer Gazelle gleicht mein Geliebter oder dem jungen Hirsch. Sieh, da steht er hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.“ Eine junge, ziemlich unsterblich verliebte Frau erzählt mit pochendem Herzen, dass ihr Geliebter auf dem Weg zu ihr ist. Sie kann seine Stimme hören und sie sieht, wie er kraftvoll und leichtfüßig zu ihr eilt. Noch ist sie nicht bei ihm, vielmehr: er noch nicht bei ihr. Er draußen, sie drinnen. Er lockend und werbend, sie sehnsüchtig lauschend. Er draußen am Fenster, sie drinnen hinter dem Gitter. Der Geliebte ist ganz nah - aber er kann nur durch das Fenster zu ihr sprechen. Er ruft sie: Siehe, der Winter ist vorbei! Sie hört es, aber sie bleibt noch da, wo man eben bleibt, wenn es Winter ist: im Haus. Sie ist noch nicht da, wo das Leben blüht. Und er, der schon da ist, ruft: Komm!

In unseren Adventsliedern ist das spiegelverkehrt. Da sind wir diejenigen, die immer wieder sagen: Komm! „Nun komm, der Heiden Heiland.“ - „Komm, o mein Heiland Jesu Christ.“ - „O komm, o komm, du Morgenstern.“ Advent heißt für uns: Wir warten im Dunkeln. Wir spüren schmerzlich, dass wir nichts von Gott sehen, wir sehnen uns danach, etwas zu spüren, zu erfahren von ihm. Und sowieso bitten wir ja in jedem Gottesdienst: Dein Reich komme.

Und hier jetzt: Das Bild eines Liebenden, der es eilig hat, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es junge Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch eilt er zu ihr. Still steht er erst vor dem Haus der Freundin, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Er bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon immer ihr Ort war. Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Seine Gegenwart, der Umriss seines Gesichts hinter der Scheibe durchdringt alles. Nun lockt er sie heraus aus dem trauten Heim in die Freiheit der Liebe. Aus der introvertierten Häuslichkeit des Winters, wo alles auf Standby runtergefahren ist, hinaus in die Weite und Lebendigkeit des anbrechenden Frühlings. Wir können das deuten als ein irdisches, menschliches Bild für Gottes Sehnsucht nach uns Menschen, nach einer liebenden, erfüllten Beziehung zwischen ihm und uns. Er ist ja längst zu uns geeilt. Er ist zur Welt gekommen im Krippenkind - auf dieses Wunder aller Wunder versuchen wir uns in diesen Wochen wieder einzustellen. „Wie soll ich dich empfangen, und wie begegn‘ ich dir“: Er weiß besser als wir, was wir brauchen, um ihn angemessen zu empfangen. Deshalb ruft er uns aus dem Haus, aus dem, was uns Sicherheit, aber auch Einschränkung bedeutet, hinaus ins Offene und wirbt um unser Vertrauen.

Eine Szene, so richtig Leben pur. Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, zu Pferd, mit dem Fahrrad, dem Mofa, mit der ersten Karre. Kommt und steht vor meiner Tür, mit windzerzausten Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will nur zu mir. Und der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. „Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!“

III.

Ein Lied vom Frühling und von der Liebe. Und eben doch auch ein Lied von Gott. Dass Gott die Liebe ist, das haben wir unzählige Male gehört. Vielleicht so oft, dass wir es gar nicht mehr richtig hören, ermessen können, was das eigentlich für eine ungeheuerliche Aussage über Gott ist. Aber so wie hier habe ich es noch nicht gehört, das von Gott und der Liebe. Dass Gott Liebe ist: das habe ich noch nie im Bild einer flirrend frühlingshaften Liebe verstanden. Sondern mehr wie eine „reife“, aber nicht mehr von glühend sinnlicher Anziehung befeuerte Liebe nach langen gemeinsamen Jahren: Ich kenne dich gut. Ich bleibe bei dir. Zu mir kannst du immer zurückkommen. Aber Gott als Liebhaber, der es nicht erwarten kann bei mir zu sein und der mich ruft: Steh auf, meine Schöne, und komm: Das sind doch andere Wünsche. Nebenbei bemerkt, nicht nur weibliche, auch wenn das Hohelied noch nichts von Gendergerechtigkeit weiß und die Rollen klassisch verteilt sind. Steh auf, meine Schöne und komm! Dass das eine*r zu mir sagt und es wirklich so meint! Dass der Frühling wiederkommt, wo schon so lange Winter ist und das Leben so graubraun und stumpf aussieht wie das Gras Anfang März. Das sind andere Wünsche. Und warum sollen sie nicht erlaubt sein, wenn es um Gott geht - der doch auch die erotische Liebe geschaffen hat?

Und die leidenschaftlich Liebende aus unserem Text kommt ihrem Geliebten entgegen und öffnet ihm. Nicht nur die Tür. Vor allem ihr Herz. „Komm, o mein Heiland, Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist“, singen wir zum Advent. Ja, Gott ist da, und natürlich können wir ihm vertrauen und immer zu ihm kommen wie zu unserem Partner nach langen gemeinsamen Jahren. Aber er kommt eben auch zu uns, wie ein Geliebter, wie ein junger, schöner Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei mir sein will, nur bei mir. Martin Luther hat diesen Satz aus dem Hohelied auf Gott bezogen. Er schreibt dazu: „Unter den Leiden, die uns von Gott scheiden wollen wie eine Wand, ja wie eine Mauer, steht er verborgen und sieht doch auf mich und verlässt mich nicht. Denn Gott steht und ist immer bereit zu helfen, und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt er sich sehen.“

IV.

An der Stelle kann ich mich fragen: In welchem Haus sitze ich? Welche Wand steht jetzt zwischen Gott und mir? Aus welchem Gefängnis versucht er, mich herauszuholen? In welchem Winter stecke ich noch drin? Vielleicht ist etwas in mir festgefroren durch Schmerz und Verlust. Vielleicht ist Winter in meiner Seele, weil jemand gestorben ist, der mir wichtig war, weil eine Liebe zerbrochen, weil mir etwas Wichtiges versagt geblieben ist. Für eine neue, intensive Beziehung zu Gott, für Gefühle und Leidenschaft fehlt die Kraft. Vielleicht ist aber auch gar nichts Dramatisches passiert, sondern ich bin einfach nur eingehaust in einer Routine des Lebens, die gut läuft, aber ohne Ausschläge. Alles gut eingespielt, berechenbar, erwartbar. - Vielleicht steht zwischen mir und Gott aber auch eine Wand des Misstrauens. Vielleicht habe ich etwas erleiden müssen, bei dem ich mich von Gott im Stich gelassen fühlte. Das soll mir nicht nochmal passieren! Besser Gott nicht mehr an mich heran lassen, mich nicht mehr auf ihn verlassen. Sein Wort höre ich allenfalls durch vergitterte Fenster, in schönen Konzerten vielleicht, oder geistvoll-kultivierten Predigten. Aber mein Herz, meine Seele bleiben unter Kontrolle und geschützt.

Ja, liebe Gemeinde, Advent kann auch das heißen: Sehen, spüren, wo noch Winter ist. Sehen, spüren, wo die Wand ist. Erkennen, was uns von Gott fernhält, oder was ihn von uns fernhält, und sich dem stellen. Heute hören wir zärtliche, sehnsüchtige Worte. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her. Versuchen wir zumindest, sie als Gottes Worte zu hören. Als das Werben des großen Liebhabers um jede und jeden von uns. Und antworten wir darauf, wie wir es jetzt eben können.

 

Amen.

Memento mori

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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„Denen die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein. (…) Dennoch bleibst du auch im Leide / Jesu, meine Freude“ - haben wir gerade in der Schlussstrophe von Bachs Motette gehört. Eine unendlich schöne Musik - ein irrsinnig steiles Wording. Wem heute die Seele zentnerschwer ist vor Betrüben, weil er/sie in diesem Jahr den geliebten Partner hat loslassen müssen, und ihn doch schier nicht loslassen will und kann: dem muss so eine Aussage scheinbar unerschütterlicher Glaubenszuversicht doch im Hals steckenbleiben! Oder?

Heute ist Totensonntag. In der Sache treffender, aber womöglich weiter weg von dem, was viele Menschen heute empfinden, nennen wir ihn inzwischen Ewigkeitssonntag. In den Gottesdiensten an diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr stehen die sog. „Letzten Dinge“ im Mittelpunkt. Es geht darum, dass das Leben endlich ist. Der 90. Psalm, der Bibeltext, der wie kein anderer die Vergänglichkeit alles Geschaffenen umkreist, macht die berühmte Aussage: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Mit unseren Worten: Lass nicht zu, dass wir den Gedanken an unseren Tod oft so gekonnt verdrängen; gib, dass wir ihm standhalten und Raum geben. An Wissen fehlt es ja nicht. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen. Nichts wird in der Zeitung aufmerksamer studiert als die täglichen Anzeigen, die uns vor Augen führen, dass keiner vor dem Tod sicher ist. Wir wissen, dass niemand von uns seinem Leben, wie es in der Bibel heißt, „eine Elle zusetzen“ kann.

Aber wissen, dass wir sterben müssen, und bedenken, dass wir sterben müssen: das ist nicht dasselbe. Wir sind immer wieder in der Gefahr, das Wissen zu verdrängen - damit es nicht zu einem Bedenken, dass wir sterben müssen, kommt. Wir versuchen immer wieder, unser alltägliches Leben so einzurichten, als gebe es den Tod nicht. Aber: „Der Tod ist groß / Wir sind die Seinen, / Lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Mit diesen sechs Zeilen, großartig in ihrer elementaren Lakonik, bringt Rilke auf den poetischen Punkt, dass wir dem Tod kein Schnippchen schlagen können.

Mors certa, hora incerta: so stand es früher oft auf Wanduhren geschrieben. Der Tod ist sicher, nur kennen wir seine Zeit nicht. Früheren Generationen war diese Einsicht noch selbstverständlich. In der Barockzeit standen in vielen Studierstuben sog. „Wendeköpfe“ auf den Schreibtischen. Das waren kleine Plastiken von wenigen Zentimetern Höhe: auf der Kehrseite eines blühenden Menschengesichts fand sich ein grinsender Totenschädel: zur ständigen Erinnerung an den künftigen Zustand eigener Verwesung. Darin sprach sich keineswegs eine bizarre Todessehnsucht aus, sondern es sollte zur Meditation des Memento mori helfen: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“…

In einem alten Lied gab es die Bitte: „Bewahre uns vor bösem, schnellen Tod“. So war das einmal: da wurde der schnelle Tod als der böse Tod angesehen - weil er uns keine Chance lässt, unser Haus zu bestellen und uns aufs Sterben vorzubereiten. In dieser Hinsicht waren die früheren Zeiten wohl wirklich die besseren. Heute ist es umgekehrt. Im berühmten Proust-Fragebogen der FAZ gab es die Frage: „Wie möchten Sie sterben?“ Die meisten haben etwa so geantwortet: „Schnell, schmerzlos und aus dem vollen Leben heraus.“ Es fragt sich, ob wir diese Einstellung zum Tod nicht mit einem hohen Preis für unser Leben bezahlen.

Ich schließe mit Worten des berühmten Hamburger Theologen Helmut Thielicke. Seine Autobiographie mit dem Titel „Zu Gast auf einem schönen Stern“ hat er mit diesen Sätzen beschlossen:

„Warum wage ich es trotzdem, diese gefährdete Erde als schönen Stern zu rühmen und mich ihrer Gastfreundschaft zu freuen? Immer wieder, wenn der Blick sich in die verhangene Zukunft bohren will, denke ich an das Wort, das Gott nach der Sintflut-Katastrophe über unsere Erde gesprochen hat: ‚Wenn es denn kommt, dass man Wetterwolken über die Erde führe, dann soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.‘ Dieser Bogen soll Zeichen einer Zuwendung sein, die uns durch alle Zeiten treu bleibt. Ich habe ihn in meinem Leben immer wieder gesehen - jedenfalls dann, wenn ich aufhörte, monoman ins Dunkel zu starren und meine Augen erhob, um ihn zu suchen. Ja, mir ist noch keine Finsternis begegnet, über der er nicht leuchtete und kein noch so dunkles Tal, wo mich nicht einige Grüße Gottes erreicht hätten.

Nur um dieses leuchtenden Bogens willen rühme ich unsere Erde als schönen Stern und gehe dem Kommenden getrost entgegen. Wir sind freilich nur Gäste auf diesem schönen Stern. Bewohner auf Abruf mit versiegelter Order, in der Tag und Stunde des Aufbruchs verzeichnet sind. (...) Doch als Christen sind wir gewiss, dass die uns zugemessene Lebenszeit nur die Adventszeit einer noch größeren Erfüllung ist. Das Land, in das wir einmal gerufen werden, ist ein unbekanntes, ja unvorstellbares Land. Nur eine Stimme gibt es, die wir wiedererkennen werden, weil sie uns hier schon vertraut war: die Stimme des guten Hirten.“

Soweit Helmut Thielicke. Ich füge hinzu: Nur wegen dieses einen Grundes, wegen der Hoffnung, die uns schon vertraute Stimme Jesu dann wieder zu hören, noch einmal ganz anders, viel klarer, tiefer, wohltuender: nur deshalb kann man es wagen, zu singen und zu sagen: „Denen, die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein.“

 

Amen.

Gott ist unvergesslich

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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I.

Eberhard malte Tiere. Er ertappte sich dabei, dass er sich die Zunge zwischen die Zähne geschoben hatte wie ein Nerd in der Schule bei einer kniffligen Matheaufgabe. Auch das Lachen, das in ihm aufstieg, war jung. Er hatte sich schon lange auf den Besuch der Familie seines Sohnes gefreut. Sie wohnten weit weg, ihre Besuche waren so selten, dass Eberhard jeden Moment auskostete. Pauline, die große Enkelin, saß am Tisch und versuchte sich am Kreuzworträtsel der Tageszeitung. Die kleine Marie saß auf seinem Schoß und klatschte begeistert in die Hände, wenn sie wieder ein Tier erraten hatte. „Noch eins“, juchzte sie. Eberhard malte einen Pinguin. Er zog ihm gerade seinen Frack an, als Marie rief: „Pinguin, ein Pinguin!“ und auf seinem Schoß wie ein Gummiball auf und ab hüpfte. Eberhard lachte mit; das Lachen flutete den Raum.

Irgendwann schweifte Marie ab und sah ihren Opa nachdenklich an. Die kleine Stirn legte sich in Falten. „Du bist doch der Papa vom Papa.“ Eberhard nickte. „Und wo ist dein Papa?“, fragte Marie ernsthaft. Darauf war Eberhard nicht vorbereitet, die Frage traf ihn ungebremst ins Herz. Pauline sah von ihrem Rätsel auf und neugierig zum Opa rüber. „Mein Papa ist schon lange tot“, sagte er zögernd. Maries Blick trübte sich ein. „War er alt und krank?“ Eberhard schüttelte den Kopf. „Nein, er war noch ganz jung. Vor langer Zeit gab es einen schlimmen Krieg. Da haben die Menschen in ganz Europa gegeneinander gekämpft. Und da ist mein Papa gestorben.“ Eberhard fröstelte. „Mein Papa“ - wie lange hatte er das nicht mehr gesagt und noch nicht mal gedacht. Jetzt klang ihm das fast wie aus einer fremden Sprache. „Erster oder zweiter Weltkrieg?“, hakte Pauline nach. Sie war wirklich schon groß. „Zweiter“, sagte Eberhard. „Gehst du manchmal zu seinem Grab? Wir gehen immer zu Oma Ellis Grab, wenn wir in Köln sind“, sagte Pauline. „Dann zünden wir eine Kerze an. Mama muss dann manchmal weinen.“ Eberhard schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß nicht mal, wo das ist, sein Grab. Es ist ganz weit weg.“ - Die Kinder fragten nicht weiter. Pauline beugte sich erneut über das Kreuzworträtsel. Marie verlangte nach noch einem Tier. Eberhard malte weiter.

II.

Später, nach dem Kaffeetrinken, zog Eberhard aus dem Korb die Zeitungen der letzten Tage hervor. Er wusste noch, dass er irgendwann in den letzten Tagen die Anzeige dort gesehen hatte. Er musste nicht lange suchen. Die Anzeige zeigte ein fragendes Kindergesicht. Wo ist mein Uropa, wollte das Mädchen wissen. Darunter stand ein Hinweis auf die Online-Suche der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Eberhard nahm die Zeitung, ging leise die Treppe runter in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Er tippte die Adresse ein und sah zu, wie sich die Seite der Kriegsgräberfürsorge vor ihm auffächerte. „In unserer Online-Suche können Sie nach dem Verbleib bzw. der Grabstätte Ihres Angehörigen forschen“, las er dort. Er klickte das Feld Onlinesuche an und gab Namen und Geburtstag seines Vaters ein. Dann tippte er sich mühsam durch eine Reihe von Fragen zu seiner eigenen Person und wartete auf das Ergebnis der Suche.

Schon lange hatte er nur selten noch an seinen Vater gedacht. Flüchtig waren die Erinnerungen an ihn; manchmal kehrten sie nachts im Schlaf wieder, Traumschatten. Ein großer Mann in Wehrmachtsuniform, der ihn hochhebt und in die Luft wirft. Ähnlich sehe er ihm, das hatten die Mutter wie die Oma oft gesagt. Manchmal versuchte Eberhard in seinem Spiegelbild Züge des verlorenen Vaters wieder zu finden. Irgendwo da musste er doch sein, im Blick seiner Augen oder in der Art, wie er die Stirn runzelte oder lächelte. Eberhards Hand lag auf der Maus, er starrte sie an. Sie verwandelte sich in eine schmale Bubenhand. Da, wo die Narbe war, sah er das Blut herausschießen. Beim Holzspalten hatte er sich mit neun Jahren die Axt in den Handrücken gehauen. Nicht tief zum Glück, aber das Blut strömte nur so. Er sah das Gesicht seiner Mutter, weiß vor Schreck, und hörte ihr verzweifeltes: „Ach, wenn doch der Papa hier wäre!“ Aber er war nicht da. Auch mit diesem Moment musste sie alleine klarkommen. Sie wussten, dass er tot war. Der Feldpostbrief mit der Mitteilung, dass der Vater den „Heldentod“, wie das damals hieß, gestorben war, war schnell gekommen. Und doch war es Eberhard viele Jahre lang, als müsse er auf ihn warten. Glühend beneidete er seinen Klassenkameraden Götz, dessen Vater drei Jahre nach Kriegsende heimgekommen war. Abgemagert, mit erloschenen Augen und mit einem Gesicht, das kein Lachen oder Leuchten mehr trug. Aber er war da, und das schien Eberhard das Wichtigste. Im Jahr darauf bekam Götz ein Schwesterchen, und auch darum beneidete Eberhard ihn. Wie schön musste es sein, eine kleine Schwester zu haben, die man beschützen konnte. Als Eberhard aufs Gymnasium kam, was seine Mutter gar nicht gewollt hatte, aber nach beharrlichem Zureden ihres Pastors ihm ermöglichte, verloren sie sich aus den Augen. Was wohl aus Götz geworden war?

Er zwang seinen Blick wieder auf den Bildschirm und stellte verblüfft fest, dass da wirklich ein Ergebnis stand. Wie lange mochte schon bekannt sein, wo seines Vaters Grab lag, ohne dass er es wusste? In den ersten Nachkriegsjahren hatte seine Mutter oft beim Roten Kreuz nachgefragt, ob man etwas wisse über das Grab ihres Mannes, aber nie war etwas dabei herausgekommen. Irgendwann hatten die Alltagssorgen als Witwe und Mutter die Frage erlöschen lassen. Eberhard las den Namen seines Vaters, das Geburtsdatum, den Dienstgrad, Obergefreiter, und das Datum des Tages, an dem er gefallen war: 17. Januar 1945. Ja, es war bitterkalt gewesen, als die Nachricht eintraf. Er sah das Bild wieder vor sich: die Mutter mit erloschenem Blick am Küchentisch. Sie weinte nicht, und darum weinte Eberhard auch nicht, obwohl er gerne geweint hätte. Manchmal hörte er nachts durch die dünne Wand ihr Schluchzen. Später hatte er es sich gefragt, warum er nicht hinübergegangen war, um die Mutter zu trösten. Aber damals hatte er keinen Trost und keine Worte, die er ihr hätte geben können. Jetzt spürte Eberhard, wie das Elend dieses Winters vor 77 Jahren in ihm aufstieg, das über so viele Jahre in einer Seelenkammer zugeschlossen war. Seine Augen huschten über die dürren Daten: Nowowolynsk, nahe Lemberg, westliche Ukraine. Merkwürdig, dachte er: sie hatten immer gesagt, dass er „in Russland“ gefallen war. Dabei war es ja in der Ukraine gewesen. Und zum ersten Mal stieg in ihm die Frage auf, ob der Vater wohl in „schlimme Dinge“ verstrickt gewesen war. Es war ja viel ans Tageslicht gekommen in den letzten 20 Jahren über die furchtbaren Verbrechen der Deutschen im Osten, bei denen eben auch die Wehrmacht mitgemacht hatte. Er konnte weiter klicken, um Bilder des Soldatenfriedhofs anzuschauen. Ein weites großes Feld, Wege aus Kieselsteinen, viele Kreuze und ein hoher blassblauer Himmel. Und kein einziger Baum, dachte Eberhard, noch nicht mal ein Baum. Dann wurden seine Augen feucht. Er war wieder ein Kind, und ein paar Kindertränen rollten über sein Gesicht.

III.

Leise Schritte kamen die Treppe runter. Hanna stand in der Tür, eine Tasse Tee in der Hand. Sie stellte sie auf dem Tisch ab, sah Eberhard an und dann die Fotos, die der Bildschirm zeigte. Sie schwieg, legte nur ihre Hand auf seine Schulter. Eberhard war seiner Frau dankbar, dass sie nichts sagte. Manchmal in den letzten Jahren hatte er sich gefragt, ob sie sich fremd geworden seien. Aber jetzt spürte er, dass das gar nicht so war. Sie war ihm noch immer nah, las seine Gedanken und verstand ihn. Ein paar Augenblicke war es ganz still und gut zwischen ihnen, und Eberhard fühlte, dass etwas wie Trost durch sein Herz flatterte, wie ein aufgescheuchter Vogel.

Leise ging Hanna wieder nach oben, und Eberhards Blick kehrte zum Soldatenfriedhof zurück. Dort also war die letzte Ruhestätte seines Vaters. 29 war er, als er gestorben war, in einem Krieg, in den er wie die meisten damals ohne die Begeisterung von 1914, aber doch mit einem Gefühl gezogen war, dass er wohl sein musste. Die Nazis hatte der Vater nicht gemocht, daran erinnerte sich Eberhard noch. Aber er hatte geglaubt, es sei richtig, die gottlosen Bolschewisten zu bekämpfen, wie das damals hieß. Vor denen hatten alle Angst. Später hatte die Mutter ihm erzählt, dass der Vater bis zuletzt in seinen Briefen von der Front fast beschwörend die Hoffnung auf den Sieg hochgehalten hatte. Eberhard war jetzt 83. So viele Jahre, die der Vater nicht mehr hatte leben dürfen. So viele zu Asche gewordene Pläne. Kein Tod mit einem Grab, zu dem Kinder und Enkel kommen und weinen konnten und über dem sich ein Baum wölbte als Schatten und Schutz. Ein Vers des Dichters Rilke ging Eberhard durch den Kopf: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ Wieder lief eine einsame Träne über sein Gesicht. Hatte sein Vater einen solchen „eignen Tod“ gehabt?

Da, wo die Kieswege sich kreuzten, entdeckte Eberhard auf dem Bildschirm eine Stele, die hoch in den Himmel aufragte. Er zoomte näher. Fremde Schriftzeichen füllten die Stele, Kyrillisch wohl, doch dann vertraute Schriftzüge auf Englisch und Deutsch: „Gott vergisst nicht“, war da zu lesen. Im ersten Moment las Eberhard die Worte wie einen Vorwurf, aber dann schob er den Vorwurf weit weg. Er hatte ja auch nicht vergessen. Es war alles noch da, die Erinnerungen, die Trauer und auch die Liebe für diesen Vater, den er viel zu wenig kennengelernt hatte. Die Trauer um die Geschwister, die er nicht hatte haben können. Das Mitgefühl für die Mutter, die es so schwer gehabt und nie mehr geheiratet hatte. Und die sich doch kaum je etwas anmerken ließ. Die all Ihren Kummer in sich verschloss, auf ihre stille Art heiter wirkte und ihm das ermöglicht hatte, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt. Ganz plötzlich, mit Mitte 70, hatte sie scheinbar aus dem Nichts eine schwere Altersdepression bekommen. Mitten in jener schweren Zeit war sie gestorben, eines Morgens wachte sie einfach nicht mehr auf. Gott vergisst nicht. Sanft wie ein Windhauch war ihm dieses Wort jetzt, als eine Ahnung von Trost. Wie gut, dass es da noch einen gab, der nicht vergisst, der alle Erinnerungen festhält, dachte Eberhard, die glücklichen wie die schrecklichen. Auf einmal fühlte er sich diesem Gott auf eine merkwürdige Weise nah. Er hatte eigentlich immer ein rationales, distanziertes Verhältnis zum Glauben gehabt und ging nur an den hohen Feiertagen zur Kirche. Aber jetzt wusste er. Und verstand. Gott vergaß nicht.

Das Lachen von Pauline und Marie drang vom Garten her zu ihm. Er hörte die Stimme seines Sohnes dazwischen und dachte erstaunt, wie vieles es gab, was er ihm noch erzählen wollte. Dann ging er nach draußen in die Sonne.
„Sammle meine Tränen in deinen Krug, ohne Zweifel, du zählst sie alle.“


AMEN.

Gott und die Kirche: nicht zu verwechseln !

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Martin Luther liebte bekanntlich die Bibel. Am meisten in ihr liebte er die Psalmen. Und unter denen liebte er über alles den 46. Psalm, den wir eingangs gebetet haben. Er wurde zum Psalm des Reformationstages: weil er mit großer sprachlicher Kraft und eindrücklichen Bildern entfaltet, dass keine Kirche, kein Heiliger und kein noch so beeindruckender Mensch uns die Freiheit eines Christenmenschen bringt, sondern allein Gott selbst.

I.

Schon mit dem ersten Vers dringt der Psalm zum Kern vor, worum es Luther immer gegangen ist: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Es folgt eine Selbstaussage: „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge, wenngleich das Meer wütete und von seinem Ungestüm die Berge mitten ins Meer sänken.“ Starke Bilder. Aber glauben wir das noch? So vieles schiebt sich vor unseren Augen gegen solche Furchtlosigkeit. Dass „die Berge mitten ins Meer sinken“: das ist, etwa auf den Malediven im Indischen Ozean, inzwischen nicht mehr nur ein Bild, sondern schon Realität. Und davor fürchten wir uns. Zu Recht. Zum Fürchten gibt es ja überhaupt mehr als genug Gründe für uns. Von alten Menschen höre ich zurzeit oft, dass sie bis in den Krieg zurückdenken müssen, um zu erinnern, wann es so umdunkelt war zur Zeit. Klimawandel, Pandemie, Krieg, Inflation, Energieknappheit - fünf weltumspannende Krisen, von denen schon jede einzelne die Politik rund um die Uhr in Anspruch nehmen kann. Manchmal frage ich mich: Woher können unsere politisch Verantwortlichen, von Kanzleramt bis zum Dorfrathaus, die Kraft nehmen, diese Mega-Herausforderungen zu bewältigen? Und das, wo sie oft mehr Hass und Verachtung als Verständnis und Unterstützung ernten?

 

Auch Martin Luther hat sich vielfach gefürchtet. Der 46. Psalm mit seinen kraftvollen Bildern über Gottes Stärke und Schutz war ihm ein Zufluchtstext. Es ärgerte ihn, dass für die nun endlich in deutscher Sprache gefeierten Gottesdienste keine für die Leute singbaren Psalmen vorlagen. Die gab es nur auf Latein, was die meisten nicht verstanden. So machte er sich mit Mitarbeitern daran, die Psalmen nachzudichten und sie singbar zu machen. Zu Luthers vielen Begabungen gehörte auch, dass er ein begnadeter Liedermacher war. Es war wahrscheinlich 1527, dass er den 46. Psalm zu dem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ vertont hat - neben „Vom Himmel hoch“ sein berühmtestes Lied. Damals durchlebte Luther für ihn beängstigende Tiefpunkte. Bis dahin mit robuster Gesundheit gesegnet, trafen ihn 1527 diverse Krankheiten. Mehrfach streckten ihn unerklärliche Ohnmachtsanfälle nieder. Einmal war er überzeugt, seine letzte Stunde sei gekommen. Er verabschiedete sich von Frau und Sohn, und legte ein erschüttertes Schuldbekenntnis ab. Er rappelte sich dann wieder auf - das Gefühl aber, an der Schwelle des Todes gestanden zu sein, schüttelte den 42 Jahre alten Luther durch. Zugleich bricht in Wittenberg die Pest aus. Viele verlassen die Stadt. Dazu kommt eine veränderte Stimmung. Bekam die Reformation zunächst breite öffentliche Zustimmung, so war diese Sympathie durch die Bauernkriege und Luthers einseitig-scharfe Positionierung gegen die Bauern und für die Fürsten weggebrochen. Die reformatorische Bewegung drohte sich zu spalten. Es wurde einsamer um die „Wittenbergisch Nachtigall“.

II.

Gegen diese für ihn existentiellen Erschütterungen schafft Luther ein Vertrauenslied. „Ein feste Burg ist unser Gott…, / er hilft uns frei aus aller Not“. Dieses Lied hatte immer eine besondere Kraft, wenn Ohnmacht und Verzweiflung um die Ecke lauerten. Etwa zur Zeit des sog. Kirchenkampfs im „Dritten Reich“. Da wurde es zum Protestlied. In den Gottesdiensten der Bekennenden Kirche wurde es oft gesungen, meist stehend. Viele sahen damals das Böse in die Kirche eindringen. Sahen Menschen, die, vom braunen Zeitgeist verwirrt, nicht mehr wussten, was sie glauben sollten. Da ging von diesem Lied Orientierung und Halt aus. Gesungen wurde es aber auch schon im 30jährigen Krieg, oder noch früher in den Zeiten der Bedrohung durch die Gegenreformation, oder bei Hunger und Pest. Martin Luther wollte mit ihm eine Art Schutz- und Trutzlied des Glaubens schaffen: gut und tröstlich zu singen für alle, die sich müde und hoffnungsleer fühlen.

Psalm 46 nennt Gott „eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Eigentlich steht dort das Wort „Zuflucht“. Gott ist unsere Zuflucht. Eine Zuflucht ist ein Ort, wohin ich fliehen kann, wenn ich akut bedroht bin und mich nicht selbst schützen kann. Wo ich an Leib und Leben sicher bin. Etwa wenn Krieg kommt, wenn geschossen wird und Raketen einschlagen. Wir erleben das seit neun Monaten konkret: Europas Länder werden zur Zuflucht für die Menschen aus der Ukraine. Als ich vor 44 Jahren erstmals in Israel war, fiel mir auf, dass dort an vielen Unterführungen und Brücken Schilder standen mit der Aufschrift: „Shelter“. Das war der Hinweis: Wenn hier die Fetzen fliegen, kann man dort Schutz suchen und finden.

Gott als unsere Zuversicht und Stärke, als feste Burg für gequälte Menschen: Wenn das für uns wahr werden soll, dann müssen wir diesen alten Choral aber anders singen als unsere Vorfahren. Man hat diesen Choral zu lange zu laut gesungen. Man hat ihn nur zu gern als deutschnational-protestantische Kampfhymne angestimmt. Gegen Rom zuerst, und dann gleich noch gegen den Rest der Welt. Bis dann kam, was so wohl kommen musste: Viele deutsche Protestanten konnten das Reich, das uns doch bleiben muss, von einem anderen Reich, dem sog. „Tausendjährigen“ nicht mehr richtig unterscheiden. Als es dann vor 77 Jahren nichts mehr zu verwechseln gab, als das „Großdeutsche Reich“ in Trümmern lag, und in ihm auch diese Kirche, da war man der hohen Töne müde. Wollte nichts mehr hören von einem Gott, der mit Wehr und Waffen verglichen wird. Wir sind zu Recht misstrauisch gegen eine Frömmigkeit, die nicht nur den eigenen Leib, sondern dazu auch noch Gut, Ehr, Kind und Weib einfach so dahinfahren lässt, wie es in der Schlussstrophe heißt, die heute viele als eine nicht mehr erträgliche Zumutung empfinden. Kurzum: die evangelischen Christen haben kein einfaches Verhältnis zu ihrem alten Reformationslied.

III.

Das müsste aber nicht sein. Denn eigentlich sollten es alle Christen statt gegeneinander miteinander singen. Denn unser Gott wird ja hier als feste Burg besungen - nicht die (protestantische) Kirche! Zu früheren Zeiten, vor allem in Preußen, wo sie bis 1919 Staatskirche war, hat sie sich wohl gerne so gesehen: als eine Burg, stolz und kühn in der Landschaft stehend, mit ihren Türmen, Mauern und Schießscharten. Die Pracht und Überwältigungsarchitektur unserer Frauenkirche kann ja auch zu Fantasien von einer einflussreichen Kirche verführen. Aber so eine Burg wird in diesem Lied eben nicht besungen. Und die evangelische Kirche tut gut daran, sich nicht mit einem Bauwerk zu vergleichen, das als Denkmal vergangener Epochen in unsere Zeit hineinragt. Ein Bauwerk, das man zwar gerne mal besichtigt, in dem man aber bloß nicht bleiben, wohnen will.

Wie gesagt, es war kein selbstgewisser, heldischer Luther, wie er in der Geschichte des Protestantismus so oft verklärt worden ist, der diesen Psalm vertont hat. Es war ein von seiner Zeit geängstigter Christenmensch in einer vom schwarzen Tod bedrohten Stadt. Die Macht des Bösen schien ihm wie ungehemmt freigelassen. Für Luther, darin noch ganz Mensch des späten Mittelalters, war klar: Da muss der Teufel dahinterstecken! Das ist „der altböse Feind“, ausgestattet mit „groß Macht und viel List“. Und doch ist Luther überzeugt: Nur „ein Wörtlein kann ihn fällen“! Was Luther aus seiner Depression hilft, ist ein kindlich erscheinendes Zutrauen in Jesus Christus. So deutet er die Aussage im Psalm „Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jacobs ist unser Schutz“ ganz ungeniert auf Christus hin. Er ist der „rechte Mann“, der „für uns streitet“. Gott selbst hat ihn erkoren: „Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesu Christ, / der Herr Zebaoth, / und ist kein anderer Gott.“ In all seiner Not empfindet sich Luther bei Jesus aufgehoben. Auch Jesus hat gelitten, auch er kennt das Leid. Das bedeutet aber nun für Luther: Gott leidet nicht nur mit, sondern das Leiden kommt in Gott selbst vor. Das Kreuz, Jesu Mitleiden und seinem stellvertretenden Leiden für uns, wird für Luther der Grund seiner Zuversicht. So enden die Strophen 2-4 des Chorals jeweils mit Worten tiefer Glaubenszuversicht: „Das Feld muss er behalten.“ - „Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ - „Das Reich muss uns doch bleiben.“

IV.

Eine Perspektive des Psalms aber hat Martin Luthers Lied nicht aufgenommen. Das ist ein Jammer. In Vers 10 preist der Psalm Gott als den, „der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt.“ Das sind Worte gegen Gewalt und Krieg von großer Klarheit - im Alten Testament nicht selbstverständlich. Schade, dass gerade für Luther, den Theologen des Kreuzes, so wenig wichtig war, dass zum Wort vom Kreuz auch diese Seite gehört, die Jesus so benannt hat: „Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Der Gott, der die große Geborgenheit schenkt, macht zugleich allem Kriegsgerät, aller Kriegswut ein Ende.

Martin Luther war ein Kind seiner Zeit wie wir Kinder unserer Zeit sind, das ist klar. Aber heute, gerade heute ist es doch unerlässlich, klar zu sagen: So tröstlich es ist in dieser dunklen Zeit, dass die Kirche, die Gemeinde Jesu bleibt, dass er „das Feld behalten muss“, wie Luther dichtete, - aber darüber hinaus gilt doch auch: Es wird einmal die Zeit kommen, in der nicht Hass, Waffen und das Recht des Stärkeren siegen werden, sondern die Gewalt der Gewaltlosen, die Macht der Ohnmacht und die Liebe der Geliebten. „Das Reich muss uns doch bleiben.“ Wir Christ*innen sind nicht naiv. Wir können, ja wir sollen vielleicht sogar in unserer persönlichen Lebenshaltung Pazifisten sein. Aber eine politisch verantwortliche Haltung in dieser noch unerlösten Welt kann der Pazifismus wohl nicht sein. Die Kirche Jesu Christi hat nicht erst in den letzten Monaten lernen müssen, dass im Extremfall auch die begrenzte, klar definierte Anwendung von Gewalt verantwortbar ist, um der unbegrenzten Gewalt zu wehren. Dietrich Bonhoeffer hat das mit seinem Weg in die Verschwörung gegen Hitler aufgezeigt. -

Noch einmal zurück zu Martin Luther. Als er im Februar 1546 in seiner Geburtsstadt Eisleben im Sterben liegt, notiert er, als er schon nicht mehr sprechen kann, mit letzter Kraft auf einen Zettel: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Was für ein „Letztes Wort“! Wir stehen vor Gott mit leeren Händen. Aber das heißt auch, mit geöffneten Händen, um zu empfangen, was Gott nun in sie hineinlegt. Wir brauchen uns nur ganz und gar unserem Gott anzuvertrauen, jeden Tag aufs Neue: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ - „Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat getroffen“.

Das singen wir jetzt. Noch einmal - aber nun in einer textlichen Übertragung in unsere heutige Zeit, und auch musikalisch in einem schönen Mix der Stile zwischen „klassisch Luther“ und ein bisschen Pop. Auch das ist sehr protestantisch: ecclesia semper reformanda, mit der Kirche wandeln sich auch ihre Texte und Lieder. Und: wir singen es nicht als Evangelische gegen andere Christen, sondern einfach dankbar, dass die Tore dieser festen Burg für alle bedrohlichen Mächte, für „Hölle, Tod und Teufel“, wie Luther gesagt hätte, fest verschlossen, für jeden Sünder aber, der dorthin flieht, sperrangelweit offen sind. Der Herr dieser Burg sieht uns längst kommen und wartet auf uns. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ.

 

AMEN.

Kapernaum ist überall

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

eine im buchstäblichen Sinn bewegende Geschichte. Nicht nur auf der Ebene ihrer Handlung, sondern auch in einem hintergründigen Sinn ist sie zwischen Lähmung und neuem Aufbruch angesiedelt. Irgendwie auch so, zwischen Lähmung und neuem Aufbruch, kommt mir unsere liebe Evangelische Kirche vor, fünf Jahre nach 2017, dem großen Reformationsjubiläum. Gelähmt von Kleinmut, der sich in nostalgischer Rückschau auf die vermeintlich „besseren Zeiten“ ergeht und zugleich einer seltsamen Überheblichkeit, als könne es einfach so weitergehen, wie es über Jahrzehnte gewesen ist. Auf der anderen Seite gibt es an manchen Stellen auch echte Aufbrüche, die Ausbrüche aus der gewohnten Routine sind. Es gibt dort den Mut, liebgewordene Traditionen abzubrechen, weil sie eigentlich nur noch äußerliche Traditionen sind, museal, aber nicht mehr lebendig. Vielleicht tut es uns ja gut, auf diese Geschichte zwischen Lähmung und Aufbruch zu hören: damit wir selber etwas in diese Bewegung reinkommen, die da an einer Straßenecke anfing. In Kapernaum, dem Fischerdorf am See Genezareth, das zu Deutsch „Dorf des Trostes“ heißt.

I.

Die Bewegung, die unser Text nachzeichnet, fängt nicht bei dem Gelähmten an. Der ist so unbeweglich, wie eine 505 Jahre alte Kirche nur unbeweglich sein kann. Nein, die Bewegung fängt erst an, als sich ein Gerücht ausbreitet. „Schon gehört? Jesus ist wieder da! In dem Haus am Ende des Dorfes soll er sein. Kommst du auch mit? Ich mach schon mal los, damit ich auf jeden Fall vorn dabei bin!“ Da gibt es Gerenne und Geremple, da kommt eine richtige Jesusbewegung in Gang. Der Gelähmte merkt, da liegt ein Event in der Luft. Zu diesem Jesus, da würde er auch gern hin. Aber bei dieser Jesusbewegung hat er keine Chance. Es bleibt ihm nur, traurig auf der Bahre liegenzubleiben, auf die ihn sein Schicksal in jeder Hinsicht festgelegt hat.

Dann kommen plötzlich noch vier hergelaufen. Die wissen noch gar nicht, was los ist. Der Gelähmte sagt es ihnen. „Was, Jesus ist da? Da müssen wir auch hin. Willst du nicht mit?“ - „Ach, nur zu gern! Aber ihr seht ja, wie ich hier festliege.“ Und nun handeln diese vier anders als die anderen. Sie lassen den Armen nicht einen gelähmten Mann sein, um nur ja die besten Plätze zu kriegen, sondern sie überlegen, ob da was geht. Sie schauen sich die Bahre an. Und ja, bei geschicktem Anfassen lässt sie sich gut hochheben. Sie packen zu und ziehen mit dem Kranken los.

Versuchen wir uns jetzt einfach mal in diesen speziellen Zug einzureihen. Unsere Fragen und Probleme mit der gelähmten Kirche legen wir gleich mit auf die Bahre drauf. Die sind doch wohl nicht so erdrückend, als dass die Vier sie nicht auch noch mit zu Jesus schleppen könnten. Die haben ja eine Menge Power. Vor allem aber haben sie offenbar ein weites Herz, und viel Phantasie. Kaum sind sie ans Ortsende gekommen, da sehen sie schon die Bescherung. Das Haus, in dem Jesus jetzt ist, ist hoffnungslos überfüllt - wie im letzten Mai, als Michael Patrick Kelly hierher in die Frauenkirche kam. Selbst draußen stehen sie Schlange. Keine Chance mehr, auch nur auf Sichtweite zu Jesus zu kommen. Der Gelähmte kann ihn kaum hören, bei dem hektischen Gewusel draußen. Wieder mal die bittere Bestätigung seines Lebensthemas: Ich bin zu spät dran…

Liebe Gemeinde,

damit könnten theoretisch auch wir wieder abziehen, mit unseren Fragen und Zweifeln. Wenn, ja wenn da nicht diese Vier wären, deren Beharrlichkeit und Phantasie größer sind als unsere Resignation. Not macht erfinderisch: Sie setzen sich kurzerhand über die Konventionen hinweg, hieven sie den Gelähmten auf das Dach des Hauses und fangen an, das Dach abzudecken. Man kann sich anschaulich ausmalen, wie sie da über Jesus gekratzt, gebohrt, geschuftet haben, bis das Loch groß genug ist, den Gelähmten runterlassen. Jesus direkt vor die Füße.

II.

Passen wir jetzt auf, was Jesus mit dem Gelähmten macht. Wenn es gut geht, könnte es nämlich sein, dass dabei auch wir mit unseren Fragen nach der unbeweglichen Kirche in Bewegung kommen. „Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Erstaunliche Worte. In zweifacher Hinsicht.

1. Da heißt es: „Als Jesus ihren Glauben sah...“ Es heißt nicht: „Als Jesus den Glauben des Gelähmten sah“, und schon gar nicht heißt es: „Als sich der Gelähmte zu Jesus bekehrte.“ Nein, von irgendeiner Handlung, mit der der Gelähmte einen entscheidenden Schritt hin zu Jesus getan hätte, kein Wort. Woher auch sollte er die Kraft nehmen, wo er doch so festliegt?! Es heißt einfach: „Als Jesus ihren Glauben sah...“ Also den Glauben der vier Leute, die nicht zuerst gefragt haben: Was bringt Jesus uns? - sondern die fragten: Wen können wir zu Jesus bringen?

Was wäre der Gelähmte ohne diese Vier gewesen? Er wäre wohl noch ewig an seiner Straßenecke geblieben und hätte die große Wende seines Lebens vielleicht nie erlebt. Er wäre so ein Sinnbild für alle geblieben, die von einer bitteren Lebensgeschichte, einer unseligen oder auch verklärten Kirchengeschichte gelähmt sind und keine Vorstellung mehr für die Zukunft haben. Dass es vier Menschen gibt, die für den Gelähmten eintreten, die für ihn Phantasie und Ausdauer, und das heißt: Glauben aufbringen: das erinnert uns daran, was die Kirche, was eine Gemeinde wirklich lebendig macht. Nicht ihre Vergangenheit, und sei sie bedeutend, nicht ihre Gebäude, und seien sie prächtig, auch nicht ein toller Pfarrer oder so - sondern zwei oder drei oder vier Menschen, die sich in Jesu Namen versammeln und stellvertretend für all die trägen oder müden Anderen sich nicht abbringen lassen zu fragen: Wie können wir einen Weg zu Jesus finden - nicht nur für uns selbst, sondern für solche, deren Geschichte ihnen den Zugang zu ihm viel schwieriger macht? Die durch Enttäuschungen oder Schicksalsschläge in ihrem Glauben erstarrt sind? Es gibt nicht nur die Fürbitte, es gibt auch Für-Glaube für die, die selbst nicht mehr glauben können. Ein solcher Fürglaube sagt dem anderen: Auch wenn du nicht glauben kannst, Gott glaubt an dich. Das ist unser aller gemeinsames Ding, das Dach zu öffnen und durch das Loch Verbindung zu Jesus herzustellen.

2. Das zweite, was ich an der Geschichte des Gelähmten erstaunlich finde: Jesus sagt zu ihm „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“. Ich stelle mir diesen Menschen gar nicht wie ein Kind vor. Aber diese Anrede aus Jesu Mund macht deutlich, dass in ihr bereits die Vergebung anfängt. Vergebung der Sünden, das heißt ja: Dein alter Adam, der alte, unbewegliche Greis in dir, der Menschen und Dinge unabänderlich festgelegt hat und immer wieder nur um die Bestätigung der eigenen Vorurteile kreist, der kann noch einmal jung und beweglich werden. Vergebung der Sünden heißt: Du kannst mit dir selbst und deinem Nächsten, ja auch mit deiner Kirche noch einmal neu anfangen! Du vergibst dir nichts, wenn du dir vergeben lässt! Deshalb hat Sündenvergebung etwas mit der Anrede „Kind“ zu tun - denn Kindsein heißt ja, jeden Tag etwas Neues anzufangen. Kinder, deshalb rühren sie uns so an, sind anfängliche Wesen.

III.

Klar, dass die Schriftgelehrten dagegen Einspruch erheben. Das tun Schriftgelehrte immer gern, wenn die Sünde und ihre Vergebung im Namen Jesu so kinder-leicht erscheint. Sünden vergeben - das darf doch nur Gott allein, und nicht ein Mensch, der ja selbst Sünder ist! Sünde heißt doch Trennung von Gott, unüberwindliche Gottesferne. Und die kann logischerweise auch nur von Gott selbst überwunden werden. Theologisch völlig korrekt. So haben wir es in unseren Dogmatik-Lehrbüchern gelernt. Echte Schriftgelehrte lassen keine Lücken. Eine Lücke aber gibt es in unserer Geschichte, und die kann auch durch alle Schriftgelehrsamkeit nicht abgedichtet werden: die Lücke im Dach des Hauses. Dass die von den Vieren wieder ordnungsgemäß geschlossen worden wäre, darüber wird nichts berichtet. Das heißt also, dass der Gelähmte von seiner Bahre unten zu Jesus hoch - und gleichzeitig über ihm durch das Loch im Hausdach den offenen Himmel sieht. Er sieht also, was die auf Jesus herabschauenden Schriftgelehrten nicht sehen: wie in Jesus Himmel und Erde zueinander finden. Das sieht der Gelähmte aus einer Perspektive, die außer Kranken nur kleine Kinder und Sterbende haben. „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“ - das hört unser Gelähmter anders als die gelehrten Theologen. Er hört diese Worte, als würden sie ihm direkt vom Himmel gesagt, der ihn wieder Kind sein und somit neu anfangen lässt. Anders gesagt: Er sieht, dass in Jesus eben nicht nur ein Mensch, sondern wirklich - Gott selbst ihm die Schuld vergibt.

Die Schriftgelehrten hören Jesu Wort nicht so. Sie hören einen Begriff, den sie aus der Schrift kennen und den sie in ihrem dogmatischen System für Gott reserviert haben. Liebe Gemeinde, wie viele Worte und Taten Jesu mag es wohl geben, die wir auf den Spuren der Schriftgelehrten in eine falsche Heiligkeit eingezwängt und fest in den Griff unserer Kirchensprache genommen haben: Gnade - Rechtfertigung - Heiligung - Seligkeit - Sünde etc.: Wer spürt noch die Kraft, die eigentlich in diesen großen alten Worten steckt? Da tragen die modernen Schriftgelehrten, also wir Theologen viel Schuld dran, weil wir uns zu wenig Mühe machen, die Aktualität, die diesen Worten innewohnt, durch eine Sprache zum Leuchten zu bringen, die die Menschen heute erreicht. Ich erinnere eine Situation in meinem Studium, als einer meiner Professoren in einer Seminarsitzung scharf dazwischen, als ein Kommilitone mit getragenem Ton von „unserem sündigen Fleisch“ salbaderte. Der Professor forderte ihn auf, die Sitzung jetzt mal zu verlassen und sich auf einem Spaziergang ein paar Gedanken darüber zu machen, wie man vom Glauben redet.

IV.

Nun kann ich mir vorstellen, dass sich mancher zum Schluss fragt: Wo gehöre ich denn nun eigentlich hin? An die Seite der vier Träger? Oder auf die Bahre des Gelähmten? Oder zu dem erstaunten Volk, das einfach zuschaut? Oder gar zu den oberlehrerhaften Schriftgelehrten? Das muss jeder für sich selbst bedenken. Ich weiß nur, dass es in der Gemeinde Jesu immer welche gibt, die die Kraft zum Tragen haben, und andere, die getragen werden müssen. Und dass, da alles seine Zeit hat, jeder von uns mal zu den einen, mal zu den anderen gehört. Martin Luther hat einmal Sätze geschrieben, die für unsere heutige Situation fast visionär sind: „Diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müssten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Haus allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. Hier bedürfte es nicht viel und groß Gesänges. Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles auf Wort und Gebet und die Liebe richten.“ - Was für eine Bereitschaft, die ganzen kirchlichen Traditionen auch preiszugeben, wenn es am Platze ist! Was für eine Offenheit zur radikalen Reduktion auf „das eine, das not tut“. Das schwebte Luther vor: die kleine Gemeinde, die sich in einer Wohnung versammelt, in der man einander kennt und miteinander unter dem Evangelium zusammen ist, in der nicht einer predigt und die anderen hören zu, sondern in der man miteinander die Bibel liest und einander Anteil gibt an dem, was einem am Evangelium aufgegangen ist, wie man als Christ im Alltag Jesus treu sein kann, nicht introvertiert, sondern ganz missionarisch; in der man aneinander Seelsorge übt, miteinander Abendmahl feiert und tauft.

Gerade in einer Kirche wie unserer muss man nüchtern festhalten: Diese Gedanken von Luther sind unserer kirchlichen Gegenwart immer noch weit voraus. Und doch sind sie uns schon viel näher, als wir meinen. Denn so oder so ähnlich wird jedenfalls für die, denen es ernst ist mit ihrem Christsein, die Zukunft aussehen. Denn damit unsere Kirche bleibt, kann in ihr vieles nicht mehr bleiben, wie es Jahrzehnte lang war. Und mir ist überhaupt nicht bange davor, im Gegenteil. Denn Kapernaum liegt nicht nur am See Genezareth. Es kann überall sein: Ort des Trostes, der Ermutigung. Überall, wo Jesus hinkommt, können Menschen nicht nur aufatmen, sondern sogar aufstehen, weil ihnen vergeben wird, weil sie nicht auf der Bahre ihrer selbst festgeschnallt bleiben. Und weil ein Glaube erwacht, der weniger an das eigene Heil denkt als vielmehr daran, dem einen Platz bei Jesus zu schaffen, der mit seinem Leben schon am Ende schien. So werden wir, was wir von Gott her sein sollen: ecclesia semper reformanda, die sich immer erneuernde Kirche Jesu Christi.


AMEN.

Gottes WG-Regeln

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

 

der Epheserbrief, aus dem der vorhin gehörte heutige Predigttext kommt, gehört in die zweite Generation der Christen. Allmählich wird die Kirche als Institution erkennbar. Nun geht es darum, dass das große Mysterium, das für den Epheserbrief die Kirche ist, auch nach außen erkennbar werden muss, und zwar durch die Art, wie die Christen miteinander umgehen. Der Verfasser des Epheserbriefs, ein anonym gebliebener enger Schüler des Apostels Paulus, sagt: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (2,19.20) Wir gehören also zu Gottes Wohngemeinschaft. Wir sind nicht mehr Fremde, nicht mehr Gäste, sondern sollen uns in seiner Wohnung „ganz wie zuhause“ fühlen.

I.

Mitglieder einer WG haben Rechte und Pflichten. Unser Predigtabschnitt benennt die Pflichten. Seine beiden ersten Verse lauten: „Achtet nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht wie Toren, sondern als Weise, indem ihr die Zeit auskauft, denn die Tage sind böse.“ Die erste Pflicht lautet also: achtet umsichtig auf euer Leben! Gebt acht auf euch! Euer Leben ist wertvoll, jedes Leben. Wert und Würde hat jedes Leben in sich und unabhängig von allen Leistungen in Gott. Deshalb lebt wie weise Menschen und nicht wie Unweise, wie Toren, die meinen, sich ständig selbst produzieren, rechtfertigen zu müssen, vor den Mitmenschen oder gar vor Gott.

Um im biblischen Sinn ein weiser Mensch zu werden, muss man keineswegs erst ein höheres Lebensalter erreicht haben. Nein, diese Aufforderung gilt allen Christ*innen, ja eigentlich allen Menschen - unabhängig von Bildung und Diplomen. Ein Vorbild dafür finde ich Greta Thunberg, die viel Bewunderte und viel Geschmähte. Die inzwischen 19jährige ist zunächst ein Vorbild für Mut und Zivilcourage - am Anfang vor fünf Jahren, als sie sich ganz allein auf öffentliche Plätze in Stockholm setzte und mit an Sturheit grenzender Beharrlichkeit darauf verwies, dass die Natur mit dem aus den Fugen geratenen Klima uns das zurückspielt, was wir ihr durch unseren way of life antun. Dieser Sommer hat uns das ja vor unserer Haustür auf eine drastische Weise präsentiert. Und später dann Greta Thunbergs Stehvermögen, nicht klein beizugeben durch nicht enden wollendem Hass und Bedrohungen von Leib und Leben. Zugleich ist sie darin auch ein Vorbild für Weisheit, weil sie so unbeirrt dabei bleibt und dafür eintritt, dass die Menschheit ihrem Dogma den Abschied geben muss, dass der Mensch sich selbst das Maß aller Dinge ist. Ich weiß nicht, ob Greta Thunberg ein religiöser Mensch ist. Aber mit dieser Unbeirrbarkeit, den Finger immer wieder in diese Wunde der menschlichen Maßlosigkeit zu legen, ist sie nah dran an dem, was für die Bibel Weisheit ist. „Lehre uns unsere Vergänglichkeit bedenken, damit wir ein weises Herz gewinnen“, heißt es im 90. Psalm.

Unser Text knüpft sein Zutrauen, dass wir als Mitbewohner in Gottes Haus weiser werden können, an die Feststellung: „Die Tage sind böse“. Wie aktuell das ist, muss ich gar nicht weiter ausführen. Es ist selbsterklärend bei der aktuellen Großwetterlage - das Wort ist wörtlich und übertragen zu nehmen. Und weil die Tage böse sind, sollen wir, so heißt es hier, „die Zeit auskaufen“. Was Luther hier mit diesem etwas zopfigen Wort übersetzt, ist auch im griechischen Original nicht ganz klar zu deuten. Gemeint ist jedenfalls nicht, in einer Art Torschlusspanik unserer Lebenszeit ein Maximum an Intensivierung und Effektivierung auszupressen und uns damit total zu überfordern. Sondern eher, die Zeit in der Weise zu nutzen, dass wir sie wirklich wach und ausgeschlafen wahrnehmen und ihre „Zeichen“ erkennen, auch die Botschaften, die sie an mich aussendet: Was ist jetzt an der Zeit für mich? Und dann schwingt auch noch mit, dass dieses „Auskaufen“ in der antiken Welt an ein Freikaufen auf dem Sklavenmarkt erinnert - christlich gewendet: ein Freikaufen von der Sünde, von dem, was mich immer wieder von Gott und von den Mitmenschen trennen, mich nur auf mich selbst fokussieren will. Die Zeit nutzen, das sollen wir als von unguten Fesseln Befreite, als Gottes Mitbewohner, die für Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einstehen. Vor allem aber kennen wir als Gottes WG-Genossen die Hoffnung: die bösen Tage sind begrenzt. Sie dauern nicht ewig. Gott selbst hat ihnen ihre Grenze gesetzt. Diese Hoffnung macht unseren Einsatz nicht überflüssig, im Gegenteil, sie beflügelt ihn.

II.

Dann wird die nächste Pflicht in Gottes Wohnung aufgeführt: „Deshalb werdet nicht unvernünftig, sondern versteht, was Gottes Wille ist.“ Wieder die Aufforderung, zu verstehen! Den Willen Gottes kann ich nicht so einfach auswendig lernen und dann aufsagen. Er liegt nicht wie ein Keks in der Dose. Ich kann nicht mit einzelnen Bibelworten wie ein senkrecht vom Himmel gefallenes Gotteswort um mich werfen, sondern ich muss mich mühen zu verstehen, was sie mir jetzt sagen wollen. Muss fragen: Was ist der Wille Gottes heute, für mich, oder für uns in Kirche und Gesellschaft? Das ist häufig ganz schön strittig. Zumal in unserer evangelischen Kirche, die kein oberstes Lehramt kennt, das uns sagt, was wir zu glauben haben und was nicht. Gerade in komplexen ethischen Dilemma-Situationen, wie bei der Frage der Lieferung sog. schwerer Waffen an die Ukraine, oder welche evt. einschneidenden Maßnahmen wir gegen die drohende Energieknappheit einleiten müssen, um über den Winter zu kommen.

Um etwas zu verstehen, brauche ich einen klaren Kopf. Deshalb ist die Mahnung des Textes kein moralinsaurer Spielverderber, auch wenn sie erstmal so klingt: „Sauft euch nicht voll Wein, das bringt nur Unheil, sondern seid vom Geist erfüllt.“ Hier geht es nicht um wilde WG-Partys, die es sogar in Dresden geben soll. Hier geht es um die Party in Gottes Wohngemeinschaft: nämlich um den Gottesdienst und das Zusammensein der Gemeinde. Ich weiß nicht, ob die Epheser beim Abendmahl dem Wein besonders zugesprochen haben. In der von Paulus gegründeten Gemeinde in Korinth kam das, wie man weiß, wiederholt vor. Immerhin ist das Zentrum des christlichen Gottesdienstes die Mahlgemeinschaft; und die war damals noch eine richtige Mahlzeit. Zu ihr gehörte natürlich Wein, denn der erfreut des Menschen Herz, er wurde von Christus eingesetzt und ist ein Symbol des Festes. Die Mahnung im Epheserbrief zielt auf die zweite Hälfte des Satzes, auf Gottes Geist. Um den Willen Gottes zu verstehen, braucht es einen klaren Kopf, und es braucht Begeisterung. Gottes Geist soll unsere Wohn- und Gottesdienstgemeinschaft erfüllen.

III.

Dazu braucht er äußere Mittel, die abschließend in unserem Abschnitt genannt werden: „Lasst euch vom Geist erfüllen, indem ihr einander mit Psalmen, Hymnen und Liedern ermuntert, indem ihr dem Herrn singt und spielt in eurem Herzen, indem ihr allezeit für alles Gott dem Vater dankt im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Äußerlich wirkt Gottes Geist unspektakulär, fast unscheinbar. Er ist es deshalb, weil er immer der Geist Christi ist. Er wirkt in der Kommunikation, in der Begegnung. Eigentlich jedes Mal, wenn ich einem Menschen begegne, kann ich damit rechnen, dass mir dabei Gottes Geist etwas schenkt und zu verstehen gibt.

Zur gottesdienstlichen Begegnung und Kommunikation gehören Psalmen und Hymnen: alte, aber auch neue Lieder, die sie in die jeweilige Sprache und die Kontexte ihrer Zeit übersetzen. Bei den geisterfüllten Liedern dachten die Epheser an ihre Begabung, mit Hilfe des Geistes neue Lieder zu erfinden. Als Protestanten sind wir dankbar und, ja, auch ein bisschen stolz auf den enormen Reichtum, den Schatz unserer Lieder von Martin Luther bis Paul Gerhardt, von Matthias Claudius bis Manfred Siebald. Sie stellen uns in eine lange Tradition, sie werden in unseren Gottesdiensten in der Frauenkirche oft besonders üppig und herrlich musiziert. So macht Gottes Geist unser Singen zum Mittel, um präsent, gegenwärtig zu werden. Immer wenn ich Musik höre oder selbst singe, soll ich damit rechnen, dass mir dabei Gottes Geist etwas schenkt und zu verstehen gibt und das Herz erhebt.

Zum Singen helfen soll uns, meint unser Text, dass wir „allezeit für alles Gott dem Vater danken im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Von dem großen Mystiker Meister Eckart stammt die Aussage: „Wäre das Wort ‚Danke‘ das einzige Gebet, das Du je sprichst, so würde es genügen.“ Die Muttersprache des Dankens, denke ich, ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Deshalb sind Musik und Lieder wichtiger als alle Predigten und Lehren. Man denke an David: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch kluge religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel.

IV.

Was Lieder für ein Kraft haben! - John wälzt sich auf dem Sofa hin und her. Es ist schon Mittag. Der Schädel brummt wie verrückt, der Kater trocknet ihm die Kehle aus. „Wie konnte ich sie nur wieder so beschimpfen! Jetzt wird sie mich für einen anderen verlassen. Ich kann nicht schlafen. Es hat doch alles keinen Sinn!“ - „Kauft die Zeit aus, singt und spielt dem Herrn in euren Herzen und dankt Gott allezeit für alles - das würde John jetzt grotesk und zynisch in den Ohren klingen. Es bricht aus ihm heraus: ich bin ein Niemand! Das Beste aus meiner Zeit machen? Wünsche, Ziele, Sehnsüchte - in seinen Gedanken führt alles ins Nichts. John ist ein berühmter Mann. Doch in ihm ist nur Leere, und seine Ehe ist am Kippen. In diesem traurigen Zustand findet ihn sein Kollege und Freund Paul vor. Johns Gedanken formen sich zu dem vor sich hin gemurmelten Vers: „He’s a real nowhere man, sitting in his nowhere land, making all his nowhere plans for nobody“. - Er ist ein echter Nirgends-Mann, sitzt im Niemandsland und macht Nirgends-Pläne für niemanden… Klingt total desolat - aber Paul muss doch auch schmunzeln. Irgendwie liegt auch Witz in diesen Worten. So langsam dämmert John seine Situation. Jetzt wacht er auf, kann wieder etwas tun. „Du Nirgends-Mensch, die Welt steht dir trotzdem offen!“, dichtet er weiter. Der Nowhere Man fasst Vertrauen ins Leben und öffnet sich anderen: „Leave it all till somebody else lends you a hand.“ Gemeinsam finden John und Paul eine heitere Melodie, die die Finsternis auf die Schippe nimmt. Aus einer großen inneren Leere heraus wird ein humorvoller Welthit geboren: „Nowhere Man“ von Lennon/McCartney. Ein Balanceakt zwischen Hilferuf und Selbstbehauptung, Klage und Lebenslust.

„Singt und spielt dem Herrn in euren Herzen.“ Erzählt ihm euer Leben, wie es ist, singt vom Schmerz und von der Freude, von der Fülle und der Leere, von Finsternis und von Licht, und Gott wird euer Lied in einen Lobgesang verwandeln.

 

Amen.

 

Gott will zu allen

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

hier versucht einer, im Lärm der Welt Gehör zu finden. Nicht nur bei denen in Hörweite, sondern weltweit: „Hört mir zu, ihr Inseln und Völker in der Ferne!“ Er hat kein Mikrophon, kein Smartphone, kein Facebook und Twitter. Er hat nur seine Stimme. Es ist nicht die Stimme des Herrschers einer Weltmacht. Im Gegenteil, es ist die Stimme eines Anonymus, der in dunkler Zeit spricht. Das Gottesvolk befindet sich in der Entwurzelung: es ist die Zeit des Exils in Babylon, wohin die führenden Schichten Israels nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 durch den babylonischen Potentaten Nebukadnezar zwangsverschleppt worden waren. Eine lähmende, depressive Zukunftslosigkeit hatte sich breit gemacht. Angesichts der übermächtigen babylonischen Supermacht hatte lange Zeit alles grau in grau ausgesehen. Die realen Erfahrungen fraßen alle Hoffnungen auf bessere Zeiten auf. Das muss man sich mal vorstellen: Ein total Machtloser, einer, der nichts hat und nichts gilt, wendet sich an die Welt. Und das nicht mit einer Anklage gegen die Unterdrücker oder einem Hilferuf, sondern mit einer unglaublich hoffnungsvollen Botschaft für und an die Welt.

Unser Text ist eine von vier berühmten Prophetenreden, die wir im mittleren Teil des Jesajabuchs finden. Man nennt sie die Gottesknechtslieder. Sie zählen zu den großen, bewegenden Texten der Bibel. Wer ist dieser ominöse „Gottesknecht“? Der Prophet selbst, oder ein anderer, Unbekannter? Oder gar das Gottesvolk als Kollektiv? Darüber rätseln die Ausleger bis heute. In dem Gottesknechtslied, das wir heute bedenken, spricht der Prophet tatsächlich von sich selber. „Du bist mein Knecht“, hat Gott zu ihm gesagt, und: „Ich mache dich zum Licht für die Völker“. Der Prophet hätte das sicher nie von sich selber gesagt: Ich bin das Licht für die Völker. Aber ein halbes Jahrtausend später kam einer in Israel, der seine Heiligen Schriften und dieses Gottesknechtslied kannte und sich ihn ihm erkannte: Dieser Gottesknecht bin ich! Und der darum von sich sagte: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Und das dann sogar in einem unglaublichen Zutrauen auf seine Leute ausgeweitet hat: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). - Wir werden also in dem geheimnisvollen „Gottesknecht“ mehr als nur den Propheten sehen, der hier spricht. In dem, was der Prophet hier sagt, von seiner Berufung, von seiner Angst, von seinem universalen Auftrag, kommt etwas zum Vorschein, was Gott mit der Welt vorhat. Man kann es einfach sagen: Gott beschränkt sich nicht auf sein auserwähltes Volk. Er will zu allen. Von daher sind mir drei Dinge an diesem Text wichtig geworden.

I.

Gott will zu allen: Deshalb nimmt er Menschen in seinen Dienst. - Gott will seine Welt wiederhaben, die ihn vergessen hat und ihre Sache selbst in die Hand nehmen will. Die sich aber zerstören würde, wenn Gott sie sich selbst überließe. Weil Gott das nicht will, hat er eine Gegenbewegung gegen die Todesmechanismen der Welt in Gang gesetzt. Sie beginnt mit der Erwählung Israels zum Hoffnungsträger für die Welt. Nicht etwa, weil es ein besonders großes und starkes Volk war. Das war es ja notorisch nicht. Aber Gott will die Geschichte zum guten Ende der Welt nicht mit solchen machen, die sich selbst als Herren der Weltgeschichte aufspielen. Die Menschen in der Ukraine erleiden jetzt ja peinigend, was das heißt. Es ist andersherum: Gott beruft Menschen, die sich selber loslassen und sich ihm anvertrauen können.

Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war“, sagt der Prophet von sich. Ehe er also denken konnte, hat Gott schon an ihn gedacht. Genauso war das auch bei Jeremia: „Ich sonderte dich aus, ehe du von deiner Mutter geboren wurdest“, sagt Gott zu ihm. Und später auch bei Paulus - wie auch bei uns in der Gemeinde der Gottesmägde und Gottesknechte. „Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wollest werden“, dichtet Paul Gerhardt im Weihnachtslied. Und so hat Gott heute auch zu Florentin und Rosalie in ihrer Taufe gesagt wie hier zum Propheten: Du bist mein Knecht, meine Magd. Auch durch dich sollen Menschen auf mich neugierig werden, sollen erfahren, dass ich Gutes mit ihnen will, dass ich sie liebhabe. Auch wenn wir uns dazu gar nicht für geeignet halten. Die Bibel kennt das. Mose: „Herr, ich bin keiner, der öffentlich reden kann. Da komme ich ins Stottern.“ - Jesaja: „Herr, ich habe unreine Lippen.“ - Jeremia: „Herr, ich tauge nicht dazu, ich bin viel zu jung.“ - Sind uns solche Einwände fremd? Wohl kaum. Ich kann das nicht, die krebskranke Nachbarin besuchen. Ich krieg das nicht hin, meinen Kindern biblische Geschichten erzählen. Ich trau mir nicht zu, für den Kirchenvorstand kandidieren. Bei der Flüchtlingsarbeit oder beim Hospiz mitmachen. Aber Gott lässt solche Einwände nicht gelten. Die Bibel erzählt in vielen Geschichten: Wem Gott eine Aufgabe zeigt, den macht er dann auch fähig dazu. „Gelobt sei der Herr täglich. Er legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“, heißt es im 68. Psalm.

II.

Gott will zu allen: Deshalb trägt er Menschen in ihren Erfahrungen von Vergeblichkeit und Scheitern. - Eigentlich müsste Gott, wenn er jemand in seinen Dienst nimmt, ja auch dafür sorgen, dass etwas dabei rumkommt. Dass Menschen, und zwar immer mehr, sich von ihm treffen und ihr Leben von ihm verändern lassen, so dass andere aufmerksam werden und ins Nachdenken kommen. Wie in der Antike bei Augustinus, im Mittelalter bei Franz von Assisi oder in unserer Zeit bei Frère Roger von Taizé. Aber es kann eben auch anders sein. So wie hier, dass einer die frustrierende Erfahrung macht: „Ich dachte, ich arbeitete vergeblich, verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz“. Es beeindruckt mich, was für ein ehrliches Buch die Bibel ist, dass solche Erfahrungen der Vergeblichkeit, des Scheiterns Platz in ihr haben. Darin spiegelt sich ja viel von unserer Realität. Die Eltern, die ihre Kinder immer wieder ermuntern, mal mit in den Gottesdienst zu kommen - und ernten nur ein genervtes Augenrollen. Der Pastor einer Landgemeinde, der sicher nicht nach dem Motto lebt: Wie erhalte ich der Kirche einen rüstigen Rentner? Sondern sich abmüht, Besuche macht ohne Ende und täglich für das Wachsen seiner Gemeinde betet - und dann kommen jeden Sonntag doch nur dieselben 15 bis 20 Gesichter. Und der sich irgendwann fragt: Lohnt das alles noch? Sollte man das marode Kirchengebäude wirklich für viel Geld sanieren? Statt zu wachsen, scheint die Kirche überall nur abzunehmen. Und darum erwarten die Menschen von der Kirche manchmal vielleicht noch Herzbewegendes (hier im barocken Glanz der Frauenkirche ist das wohl so), aber nichts Weltbewegendes mehr. - Alles Erfahrungen, die einen ganz schön mürbe machen können.

Aber nun ist es hilfreich zu sehen, wie unser Mann aus dem alten Gottesvolk mit seinem Frust umgeht. Offensichtlich lässt er sich davon nicht in die Resignation treiben. Das schafft er dadurch, dass er den Blick von der Fixierung auf die trostlose Gegenwart löst und ihn zurück auf den Anfang lenkt. Er macht sich klar: Nicht ich habe mich ja zu diesem Dienst gedrängt, sondern Gott hat mich dazu gerufen. Und deshalb muss auch nicht ich über Erfolg und Misserfolg meiner Arbeit befinden. Mir kommt es zwar vor, als käme bei dem, was ich tue, nichts heraus. Aber: „Mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn ist bei meinem Gott“. Im Klartext: Mein Tun wird nicht gerechtfertigt durch das, was ich kontrollierbar erreicht habe, wieviel Menschen sonntags zu mir in die Kirche kommen, wie viele ich pro Jahr getauft habe, wie hoch die Kollekten sind, wie viele sich nach dem Gottesdienst bedanken. Sondern mein Dienst hat seine Legitimation einfach darin, dass Gott Ja zu mir gesagt und meine Berufung nicht zurückgenommen hat. Zu seinem Volk, zu seinen Botschaftern zu gehören, ist mir genug. Das lohnt auf jeden Fall! Von Gott, und uns als seinen Werkzeugen, gehen Wirkungen aus, die sich menschlicher Messbarkeit entziehen.

III.

Gott will zu allen: Deshalb gebraucht er Menschen zum Heil-Werden der Welt. - Gott zieht seine müde gewordenen, sich scheinbar für nichts und wieder nichts abmühenden Dienstleute nicht aus dem Verkehr. Er verengt auch nicht ihren Aktionsradius, im Gegenteil: er erweitert ihn noch! Er setzt ihnen neue Ziele und öffnet ihnen den Blick für das Universale ihres Dienstes. Sie sind nicht an einer Winkelsache beteiligt, sondern sie arbeiten - auch in der kleinsten Lausitzer Dorfgemeinde - im Welthorizont. Wir alle sind durch unsere Taufe Glieder am universalen Leib Christi, und als solche sind wir Global Player. Unser Prophet bekommt zu hören: „Ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde“. Auch zu den ganz Fernen, auch zu denen, die weit weg sind von Gott, mit ihm und seiner Gemeinde nichts am Hut haben, zu denen „am Ende der Erde“. Und die müssen nicht über dem Ozean sein, die sind über dem Hausflur oder der Straße. Auch zu ihnen will Gott hin und ihr Leben verändern.

Liebe Gemeinde, das sollte die Frage sein, die aus diesem Gottesdienst mit uns geht und uns - jedenfalls soweit wir Christen sind - hoffentlich ein bisschen in Unruhe bringt: Macht uns das zu schaffen, dass so viele Menschen, denen wir täglich begegnen, nichts davon wissen wollen, dass Gott sie einlädt zu einem Leben mit ihm? Sind wir bereit, uns dafür von Gott gebrauchen zu lassen, dass Menschen, mit denen wir zu tun haben, mit Gott in Kontakt kommen? Es macht mir schon zu schaffen, wie „schicksalsergeben“ wir darauf reagieren (oder eben nicht reagieren), dass Jahr für Jahr immer mehr Menschen mit der Kirche abschließen.

Vor vielen Jahren saß ich mit Tausenden junger Leute auf dem kalten Boden einer Stuttgarter Messehalle und hörte Frère Roger zu, dem Gründer von Taizé. Er sagte damals: „Wenn einer auch nur ganz wenig von Gott weiß, wenn er nur ganz wenige Erfahrungen mit ihm gemacht hat, so hat er doch so viel, dass er einen anderen auf ihn aufmerksam machen, dass er einem, der nach Leben hungert, zeigen kann, wo es Brot gibt, und ihn vielleicht ein Stück weit dahin mitnimmt.“ - Ich füge hinzu: Dass er einen, der im dunklen Keller seiner Traurigkeit, seiner Angst, seiner Verbitterung sitzt, behutsam ans Licht führt. Das können wir alle.

Amen.

 

Die Abwesenheit des Heiligen

Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik


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Liebe Gemeinde,

heute steht die Bach-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ im Mittelpunkt. Wir werden sie nachher hören. Sie hat es zu besonderer Popularität gebracht. Das liegt einmal natürlich an der hinreißenden Musik. Es hat aber auch damit zu tun, dass diese Kantate in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung in Bachs großen Kantatenwerk Bachs einnimmt. Sie ist eine der ganz wenigen Solokantaten, also ohne Chor, für Solo-Sopran und Trompete. Und ihre Musik verlangt beiden, der Singstimme wie dem Instrument, Außerordentliches ab. Teilweise, vor allem im Schlusssatz mit seinem „Halleluja“, klingt es fast wie in einer Opern-Arie. Wir werden es dann hören.

Aber das sind kompositorische Dinge. Wie steht es geistlich, inhaltlich mit dieser Kantate? Dazu einige Gedanken. Zunächst kommen wir um die nüchterne Feststellung nicht herum, dass wir nicht nur diese Bach-Kantate mit sehr anderen Empfindungen hören, als sie die Hörer*innen damals zu ihrer Entstehungszeit hatten - und für die auch J. S. Bach die Vorstellung gefehlt hätte. „Dass wir ihm fest vertrauen, / Gänzlich uns lass'n auf ihn, / Von Herzen auf ihn bauen, / Dass uns'r Herz, Mut und Sinn / Ihm festiglich anhangen“: Am 15. Sonntag n. Tr., wahrscheinlich (ganz genau wissen wir es nicht) im Jahr 1730, das war damals der erste Septembersonntag, hörte die Leipziger Thomaskirchengemeinde in diesem Text den gesungenen Nachhall zur Predigt. In einer Form, die man mutmaßlich mit mehr Genuss als die Predigt konsumierte. Denn glücklicherweise hatte Luthers Reformation nicht jede Kunst aus dem Gottesdienst ausgetrieben. Aber dass die Künste dem Wort dienstbar bleiben mussten, verstand sich auch in der Leipziger Thomaskirche von selbst. An dieser ehernen Hierarchie änderte eine miserable Predigt so wenig wie eine begnadete Musik.

Zugespitzt gesagt: Auch der Text einer Kantate kann so hölzern sein wie der dieser Cantata 51 – die Musik ist dafür geschaffen, dass man ihn hören soll, und sie schafft es auch, dass er sich hören lässt. Und in unseren Ohren sorgt sie jetzt dafür, dass wir ihn gegebenenfalls auch überhören können. Er geht in Bach einfach auf wie Salz in der Suppe, der seltsame Text, und die Frage bleibt uns erspart, wie er uns, für sich genommen, schmecken würde, ohne die Musik. Wir hören nicht Gottes Wort, wir hören Bach. Mit weniger gibt sich ein heutiges Publikum nicht zufrieden, während für die Thomasgemeinde um 1730 die menschliche Unvollkommenheit auch in dieser Form im Lob Gottes eingeschlossen gewesen war. Es genoss die Erleichterung von der Schwere des Wortes durch die schönen Töne, während wir auch ihre geistliche Dimension vor allem ästhetisch wahrnehmen. Uns packt die unglaubliche Strukturiertheit, dass präzise Durchkomponierte der Bachschen Musik, weshalb man sie gerne „objektiv“ oder „absolut“ nennt. Was zu Bachs Zeiten nur einige Kenner gehört haben - den einzigartigen Rang dieser Musik -, gehört heute allgemein zum Ruf, die ihr vorausgeht, zur Aura, die sie umgibt. „Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen“, hat Albert Schweitzer voller Ehrfurcht gesagt, der wohl größte Bachforscher und -kenner seiner Zeit.

Wahrscheinlich erscheint uns Bach auch darum als beispiellos, als Solitär, weil die sakrale und soziale Umgebung seiner Musik so restlos weggebrochen ist. Ganz anders als die großen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts, von Mozart bis Wagner, gibt Bach als Person kaum etwas her zum Faszinosum. Sein Musikerhaushalt, die Wohngemeinschaft mit seinen Schülern inklusive, ist, bis zu Schlafrock und Perücke, von durchdringender Biederkeit, die kaum durch ein paar Anekdoten aufzulockern ist. Wir sehen einen bürgerlichen Musikmeister am Werk, der nach Brot geht und nicht ohne Pfiffigkeit die nächstbessere Stelle sucht, die ihm auch die Butter dazu verspricht. Diese professionelle Mobilität ist die auffälligste Bewegung, die man an ihm wahrnimmt, bevor er sich 1723 dauerhaft in Leipzig niederlässt, bis an sein unspektakuläres Ende. Ein solches Leben gibt kein Künstler-Narrativ her. Aber dann im 20. Jahrhundert hatten die Erschütterungen und Umstürze des überkommenen Menschenbildes die merkwürdige Nebenwirkung, Bachs Licht immer stärker und unangefochtener leuchten zu lassen. Er wurde für die Moderne und Postmoderne der Inbegriff absoluter, objektiver Kunst. Die sie auch schon für ihren Urheber gewesen war - aber für ihn als demütige Spiegelung der objektiven Allmacht einer absoluten Größe. „Muss gleich der schwache Mund von seinen Wundern lallen, / So kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohlgefallen.“

Und fasziniert können wir die grandiosen Sopran-Koloraturen seines Halleluja im Schlusssatz hören, ohne die Verpflichtung, was wir hören, auch zu glauben. Man ist kein Spielverderber, wenn man daran erinnert, dass wir diese Kantate ganz außerhalb des Kontexts genießen, in dem sie komponiert wurde und ohne den sie nicht entstanden wäre. Es wäre schon viel, wenn es uns gelänge, ihren Resonanzraum gegen den obligatorischen Lärmpegel des Gottes unserer modernen Welt, nämlich des Marktes, abzudichten. Dieser Gelegenheit verdanken wir das Erlebnis einer aus ihrem Zusammenhang entnommenen Kunst als Absolutum. Es ist gerade ihre Ferne, die die größte Nähe erzeugt: als wären in ihr Fernweh und Heimweh eins geworden.

Ja: Bachs Musik hat die seltene Eigenschaft, die Leere, in der wir sie hören, nicht zu übertönen, nicht zu verkleiden, nicht zu beschönigen, sondern fühlbar zu machen. Sie macht uns Musik-Kunden zu Lauschenden. Wir hören etwas nach, das auf keinem Markt zu haben ist - weil man es überhaupt nicht haben kann. Das Schöne sei „nichts als des Schrecklichen Anfang“, sagt Rilke in einer seiner Duineser Elegien. Und weiter: „…und wir bewundern es so, / weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“. Etwas von dieser schrecklichen Schönheit berührt uns in Bachs Kantaten, die uns vom Heiligen nur eines, dies aber unüberhörbar zu melden haben: Es fehlt, und es fehlt uns. Unter dem Eindruck dieser überwältigenden Abwesenheit werden wir, in Bach, fast wieder eine Gemeinde. Und dann können wir das Lob Gottes in dieser Kantate 51 auch als Klage hören. Wenn uns da ein Trost bleibt, hat ihn vielleicht nur Bachs Musik zu bieten.

AMEN.

Die Bekehrung des Ananias

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der vorhin gehörte Predigttext erzählt das sprichwörtlich gewordene „Damaskuserlebnis“. Von den Begleitern des Paulus heißt es dort: „Sie standen sprachlos da.“ Ja, man kann sprachlos werden angesichts dieser grundstürzenden Lebenswende, die hier überliefert ist. Am Anfang hören wir: „Paulus raste vor Wut und Mordgier gegen die Jünger des Herrn.“ Am Schluss heißt es: „Alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus“. Was für eine Wende! Vor 30 Jahren war aus guten Gründen viel von den „Wendehälsen“ die Rede, die vor 1989 ihr „Er lebe hoch!“ auf Honecker & Co. angestimmt hatten, und danach gar nicht flott genug im Kapitalismus ankommen konnten. War die große Wende, die Paulus vollzogen hat, war dieses ebenfalls sprichwörtliche „Vom Saulus zum Paulus werden“ eine echte Wende? Dabei bekommen leicht übersehene Einzelheiten in dieser Erzählung ihr besonderes Gewicht.

I.

Musikliebhabern wird diese Geschichte Klänge aus Mendelssohns Oratorium „Paulus“ durchs Ohr gehen lassen. Sie spielt sich vor und in Damaskus ab. Das war kein unbedeutender Fleck irgendwo an der Peripherie. Damaskus war in der damaligen Zeit eine echte Metropole, wie heute Berlin, London oder Paris. Eine Weltstadt mit Atmosphäre und Kultur, ein Soziotop konkurrierender Weltanschauungen und Lebensentwürfe. Die Römer haben beflissene Beamte eingesetzt, die dort die Verwaltung innehaben. Wer sich zu auffällig benimmt, wird überwacht. Paulus wird später einmal durch ein Fenster in einem Korb die Stadtmauer hinabgelassen, um sein Leben vor dem Zugriff der Besatzungsmacht zu retten. Dort in Damaskus gibt es auch eine junge, sehr kleine Gemeinde von Christen. Um nur ja nicht aufzufallen, führt sie eine unauffällige Nischenexistenz. Man gibt sich gegenseitig Nestwärme und schaut sorgfältig darauf, dass nur die dazugehören, denen alle vertrauen können.

Unsere Geschichte wird in allen Bibeln mit der Überschrift „Die Bekehrung des Paulus“ versehen. Es ist hier aber nicht nur von einer Bekehrung die Rede, sondern untergründig noch von einer zweiten. Und erst die macht es möglich, dass das, was Saulus vor Damaskus erfährt, wirklich zu einer Bekehrung wird. Aber dazu müssen wir diese Geschichte von hinten her lesen – indem wir unseren Blick ein bisschen von Saulus weg und auf jemand anderen richten: jener Christ aus Damaskus namens Ananias. Deshalb soll heute von der Bekehrung des Saulus zum Paulus die Rede sein, indem ich die Bekehrung eigener Art, die Ananias erfährt, in den Blick nehme.

Die Bibelkundigeren mögen sich wundern. Dieser Ananias, wer ist das schon?! Er taucht noch ein einziges Mal kurz auf in der Apostelgeschichte, er ist keiner der großen Namen, eher eine Randfigur. Ananias ist der Pastor der kleinen Christengemeinde in Damaskus. Er tritt erstmals in dem Moment auf, da er erfahren hat, das Saulus, der gefürchtete Christenfresser, ante portas ist – versehen mit Vollmachten aus Jerusalem, Frauen und Männer, die sich in Damaskus zur Gemeinde Jesu Christi bekennen, zu verhaften. Man kann sich vorstellen, wie es Ananias zumute ist und was er jetzt als seine Aufgabe ansieht: unauffällig für seine Gemeinde da sein, sie schützen, mit ihr im Verborgenen bleiben. Und dann hört er wie aus dem Nichts Gottes Anruf. „Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann namens Saulus von Tarsus“. Ausgerechnet an diesem unscheinbaren Repräsentanten einer kleinen Gemeinde entscheidet sich, ob Paulus, der große Völkerapostel, wirklich erkennt, was Gott mit ihm vorhat, ob das, was ihm vor den Toren von Damaskus widerfahren ist, wirklich zum „Damaskuserlebnis“ wird oder nicht. Ananias soll sich nicht weiter verkriechen, sondern raus, hin zu Paulus, und das ins Zentrum der Stadt. Die Gerade Straße war damals in Damaskus die Magistrale, der Prachtboulevard. Wie die Champs Elysées in Paris oder Unter den Linden in Berlin. So war es mit dem Evangelium von Anfang an: Es lässt sich durch nichts aufhalten; es kann mich ansprechen, wo ich ganz bei mir selbst bin, so wie Ananias, als ihm Gott erschien. Dasselbe Evangelium bleibt aber nicht im Leisen, Verborgenen. Es lässt sich nicht aufhalten und drängt hinaus auf die Gassen und die Prachtstraßen, auf die Märkte und Plätze.

II.

Es folgt der nächste Schritt zu seiner Bekehrung: Ananias blockt, wehrt ab! „Herr, ich habe von vielen gehört, wieviel Böses dieser Mann deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat“. Daraus spricht nicht nur Angst vor dem berüchtigten Christenverfolger, sondern auch ein gehöriger Schuss Misstrauen, ja Resignation. Ananias mag bei sich denken: Ist das wirklich Gottes Stimme gewesen, die ich gehört habe? Kann Jesus einen so fanatischen Gegner wie diesen Saulus umkrempeln? Ist das wirklich eine dauerhafte Bekehrung von Grund auf, oder eher nur ein vorübergehendes Nachgeben in der Schwäche und Blindheit? Isst und trinkt Saulus wirklich nicht aus echter Buße und Erschütterung über sich selbst - oder einfach nur, weil er nicht kann, weil der körperliche Schock jener Lichtvision zu groß war? Hier bricht das Dilemma auf, das wir so gut kennen wie damals Ananias. Auf der einen Seite glaubt er an den Gott, der Wunder tut, und an das Kreuz, das Versöhnung für alle bringt. Auf der anderen Seite aber scheint alles beim Alten zu bleiben. So steht es da, unerschütterlich: das Dogma von der Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Unveränderbarkeit der Menschen. Aber Ananias lernt nun, sich nicht lähmen zu lassen von seinen ängstlichen Vorurteilen. Gegen alle inneren Widerstände macht er sich auf den Weg ins Stadtzentrum. So erfährt auch er ein wichtiges Stück Bekehrung - indem er das Zutrauen in Gott lernt, dass er Menschen gewissermaßen „umdrehen“ kann, dass Menschen nicht auf immer festgelegt bleiben auf ihre Ideologie, ihren Fanatismus.

Und dann - das ist die dritte Stufe seiner Bekehrung - erfährt Ananias, dass Jesus den Saulus nicht nur erschüttert hat und neu ausrichten will, sondern mit ihm Großes vorhat: „Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel“. Saulus wird nichts Geringeres zugetraut als dass er den Namen Jesu dort ins Spiel bringt, wo Macht und Gewalt herrschen. Aber gerade nicht so, wie es heute der Patriarch von Moskau tut, wenn er dem Diktator im Kreml seine Aufwartungen macht und ihn segnet zum Schlachtenglück im Nachbarland. Sondern so, wie man es sich vom Papst wünschen würde, wenn Putin ihn denn empfangen würde: „Herr Präsident, in Jesu Namen, zu dem Sie sich doch bekennen, sage ich Ihnen: Sie lästern Gott und tun ihm unendlich weh mit dem, was Sie tun. Jedes Kind, jede Frau, jeder Soldat, der durch Ihren Krieg sein Leben verliert, ist ein Kind unseres Gottes. Und Jesus ist nicht gegen die Ukrainer gestorben, sondern für uns alle, auch für Sie.“

III.

Zurück auf die Gerade Straße in Damaskus. Das erste Wort, das Ananias nach seinem Eintreffen dort zu Saulus spricht, ist die erstaunliche Anrede: „Lieber Bruder Saul!“ Darin liegt mehr als dass Ananias ein höflicher Mensch ist. Diese Anrede ist wie eine Absolution, gesprochen auf dem Grund dessen, was Jesus selbst vor drei Tagen dem Saulus mitgeteilt hat. Damit, dass der Erzfeind mit dem Brudernamen angeredet wird, ist dessen Vergangenheit für erledigt erklärt. Was gewesen ist, was Saulus getan hat, ist durch Christus selbst beseitigt. Das kann Saulus sich nicht selber sagen - dafür muss ihm durch jemand anderen der Blick geöffnet werden. „Und sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf und ließ sich taufen und nahm Speise zu sich“. Das heißt ganz grundsätzlich: Unsere Annahme durch Gott und unsere Aufnahme in die Gemeinde seiner Kinder sind nicht zwei verschiedene Dinge, sondern das zweite folgt unmittelbar aus dem ersten. Und das ohne Wenn und Aber, ohne Bewährungszeit. Es ist ja schon schwierig sich vorzustellen, was einer wie Saulus - das Auftragspapier der Jerusalemer Hohepriester wahrscheinlich noch in der Tasche - empfinden muss, wenn er von denen, die er unschädlich machen sollte, so als einer der ihren aufgenommen wird.

Aber eben das ist gelebtes Evangelium. Evangelium, das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt Frohe Nachricht. Ihr Inhalt: Gott holt Dich und mich, er holt seine Gemeinde weg von allem Kleinteiligen, von aller Durchschnittlichkeit und Ängstlichkeit. Gott lässt seine Gemeinde nicht als unbrauchbar links liegen, weil sie so ängstlich, so unansehnlich ist. Er belässt uns nicht in der Verdruckstheit, wo wir nur unsere Defizite sehen und feststellen, dass wir als Christ*innen immer weniger werden, eine kleine Minderheit in einer Gesellschaft, die ganz anderen Lebenszielen nachrennt. Das Interesse der vielen, vielen im an der Kirche im Wendeherbst 1989 war ja nur ein Strohfeuer du gar nicht echt. Aber nein, Gott lässt solchen Kleinmut nicht gelten. Er macht aus Leuten mit eingezogenen Köpfen solche mit aufrechtem Gang, er bringt seine Gemeinde auf den Weg, damit sie sich von seiner Sache packen und von Grund auf verändern lässt.

IV.

Es bleibt noch die Frage: Wie war das damals bei Saulus? Was dort vor den Toren von Damaskus geschah, bleibt geheimnisvoll. „Ich bin Jesus“, vernimmt der verstörte Saulus auf seine Frage „Herr, wer bist du?“ In dieser Antwort ist verdichtet das ganze Evangelium enthalten, wie es für Martin Luther bei seiner großen Wende im Kloster so entscheidend wurde, die er ja auch als eine Bekehrung erlebt hat. Jesus rechnet mit Saulus nicht ab, hält ihm kein Sündenregister vor. Bei uns geht es ja oft nach dem notorischen Mechanismus: Die eine richten, die anderen rechtfertigen sich, und alles bleibt beim Alten. Neuanfänge werden so nicht möglich. Hier in der direkten Konfrontation mit Saulus nennt Jesus seinen Namen: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“. Darin steckt, dass er seinem Erzfeind in diesem Augenblick sein ganzes Interesse, seien Hingabe, sei Heimweh nach ihm spürbar machen will. Er bringt neuen Glanz, ein Aufatmen in ein Leben, das vor lauter Hass und Fanatismus finster und hart geworden war. Es ist, wenn mir jemand, den ich vot lauter Antipathie nur mit Misstrauen und Vorbehalten behandelt habe, rundheraus sagt: „Sag Du zu mir! Ich will mit dir zusammengehören. Ich bin nicht derjenige, für den du mich hältst!“

Liebe Gemeinde,

es sind nicht unsere Überzeugungsversuche oder unsere bitteren Anklagen, die Menschen eine wirkliche Wende erfahren lassen. Da spielen immer zu viele subkutane Vorurteile oder Verletzungen mit. Jesus Christus ist es, der Menschen ganz neu auf den Weg bringen kann. Weil er nicht mit einer Abrechnung beginnt, sondern weile er seine überwältigende, zupackende, uneingeschränkte Liebe spüren lässt. Wie auch immer – es fällt auf, dass Lukas im Fortgang seiner Apostelgeschichte kein einziges Wort mehr über die dunkle Vergangenheit des nun ohne weitere Erklärung zum Paulus gewordenen Saulus verliert. Und es ist wirklich nicht einzusehen, dass Vergleichbares nicht auch heute geschehen kann. Der auf seinem Weg durch diese Welt immer wieder die aufgesucht hat, um die andere einen Bogen gemacht haben, der wird auch heute, wie damals vor Damaskus, Mittel und Wege finden, die Fernen zu erreichen und zu Nahen zu machen. Und er möchte, dass wir uns, wie damals Ananias, da mit einspannen lassen.


AMEN.

Sich klein machen ist Sünde

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

--

Als unser Herr auf Erden
in Sprüchen sich erging,
da hieß er uns bewerten
den Wucher nicht gering.

Er riet all den Besuchern,
die er bei sich empfing,
mit ihrem Pfund zu wuchern,
so gut es irgend ging.

Und dass er Ihm gefalle,
strengt sich ja jeder an!
So wucherten denn alle,
die’s vordem auch getan.

Und sieht man denn nicht stündlich
auf Erden weit und breit,
dass Gott dem, der nicht gründlich
mitwuchert, nicht verzeiht?

 Nur, die kein Pfündlein haben,
was machen denn dann die?
Die lass‘n sich wohl begraben
und es geht ohne sie?

Nein, nein, wenn die nicht wären,
dann gäb’s ja gar kein Pfund.
Denn ohn‘ ihr’ Schwielen und Schwären
macht keiner sich gesund.

Diese bittersarkastischen Reime, liebe Gemeinde, hat sich einer der großen Dichter deutscher Sprache auf das eben gehörte Gleichnis Jesu von den anvertrauten Zentnern gemacht: Bertold Brecht, mit der „Ballade vom Pfund“ aus seinem Dreigroschenroman. Der Marxist Brecht las dieses Gleichnis als eine Rechtfertigung von Ausbeutung und Profit durch Jesus höchstpersönlich. Gott erschien ihm hier als ein Gott der Kapitalisten, nicht der Armen.

I.

Der erste Blick scheint ihm Recht zu geben. Dass Geld arbeiten muss, dafür spricht nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch unsere Lebenserfahrung. Anlegen, Riestern, Investieren Verzinsen: das betrifft uns alle. Zugleich wissen wir, dass sich Geld nur selten zum Nutzen aller vermehrt. Wir wissen um die Effekte von Aktienhandel und Weltmarktpreisen, wir haben davon gehört, dass Nahrungsmittelspekulationen zu Hungerkrisen führen, der Ausverkauf von Land wie in Brasilien oder Indien Menschen die Existenzgrundlage entzieht. Insofern hätten wir von Jesus ein Gleichnis ausgerechnet aus dieser kapitalistischen Sphäre wohl nicht erwartet. Es wirkt schräg, von ihm belehrt zu werden, dass und wie man Geld vermehrt. Er selbst hatte ja keines. Die Jünger mussten am Sabbat vor Hunger auf fremden Feldern Ähren raufen. Eine ordentliche Mahlzeit bekamen sie nur, wenn Jesus sich bei einem reichen Zöllner oder anderen Sympathisanten zum Essen einlud. Von Geld keine Spur. Deshalb gehört die Besitzlosigkeit, neben der Keuschheit und dem Gehorsam, ja auch zu den sog. Evangelischen Räten, nach denen die leben, die sich als Mitglieder eines Ordens auf eine besonders konsequente Form der Nachfolge Jesu einlassen.

Aber nun das hier: Jesus redet von Riesensummen. In Zentnern Silbergeld wird gerechnet. Ein Zentner, das ist ein riesiger Barren Silber. So viel, wie ein Mensch gerade noch tragen kann. 30 bis 40 Kilogramm. Ein Zentner, das waren in der Zeit Jesu so um die 17 Jahreseinkommen einer armen Familie. Die acht Zentner eines Investors entsprechen also etwa 140 Jahreseinkommen. Gelobt wird der, der das ihm anvertraute Vermögen in kurzer Zeit verdoppelt. Zu dem, der auf diese Weise zehn Zentner Silbergeld abliefern kann, sagt der von seiner Reise zurückkehrende Herr: „Du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen.“ Da wirkt es fast schon zynisch, in so einem Zusammenhang von „wenig“ zu reden.

Jedenfalls hat nicht nur Bert Brecht in diesem Gleichnis einen durch Gott höchstpersönlich abgesegneten Lobpreis der Kapitalvermehrung gesehen. Dieses kleine Gleichnis hat eine enorme ideengeschichtliche Wirkung entfaltet. Der große Soziologe Max Weber hat vor gut 100 Jahren diese Wirkung analysiert, besonders auf die Reformation. Er kam zu der berühmten These, dass Texte wie dieses Gleichnis die protestantische Arbeitsethik hervorgebracht haben, die wiederum einen entscheidenden Nährboden für das Aufkommen des Kapitalismus bereitet habe. Da ist schon etwas dran. In protestantisch geprägten Ländern war und ist die kapitalistische Wirtschaft besonders dominant und erfolgreich. Blick in die USA genügt. Himmlischer Segen wurde und wird dort in etlichen protestantischen Kirchen mit irdischen, materiellen Segnungen identifiziert. Je mehr Wohlstand, desto fleißiger und gottgefälliger lebt einer, desto mehr Segen von oben muss auf ihm ruhen. Dieses sog. Wohlstandsevangelium lässt seit Jahren im ursprünglich katholischen Lateinamerika die protestantischen Freikirchen immer mehr anwachsen.

II.

Aber all die Auswüchse des Kapitalismus bitte ich Sie jetzt einmal ad acta zu legen. Denn dieses Gleichnis ist keine Anleitung zur ökonomischen Geldanlage heute. Es ist ein sog. Endzeitgleichnis. Der Herr, der hier verreist: für die Gemeinde des Matthäus war das Christus selbst, der nach seiner Himmelfahrt nicht mehr irdisch da war. Umso intensiver haben sich die Menschen auf seine Wiederkunft vorbereitet und damit die Endzeit, das letzte Gericht verbunden. Wenn Christus in Herrlichkeit wieder für alle sichtbar auf die Erde kommt, dann wird alles ans Licht kommen, alle Ungerechtigkeit und alle Schuld, aber auch Liebe und alle Gerechtigkeit.

Durch die maßlose Übertreibung, mit der dieses Gleichnis arbeitet, will es unsere Aufmerksamkeit ganz woanders hin lenken. Ein verreisender Herr hätte ja, realistisch betrachtet, bessere Wege, sein Vermögen vermehrend arbeiten zu lassen als dass er es einfach den Sklaven überlässt. Da kann er kaum mit Wachstumsraten rechnen, wie wir sie nicht einmal vor 30 Jahren beim Boom der New Economy erlebt haben. Vor allem aber wird er von seinen Sklaven nicht erwarten, dass die gegen das geltende Recht verstoßen. Denn Wucher war damals vom rabbinischen Recht strikt verboten. Vorhandenes Vermögen konservativ zu sichern, war die einzig legale Verhaltensweise. Es zu vergraben, war durchaus üblich. Dieses Vorgehen war keineswegs so befremdlich, wie es heute auf uns wirkt. Also, das ist zunächst ein wichtiges Zwischenfazit: Nicht die beiden ersten Knechte, die sich der wunderbaren Geldvermehrung rühmen, haben sich korrekt verhalten. Sondern der dritte Knecht ist der Einzige, der sich an die üblichen Gepflogenheiten gehalten hat. Nicht nur deshalb hat er meine Sympathie. Die beiden ersten brauchen die gar nicht. Sie wurden reichlich ausgestattet mit fünf und mit zwei Zentnern Silbergeld. Die Art, wie sie damit gewirtschaftet haben, findet das Wohlwollen ihres Herrn. Sie sollen sowieso eingehen „zu ihres Herrn Freude“; unsere Empathie brauchen sie nicht. Den dritten Knecht dagegen benachteiligt der Herr ganz offensichtlich. Nur ein Zentner Silbergeld wird ihm anvertraut. Wie er dieses Vermögen hütet, stößt auf die scharfe Kritik seines Herrn. Er verwünscht ihn sogar, indem er ihm ewiges „Heulen und Zähneklappern“ in Aussicht stellt. Dabei hat dieser Knecht doch nur getan, wozu er verpflichtet war. Auf die Härte und Unerbittlichkeit des Herrn, die ihm ohnehin schon lange einschüchtert und Angst macht, bräuchte er sich dafür gar nicht berufen. Der Hinweis auf die Klarheit der Regeln hätte genügt.

III.

Aber warum nur gibt ihm Jesus nicht Recht? Warum stellt er ihn so in den Senkel? Jetzt wird wichtig, dass wir es hier mit einem Gleichnis zu tun haben. Ein Gleichnis Jesu hat immer zwei Ebenen: eine sog. Bildhälfte und eine sog. Sachhälfte (A. Jülicher). Die sind nicht identisch. Die Bildhälfte ist in Jesu Gleichnissen immer aus dem prallen diesseitigen Leben gegriffen. Sie soll illustrieren, anschaulich machen, was die Botschaft ist, die Jesus mit Hilfe des Gleichnisses rüberbringen will. Diese selbst ist aber die Sachhälfte. Und die Botschaft dieses Gleichnisses ist: Um den Umgang mit dem Geld geht es gar nicht. Das ist nur die veranschaulichende Bildhälfte. Es geht um den Umgang mit den Gaben, die Gott uns geschenkt hat. Es geht um den Umgang mit der einen großen wunderbaren Gabe, die sich wirklich vermehrt, wenn wir sie verschwenderisch ausgeben, und die tatsächlich verkümmert, wenn wir sie vergraben: die Liebe, und, von ihr abgeleitet, die Versöhnung. Wer diese Gottesgabe versteckt, um sie unter Kontrolle zu halten, zerstört sie. Heulen und Zähneklappern sind die Folge. Ja, wer alles horten, unter Kontrolle behalten will, knirscht auch noch im Dunkeln mit den Zähnen. Er holt dann nachts all die Kontrolle auch noch nach, zu der es am Tag nicht gereicht hat. Anders gesagt: Wer Gottes Liebe so unter Kontrolle halten will, verliert alle Kontrolle. Es geht also nicht um kapitalistische Geldvermehrung als Norm. Das Geld, das sich vermehrt, wenn man nur kreativ genug damit umgeht, ist für Jesus nur ein - allerdings provozierendes - Bild für die Liebe, die sich nicht verausgabt, wenn man sie mit anderen teilt. Die zu einem großen Strom anschwillt, wenn man sie nur strömen lässt.

Deshalb ist es abwegig, wenn man Jesus mit einem düsteren Herrn gleichsetzt, der in die Ferne reist und bei der Rückkehr unerbittliche Rechenschaft fordert. Kann das derselbe sein, der von sich sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28)? Soll man sich von ihm vorstellen, er habe den Menschen Heulen und Zähneklappern in der Finsternis, also - die Hölle angekündigt? Freilich: dass Menschen durch die Angst, in der sie ihre Fähigkeit zu lieben vergraben, statt sie zu leben, sich selbst in eine unheimliche Einsamkeit und Dunkelheit bringen können, das ist so. Wir kennen solche Momente von uns selbst wie von anderen. Es ist aber genau diese Finsternis selbst, die Jesus auf sich genommen hat. Die Finsternis, in die der dritte Knecht sich gestoßen fühlt, ist dieselbe, in welcher der Gottesknecht, der wahre Herr aller Knechte starb: „Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde“, so heißt es beim selben Evangelisten Matthäus in der Passionsgeschichte, „und Jesus schrie mit lauter Stimme und starb“ (Mt 27,45.50). Dass Jesu Schrei diese Finsternis erreicht, ist der Grund der Hoffnung für alle, die sich selbst zu hoffnungslosen Figuren erklären. Ohne diese Verheißung könnten wir kaum leben. Es ist die Hoffnung auch für den dritten Knecht.

Deshalb stehen auf einer tieferen Ebene eben doch nicht Heulen und Zähneklappern am Ende dieser Geschichte. Denn Jesus ist für jeden hoffnungslosen Fall ans Kreuz gegangen - wodurch es uns schlicht verboten ist, einander oder gar uns selbst zu solchen Fällen zu erklären. Und darum steht etwas anderes am Ende dieser Geschichte: nämlich die Freiheit von der Angst, zu versagen. Die ist nicht mehr nötig. Denn keine unserer Gaben ist zu gering, als dass sie nicht im Licht der göttlichen Liebe strahlen könnte. Keine unserer Begabungen ist unnütz, keine braucht zu verkommen. In der göttlichen Haushaltsordnung hat jede unserer Gaben ihren Wert: die Gabe zu trösten ebenso wie die Fähigkeit zu planen, die Lust am Geschichtenerzählen ebenso wie die Durchhaltekraft bei der Arbeit. Denken Sie an das berühmte Kinderbuch von der Maus Frederick. Frederick sammelt nicht wie die anderen Mäuse essbare Vorräte für den Winter; Frederick bereitet sich darauf vor, in den kalten Wintermonaten die anderen durch seine Erzählungen zu erwärmen und zu erfreuen. Auch das ist ein Talent.

IV.

Haben wir ein Recht, die schönen Begabungen unter den Scheffel zu stellen, die Gott jeder von uns anvertraut hat? Jesu Gleichnis gibt uns dazu kein Recht. Übrigens: gäbe es dieses Gleichnis nicht, dann hätte das Allerweltwort Talent nie Eingang in unsere Sprache gefunden! Das Wort, das Luther hier mit „Zentner“ übersetzt hat, heißt nämlich im griechischen Urtext „Talent“. Wenn wir davon sprechen, dass einer Talent hat, dann gehört das auch zu der großen Wirkungsgeschichte dieses kleinen Gleichnisses von den anvertrauten Zentnern bzw. eben den anvertrauen Talenten. Es will uns mit auf den Weg geben, dass damit unser Glaube beginnt: dass wir die Talente suchen, die Gott so reichlich in dieser Welt und damit auch in jedem von uns versteckt hat. Wir sollen sie dankbar annehmen und verschwenderisch verschenken. Sie werden dadurch nur mehr.

Das ist christliche Freiheit. Nelson Mandela, der große erste Präsident des neuen Südafrika, hat vor 28 Jahren bei seiner Antrittsrede diese christliche Freiheit eindrücklich zur Sprache gebracht. Er sagte damals: „Unsere tiefste Angst ist es nicht, ungenügend zu sein. Unsere tiefste Angst ist es, dass wir über die Maßen kraftvoll sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das am meisten Angst macht. Wir fragen uns selbst, wer bin ich - von mir zu glauben, dass ich großartig, begabt und einzigartig bin? Aber in Wirklichkeit - warum solltest du es nicht sein? Du bist ein Kind Gottes. Dein Kleinmachen dient nicht der Welt. Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um dich herum nicht verunsichert fühlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen. Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem! Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unser Dasein auch die anderen.“

Berührende Worte eines Staatsmannes, der kein Theologe war, aber viel von der Freiheit eines Christenmenschen verstanden hat. Denn genau so ist es mit den Talenten, die Gott uns anvertraut.


AMEN.

Die vereinsamte Sünde

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

gerade haben wir mit den Taufen von Emma und Lydia das Wunder des von Gott geschenkten Lebens gefeiert. Aber jetzt haben wir einen Predigttext zum Thema Taufe gehört, wo fast in jedem Satz die Worte Tod oder Sterben vorkommen. Wie geht das zusammen mit dem, was uns die Taufe ist? Die ist uns doch die Geburtsstunde eines Christenmenschen. Dieser Paulustext aber wirkt prima vista eher wie eine Todesanzeige. Auf jeden Fall ist das eine ganz schön steile Tauftheologie! „In Christi Tod getauft“: Trauen wir Pfarrer*innen uns überhaupt noch, das in Taufgesprächen und -gottesdiensten anzusprechen? Wer kann das heute denn noch verstehen oder gar nachempfinden? Wir sagen ja gerne, dass wir im Namen des Gottes taufen, der sein großes Ja über dem Täufling spricht. Wir sprechen von der Hoffnung, dass er ihn oder sie begleiten und behüten möge.

I.

Indes: Wir Pfarrer*innen können bei der Taufe ja nur deshalb so vollmundig Segen, Schutz und Begleitung zusprechen, weil nicht wir dafür einstehen müssen, sondern weil Gott selbst uns gleichsam die Garantie dafür gegeben hat. Oder besser: uns eine Art Siegel dafür eingeprägt hat. Durch das Kreuz Jesu Christi. Und durch seine Auferstehung. Was wir im Namen Gottes zusprechen, ist nur die sichtbare Spitze eines geistlichen Eisbergs, der tief nach unten geht. Nur weil Gott in Jesus unsere menschlichen Abgründe nicht gescheut hat, kann er uns versprechen, in allen Tiefen und Dunkelheiten unseres Lebens bei uns zu sein. Das können wir doch gut nachvollziehen: Wenn es uns elend geht, dann tut es gut, wenn wir das jemand mitteilen können, von dem wir wissen, er ist durch ähnliches durch. Bei Jesus geht es noch weit darüber hinaus: Nur weil er die tiefsten Tiefen menschlicher Existenz durchmessen hat, kann er dann auch in die höchsten Höhen aufsteigen. In den Himmel. Zugespitzt könnte man sagen: der Tod, oder besser: das Sterben als notwendige Bedingung zum wirklichen Leben.

Paulus jedenfalls geht es hier nicht, wie wir es bei der Taufe so gern betonen, um Bestärkung des bereits existierenden Lebens, sondern um eine richtige Neuinszenierung. Aber das geht doch ziemlich seltsam vor sich, irgendwie unordentlich und turbulent. Paulus scheint die Taufe als ein geheimnisvolles Geschehen anzusehen, in dem ich, ganz real, zu Christus in seinen Tod gestoßen und mit ihm begraben werde – um dann aber auch mit ihm wie Phoenix aus der Asche wieder emporzusteigen aus der Gruft als ein quicklebendiger Springinsfeld. Das provoziert auf jeden Fall unseren gesunden Menschenverstand, unseren Ordnungssinn. Für den hat ja alles seinen festen Platz. Da kommt uns ein Drehbuch ziemlich absurd vor, das uns im ersten Akt sterben, im zweiten begraben werden und im dritten wieder ins Leben zurückkommen lässt. Für unser Lebensgefühl hat ja nicht der Tod das erste Wort und das Leben das zweite, sondern umgekehrt. Um auf den Anfang zurückzukommen: Paulus formuliert hier eine Todes- und eine Geburtsanzeige in einem! Oder noch genauer gesagt: Geburtsanzeige, weil Todesanzeige!

Liebe Gemeinde,

dahinter steht eine Erfahrung, die wir alle in unserem Leben machen, ob uns das bewusst ist oder nicht: Nur durch ein Stück Sterben hindurch geschieht wirkliches Zum-Leben-Kommen. Jesus hat nicht umsonst gesagt: „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und erstirbt, bringt es viel Frucht“ Einer Mutter muss man das nicht sagen: In jeder Geburt passiert immer auch ein Stück Sterben. Die kaum erträglichen Schmerzen, die eine Frau beim Gebären gegenüber dem paradiesischen Mutterleib, in dem es ihm an nichts fehlte, erstmal nur grell und angsterregend erscheinen kann. Das ist alles ein Bild und „Angeld“ dafür, wie einmal bei unserem letzten Sterben sein wird, das, so meint Paulus an anderer Stelle, „verschlungen ist in den Sieg“, d.h. in die Geburt zum neuen, ewigen Leben.

Aber was für ein Sterben ist es denn, von dem Paulus hier in so vielen Wendungen spricht? Im letzten Vers sagt er: „Haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid“. Und zwar deshalb, weil wir „mit Christus gestorben“ sind. Für mich heißt das: Das Dunkle und Abgründige in uns, von dem wir uns auch durch noch so große moralische Kraftakte nicht befreien können, das hat er ans Kreuz getragen, damit es dort mit ihm sterben und uns künftig nicht mehr quälen soll. Das, was unser Text „Sünde“ nennt, soll in uns abgetötet werden. Der „Alte Adam“ in uns wird, wie Luther gewohnt drastisch sagte, im Wasser der Taufe „ersäuft“.

Das klingt theologisch steil, aber es steckt für mich etwas sehr Verheißungsvolles dahinter. Es ist viel mehr, als was wir so mit dem Wort „Sünde“ verbinden. Wir wagen es nicht mehr, von „Sünde“ zu sprechen, weil dieses Wort so viel Ballast mit sich schleppt. Wir haben christlicherseits jahrhundertelang die Sünde moralisiert und damit eine Abwertung der Sexualität verbunden, die unbiblisch ist. Und wir haben sie weltlicherseits banalisiert, indem wir sie auf „Parksünden“ oder „Diätsünden“ reduzieren.

II.

Aber was ist Sünde denn nun wirklich? Unsere Gottesferne, das, was uns in der Tiefe von Gott trennt, heißt es schön korrekt in den theologischen Lehrbüchern. Aber was heißt das konkret? Ich versuche es so zu sagen: Sünde ist für mich das, was sich in mir sträubt und sperrt gegen das Leben. Wieviel Sperriges gibt es in mir, wie viel Widersprüchliches, wie viel Abgründiges, wie viel Angst. Wer von Ihnen gern Krimis liest, weiß, wie voll sie davon sind. Auch in meinem Alltag lässt mich dieses Unbereinigte, Chaotische in mir ungeduldig, ungerecht und aggressiv gegenüber anderen werden. Es ist das, was mich – mit Paulus im folgenden Kapitel zu sprechen – statt des Guten, das ich will, das Böse tun lässt, das ich eigentlich gar nicht will. Das, was mich selber quält und treibt und mein Leben bestimmen will. Diese inneren Sklaventreiber, die mir permanent einhämmern: Du musst dies noch machen, und jenes noch leisten! Oder die mir einflüstern wollen, dass ich die Zuneigung, die Liebe eines anderen Menschen eigentlich gar nicht „verdient“ haben kann, so wie ich mich selbst erlebe und mich deshalb dagegen sperre, obwohl ich mich doch nach nichts mehr sehne als geliebt zu werden. Das alles ist der „Alte Adam“ in Reinkultur, um mit Paulus und Luther zu sprechen.

Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort, das viel darüber aussagt, was Sünde eigentlich ist: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“. Das ist es: Sünde ist Hass gegen den, der mir helfen will. Biblisch gesprochen: Sünde ist Hass gegen den Sieg der Gnade. Den in sich eingesponnenen Menschen, der sich selbst zum Kokon wird, einen Betonwall errichtet gegen alles, was von außen her helfend auf ihn zukommt: So hat Martin Luther in einem ganz starken Bild den von Gott getrennten, sich gegen ihn abschottenden Menschen unter der Sünde beschrieben. Dass das keine „mittelalterliche“ Anschauung ist, sondern auch heute beklemmend aktuell, davon können die Psychotherapeuten ihre Lieder singen, und wir in unserer Seelsorge auch. Dietrich Bonhoeffer hat es einfach und einfach wahr so gesagt: „Die Sünde will mit dem Menschen allein sein“. Sünde ist der unheimliche Sog ins Alleinsein, in die Beziehungslosigkeit.

Und nun noch einmal zu dieser schwierigen Aussage des Paulus: „Wir sind mit Christus gestorben“. Am Schluss dieses großen Taufkapitels sagt Paulus lakonisch: „Der Tod ist der Sünde Sold“. Auch so eine steile, schwere Aussage. Aber eigentlich finde ich sie gar nicht so schwer zu fassen. Denn der Tod ist ja deshalb „der Sünde Sold“, weil er das Ereignis totaler Stummheit ist. Und so den Drang in die Beziehungslosigkeit, der die Sünde ist, auf die Spitze treibt. Deshalb ist das Sterben anderer, die wir liebhaben, so schmerzhaft: es beendet Gemeinschaft, es macht uns einsamer. So hat auch der Tod Jesu denen bitter weh getan, die Gemeinschaft mit ihm hatten. Aber nun stellt Paulus hier die verwegene Behauptung auf, dass dieser Tod Jesu noch in einem ganz anderen, hocherfreulichen Sinn Gemeinschaft zerstört hat: die unselige Gemeinschaft mit der Sünde. „Haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid“: Die Gemeinschaft mit der Sünde ist zerstört, und das heißt: Jetzt sind nicht mehr wir die Einsamen, die nur aus sich selbst und für sich selbst leben, sondern die Sünde wird einsam. Sie schafft es nicht mehr, sich an uns zu vergreifen.

III.

Aber klingt das nicht viel zu schön, um wahr zu sein? Wo wird das denn sichtbar, dass wir, wie Paulus hier so selbstverständlich behauptet, „in einem neuen Leben wandeln“? Ist es nicht vielmehr unsere Erfahrung, dass wir mit unseren Vorsätzen, uns zu ändern, etwas von diesem neuen Leben an uns aufscheinen zu lassen, immer wieder kläglich abstürzen? Ja, so ist es wohl. Aber eben, nicht zufällig spreche ich hier von den guten Vorsätzen. Die sind nämlich das Detail, in dem sich hier der Teufel versteckt. Denn mit guten Vorsätzen, so sagt das Sprichwort zu Recht, ist der Weg in die Hölle gepflastert. Also eben nicht der Weg in den Himmel und zum neuen Leben! Gerade Paulus konnte ein bitteres Lied davon singen: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht...“ Im Klartext: Von dem her, was vor Augen liegt, sind wir alle miteinander Gegenargumente gegen die kühne Behauptung des Paulus, wir seien „mit Christus der Sünde weggestorben“. Nein, bessere Menschen als die Nichtgetauften sind wir durch unsere Taufe nicht geworden. Ich sehe es so: Sünde ist dieser Wahn, das Leben habe das erste Wort, der Tod aber das letzte, entscheidende. So will sie uns einflüstern, die Sünde, der wir doch gestorben sind: Es ist alles umsonst, das Böse ist übermächtig in der Welt, das Evangelium kommt doch nicht dagegen an, lassen wir die Welt links liegen und sorgen uns nur um unser persönliches Wohlbefinden und Seelenheil!

Aber Gott sei Dank, dass es nicht so, dass es anders ist! Denn von ihm, von Gott her ist diese Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ – so sagt es Paulus hier – nicht mehr da, ist sie wirklich erledigt. Wenn wir mit Paulus durch unser Getauftsein „wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht mehr stirbt; der Tod kann hinfort nicht mehr über ihn herrschen“ – dann ist es eben so, dass die Sünde ihre Macht über uns verloren hat. Für Martin Luther war das Wissen um seine Taufe immer wieder Trost, wenn er seine depressiven Anwandlungen bekam und an seinem Leben verzweifeln wollte. Dann konnte er sich trotzig sagen: Bapticatus sum, Ich bin getauft! Das hat er sich auf seinen Schreibtisch geschrieben. Und wir sollten es uns hinter die Ohren schreiben: Ich bin getauft. Ich selbst kann mich zwar nicht daran erinnern, aber ich werde immer wieder daran erinnert: in jedem Gottesdienst, in dem mir nach dem Bekenntnis meiner Schuld Gottes Vergebung zugesprochen wird. Auch das ein Zeichen dafür: Mein Weg geht durch den Tod hindurch – ins Leben.

Paulus sagt es zwei Kapitel später auf dem Gipfel seines Römerbriefes so: Nichts und niemand, auch nicht der Tod, kann uns von Gottes unbeirrbarer Liebe trennen. Das ist das große Thema von Paulus: Wir sind auf Gedeih und Verderb – aber eigentlich muss es heißen: auf Verderb und Gedeih! – mit Jesus verbunden. In dem herrlichen Osterlied, das wir jetzt singen, hat Paul Gerhardt genau dies ins Wort gebracht: „Er reißet durch den Tod / durch Welt, durch Sünd, durch Not, / er reißet durch die Höll, / ich bin stets sein Gesell“ (112,6). „Ich bin stets sein Gesell“: Wer sich darauf stellt, der freut sich einfach über Gottes uneingeschränktes Ja zu sich und den anderen. Und dieses große Ja wartet auf ein kleines, aber leuchtendes Wörtchen, auf unser


AMEN.

»Weiß ich den Weg auch nicht ...«

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Im Anfang war Abraham. Denkmal. Mythos. Methusalem. Erzvater. Heiliger. Zankapfel. Und weil Abraham im Anfang war, spricht man heute von den »Abrahamitischen Religionen«, wenn es um das Verbindende zwischen den drei großen monotheistischen Religionen geht. Abraham ist die Gestalt an ihrer Wiege; in allen drei Weltreligionen bis heute tief verehrt.

Der Predigttext dieses Sonntags führt uns genau zu dieser Wiege. Er ist kurz, aber randvoll an Bedeutung und Wirkung. Ein biblischer Großtext. Er ist es deshalb, weil er den Übergang darstellt von der sogenannten biblischen Urgeschichte in den ersten 11 Kapiteln der Genesis hin zur Menschheitsgeschichte. Ging es in dieser Urgeschichte nicht um Historie, um die Geschichte eines Ur-Menschen, sondern um die ur-menschliche Geschichte des Menschen, der wir alle sind, so geht es jetzt zur konkreten Historie, die Gott mit den Menschen schreibt, beginnend mit der Person Abrahams. Man kann auch sagen: nach der Urgeschichte beginnt mit Abraham die Heilsgeschichte. Aber lassen wir unser Wissen oder Halbwissen einfach mal beiseite und fragen Abraham selbst, über den Graben von vier Jahrtausenden.

Abram, in unserem Predigttext heute scheint Ihrem Namen eine Silbe zu fehlen. Wir kennen Sie als Abraham. Wie kommt das?

Nur keinen falschen Respekt, liebe Leute. Bei uns im alten Orient duzt man sich. Ihr könnt Abraham zu mir sagen. Gott hat mir diese eine Silber noch dazugegeben, als er mir nach meinem Auszug in die Fremde durch drei Boten die Wahnsinns-Mitteilung machte, dass ich in meinem hohen Alter doch noch Vater werden sollte. Abraham heißt in eurer Sprache so viel wie ‚Vater der Völker‘. Und als solchen sehe ich mir bis heute besonders gerne.

Könntest du uns das näher erklären, inwiefern du der Vater vieler Völker bist?

Nun ja, natürlich sehe ich mich zunächst einmal als Vater meines, des jüdischen Volkes. Es verehrt mich bis heute – nein, nicht als Begründer seiner Religion, der hieß Mose und kam erst viele Jahrhunderte nach mir. Aber als Begründer des Volkes. Übrigens ein Volk mit unglaublich vielfältigen DNA. Ihr würdet heute von einem Volk sprechen, das die Globalisierung im Blut hat. Ich selbst stamme ja ursprünglich aus dem Zweistromland, für Euch heute der Irak. Aber dann, an zweiter Stelle, sehe ich mich auch als Vater des arabischen Volkes. Auch in ihm werde ich bis heute als solcher in Ehren gehalten. Mein Sohn Ismael, den Hagar, meine Nebenfrau, mir noch vor Isaak geboren hatte, gilt ja als Stammvater des arabischen Volkes. Und dann ist mir noch eine Vaterschaft zugewachsen, eine ganz spezielle. Nicht direkt wie bei Isaak und Ismael und ihren Nachfahren. Ihr Christ*innen könnt mich über einige Ecken ja auch als Vater ansehen. Nicht im ethnischen Sinn, wie die Juden und Araber. Aber eben geistlich. Schließlich ist einer meiner fernen Nachkommen, Jesus von Nazareth, euer „Religionsstifter“, euer Zugang zu dem einen Gott. In seinem Stammbaum im Matthäusevangelium ist von ihm als „Sohn Davids und Sohn Abrahams“ die Rede. Und euer Apostel Paulus schreibt einmal: „Gehört ihr zu Christus, so seid ihr Abrahams Same“.

Das hört sich aber ein bisschen kompliziert an…

Nun ja, ist es auch ein bisschen, weil es sich eben um eine geistliche Vaterschaft handelt, keine genetische. Für mich bedeutet dieser große Satz, den Gott zu mir sagte: „In dir werden gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden“, dass ich sozusagen der Prototyp dafür bin, dass Gott den Menschen nicht verwirft, sondern in Liebe erwählt. Eine frühes Vorzeichen des Bundes, den er später einmal mit Mose am Sinai schließen sollte.

Aber bist du nicht doch viel mehr als nur ein Prototyp für uns alle? Für uns bist du doch der exemplarische Glaubende überhaupt. Das Beispiel für Glaubensgehorsam, an dem alle Glaubenden Maß nehmen sollen. Ich meine, Gott hat dir immerhin zugemutet, dein Land zu verlassen, also deine Heimat, die dich geprägt hat. Und damit deine Verwandtschaft, das Allermeiste von deinem Besitz - und einfach so ins Blaue hinein marschieren, nur auf dieses Wort eines Gottes hin, den du ja noch gar nicht wirklich kanntest. Und du hast tatsächlich alles stehen und liegen gelassen und bis losgezogen! Das ist doch total ungewöhnlich! Wer macht so etwas denn?

Naja. So flott und bruchlos ging das nun nicht vonstatten. Schließlich sind in diesen alttestamentlichen Versen nicht meine Tagebücher verewigt, sondern nur der äußerste Zeitraffer meiner Geschichte. Und auch diese Kurzversion war, bevor man sie aufgeschrieben hat, schon durch tausend Münder und Ohren gegangen, sie ist quasi glattgeschliffen. In Wirklichkeit war mein Auszug ein langer, zäher Prozess. Wie das eben so war damals, vor fast 4.000 Jahren, wo es große Wanderbewegungen von Beduinensippen zwischen dem Zweistromland und der arabischen Wüste gab. Gesegnet jedenfalls habe ich mich eigentlich erst Jahre später, in den Momenten, da ich meine Söhne Ismael und Isaak in Händen hielt.

Aber mit materiellen Gütern reich gesegnet warst du doch schon im fruchtbaren Zweistromland! Warum bist du denn überhaupt von dort weg?

Ach, das ist eine alte Geschichte, und eigentlich eine ewig junge. Wir lebten in Haran, ja, als eine reiche Beduinensippe. Viele Herden, viele Knechte, viel Ansehen. Aber wie das dann so ist, viel Rivalität, viel Neid, viele Intrigen. Hinzu kam, dass wir uns im Aussehen ein wenig von den angestammten Einwohnern dort unterschieden. Und irgendwie grassierte in unserer Sippe seit langer Zeit schon eine unbestimmte Sehnsucht nach einer neuen, andere Heimat. Nach einem Ziel. Und, ganz wichtig: Mit der Zeit hatten wir für uns einen Gott erfahren und kennengelernt, der anders war als die Götter der anderen. Ein naher Gott, der sich mit uns bewegte, der nicht gebunden war als feste Orte, wo man hinmusste, um ihn zu erfahren. Unseren Gott erfuhren wir eher als einen, der selbst Sehnsucht hatte: nach einem Weg, den er mitgehen kann, nach einem neuen Ziel, nach einem Volk, das er sich als Partner auserwählen würde.

Also kein allmächtiger Gott, der euch Anweisungen erteilt?

Also so würde ich das nicht sagen. Allmächtig war er schon, unser Gott. Schon deshalb, weil wir keinen Namen für ihn hatten – das wäre uns wie eine Begrenzung, eine Einschränkung seiner Gottheit erschienen. Und natürlich gab es einige feste Regeln, die wir für unseren Gott einhielten. Feste Opfer- und Gebetsregeln etwa. Und einen gewissen Verhaltenskodex, den wir auf den Willen unseres Gottes zurückführten. Aber über so Dinge wie sein Wesen, seine Eigenschaften, wie seine Allmacht zu verstehen ist, darüber haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Das scheint mir eher ein Problem von Euch zu sein.

Aber du hast doch die klare Anweisung bekommen zu gehen?!

Also, da muss ich doch mal in meinen langen Bart lächeln. Ja, ich habe diese Anweisung erhalten – aber sie galt meiner Familie schon immer. Es war die Anweisung zu suchen. Gott zu suchen, den Ort zu suchen, an dem er unser Herz erreicht. Und eben das, wenn Gott in deinem Herzen angekommen ist: das ist dann Segen. Wenn du das, was du an Gutem und Schönen siehst und um dich herum hast, annimmst als ein Geschenk, das du dir nicht verdient hast und dankbar dafür sein kannst. Und wenn das, was du auch siehst und erlebst und manchmal schier nicht mehr ertragen kannst, dein Herz trotzdem nicht verdunkelt, sondern du es abgeben kannst an Gott. Im Vertrauen, dass es bei ihm aufgehoben ist und er seine Wege hat, Übel und Leid zu bekämpfen. Das meint der Satz, den ich damals von oben vernommen hatte: „Ich will segnen, die dich segnen, und ich will verfluchen, die dich verfluchen“.

Aber wenn das so ist, warum dann dieser Auszug ins Unbekannte? Dann hättest du doch auch bleiben können, wo deine Heimat war?!

Nein. Dieser Auszug, der Aufbruch ins Ungesicherte war mein Weg Gott zu finden, in ein wirklich enges Verhältnis zu ihm zu kommen. Mich unter seinen Segen zu stellen, den er mir in seiner Aufforderung verheißen hatte, obwohl da zunächst noch nichts Greifbares war: das war die Herausforderung, die ich damals spürte. Wie es in einem Eurer Kirchenlieder heißt: »Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl …« Das war die Herausforderung an meinen Gottesglauben. Ich habe etliche Jahre und Stationen dafür gebraucht. Und ich habe auf dieser langen Reise gelernt, wie eng Wahrheit und Lüge beieinander liegen. Ich habe gelernt, dass menschliche Weisheit lächerlich gering ist – immer noch übrigens. Ich habe verstanden, dass es manchmal schwierige Zeiten braucht, um sich selbst näher zu kommen, sozusagen reiner zu werden im Herzen. Ich habe gelernt, dass Gottes Segen wirkt in vielen Varianten. Ich, Abraham, habe dafür diesen Weg gebraucht. Andere finden anders dorthin.

Zum Beispiel?

Oh, die Geschichte meines Volkes ist voller Beispiele. Denkt an Mose, auch so ein Prototyp des Suchens und Findens. Er wurde aus seiner behüteten Existenz als Findelkind am ägyptischen Königshof herausgerufen, erst in die Wüste, wo er im brennenden Dornbusch unserem Gott begegnete, und dann zum Pharao beordert, um schließlich sein Volk in neues, freies Land zu führen. Da wurde Saul von seinen Eselinnen, David von seiner Schafherde weggeholt, um Könige Israels zu werden. Amos rief Gott von seinen Maulbeeren fort, um ein gottvergessen gewordenes Volk als Prophet wieder zu Gott und seinem Wort zu rufen.

Und bei euch Christen war es dann ja nicht anders. Petrus und 11 weitere Familienväter ließen sich von Jesus von ihren Fischernetzen und Familien wegrufen, um ihr Leben ganz auf ihn und damit auf Gott zu setzen. Paulus wurde weggerissen von seinen Pharisäerfreunden, musste grundlegend umlernen und wurde der große Völkerapostel, ohne den es euch gar nicht gäbe. Da mussten Augustinus und Franz von Assisi, Zinzendorf und sogar euer modernen evangelischer Heiliger Dietrich Bonhoeffer Abschied nehmen von Haus, Nachbarschaft und Freundeskreis, weil die Sache Gottes, von der sie sich haben packen lassen, tiefer reicht als alle menschlichen Bindungen, die bis dahin ihr Leben bestimmt hatten. Das ging bei allen nicht bruchlos und ohne Schmerzen ab, klar. Aber sie erfuhren sich alle als von Gott geführt – auch wenn es dorthin ging, wohin sie eigentlich von sich aus nicht wollten. Sie erfuhren, was besagter Bonhoeffer so ausgedrückt hat: »Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen.« So ähnlich habe ich mir das damals auch zu sagen versucht, wenn mich die Angst in die Mangel nehmen wollte vor dem Unbekannten. Ich hatte ja keinen Fahrplan, keine Landkarte, auf der die einzelnen Wegstationen markiert gewesen wären.

Habe ich dich also richtig verstanden, verehrter Abraham, dass du uns allen auch einen Auszug empfiehlst? Nicht unbedingt den Exodus aus unserem Haus, Beruf und Heimat, aber doch aus unseren Gewohnheiten, aus manchen allzu selbstverständlichen Perspektiven? Zumindest ein innerlich aufbrechen, um die eigenen Herzen aufzubrechen? Und das, was uns da neu begegnet, annehmen als einen Weg näher zu Gott hin, und als Zeichen seines Segens?

Nun, das hast du ein bisschen europäisch-kompliziert ausgedrückt, aber ja, so in etwa meine ich’s. Wenn ihr wirklich aufbrecht, euch einlasst auf das, was das Leben von euch fordert, dann werdet ihr wachsen, euer Herz wird weit werden, so dass es zum Segensort werden kann. Denn glaubt mir: Der Segen ist die dichteste, dramatischste Stelle des Gottesglaubens. Dort nämlich wir konkret und erfahrbar, was Gnade ist: Nicht erringen und sichern müssen, wovon man wirklich in der Tiefe lebt. Sich nicht bannen und lähmen lassen durch die Zweifel und Zersplitterung des eigenen Lebens. Als Gesegnete muss ich nicht nur ich selbst sein. Als Gesegneter kann ich hinfallen, stürzen: in den Abgrund der Liebe Gottes. Dazu berufen seid ihr alle, durch mein Beispiel.


AMEN.

Sehnsucht nach Heimat

Geistlicher Impuls im Rahmen der Morgenandacht auf der Aussichtsplattform gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Was ist für Sie Heimat?“ Vor einiger Zeit hat mich ein Journalist das gefragt. Mit so einer Frage hatte ich gar nicht gerechnet, und zu meinem eigenen Erstaunen hat sie mich erstmal ziemlich in Verlegenheit gebracht. Klar, ich habe auch bemerkt, dass das Wort Heimat - über Jahrzehnte war es in Deutschland eher verpönt, jedenfalls bei allen, die sich für halbwegs modern und „aufgeklärt“ halten – seit einigen Jahren erstaunliche Konjunktur hat. Und das eben nicht mehr nur bei Trachtenvereinen über Schlager- und Volksmusikfans bis hin zu den sog. Neuen Rechten. Auch eine nüchterne Verwaltungsorganisation wie das Bundesinnenministerium hat das Wort entdeckt und es vor einigen Jahren in seinen offiziellen Namen mit aufgenommen. Aber für mich klingt Heimat nach wie vor so ein bisschen nach „Der Förster im Silberwald“, „Schwarzwaldmädel“ oder anderen einschlägigen Kinofilmen aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen nach all den Schrecken vorher die heile Welt propagiert wurde.

Für eine Mehrzahl der Menschen aber hat der Begriff Heimat inzwischen Sehnsuchtscharakter. Das gab es allerdings schon öfter in der Geschichte. Immer dann, wenn die Gegenwart besonders viele Veränderungen mit sich bringt und Menschen Orientierung suchen. Wie das so ist in unserem Zeitalter der sog Globalisierung. Und erst Recht in einer Epoche und einer Welt, die seit Jahren scheinbar nur noch von Krise zu Krise taumelt und, wie es immer wieder heißt, „aus den Fugen“ geraten scheint. Kein Wunder, dass dieser Begriff so viele unterschiedliche Vorstellungen in den Köpfen der Menschen hervorruft. Heimat ist dann plötzlich das Symbol für Geborgenheit, Vertrautsein, Sich-nicht-erklären-müssen, akzeptiert werden, aufatmen usw. Einfach nur sein, dasein können, nicht mehr machen, leisten, produzieren, eine Rolle spielen müssen. Also in etwa das, was Goethe am Ende seines Osterspaziergangs im Faust mit den unvergänglichen Worten ausgedrückt hat: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!“

Und wenn mir das in diesem Licht überlege, dann verliere ich die Verlegenheit, die ich bei Wort „Heimat“ spüre. Dann weiß ich auch endlich, was für mich Heimat ist: Mein Glaube. Ich glaube, dass ich mich Gott gegenüber nicht erklären muss, dass ich mich Gott völlig anvertrauen kann und dort Rückhalt habe, auch wenn sich alles um mich herum verändert. Dass ich bei Gott einfach Mensch bin und Mensch sein darf. Weil er mich nicht daraufhin ansieht, was ich aus mir und meinem Leben mache, sondern einfach mit den liebenden Augen dessen, der mich unverwechselbar zu dem gemacht hat, der ich bin. Mit meiner Art, an der die anderen hoffentlich ein wenig Gefallen finden. Aber auch mit meinen Unarten, mit denen ich anderen manchmal zu schaffen mache. Theologisch ausgedrückt: Gott nimmt mich als Person in den Blick. Das kommt immer zuerst und zuletzt. Das Werk, was ich leiste, wo ich Erfolge habe oder wo ich versage, kommt immer erst an nachgeordneter Stelle für ihn. Und gerade weil ich mich von Gott unbedingt akzeptiert weiß, bekomme ich von dort die Kraft, mit Veränderungen umzugehen. Ja, ich kann sagen: mein Glaube ist meine Heimat, egal, wo ich lebe.

Der Monatsspruch in der Evangelischen Kirche für diesen Monat Juli ist ein Wort aus dem 42. Psalm, den wir vorhin miteinander gebetet haben. Das ist mir in diesem Kontext schnell vor Augen gekommen. „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott“ (Ps 42,3). Wie groß kann die Sehnsucht nach Gott sein? Die Sehnsucht nach Begegnung, nach bedingungsloser Annahme, nach Unterstützung, nach Liebe. Sehnsucht. Schon das Wort macht im Deutschen klar, dass Sehnen süchtig machen kann. Das kann eine wunderbare Erfahrung sein. Das ist in der Regel so bei einer glücklichen, d.h. einer erwiderten Liebe. Bleibt eine große Liebe freilich unerwidert, oder zerbricht sie gegen mein Empfinden, wandelt sich die Lust an der Sucht des Sehnens in fürchterliche Qualen.

Aber süchtig sein nach Gott – gibt es das? Was empfindet man dann? Psalm 42, aus dem der für den Monatsspruch stammt, macht das in beredten Worten klar: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ (V 2+3) Und weiter heißt es dort: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht. Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir.“ (V 6+7a) Musikliebende haben bei diesen Worten vielleicht ihre wunderbare Vertonung durch Felix Mendelssohn im Ohr.

Sehnsucht will Seelenfutter, Speise für die Seele. Auch unsere Seele braucht Zuwendung, Nähe, Fürsorge. Gott kann sie geben, das weiß der Beter dieses Psalms. Umso schmerzlicher vermisst er die Nähe Gottes, sein Angesicht, seine Hilfe, die seinen Gegnern klarmacht, dass Gott mit ihm ist, er nicht alleine ist. Was aber, wenn er sich nicht zeigt? „Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?“ V (11) Dann bleibt nur die in Erfahrung gründende (Selbst-)Beruhigung: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“ (V 12)

Sehnsucht können wir nach vielem haben. Nach Heilsein, nach Natur, Schönheit, Akzeptanz, Romantik, Zärtlichkeit … Und in diesen elenden Zeiten wahrscheinlich am allermeisten nach Frieden. Joseph von Eichendorff, einer der großen Dichter der Romantik, fand 1834 diese Worte für Sehnsucht, die ich Ihnen an diesem Sommermorgen nicht vorenthalten will:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.

Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:

Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die über'm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,

Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

Lassen Sie sich verzaubern – nicht nur von einem Sommermorgen auf der Kuppel der Frauenkirche, sondern auch von einer Sommernacht und den Spuren von Gottes Angesicht in ihnen!


AMEN.

Das Recht der Gnade

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Eine Szene wie der Schlussakt eines Theaterstücks, in dem sich alles zuspitzt. Da gibt es einen Konflikt buchstäblich auf Leben und Tod. Da gibt es aufgeheizte männliche Wutbürger. Da gibt es ein total verängstigtes Objekt ihrer Erregung. Und da gibt es eine auffällig unauffällige Gestalt, der auf sehr originelle Weise eine Auflösung der toxischen Gemengelage gelingt. Eine grausame Hinrichtung wird verhindert. Die aufgeladenen Moralisten kommen ins Nachdenken, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Der ins Zwielicht Geratenen wird zugetraut, dass sie ihr Leben ändert. Aus dem Drama scheint am Ende ein Lehrbeispiel gelungener Mediation zu werden.

I.
Aber so einfach ist das alles nicht mit dieser bekannten Geschichte. Bis heute ist umstritten, ob diese Szene, wie sie im Buche steht, überhaupt ins Buch der Bücher gehört. In den wichtigsten alten Handschriften nämlich sucht man diesen Text vergebens. Nur ausgesprochen fragwürdige, unsichere Zeugen haben ihn überliefert. Vielleicht hat das mit seinem Thema zu tun. In allen Bibeln, die ich im Regal habe, steht über dieser Geschichte die Überschrift: „Die Ehebrecherin“. Eigentlich müsste sie anders heißen: „Die Ankläger“. Denn die Aufmerksamkeit der Geschichte liegt nicht auf der Frau. Sie liegt auf den Männern, die eine Frau hergeschleppt haben. Der Grund ist das prickelnde „Thema Nr. 1“. Sie haben die Frau in flagranti erwischt, im Bett mit einem, der da nicht reingehört. Damit ist aus dem Objekt sexueller Begierde ein Objekt sozialer Erregung geworden. Ihre Lebenslust hat den sozialen Wertekodex verletzt – damit hat sie ihr Leben verwirkt. Sie muss gesteinigt werden. So verlangt es das Gesetz des Mose.

Aber es geht den frommen Männern noch um mehr als um Gesetz und Moral. Sie wollen den Fall dieser Frau zur Falle gegen den Mann aus Nazareth machen. Jesus könnte jetzt sagen: so ist das Gesetz. Dann würde die Frau sterben – und er seine eigene Predigt Lügen strafen, mit der er die Sünder annimmt. Oder Jesus könnte sagen: Mose hat in seinem Gesetz gesagt, ich aber sage euch… Dann werden sie mit Fingern auf ihn zeigen, ihn als Weichei, als laxen Liberalen outen und einen Gotteslästerer nennen. Gefühlt ein cooles Win-win-Szenario für die Frager. Sie reiben sich schon die Hände: Was immer er sagen wird, am Ende heißt es 1:0 für uns!

Wenn Jesus sich entscheiden würde, die Frau jetzt zu verteidigen, was würde er sagen? Vielleicht würde er die Not ansprechen, wenn junge Frauen nicht selbstbestimmt heiraten können, sondern verheiratet werden. In vielen orientalischen Ländern ist das ja immer noch so. Vielleicht würde er auch die himmelschreiende Ungerechtigkeit, beklagen dass da nur die Frau steht. Wo ist der Mann? Zu einer gestohlenen Nacht gehören zwei. Aber nur die Frau steht da. So sieht es die Logik der Männergesellschaft vor. Die Frau muss weg. Dass ihr Ehemann sein Gesicht nicht verliert, dass ihm Genugtuung widerfährt, ist wichtiger als ihre Lage.

Aber es kommt ganz anders. Jesus unterläuft beide elenden Alternativen auf souveräne, faszinierende Weise. Kein flammendes Plädoyer für Barmherzigkeit, für Menschenrechte oder die Emanzipation der Frau. Keine Gegenpredigt an die gnadenlosen Saubermänner. Nur ein paar kurze, unglaublich wirksame Sätze. Ein praktischer Vorschlag zur Durchführung der Hinrichtung: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der nehme die Sache in die Hand, werfe den ersten Stein auf sie“. Dann noch zwei überflüssige, rein rhetorische Fragen: „Wo sind sie geblieben? Hat dich niemand verdammt?“ Und zum Abschluss eine persönliche Erklärung und eine Aufforderung: „Dann verdamme ich dich auch nicht; geh und sündige in Zukunft nicht mehr“. C’est tout.

Was wird hier eigentlich gespielt? Ist es das bei uns so hochemotional behandelte Gender-Thema, der uralte Gegensatz zwischen den Geschlechtern? Oder sehen wir in dieser Szene, wie zwei Etappen in der Geschichte des Moralbewusstseins einander ablösen? Da ist die alte, normative Haltung, die auf das geschriebene Recht pocht und die Ahndung seiner Verletzung verlangt. Und da ist die neue Entdeckung, dass es vor dem Gesetz nicht einfach auf das äußere (Fehl)Verhalten, sondern vor allem auf die Gesinnung ankommt. Das ist ja ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates: Niemand darf für eine Tat, die er begangen hat, bestraft werden, wenn erwiesen ist, dass er subjektiv gar kein Unrechtsbewusstsein haben konnte.

Nun leben wir in einer Zeit, in der immer mehr Menschen sich immer weniger an moralischen und erst recht an religiösen Normen orientieren. Da fällt es schwer, die Radikalität dieser Szene noch nachzuvollziehen. Die einen wollen Gottes Gesetz anwenden, uneingeschränkt. Der andere stellt, ebenso uneingeschränkt, die Frage: Wer kann das denn wagen? Wer kann einen anderen schuldig sprechen, wenn er selbst nicht schuldlos ist? Vielleicht ist diese Geschichte auch deshalb so verdächtig gewesen, weil sie die Ordnung menschlichen Zusammenlebens letztlich unmöglich macht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“: nach diesem Grundsatz könnte kein Mensch je über einen anderen zu Gericht sitzen. Das aber hätte Chaos zur Folge. Schuld muss ja festgestellt und dann geahndet werden. Wenn nur noch der Recht sprechen kann, der selbst absolut schuldlos ist, dann würde alles zusammenbrechen. Hat Jesus die Anarchie proklamiert – er, der doch von sich sagte, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen (Mt 5,17)? Ja, es ist vertrackt mit diesem Text.

II.
Wir kommen seiner Wahrheit auf die Spur, wenn wir noch einmal einen Moment innehalten. Was ist es eigentlich mit diesem Konflikt? Keineswegs so harmlos, wie uns die Allerweltscausa Ehebruch glauben machen will. Hier, vordergründig, die „Libertinage“ – hinter der doch die tief menschliche Sehnsucht nach dem ungelebten Leben steckt. Dort die Repräsentanten sozialer Ordnung, beunruhigt vom Werteverlust, dass so vieles wegbricht, was über Jahrhunderte vermeintlich common sense war, beseelt davon, eine bedrohte Welt zu bewahren. Diese Grundkonstellation ist zeitlos. Sie bestimmt in vielen Varianten auch unser Leben. Und die Steine liegen meist in Griffweite, und oft genug fliegen sie. Im wörtlichen Sinne, bei so manchen Kundgebungen, die sich harmlos „Spaziergänge“ nennen. Vor allem aber fliegen die Steine als Worte in den Untiefen der Social media.

In dieser aufgeladenen Situation soll sich Jesus erklären. Und was tut er? Statt eine große Predigt über die Unmoral der reinen Moral zu halten, bückt er sich, wendet sich ab von den Streithanseln – und kritzelt im Sand herum. Sogar auf ein eigenes Urteil scheint er zu verzichten: „Hat dich niemand verdammt? – Dann tue ich’s auch nicht“. Ein fast surrealer Moment, in dem Jesus eigentümlich weltfremd, fast ängstlich wirkt. Aber gerade dadurch ist diese Handlung so wirkungsvoll. Die aufgeheizte Szene friert für Augenblicke ein. Da erhitzen sich die Sachwalter der überlieferten Ordnung – und einer macht nicht mit, fällt aber auch niemandem in den Arm, sondern treibt seltsame Kinkerlitzchen. Das ist so verblüffend, dass es zum Innehalten, zum Abstandnehmen von der eigenen Aufgeregtheit zwingt: Was soll das denn? Was macht der da?

Als Syrakus von Feinden belagert wurde, soll der berühmte Archimedes Figuren in den Sand gezeichnet haben, um den Gang der Schlacht zu beeinflussen. Betreibt Jesus hier esoterisches Mantra auf der Erde? Schade, die Bibel hat da eine echte Lücke! Es ist dies nämlich das einzige Mal, dass Jesus etwas geschrieben hat! Und ausgerechnet diese Worte hat keiner überliefert. Keine wissenschaftliche Theologie, keine kirchliche Organisation kann es rekonstruieren.

Aber die Atempause wird zur schöpferischen Pause erst durch das Wort, das Licht in die brisante Situation bringt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der soll als Erster auf sie werfen“. Das kommt noch unerwarteter als das Gekritzele im Sand. Das Häuflein Elend in seiner Todesangst – die zu allem entschlossenen Moralisten: Muss da nicht Klartext geredet werden? Diese tollen Entsorger des Weltschmutzes, mit ihrem hehren Kampf für das Rechte und Reine, gehören sie nicht mal so richtig in den Senkel gestellt? Aber nichts davon! Jesus denkt nicht im Schema „Moral contra Unmoral“. Ihm geht es nicht darum, die selbsternannten Söhne des Lichts als tatsächliche Söhne der Finsternis zu entlarven. Er greift viel höher: Er will ihnen die Finsternis verleiden!

 „Wer unter euch ohne Sünde ist…“: wie gesagt, mit diesem Satz lässt sich kein Staat, schon gar kein Rechtsstaat machen. Aber seelsorgerlich ist er genial! Denn er spielt die Entscheidung den Saubermännern zu. Ganz schön riskant! Denn was, wenn sich jemand tatsächlich für porentief rein hält? Aber – wie Jesus diese Aufforderung formuliert, das hat etwas unglaublich Entlastendes! Lasst gut sein, kommt runter, eure Rolle ist ein paar Nummern zu groß für euch! Ihr braucht eurem Reinheitsideal nicht nachjagen. Ihr müsstet dann ja auch euch selber jagen! Ihr müsstet dann ja auch eure Umweltverschmutzung beseitigen! Aber hört: Eure Welt ist längst entsorgt, so wahr ich ihren Schmutz auf mich nehme. Dafür steht das Holz, an das ihr mich nageln werdet.

Und sieh an: es fliegt kein Stein. Sie gehen einfach nach Hause. Gegen die leise, bezwingende Macht der Liebe kommt der Lärm rigoroser Moral nicht an. Wenn wir meinen, wir müssten die Welt oder die Kirche blankputzen um der Ehre Gottes willen – dann müssten wir als erste uns selber wegputzen. Die Sorge aber um Gott und seine Sache können wir getrost Gott selbst überlassen. Wir sollen es uns einfach nur gefallen lassen, mit unseren Schatten und Abgründen von Gott geliebt zu sein. Wie könnten wir dann noch ernsthaft darauf aus sein, die Welt blankzuputzen mit Steinen aus Worten oder Kiesel?

III.
Und dann ist da noch die Frau. Die ist über dem ganzen Drama fast aus dem Blick geraten. Aber keine Sorge, sie kommt auch noch dran. Und zwar fast galant: „Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt? Dann tue ich’s auch nicht!“ Jesus fordert ihr weder ein Eingeständnis noch Reuebekundungen ab. Denn Gnade ist immer umsonst, sonst wäre sie nicht Gnade. Aber billig ist sie eben nicht: „Geh, und sündige hinfort nicht mehr!“ Liebe Gemeinde, fast denke ich, dieser Satz ist der wichtigste, auch schönste in der Geschichte, ihr eigentliches Happy End. Er ist deshalb so schön, weil er die Frau ernster nimmt, als sie sich selbst nahm, weil er ihr Würde zurückgibt und sie damit in einem tiefen Sinn schön macht. Sieh doch, die Moralisten sind ins Nachdenken gekommen! Da hat still und leise eine Verwandlung eingesetzt. Willst du da bleiben, wie du bist?

So bestrickend von der Liebe umworben, kann die Frau nicht mehr einfach ins alte, verworrene Leben zurück. In einer Welt, die von niemandem mehr für Gott blankgeputzt werden muss, sollte auch der Drang, sie zu verschmutzen, nicht mehr so leicht funktionieren. „Geh, und sündige nicht mehr“ – ich höre das so: Jesus traut uns zu, dass wir das manchmal als schicksalhaft und unveränderbar erlebte Verstricktsein in Lebenszusammenhänge, die uns und anderen nicht gut tun, auflösen können. Er nimmt uns nicht einfach an, „wie wir sind“, sondern er traut uns zu, dass wir noch andere sein, werden können. Jesus lässt nicht einfach „Gnade vor Recht“ ergehen (das wäre zu billig), sondern er setzt seine Gnade ins Recht. Er richtet das Recht der Gnade auf. Es ist das „Recht, ein anderer zu werden“. Auf diesen schönen Begriff hat Dorothee Sölle einmal die Freiheit eines Christenmenschen gebracht.

„Sündige hinfort nicht mehr.“ Sünde, das ist: am Leben vorbei, nur aus sich selbst und für sich selbst leben. Lebe nicht an dem vorbei, was dem Leben dient. Was das heißt? Das wirst du selbst herausfinden. Mit nur einem Satz gibt Jesus dem Gesetz seine Absicht, seine Würde, seinen Glanz zurück: dem Leben dienen. Er gibt die Frau dem Leben zurück.


AMEN.

Verbesserlichung: reale Möglichkeit

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Zu dem Wenigen, das die Wende vor 32 Jahren, den Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus, erstaunlich unbeschadet überstanden hat, gehört das Foyer der Berliner Humboldt-Universität. Genauer gesagt, der berühmte Satz von Karl Marx, der dort immer noch an der Wand zwischen den Treppenaufgängen steht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Man kann über diesen Satz ausgiebig streiten. Aus Sicht der Bibel gibt es dazu aber keine zwei Meinungen. Die gibt dem Atheisten Karl Marx, man höre und staune, Recht. Darauf nämlich kommt es der Bibel von A bis Z an: dass diese Welt anders, besser wird. Nicht die Frage, wie die Welt zu verstehen ist, nicht das, was wir Weltanschauung nennen, ist das Entscheidende, sondern entscheidend ist die Verwandlung der Welt. Wie das geschieht – da indes scheiden sich dann die biblischen und die marxistischen Geister.

I.

Genau um diese die Menschen zu allen Zeiten aufwühlende Frage, ob die Welt unverbesserlich oder verbesserlich ist, dreht sich das Büchlein Jona, aus dem der heutige Predigttext kommt. Es ist eine kleine biblische Novelle aus gerade nur 4 Kapiteln, und ein Kabinettstück alttestamentlicher Erzählkunst. Ein literarisches Juwel, trotz seines ernsten Inhaltes mit viel Anmut und Leichtigkeit. Vor Jahrzehnten hat der Jenaer Theologe Klaus-Peter Hertzsch das Buch Jona poetisch nacherzählt. Eine Kostprobe vom Anfang:

Wie schön war aus der Fern und Näh, / wie schön war die Stadt Ninive.
Sie hatte Mauern, stark und dick, / die Wächter machten Blasmusik.
Und Gott sah aus von seiner Höh / und sah auf die Stadt Ninive.
Die schöne Stadt, sie macht’ ihm Sorgen, / die Bosheit blieb ihm nicht verborgen.
Da tranken sie. Da aßen sie / die Hungernden vergaßen sie.

Eine Humoreske ist das Jona-Buch aber nicht. Bei seiner Hauptperson bekommen wir es mit einem rätselhaften, starrsinnigen, alles andere als humorvollen Menschen zu tun. Jona ist ein hochkomplizierter Mensch, voller Widersprüche. Einer, der schwer am Leben und an sich selbst trägt. Mit den Leuten von Ninive, wohin er von Gott geschickt wird, will er nichts zu tun haben. Deren Niedertracht und ethische Verkommenheit ist bekannt. Er weigert sich, sie im Auftrag Gottes zur Umkehr zu rufen. Bei denen ist doch Hopfen und Malz verloren! Jona ist einer von den Leuten, die nicht an eine bessere Welt glauben, die ihren Mitmenschen nicht mehr zutrauen, dass sie sich ändern können. Ich kenne diese Versuchung, im Urteil über jemand, der mir irgendwie suspekt ist, mich ausschließlich auf negative Erfahrungen zu fixieren. Jona ist in dieser Einstellung so verbiestert, dass er nicht den von Gott gewiesenen Weg nach Ninive einschlägt, sondern ganz woanders hin. „Weit weg vom Herrn“, wie es im Text heißt. Er findet ein Schiff, um nach Tharsis zu fahren, das ist in Spanien, am äußersten Ende der damals bekannten Welt. Obwohl der Prophet Gott mit einem klaren, wichtigen Auftrag zu sich hat sprechen hören, will er von ihm nichts mehr hören. Wie es weitergeht, ist bekannt. Das Schiff gerät in Seenot, die Mannschaft ist verzweifelt. Jona bietet er sich als Opfer an, um das Meer zu beruhigen. Das ist noch einmal eine Steigerung seiner depressiven Stimmung. Nichts hält ihn mehr am Leben. Die Matrosen sehen keinen anderen Ausweg, sie werfen Jona ins Meer. Der große Fisch, den Gott dann schickt, um Jona zu verschlingen, ist ein Bild für die chaotische, verzweifelte Abgründigkeit, in die sich Jona hat hineinreißen lassen.

II.

„Der Herr sprach zu dem Fisch, und der spie Jona ans Land“. So heißt es unmittelbar vor unserem Predigttext. Gott hat seinen Auftrag nicht ad acta gelegt, er schickt Jona erneut nach Ninive. Damit setzt der Predigttext ein. Diesmal hört Jona auf Gott. Aber er tut es als derselbe Starrsinnige, Unverbesserliche, der von seiner alten Spur nicht loskommen will. Anderes als eine Drohbotschaft hat er für die Leute in Ninive nicht im Gepäck. Zunächst einmal kann man das nachempfinden. Ninive, diese riesige Metropole im Zweistromland, damals eine Mega-City, wird andernorts in der Bibel „Blutstadt“ genannt. Das klingt schauerlich. Nach Zone des Bösen, Unheilvollen. Lange nach der Zerstörung des historischen Ninive war der Name für die Juden des 4. Jahrhunderts, in dem das Buch Jona entstanden ist, ein Synonym für die Hölle auf Erden. Wenn sie das Wort Ninive hörten, fuhren sie zusammen wie die Israelis, wenn sie das Wort Auschwitz hören, oder die Tschechen beim Wort Lidice oder jetzt die Ukrainer beim Wort Butscha. Ninive ist für Jona der Inbegriff der unverbesserlichen Welt.

Über drei Tagesmärsche erstreckt sich die Stadt. Jona geht einen Tag lang, dann sagt er, was er zu sagen hat. Er geht also nicht bis ins Zentrum, er bleibt am Rand der Innenstadt stehen. Hat er Angst? Oder rechnet er da, wo die wohnen, die mutmaßlich am meisten von den Unrechtsstrukturen profitieren, sowieso nicht mit offenen Ohren? Wie Greta Thunberg, die sagte, Gespräche mit Trump oder Putin seien nur Zeitverschwendung? Fakt ist jedenfalls, Jona erlebt das das total Unerwartete, demgegenüber die Sache mit dem Fisch als ein Kinderspiel anmutet: er wird gehört! Und das noch größere Wunder: die Niniviten kehren um, ändern ihr Verhalten. Jonas Botschaft, die eigentlich eine Götterdämmerung angekündigt, keine Chance mehr gelassen hatte, setzt so etwas wie eine Bürgerbewegung in Gang: „Sie glaubten an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle den Sack zur Buße an“. Sie krempeln ihr Leben nicht auf irdische Anweisung von oben um, denn der König spring erst später auf den Umkehrzug auf. Sie tun es, weil sie tatsächlich anfangen, sich an Gott und seinen Geboten zu orientieren.

Das hebräische Wort, das dieses Kapitel beherrscht, meint die Wendung eines Menschen um 180 Grad. Nicht dass er ein bisschen menschlicher, ein bisschen liberaler wird, sondern er wird ganz neu. Es geht nicht einfach um eine religiöse Erweckungsbewegung, eine gewandelte Weltanschauung. Sondern es geht, im Weltzentrum der Menschenquälerei und der Völkervernichtung, um ein radikales Aufräumen mit dem Bösen. Aus Menschenverachtung wird Menschenfreundlichkeit. Die Konzentrationslager reißen ihre Stacheldrähte nieder, die Munitionsfabriken produzieren von nun an Kochtöpfe und Pflugscharen, sie arbeiten nicht mehr für die großen Bomben, sondern für den großen Krieg gegen den Hunger. Gemeint ist: Aus Auschwitz wird Bethel.

III.

Ja, liebe Gemeinde, so grotesk realitätsfremd erscheint uns, was diese Story erzählt von der Verbesserung des Unverbesserlichen als realer Möglichkeit. Was damit den Juden des 4. Jahrhunderts mit ihrem Bild von Ninive zugemutet wurde! Da muss man zu bizarren Vergleichen greifen. Stellen wir uns vor, man erzählte Juden heute, dass Adolf Eichmann ein frommer Jude oder zumindest ein großer Humanist geworden war. Oder man erzählte den Menschen in der Ukraine, wie Wladimir Putin als Krankenpfleger nach Kalkutta ging. Das ist ja nie geschehen – so wie nach allem, was man weiß, auch das historische Ninive unbekehrt zerstört wurde, 150 Jahre bevor das Jonabuch geschrieben wurde. Man würde den Erzähler solcher Geschichten für einen geschmacklosen Beleidiger der Opfer, einen unverbesserlichen Gutmenschen halten. Denn es wird den Hörern des Jonabuches, der jüdischen Gemeinde des 4. Jahrhunderts gesagt: Wenn ihr treue Juden sein wollt, dann müsst ihr an die Bekehrbarkeit Ninives glauben! Mehr noch, dann müsst ihr für die Umkehr Ninives aktiv werden, unter Einsatz eures Lebens wie Jona ja unter Einsatz seines Lebens nach Ninive gegangen war. Oder ihr seid keine echten Juden, nehmt euren Gott nicht ernst. Und da das Jonabuch auch Teil unserer Bibel ist, geht dieselbe Zumutung auch an uns. Verständlich, dass sich vieles in uns dagegen wehrt. Diese Geschichte erscheint utopisch, geschmacklos, sie verletzt unseren Realitätssinn. Aus Schwarz wird nicht weiß. Ninive ist unverbesserlich.

Ja, sagt der Autor des Jonabuches: Ninive wäre in der Tat unverbesserlich – wenn Gott unverbesserlich wäre. Die Umkehr, die Buße Ninives wäre eine sinnlose, gefährliche Utopie, wenn es nicht auch die Umkehr, die Buße Gottes gäbe. Zunächst heißt es in dem Edikt der Königs von Ninive: „Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben“. Und eben diese verwegene Hoffnung wird bestätigt: „Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Weg, reute ihn, was er ihnen angekündigt hatte und er tat’s nicht.“ Liebe Gemeinde, hier geht es um nicht weniger als dass Gott Buße tut. Und weil es diese Buße, diese Umkehr Gottes gibt, darum gibt es auch die Umkehr Ninives, gibt es wirklich die Verbesserung der unverbesserlichen Welt von innen heraus.

Auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als würde die Bußbewegung in Ninive erst die Umkehr Gottes in Gang setzen. Als sei Gott davon so gerührt und beeindruckt, dass er sich eines anderen besinnt. Aber auf einer tieferen Ebene zeigt sich: Von selbst kommt diese grundstürzende Bewegung nicht. Die Menschen in Ninive sind nicht einfach durch eigene Gewissenserforschung zur Umkehr gekommen. Der eigentliche Anstoß geht von Gott aus, davon, dass Gott offenbar einer ist, der sich selbst in die Speichen fallen, der seinem eigenen Zorn nicht das letzte Wort lassen will. Deshalb hatte er Jona überhaupt nach Ninive geschickt, deshalb hatte er ihn nicht fallen lassen, sondern war ihm hinterher gelaufen bei dessen Flucht vor ihm, bis in die abgrundtiefe Einsamkeit im Bauch des Fisches. Gott will einen Bußprediger, weil seine Liebe am Ende immer noch größer ist als sein Zorn. Und so gelangt Jona schließlich doch dorthin, wo er hinsoll, mitten in die Welt, mit deren Schrecken er nichts zu tun haben wollte, weil er sie für absolut unverbesserlich hielt. So bringt Gottes Umkehr die Umkehr des vermeintlich Bösen in Gang.

IV.

Am Ende bleibt aber eine entscheidende Frage: Was macht das mit uns? Ist unsere Welt, wo vom Klima bis zum Krieg das Alte, Zerstörerische seine Triumphe feiert, noch zu retten, ist sie verbesserlich? Die Vorstellung, es würde einer durch eine Megacity wie Bombay oder Shanghai laufen, den bevorstehenden Untergang ansagen und alle gehen dann in sich, ist ja ein Märchen, und kein wirklich gutes. Der Sound der Jonabotschaft „noch 40 Tage“ hat viele Resonanzen in unserer Zeit: „Es ist fünf vor 12“ (seit wieviel Jahrzehnten eigentlich??) – „Wir haben noch soundso viele Tage Zeit, die nächste Infektionswelle zu verhindern“ – „Nur noch dies Regierung hat Zeit für Maßnahmen, die Pariser Klimaziele evt. zu erreichen“ – „Ich will, dass ihr panisch werdet“ (Greta Thunberg). Kann man so Umkehrbereitschaft auslösen? Wohl eher nicht. Am Ende ist die Jona-Novelle ja auch mehr ein Gleichnis über Gott als eine Blaupause für die Menschen zur Weltrettung.

Mir kommt beim Hören dieser biblischen Erzählung eine Frau aus meiner früheren Gemeinde in Erinnerung. Ende 50, mehrfache Großmutter. Sie weiß: Wenn wir so weiterleben, ja, dann werden meine Enkelkinder, wenn sie einmal alt sind, kein Trinkwasser mehr finden, keine saubere Luft zum Atmen, keinen Erdboden mehr, der nicht vergiftet ist. Wenn es in unserer Gesellschaft mit ihren Spaltungen, dem tiefen Misstrauen gegen „die da oben“ so weitergeht, werden Hass und Gewalt irgendwann normale Kommunikationsformen sein. Sie engagiert sich bei den „Omas gegen rechts“, sie demonstriert mit bei den Jungen von „Fridays for future“, sie scheut sich nicht, unangenehme Wahrheiten immer wieder auszusprechen. Und gleichzeitig hofft und betet sie, dass ihre illusionslose Prophetie nicht Recht behält! Sie weiß, dass es nach allem menschlichen Ermessen stimmt, was sie befürchtet, aber sie gräbt sich nicht ein in der Resignation, dann das empfände sie als Verrat an ihren Enkeln und deren Kindern. Sie macht sich, wie die Leute in Ninive, sozusagen „fest an Gott“. Sie setzt ihr Vertrauen darauf, dass – gegen alle Realität – beim Thema Untergang das letzte Wort vielleicht doch noch nicht gesprochen ist. Dass es noch das „wer weiß“ gibt, auf das der König von Ninive gesetzt hatte: „Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut…“ Wer weiß! Diese Mutter und Großmutter weiß es auch nicht, aber sie weiß: Hoffen ist ein Tuwort! Und so tut sie, was sie mit ihren Möglichkeiten kann. Kleine Schritte, aber wer weiß. Vielleicht gelingt es doch noch diese Erde zu bewahren als guten Ort für ihre Enkel und alle Menschenkinder. Der sie geschaffen hat, ist ja auch kein Unverbesserlicher.


AMEN.

Einander (nicht) zur Hölle werden

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Vor neun Jahren erregte ein Bischof einer anderen Landeskirche ziemliches Aufsehen. Auf seine Grußkarte zum Weihnachtsfest 2013 war nicht, wie man es bei diesem Genre kennt, eine erbauliche Darstellung Alter Meister von der Heiligen Familie abgebildet. Sondern darauf war ein Schock-Foto zu sehen: Menschen, die nachts vor Lampedusa von einem total überfrachteten Seelenfänger ins eiskalte Meer springen. Es wurde damals diskutiert, ob das geht auf der offiziellen Weihnachtskarte eines Bischofs, die doch besinnlich daherkommen und weihnachtlichen Frieden transportieren soll. Das mag man so oder so sehen. Keine zwei Meinungen aber kann es darüber geben, dass das, was im Mittelmeer und an der befestigten Außengrenze der EU geschieht, zum Himmel schreit. Darauf wollte jener Bischof (es war Ralf Meister aus Hannover) aufmerksam machen. Damals schon, zwei Jahre vor der sog. „Flüchtlingskrise“.

I.

Das Szenario, das der eben gehörte Predigttext entwirft, lässt sich mit bitterer Klarheit in die Lage an den Außengrenzen Europas eintragen. Die Geschichte handelt von zwei völlig ungleichen Menschen, die doch ganz nah nebeneinander existieren. Der eine im Luxus, Geld spielt keine Rolle, jeder Tag Friede, Freude, Fest. Der andere gelähmt vor seiner Tür liegend, hungernd, bedeckt von Geschwüren, an denen die streunenden Straßenhunde lecken. Die Chance, hineinzukommen ins Haus des Reichen ist gleich Null. Das höchste der Gefühle: die Reste der Brotfladen zu ergattern, an denen die Tafelnden da drinnen sich die Finger abgewischt und dann einfach zu Boden geworfen haben. Mehr down under geht nicht.

Wozu hat Jesus diese Geschichte erzählt? Hat er die Lazarusse aller Zeiten, die Leute an den Hintertüren des Lebens, die unter dem Strich existieren, hat er die aufrichten wollen, indem er sie auf ein jenseitiges Schlaraffenland vertröstete, das ihnen doppelt und dreifach zurückgibt, was ihnen auf Erden verweigert war? Ist diese Geschichte ein Musterbeispiel dafür, was die großen Religionskritiker – nicht selten zu Recht – gesagt haben: dass das Christentum den Leuten mit der Vertröstung auf bessere Zeiten in einer jenseitigen Welt Sand in die Augen streut, damit sie bloß nicht auf die Idee kommen, ihr Elend im Diesseits zu bekämpfen? Denn das hieße dann ja auch: diejenigen anzugreifen, die es sich auf ihre Kosten gut gehen lassen. Ja, wäre es so, dass Jesus zu diesem Zweck die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus erzählt hätte, dann hätte Karl Marx Recht gehabt: Religion, Christentum – das ist Opium fürs Volk!

Auf den ersten Blick, liebe Gemeinde, ist es bei diesem herben Text gar nicht so einfach, solche Vorwürfe zu widerlegen. Man fragt sich ja wirklich: Hätte Lazarus nicht aufgefordert werden müssen, sich mit seinesgleichen zusammenzutun und den kaltherzigen Reichen kurzerhand aus seinem Prunkpalast zu jagen? Aber es ist nun mal nicht zu bestreiten, dass Jesus mit seiner Botschaft vom nahenden Himmelreich kein Sozialrevolutionär war. Im Unterschied zur Sekte der Essener von Qumran hat er die Armut nicht zum allgemeinen Lebensgesetz erhoben. Vor allem aber gilt gerade bei dieser Geschichte: Trost und Vertröstung, das ist zweierlei! Es ist ein Unterschied, ob denen, die sich aus ihrem Elend selbst nicht raushelfen, die dem reichen Mann noch nicht einmal die Scheiben einschlagen können, weil das Regime vor dem Haus die Sicherheitskräfte postiert hat (s. die Befestigungen der Außengrenzen Europas!), ob denen vordoziert wird: Wenn ihr euch geduldig mit eurer Lage abfindet und kein Trouble macht, dann wird es euch dereinst gelohnt! Oder ob sie als tröstliche Botschaft zu hören bekommen: Ihr kommt nicht zu kurz! Auf euch wartet Gottes Reich – und seine Umrisse könnt ihr schon hier entdecken!

II.

Aber das ist im Grunde gar nicht die eigentliche Absicht dieser Erzählung. Ihre ersten, wichtigsten Adressaten, noch vor den Lazarussen aller Zeiten, die getröstet werden sollen, sind nämlich – wir. Wir, die wir fast alle in irgendeiner Weise reich sind. Jesus erzählt uns diese Geschichte, und das ist allerdings das Ernste, Beunruhigende an ihr, damit es uns nicht so geht wie dem reichen Mann. Der kommt ja erst zu neuen Einsichten, als es zu spät ist. Als sich zeigt, dass nichts mehr zu ändern ist, als unwiderruflich feststeht: Leben verfehlt, Chancen verpasst! Eine Wiederholungsprüfung findet nicht statt. – Für uns ist es noch nicht zu spät. Aber, und deshalb steht diese Geschichte in der Bibel, wir sind in der Gefahr, die der Reiche zu spät erkannt hat und die er nun verzweifelt wenigstens von seinen Brüdern abwenden will: nämlich einfach so weiterzumachen, wie wir leben. Also den Ruf Jesu: Tut Buße, macht nicht so weiter!, zu überhören und das mit der Umkehr immer wieder rauszuschieben, nach der Melodie: Erst mal sehen! So übel sieht’s doch gar nicht aus bei uns. So nach dem frohsinnigen Kölschen Lebensmotto: „Et hätt‘ noch immer jot jejange!“

Jesus lässt das nicht gelten. Er lässt uns hier unmissverständlich wissen: mehr als dieser Ruf zur Umkehr kommt nicht! Gott wird uns weder mit Brachialgewalt zwingen noch durch irgendwelche Sondermirakel nachhelfen, so wie es der arme Reiche aus der Hölle heraus für seine noch lebenden Brüder erfleht. Das ist gar nicht nötig, denn: „Sie haben Mose und die Propheten, die sollen sie hören!“ Das will uns sagen: Wir gehören auch zu den fünf Brüdern des reichen Mannes! Denkt nicht, es käme noch ein Extraberichterstatter aus dem Jenseits, der erst wirklich beglaubigen würde, was in „Mose und den Propheten“ steht. Wem es ein Leben lang wunderbar gelingt, um Gott und sein Wort einen großen Bogen zu machen, der wird wahrscheinlich auch eine Totenerscheinung für leeren Spuk halten. „Sie haben Mose und die Propheten“ – das heißt nicht weniger als die ganze damalige Bibel. Da kann man sich nicht so einfach rausreden.

Und nun kommt für uns hinzu, dass unsere Lage gegenüber derjenigen der fünf Brüder des Reichen noch um einiges vertrackter ist. Das Wort, das wir in dieser Geschichte hören, ist ja das Wort dessen, der tatsächlich von den Toten zurückgekommen ist. Das Wort des Auferstandenen also, dem sich nach der Meinung des Reichen ja keiner mehr entziehen kann. Wer hier nicht hinhört, dem ist wohl wirklich nicht mehr zu helfen. Was uns mit dieser Geschichte gesagt wird, lässt sich also auf den Nenner bringen: Schlagt Gott und sein Wort nicht in den Wind!

III.

Im Grunde ist das eine einfache Botschaft, die jeder verstehen kann. Er hätte es ja besser wissen können, der Reiche. Er hatte doch auch „Mose und die Propheten“. Und da steht ja genug drin. Zum Beispiel beim Propheten Jesaja: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die, die im Elend sind, führe ins Haus“. Das Verhängnis des reichen Mannes besteht also nicht in seinem gut gefüllten Geldbeutel, sondern in seinem (Nicht-)Verhältnis zu Gottes Wort. Anders gesagt: Nicht Reichtum an sich ist von Übel, wohl aber, wenn man davon keinen verantwortlichen Gebrauch macht. Gottes Wort weist uns an den armen, übersehenen Bruder. Es zeigt ihn uns, denn Lazarus hat heute so viele Gestalten. Dass es den hungernden, zerlumpten, schmutzigen Lazarus auf der südlichen Halbkugel dieser Erde millionenfach gibt, da ist in dieser globalisierten Welt ja jeder von uns mit unserem Lebensstil irgendwie hinein verstrickt. Wir schieben das gern von uns weg und beteuern, dass wir unser Auto doch meistens in der Garage stehen lassen, dass wir penibel unseren Müll trennen. Aber denken wir, um nur ein Beispiel zu nennen, beim Kauf einer preiswerten Textilie eigentlich daran, warum sie so günstig zu haben ist? Oder dass wir, wenn wir unsere Lebensmittel bei Billig-Discountern besorgen, die Klimakatastrophe mitverursachen, unter deren Folgen v.a. die südlichen Länder wirtschaftlich massiv leiden? So reihen wir uns unter die fünf Brüder des Reichen ein.

Keine Frage, Gott hat uns nicht zu Marionetten gemacht. Und so können wir den Umkehrruf seines Wortes, der immer ein Hinkehrruf zum armen Lazarus ist, lange in den Wind schlagen. Wir haben Zeit. Aber eben, wir haben Zeit – nicht Ewigkeit. Zeit ist im Unterschied zur Ewigkeit begrenzt. „Es begab sich aber, dass der Arme starb“ – „Der Reiche aber starb auch“ – da war es dann vorbei mit der Zeit. Während der andere „in Abrahams Schoß“, also in Gottes Ewigkeit gelangt, wird der Reiche einfach nur „begraben“, er landet also ganz unten, ganz weit weg von Gott. Jetzt zeigt sich, wie anders die Maße sind, mit denen Gott unser Leben misst. Der Reiche kommt dorthin, was durch das Wort bezeichnet ist, das heute ziemlich diskreditiert ist: in die Hölle. Darf man darüber noch reden und predigen, nach all dem, was die christliche Mission früher mit der Erzeugung von Höllenangst angerichtet hat? Ich denke, die Sache, für die dieses Wort steht, ist nicht überholt. Es gibt das berühmte Wort von Jean-Paul Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“ So sehen wir das. Jesus sagt etwas anderes: Die Hölle: das bin ich – und zwar ich ohne die anderen. Wo man nur mit sich allein ist, immer aufs Neue auf sich zurückgeworfen, eine Runde nach der anderen um sich selbst drehend, ohne Gott und ohne andere: das ist die Hölle. Der andere, dem ich die Hölle bereitet habe durch meine Gleichgültigkeit, der wird mir zur Hölle, wenn ich für alle Ewigkeit von der Freude ausgeschlossen bin, die er jetzt in alle Ewigkeit erfährt.

„In der Hölle sein“, das heißt letztlich nichts anderes als ganz weit weg von Gott sein. Aber doch nicht so weit, als dass man ihn nicht mehr sehen könnte. Was nach Meinung Jesu die Sache nur noch schlimmer macht. Wenn ich gar nicht weiß, was mir fehlt, dann ist der Leidensdruck ja geringer. Hier aber ist es so, dass der Reiche aus der Ferne Gott sieht – wie ein Verdurstender eine rettende Quelle, von der er aber nicht trinken darf. Auch wenn wir das nicht gern hören wollen: Aber ob das so kommt, das entscheidet sich auch hier, jenseits von Himmel und Hölle, wo wir vom Wort Jesu aufgefordert sind, unsere Augen auf den Bruder, die Schwester zu richten, für die die Hölle kein akademischer Begriff ist, sondern nackte Realität.

Ob damit dann definitiv, ein für alle Mal über uns entschieden ist, wie es diese Geschichte nahelegt? Ich kann es nicht sagen. Wir haben Gott als dem letzten Richter nicht über die Schultern zu schauen. So lange das Jüngste Gericht aussteht, möchte ich mich gerne an das Wort eines großen katholischen Theologen halten: „Es ist zwar kirchliches Dogma, dass es die Hölle gibt. Es ist aber kein kirchliches Dogma, das auch jemand in ihr ist“ (Hans Urs von Balthasar). Diese Hoffnung kann uns auch ein beunruhigender Text wie der heutige nicht nehmen lassen. Aber die Dringlichkeit des Rufes, die uns aus ihm anspringt: die sollen wir nicht überhören.

Es ist nun einmal so: Zwar kriegen wir Gottes Gnade umsonst, ohne dass wir sie uns verdienen müssen. Aber billig ist sie deshalb gerade nicht. Gott selber hat sich seine Gnade ja sein Teuerstes kosten lassen. Und: Die Gnade will gelebt sein – sonst ist sie nicht Gnade. Noch haben wir Zeit.


AMEN.

Auch der Geist kann fleischlich sein

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Musikliebende haben eben beim Hören der Worte des Predigttextes sicherlich deren herrliche Vertonung durch Bach in seiner Motette „Jesu, meine Freude“ im Ohr gehabt. Sie sind der Auftakt zum 8. Römerbrief-Kapitel, einem Gipfelabschnitt in den Paulusbriefen. Seine Aussagen sind Schwarzbrot des Glaubens, an dem man lange kauen kann. Das macht ihr Verstehen nicht unbedingt einfach. Der Jubel über die mitreißende, nach vorn drängende Kraft des Heiligen Geistes, der doch am Pfingstfest laut werden soll, brandet hier nicht von selbst auf. Was ist das, wovon Paulus hier so akademisch-abstrakt redet? Was ist das für ein Geist, den wir im Glaubensbekenntnis bekennen, um dessen Kommen auch zu uns wir in Liedern und Gebeten bitten?

I.

Der hier bedachte Gegensatz von ‚Geist‘ und ‚Fleisch‘ ist als Thema ein Blockbuster in der Bibel. „Fleischlich gesinnt sein ist der Tod, aber geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede“: Wenn man das so hört, denkt man zunächst an den Gegensatz zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Zwischen dem Physisch-Naturhaften, dessen Gesetzmäßigkeiten man analysieren und präzise bestimmen kann, und dem Inwendig-Psychischen, das sich einer klaren Bestimmung entzieht. Aber wenn wir es so verstehen, haben wir bereits den Einstieg in diesen Text verfehlt und verheddern uns im abseitigen Gelände. Denn wenn die Bibel von Fleisch und Geist redet, dann meint sie nicht diesen Gegensatz zwischen Geist und Materie, wie wir ihn landläufig verstehen. Der entspringt dem idealistischen Denken der griechischen Philosophie, ist also heidnischen Ursprungs. Die Bibel interessiert dieser Gegensatz nicht. In ihr geht es nicht um abstrakte Ideen, sondern immer um konkrete Beziehungen: Die zwischen Gott und Mensch und, daraus folgend, die der Menschen untereinander. Für die Bibel entscheidet sich alles, was über uns zu sagen ist, daran wie es um unser Verhältnis zu Gott steht. Auch die Spannung Fleisch-Geist hat hier ihren Angelpunkt.

Fleisch: Das ist für die Bibel das von Gott losgelöste Dasein. Das ist die Welt, die aus sich selbst und für sich selbst sein will. Das meint ein Leben, das sich Gott gegenüber verschlossen hält, ihn außen vor, sich seine Gnade nicht gefallen lässt. Das Leben des bei sich selbst gefangenen Menschen, der nur aus dem Eigenen leben will. Der Mensch, der sich selbst zum Maß aller Dinge macht (auch ein Satz aus der griechischen Philosophie!), weil er einer ihm übergeordneten Macht nicht untertan, sondern selbst-herrlich sein will. Deshalb ist, so meint Paulus und mit ihm die ganze Bibel, letztlich die Feindschaft gegen Gott der eigentliche Kern seines „fleischlichen“ Wesens. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das ein Licht auf diesen abgründigen Sachverhalt wirft: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“ Das ist es: Sünde, ‚Fleisch‘, das ist Hass gegen den, der mir hilft. ‚Fleisch‘ ist Hass gegen Gottes Gnade.

Dieses ‚Fleischliche‘ steckt also keineswegs nur in unserer körperlichen Natur, in den Anlagen, die man so als niedere, sinnliche Triebe ansieht. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“: so bringt Jesus in der Nacht von Gethsemane seine Enttäuschung über die schlafenden Jünger zum Ausdruck. In unserem Sprech ist diese Aussage zur banalen Wendung verkommen, die man augenzwinkernd bemüht, wenn man bei der Abmagerungskur dem Stück Torte, oder überhaupt bei der Kur dem „Kurschatten“ nicht hat widerstehen können. Mit dem, was Paulus meint, hat das nichts zu tun. Für Paulus können nämlich unser Geist, unser Intellekt, unsere Innerlichkeit – also die Dimensionen, die uns über die nichtmenschliche Kreatur herausheben und uns zur „Krone der Schöpfung“ machen – genauso ‚fleischlich‘, gottwidrig sein wie die Organe und Triebe unseres Leibes. Nicht irgendwelche sinnlichen Laster, sondern die kultivierten Formen menschlicher Selbstüberhebung sind der wirklich gefährliche Ausdruck der ‚fleischlichen‘ Gesinnung. Wenn Paulus hier sagt: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt“, dann haben wir diese Aussage richtig verstanden, wenn wir sie einfach durch einen Satz ersetzen, den der Apostel einmal den Korinthern geschrieben hat: „Wir aber haben nicht den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott empfangen“ (1. Kor 2,12).

II.

Was aber ist dann der Geist, der dem Fleisch, wie Paulus sagt, kritisch gegenübersteht? Er ist zunächst einmal nicht unser, sondern Gottes Geist. Also der Geist, der nicht aus uns kommt, sondern der von außen in uns eingehen, in uns wohnen und uns prägen will. Und dann wird dieser Geist ohne jeden Abstand als Geist Jesu Christi bezeichnet. Erst durch Jesus wird der Gegensatz zwischen Geist und Fleisch in seiner ganzen Tiefe offenbar. Denn Jesus Christus ist eben keine „innerer Idee“, sondern konkrete leibhafte Wirklichkeit, eine Person. An ihn glauben wir, wenn wir an Gott glauben, und nicht an irgendeine „höhere Macht“, die in einem himmlischen Stellwerk sitzt und den einen Lebenszug gut durchkommen, den anderen entgleisen lässt.

Worum es dabei geht, führt uns eine berühmte Szene der deutschen Literatur vor: die Szene in Goethes Faust, wo das fromme Gretchen es nicht mehr aushält und von Faust endlich Klartext über sein Verhältnis zum Glauben hören will. Sie stellt die berühmte „Gretchenfrage“: „Heinrich, nun sag, wie hältst du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon“. Faust will (sich) das natürlich nicht eingestehen, und legt als Antwort ein „Glaubensbekenntnis“ ab, das in seiner wortreichen Angestrengtheit nur die Bestätigung der Ahnung Gretchens ist: „Wer darf ihn nennen, und wer bekennen? / Der Allumfasser, der Allerhalter. / Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / dafür! Gefühl ist alles, / Name ist Schall und Rauch, / umnebelnd Himmelsglut“. Gretchens lakonische Entgegnung auf diesen ergreifenden Wortschwall hat es in sich und ist eine hübsche Karikatur kirchlicher Predigten: „Das alles ist recht schön und gut, / ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / nur mit ein bisschen andern Worten“.

Ja, wenn es um den Glauben geht, ist der Name eben nicht Schall und Rauch, sondern im Gegenteil, er hilft zur Unterscheidung der Geister und entscheidet darüber, von welchem Geist wir erfüllt sind. Paulus stellt die forsche Behauptung auf: Von Jesus Christus geht ein Geist aus, der mich frei gemacht hat aus einem hoffnungslosen Leben. Hoffnungslos darum, weil es ein geknechtetes Leben war unter dem, wie er es nennt, „Gesetz der Sünde und des Todes“. Wieder so eine wuchtige Wendung. Aber ich glaube, jetzt können wir besser verstehen, was er damit meint:

Gesetz der Sünde und des Todes“, oder eben „Geist der Welt“: Das ist das gnadenlose Dogma von der Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Unveränderbarkeit der Welt, das sich in dem resignierten Ausruf austobt: Da kann man nichts machen! Man muss mit den Wölfen heulen, sonst wird man untergebuttert!

Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist die Meinung, wir sollten und dürften, was wir mit unserer Vernunft erreichen können, auch machen. Wir können aus dafür entsorgten Embryonen hochpotente Stammzellen gewinnen – was wiegt schon so ein Embryo gegen die Aussicht, „vollwertigen“ Menschen wirksam aus bisher unheilbaren Krankheiten zu helfen? Der Geist der Welt hat für alles und jedes eine plausibel klingende Begründung parat.

Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist der offenbar unausrottbare Mechanismus, nach dem Schuld immer die Schuld der anderen ist. Und dass demokratisch gewählten Menschen in politischer Verantwortung grundsätzlich nicht zu trauen sei, weil sie, von geheimen weltumspannenden Kräften gelenkt, nur Böses gegen das eigene Volk im Schilde führten

Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist das heimliche Dogma unserer Zeit, dass der Wert eines Menschen nicht durch sein pures Da-Sein gegeben ist, sondern sich an dem bemisst, was er leistet. Johannes Rau hat das als Bundespräsident einmal treffend kritisiert: Nicht was einer ist, sondern was er kann und in Folge seines Könnens hat, zählt heute meistens, sagte er. Ich breche hier ab. Jeder von uns könnte noch viele Paragraphen im Gesetz der Sünde und des Todes entdecken.

III.

Paulus setzt dagegen: „Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er auch eure sterblichen Leiber durch seinen Geist lebendig machen“. Gottes Geist kann also unser Leben von Grund auf erneuern, es in die Richtung Jesu bringen. Und die lautet für Paulus so: „Er erniedrigte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an“ (Phil 2,7). M.a.W.: Er wollte nicht hoch hinaus, sondern tief herunter. Der Geist Christi hat einen unverwechselbaren Zug nach unten. Das ist einzigartig, das gibt es so in keiner anderen Religion. Deshalb hat Jesus grenzenlos geliebt und ist so unbeirrt für das elementarste Menschenrecht eingetreten: ungeschmälert Mensch sein zu dürfen.

Gottes Geist, der Geist Christi: Das wirkt sich aus in der beharrlichen Hoffnung derer, die nicht mit den Wölfen heulen und unsere Welt nicht sich selbst überlassen, sondern mit vielen kleinen Schritten das ihnen Mögliche tun, in diese Welt Spuren des Reiches Gottes einzuzeichnen. Weil Gott es nicht auf die Vernichtung, sondern auf die Rettung unserer Welt abgesehen hat.

Gottes Geist, der Geist Christi: Das ist der Geist, der die Welt als Gottes Schöpfung erkennen lässt, die uns nicht zum Besitz übergeben, sondern nur treuhänderisch ausgeliehen ist. Der entscheidende Gesichtspunkt für ein von Gottes Geist geleitetes Denken ist nicht: Was bringt es für uns ein?, sondern: Dient es dem Leben des Menschen und seiner Mitgeschöpfe? Müssen wir es machen? Der Geist Christi ist ein Geist, der nicht will, dass wir, statt uns zu freuen, dass Gott Mensch wurde, daran arbeiten, dass der Mensch zum Gott wird.

Gottes Geist, der Geist Christi: Der bewirkt, dass – es war genau vor 20 Jahren, nach dem Massaker an der Schule in Erfurt, wenige Tage vor Pfingsten – 100.000 Menschen, von denen die wenigsten zur Kirche gehörten, still und konzentriert einen ökumenischen Trauergottesdienst mitvollzogen, auf einem Platz in Ostdeutschland, wo 13 Jahre vorher die Mächtigen noch das gesetzmäßige Aussterben des Christentums propagierten.

Gottes Geist, der Geist Christi: Der macht nicht mit, wenn jetzt (zuletzt durch eine führende Berliner Verteidigungspolitikerin) gefordert, die Bundesweht brauche, um eine effektive Armee zu werden, endlich wieder ein Feindbild. Und dieses Feindbild sei Russland. Der Geist Christi, der weder gegen Putin noch gegen Biden gestorben ist, sondern für uns alle, bewirkt, dass wir nicht vom Feindbild Putin und seiner schrecklichen Soldateska ein Feindbild „der Russen“ herleiten. Auch russische Menschen sind Geschöpfe und Kinder Gottes wie wir.

Liebe Gemeinde, wenn jeder von uns in diesem Geist Jesu anfinge, da, wo er lebt in dieser Welt, sich eines Menschen anzunehmen, ihm Beachtung und damit Achtung entgegenzubringen, ihn anzusehen und somit zu einem angesehenen Menschen zu machen, sich zu ihm zu stellen, Zeit für ihn zu haben – um den herum würde ein Stück Welt menschlicher. Gott sei Dank zeigt sich immer wieder: Es gibt solche Menschen. Es gibt viel mehr von ihnen, als wir oft meinen.

Sicher, wir können nicht alles, wir können nicht die Last der Welt auf unsere Schultern nehmen. Aber wir können eben auch nicht nichts, wie uns der Geist der Welt, das „Fleisch“ gerne einflüstert. Sondern wir können etwas – etwas im Geist Jesu. „Wenn du einen einzigen Menschen gerettet hast, so hast du die ganze Welt gerettet“, sagt ein altes Sprichwort aus dem Talmud. Das ist nicht „fleischlich“, nicht der Geist der Welt – der würde diesen Spruch sofort für aberwitzig und unlogisch erklären. Das ist „geistlich“, das ist Gottes Geist. – Lassen wir es uns also von niemandem ausreden: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn Gottes Geist in euch wohnt“.


AMEN.

„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Das 8. Kapitel des Römerbriefs, aus dem der eben gehörte Predigttext kommt, ist ein Königstext im neuen Testament. Es geht in ihm um den Heiligen Geist, und was er im Leben der Christen bewirkt. In unserem Abschnitt schlägt Paulus aber einen verhaltenen Ton an. Auf den ersten Blick jedenfalls. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; aber der Geist selbst vertritt uns bei Gott mit unaussprechlichem Seufzen“. Das sind wir also. So und nicht anders war die Christenheit von Anfang an, und so wird sie bleiben bis ans Ende: einerseits „voll des Heiligen Geistes“ – aber was andererseits dann dabei herauskommt, sind nichts als „unaussprechliche Seufzer“. Da erzählt die Bibel an vielen Stellen, wie Gottes Geist neue Ein- und Durchblicke schenkt, zu ungeahnter Klarheit führt, gebeugten Leuten aufrechten Gang ermöglicht – und die Christen antworten auf diese Gabe nicht anders als mit Seufzen und wissen nicht, was sie Gott sagen können. Da werden wir mit dem Reichtum von Gottes Geistesgegenwart beschenkt – und im gleichen Atemzug wird uns ein Armutszeugnis ausgestellt: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen.“

I.

Aber eben, das ist eine Grunderfahrung mit unserem Christsein, und deshalb auch (für uns oft schmerzlich) mit der Kirche: dass dieser Gegensatz zwischen dem, was wir durch unsere Taufe sein sollen, und dem, was wir persönlich an uns selbst und aneinander immer wieder erfahren, so heftig sein kann. „Der Geist hilft unserer Schwachheit“ auf“: Haben wir nun Gottes Geist? Oder sind wir von vielen guten Geistern verlassen? Wenn mich einer, wie das unter Christen gelegentlich so ist, direkt auf den Kopf zu fragte: Hast du den Geist aus Gott empfangen?, dann würde ich ihm schon so antworten: Ja, ich habe ihn empfangen. Aber nicht ein für alle mal. Sondern gerade so, dass ich immer aufs Neue um ihn bitten muss. Ich habe ihn also nicht so bekommen, dass ich ihn gleichsam auf Flaschen ziehen und mir einen Vorrat anlegen könnte, der mir jederzeit abrufbar zur Verfügung steht. Ich bleibe darauf angewiesen, um ihn zu bitten.

Kennen Sie das schöne Bonmot: ‚Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass die Kirche ein Auslaufmodell ist? Antwort: Im Prinzip ja – aber dem Heiligen Geist ist nicht zu trauen!‘ Das ist es, liebe Gemeinde! Gottes Geist ist in der Tat nicht zu trauen, jedenfalls nicht derart, dass er erwartbar und planbar ist. Er weht, wann, wo und wie er will. Man kann ihn nicht in eigene Regie nehmen. Aber er kommt. Und so hat er seither in fast 200 Jahren unberechenbar und eigenwillig über das dürre Kirchenfeld geweht. Oft da, wo man es am wenigsten erwartete. Totgeglaubte Gemeinden hat er wieder munter gemacht, müde gewordene Christen in Schwung gebracht, und Leute, die mit Gott gar nichts am Hut hatten, hat er Zugang finden lassen zu Evangelium. Vor allem aber: der Heilige Geist hat ganz normale Menschen im ganz normalen Gottesdienst aufgerichtet, getröstet, zum Leben ermutigt. Wenn uns Gottes Geist nie angerührt hätte, ob wir dann jetzt hier wären?

II.

„Du bist ein Geist der Freude, von Trauern hältst du nichts“ (EG 133,6) heißt es in einem Pfingstlied von Paul Gerhardt. Eine steile, aber schöne Aussage. Was für eine Freude ist es, die Gottes Geist schenkt? Es ist zuerst und zuletzt die Freude darüber, dass Gott uns Jesus Christus geschenkt hat. Jesus, der sich unseres von so vielen Spuren des Todes gezeichneten Lebens annimmt. Er hat all das, was wir Gott und einander schuldig geblieben sind, als seine eigene Schuld sich aufgeladen und es so aus der Welt geschafft. Nun steht nichts mehr zwischen uns und Gott. Nun gilt, was Paulus am Schluss dieses 8. Römerbriefkapitels geradezu stolz proklamiert: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“ (Röm 8,39). Wir sind und bleiben von Gott geliebt, und das ist das Beste und Wichtigste, was von uns zu sagen ist. Martin Luther hat das in einem seiner schönsten und tiefsten Sätze so auf den Punkt gebracht: „Gott liebt die Sünder, nicht weil sie schön sind, sondern sie werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“. Auch das ärmste, bedrohteste Leben ist in Gottes Augen schön und hat unendlichen Wert. Es gibt nichts schöneres, als geliebt zu sein. Der Theologe Helmut Gollwitzer hat das einmal in den einfachen Satz gebracht: Wir sind noch viel geliebter, als wir wissen! Das ist der Kern des christlichen Glaubens.

Wir sind geliebter, als wir wissen: Das mindestens zu erahnen und uns von daher nicht runterziehen zu lassen in die Abgründe von Routine und Traurigkeit, an deren Rand wir uns oft bewegen – das ist bereits eine stille, aber nachhaltige Wirkung des Geistes, den wir nicht aus uns selber haben, sondern der kommt und unserer Schwachheit aufhilft. Vielleicht ist dies das Schwierigste und zugleich Tiefste, was in einem Christenleben zu lernen ist: Die Überbrückung, oder jedenfalls das Zusammenhalten dieses schmerzhaften Gegensatzes zwischen dem, was wir von Gott her eigentlich sind, und dem, wie wir miteinander und mit uns selbst sind, wirklich dem Heiligen Geist überlassen zu können, anstatt uns selber sysiphushaft daran abzuarbeiten. „Der Geist selbst vertritt uns bei Gott mit unaussprechlichem Seufzen“. Er vertritt uns im Himmel besser, als auch der frömmste Mensch jemals seine Sache vor Gott vertreten könnte.

Aber auch der beste Stellvertreter taugt nichts, wenn er keine Vollmacht hat. Ein Stellvertreter, das liegt in der Natur der Sache, braucht immer eine Vollmacht, die ihn beglaubigt – das ist, denke ich mir, im Himmel auch nicht anders als auf Erden. Wer jemand glaubwürdig vertreten soll, der muss bejaht werden von dem, für den er eintreten soll. Wir kennen das aus der Diplomatie. Wenn eine Regierung kein wirkliches Vertrauen mehr in ihren Botschaften in einem anderen Land hat, wird der von seinem Posten abberufen. Anfang der Nuller Jahre kam das mal in Berlin vor. Der dortige Botschafter der Schweiz geriet wegen gewagter Auftritte seiner kapriziösen Gattin in der Berliner Nachtszene in die Schlagzeilen und drohte sein Land unmöglich zu machen - vorbei war’s dann bald mit der Stellvertreterrolle. So auch bei Gott: Da soll, wer sich bei ihm vertreten lassen will, auch Ja sagen zu diesem Stellvertreter. Er soll dem Heiligen Geist Vertrauen schenken, seine Sache bei ihm gut aufgehoben glauben. Gerade weil ihm laut Radio Eriwan nicht zu trauen ist, hat Gottes Geist unser Vertrauen verdient. Dass das geschah, dass Menschen - anfangs ganz wenige, und dann immer mehr – jemand, den sie nicht sehen konnten und der kein Gepränge entfaltet wie ein würdevoller Diplomat, ihr Vertrauen schenkten und ihre Sache ihm überließen: das ist das Geheimnis von Pfingsten und seither der Kirche.

III.

Der vor einigen Monaten verstorbene große Theologe Eberhard Jüngel hat mit Blick auf diesen Text gesagt: „Die Angst um die Welt und die Kirche, die auch der Christ nicht verliert, drückt sich aus in unaussprechlichen Seufzern. Seufzend gestehen wir uns und Gott unsere Angst ein. Ein solcher Seufzer ist das ehrlichste Gebet von der Welt“. Das ist steil ausgedrückt. Aber ich finde, es stimmt. Vielleicht haben Sie das auch schon mal so erlebt: dieses Ahnen, dass wir gerade dann, wenn wir gar nicht mehr wissen, was wir sagen und beten sollen, wenn wir nur noch eingestehen können, dass „wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus noch ein“, dass wir dann näher bei Gott sein können als in frommen und wohlformulierten Gebeten. Ich erinnere mich eines früheren Bischofs, der mal von seiner Beklommenheit vor einer weichenstellenden Sitzung seiner von inneren Konflikten zerrissenen Kirchenleitung sprach und seine Sorge vor dem Verlauf der Sitzung auf die sehr paulusmäßige Formel brachte: „Wenn morgen nicht der Heilige Geist mit Macht dazwischenfährt, dann können wir alle einpacken!“ Ein solcher aus der Tiefe kommender Stoßseufzer ist manchmal mehr wert als alle Gebete. Auch wenn es manchmal nur ein einziges seufzendes „Ach“ ist. Nein, wir brauchen uns unserer Gebetsunfähigkeit nicht zu schämen.

Aber nun ist und bleibt es die große Verheißung für unsere Seufzer, dass der Heilige Geist, der Dolmetscher unseres Lebens und Glaubens, sie nicht nur versteht, sondern sogar in sie einstimmt und sie so dahin transportiert, wo sie hingehören. Er liegt mit unseren „Achs“ Gott in den Ohren. Auf Pfingsten hin zu leben und von Pfingsten her miteinander Kirche sein, das heißt also beides: dem Heiligen Geist vertrauen, Ja zu ihm sagen - und zugleich: sich des seufzenden „Ach“ über die sichtbare, oft wenig ansehnliche Seite unseres Lebens nicht schämen. Karl Barth sagte einmal: „Ach ja – in diesen beiden Worten steckt das ganze Pfingstgeheimnis“.

Liebe Schwestern und Brüder, die Welt, in der wir leben, auch die Kirche, wie wir sie erfahren, nötigt uns gerade jetzt oft nur ein „Ach“ ab. Aber wir bleiben damit nicht uns selbst überlassen. Wir können mit diesem „Ach“ zu Gott kommen, wenn wir „Ja“ zu ihm sagen. „Auf Hoffnung“ hin, wie Paulus nicht müde wird, in Römer 8 zu sagen. So können diese beiden Wörtchen „Ach ja“ fast zu einer Art Summe eines Christenlebens werden - eine Summe, die sich von mathematischen Summen darin unterscheidet, dass sie nicht endgültig ist, sondern nach vorne offen bleibt. Damit Gott selbst, wann und wie es ihm gefällt, das Saldo feststellen kann.

Wie das aussehen wird? Wissen können wir’s nicht. Sonst hätte Paulus dieses Kapitel nicht schreiben müssen. Eins aber wissen wir, und das ist wie ein verhaltenes, aber unüberhörbares Echo auf das Eingeständnis, dass wir nicht wissen, was wir beten sollen. Paulus weiß wohl, warum er es gerade mal zwei Verse später uns zuruft: „Wir aber wissen, dass denen, die sich Gott öffnen, alle Dinge zum Besten dienen“.


AMEN.

„Regierungswechsel und Zeitenwende“

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Die Bibel ist ein unheimlich faszinierendes Buch. Im Fall des heutigen Predigttextes meine ich das wortwörtlich: die Bibel kann auch unheimlich sein; und oft ist sie faszinierend. Und manchmal ist sie beides zugleich. Vielleicht ist es Ihnen eben so gegangen beim Hören dieses total fremdartigen Textes. Seine bizarren Bilder, die mit Sprachgewalt entfaltet werden, erinnern Bibelleser an das letzte Bibelbuch, die Johannesapokalypse. Und in der Tat, Daniel, einer der jüngsten Propheten im Alten Testament, wird der sog. spätjüdischen Apokalyptik zugerechnet.

I.

Wer war dieser Daniel, von dem wir vermutlich nicht viel mehr wissen als die berühmte Episode von jener Löwengrube, in die man ihn irgendwann geworfen hatte, um den Gott auszutesten, den er verkündigte? In dem Buch, das nach ihm heißt, wird erzählt, wie Daniel schon als Teenager aus seiner Heimat Jerusalem nach der damaligen Supermacht Babylon verbracht wird. Er durchläuft eine Ausbildung zum höheren Verwaltungsdienst und findet einen exponierten Arbeitsplatz in der Kanzlei des damaligen Großkönigs Nebukadnezar. Solche Stellen an einem orientalischen Hof galten als Schleudersitze, aber Daniel arbeitet über Jahrzehnte offenbar hochkompetent, bis schließlich die Perser das babylonische Reich erobern. Daniel aber ist für den anstehenden Regimewechsel ein unentbehrlicher Fachmann, er bleibt auf hoher Ebene in der Verwaltung. Wir würden sagen, als Hauptabteilungsleiter im Ministerium, wo die echte Fachkompetenz sitzt, die auch bei jedem Regierungs- und Ministerwechsel im Haus bleiben muss.

Daniel kennt seinen jüdischen Glauben. Er weiß etwas von Gottes Gnade auch in Zeiten des Umbruchs und Nächten totaler Ungewissheit. Er hat sein Elternhaus, seine Heimat, seine Freiheit verloren. Aber auch in dieser entwurzelten Umgebung vertraut Daniel dem Gott seiner Mütter und Väter, Tag und Nacht, wach und im Traum. In seinen Träumen empfängt er von Gott Visionen. Sie drehen sich darum, wie es jetzt inmitten der Verwerfungen in der Welt mit dem kleinen Gottesvolk weitergeht. Die jüdische Hauptstadt Jerusalem und ihr Tempel sind zerstört, alles, worauf sie in der Theologie und in der Architektur einmal bauten, liegt in Trümmern. Ist da auch nur von ferne an einen Neuanfang zu hoffen?

Der heutige Predigttext enthält wie gesagt bizarre, aber auch großartige Bilder und Visionen. Es lohnt, sie zu meditieren und zu entschlüsseln, wie man das auch mit den unheimlichen Bildern machen muss, die die Johannesoffenbarung enthält. Das Meer in Daniels Traum steht für die Weite der Völkerwelt. Ihm entsteigen vier fürchterliche Raubtiere: ein Löwe, dann ein Bär, dann ein Panter und schließlich ein namenloses Tier, das die vorherigen an Bestialität übertrifft. Damit sind die Weltreiche der damaligen Zeit gemeint, die einander ablösen: die Babylonier, die Meder, die Perser und schließlich die Seleukiden. Sie sind gefährlich, unheimlich und teuflisch. Sie morden, fressen und treten alles nieder. Und sie entfalten drei große Themen, die nicht nur zeitlos wichtig sind, sondern gerade zur Jetztzeit aktuell wie lange nicht mehr: die Brutalisierung auf der Erde, einen Regierungswechsel im Himmel und schließlich eine Humanisierung im Himmel und auf Erden. Ein enormer Horizont, der da aufgemacht wird.

II.

Zunächst zur irdischen Brutalisierung. Was macht diese Tiere so gefährlich? Die Antwort ist auf den ersten Blick frappierend: dass sie Menschen sind, als Menschen dargestellt werden! Der Löwe wird „wie ein Mensch auf seine Füße gestellt, ihm wird Menschenverstand gegeben“. Das schaurige letzte Tier hat Augen wie Menschenaugen. Das will sagen: Menschen können zu schlimmeren Untieren werden als die Tiere in der Natur. Ein Löwe ist schon gefährlich genug. Aber ein Löwe mit der Intelligenz eines Menschen kann entsetzlich sein. Brutalität ist schlimm in sich. Aber Brutalität die intelligent geplant und technisch perfekt ins Werk gesetzt wird, ist teuflisch. Sicherlich haben manche von Ihnen vor einigen Monaten im Fernsehen den dokumentarischen Spielfilm über die sog. Wannseekonferenz gesehen. Genau das, die mit eiskalter technischer Intelligenz geplante sog. Endlösung der Judenfrage wurde da eindrucksvoll dargestellt.

Was macht diese Tiere so unheimlich? Zu Ihrer Brutalisierung gehört nicht nur Intelligenz, sondern auch Macht. Sie stehen zeichenhaft für die Macht der Imperien. Jener Weltreiche, die gewaltige Kriegsmaschinerien haben, mit denen sie kleineren, weniger starken Völkern brutal ihren Willen aufnötigen. Diese Macht, durch keinerlei rechtliche Rahmen begrenzt, brutalisiert unweigerlich. Hier ist dieser fremde ferne Text nun vollends in unserer Gegenwart angekommen.

Und was macht die Tiere so teuflisch? Die Tiere symbolisieren die alten Chaosmächte, die Gott bei der Schöpfung, jenem großen Gestaltwandel vom Chaos zum Kosmos, überwunden hatte. Die Weltmächte versprechen, Ordnung zu schaffen – „entnazifizieren“ heißt das aktuell –, aber in Wahrheit sind sie Teil des Chaos, das die Ordnung der Schöpfung zerstören will. So erscheinen die Weltmächte als ein großer Aufstand gegen Gott. Das ist das Schlimmste: wo Brutalität mit Intelligenz und politischer Macht auftritt und sich selbst absolut setzt, sich selbst zum Gott erklärt.

III.

Zweites Thema: der Regierungswechsel im Himmel. Daniel schaut Gott. Er sieht einen Greis, mit schlohweißen Haaren. Was für ein Kontrastprogramm zu den kraftstrotzenden Untieren. Man fragt sich sofort: Sind die Tage seiner Regierung gezählt? Wie lange wird er noch regieren? Dieser hochbetagte Alte überträgt nun seien Herrschaft einem, der wie ein Mensch aussieht, dessen Herrschaft aber unbegrenzt und ewig sein wird. Hinter solchen Visionen steht ein Mythos von der Ablösung eines alten Gottes durch einen jungen, durch einen, der wie ein Mensch aussieht. Es geht hier aber keineswegs darum, dass ein zu alt gewordener Herrscher die Amtsgeschäfte bei einem jungen Dynamiker besser aufgehoben sieht. Sondern das Problem sind die immer schrecklicheren Tiere. Ihre Bekämpfung und Ausschaltung überlässt der Alte nicht einem neuen Gott. Das wird noch unter ihm erledigt. Wenn der Menschenähnliche an die Macht kommt, soll das Problem der Macht gelöst sein. Er muss nicht erst noch einen schmutzigen Krieg führen. Er darf von Anfang an menschlich regieren. Ein himmlischer Regime Change, der anders als die meisten irdischen eine wirkliche Zeitenwende markiert.

IV.

Zum dritten Thema: die Humanisierung auf Erden und im Himmel. Beides geschieht zeitgleich. Im Himmel übernimmt ein Menschenähnlicher die Macht. Eine göttliche Gestalt wird mit einem Namen für Menschen bezeichnet. Er ist „der Menschensohn“. Auf der Erde wird die Schreckensherrschaft der Tiere abgelöst durch Menschen, die „Heilige des Höchsten“ genannt werden. So als bildeten sie auf Erden gewissermaßen die Filiale, den Hofstaat des höchsten Königs. Solche Parallelitäten sind aus der Alten Welt vertraut. Wenn die Völker Krieg gegeneinander führen, streiten sich auch die Götter. Hier aber, das ist das Aufregende, geht es nicht um die Parallelität von Kriegen in Himmel und auf Erden. Es geht um die Parallele zwischen einer Vermenschlichung in beiden Sphären und um ihre wechselseitige Durchdringung. Der göttliche Bereich wird menschlich, der menschliche zu einer Sphäre der Engel. Die Botschaft ist: die auf Kraftmeierei, Angst und Gewalt aufgebauten Weltreiche der Tiere werden abgelöst durch ein menschliches Reich. Menschlich in dem Sinne, dass der Mensch dort zu sich selbst kommt, zu der Bestimmung, die ihm Gott in seiner Schöpfung gegeben hat.

Faszinierend dabei ist: Daniel sagt hier in visionärer Form, dass der Mensch immer noch dabei ist, vom Tier zum Menschen zu werden. Das wirklich Menschliche, das dem Menschen und damit auch Gott Gemäße, das Gottes Idee über den Menschen Entsprechende: das muss sich erst noch durchsetzen. Als Christen glauben wir, dass dieser wirkliche Mensch in Jesus erschienen ist. In ihm wurde das Göttliche menschlich, und das Menschliche göttlich. Er offenbarte mitten in der Brutalität der Geschichte eine Gegenwirklichkeit: Es ist ein Leben möglich, in dem sich die Menschen nicht mit Intelligenz, Macht und Selbstüberschätzung gegenseitig kaputt machen und unterdrücken. Es ist es Leben möglich, in dem es menschlich zugeht. Statt dem evolutionsbiologischen Lehrsatz Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kann gelten: Homo homini frater, der Mensch ist dem Menschen ein Bruder, eine Schwester.

Naturwissenschaftlich wissen wir längst, dass der Mensch aus dem Tierreich stammt. Was indes immer noch nicht als überzeugend gelöst gilt, ist die berühmte Frage nach dem missing link, dem fehlenden Übergangsglied zwischen Tier und Mensch. Aber – nicht im naturwissenschaftlichen, aber in einem tieferen Sinn! – eigentlich sind wir selbst dieses missing link. Eigentlich sind wir selbst ein Übergang von tierischen Dasein zum wahren menschlichen Leben. In Jesus sind wir dieses wahren Lebens ansichtig geworden. In ihm ist erschienen, sichtbar geworden, was wir sein könnten. Was wir, Gott sei es geklagt, nicht sind – aber doch hoffen einmal zu sein. Erst wenn der Mensch wirklich menschlich ist, wird ihm Gott auch menschlich, neudeutsch gesagt: auf Augenhöhe begegnen. Solange Brutalität herrscht auf Erden – solange eine Großmacht, weil sie groß und mächtig ist, ein kleines, viel weniger mächtiges Land durch Krieg vernichten will; solange beim Missbrauch wehrloser Kinder der Ruf der Institution, aus der die Täter kommen, wichtiger ist als Gerechtigkeit und Hilfe für die Opfer; solange das und vieles andere zum Himmel schreit: solange leben wir noch im Zeichen der brutalen und bestialischen Tiere.

V.

Zum Schluss komme ich noch einmal auf die Traumfigur aus Daniels Nachtgesicht, jenen geheimnisvollen „Menschensohn“, den der alte Gott zum Herrscher der Welten einsetzt. Nach dem Wort aus seinem eigenen Mund ist Jesus der geheimnisvolle Menschensohn. Auf die Frage des Hohepriesters beim Prozess gegen ihn: „Bist du der Christus, der Sohn Gottes?“ gibt der Angeklagte ruhig und klar die Antwort: „Ich bin’s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,62). Wir wissen, was diese Selbstaussage zur Folge hatte. Ganz unmittelbar, aus menschlicher Konsequenz, und das zeigt an, dass der Mensch noch nicht bei sich selbst angekommen ist, sondern tierisch tickt: deshalb der Karfreitag. Aber dann eben auch aus Gottes Konsequenz, der den einen wahren Menschen nicht unter der tierischen Brutalität belassen hat: deshalb kam Ostern. Was durch diesen Menschensohn geschehen ist, was Gott mit Jesus gemacht hat, wovon zuallererst Daniel geträumt hatte: das ist geschehen, damit es uns heute noch erreicht und zur Gnade gereicht. So wird der alttestamentliche Prophet, ohne es schon zu wissen, zum frühen Propheten des Erlösers Jesus Christus.

Und dann die Schlussszene. Jesus begegnet als Auferstandener in Galiläa seinen Jüngern. Er ist zwar noch auf der Erde, aber er lebt nicht mehr in dieser dreidimensionalen Welt, sondern schon in der vielfachen Dimension Gottes. Seine letzten Worte klingen wie eine Regierungserklärung: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Der Menschensohn ist wieder oben angekommen, nachdem er erst zu uns herab musste. Mir ist sie gegeben, das heißt: der ewige Gott hat sie ihm verliehen. Jesus holt sie sich nicht wie eines der kleinen und großen Raubtiere in der Geschichte, die eine Spur der Verwüstung hinterlassen, wohin sie sich in ihrer Macht- und Zerstörungslust auch wenden, verbal oder militärisch. Ein anderes Licht ist nun in der Welt, das wir dorthin weitertragen sollen, wo es noch nicht scheint. Wir können das beherzt angehen, denn wir haben das Versprechen, das Christus, der Menschensohn im Himmel, jener Regierungserklärung unmittelbar angefügt hat: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20).


AMEN.

Das Leichte schwer – das Schwere leicht. W.A. Mozart und Karl Barth

Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik

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Liebe Gemeinde,

„Ein kurzes 'Bekenntnis zu Mozart' soll ich ablegen? Ein 'Bekenntnis' zu einem Menschen und seinem Werk ist eine persönliche Sache. So bin ich froh, persönlich reden zu dürfen. Musiker oder Musikwissenschaftler bin ich ja nicht. Aber zu Mozart bekennen kann und muss ich mich wohl.“ – Mit diesen Sätzen beginnt ein längerer Text mit dem Titel „Bekenntnis zu Mozart“. Geschrieben hat ihn 1956, zum 200. Geburtstag des großen Komponisten, der berühmte Schweizer Theologe Karl Barth, den man auch den protestantischen Kirchenvater des 20. Jahrhunderts nennt.

Karl Barths grenzenlose Mozart-Liebe ist fast noch bekannter als seine Theologie, die immerhin eine gewaltige Dogmatik hervorgebracht hat, die trotz 13 Bänden und mehr als 10.000 Seiten unvollendet geblieben ist. Bilder des Genfer Reformators Calvin und von Mozart hingen in seinem Arbeitszimmer nebeneinander, auf gleicher Höhe. Mozart gehörte zu Barths Alltag. Seine erste Begegnung mit großer Musik – vor allem mit Mozarts Zauberflöte – hatte er schon im Alter von fünf Jahren, da in der Familie viel musiziert wurde. „Ich habe zu bekennen, dass ich seit Jahren und Jahren jeden Morgen zunächst Mozart höre und mich dann erst (von der Tageszeitung nicht zu reden) der Dogmatik zuwende. Ich habe sogar zu bekennen, dass ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas, nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde.“

Die Versuchung ist groß, diesem Punkt nachzugehen. Tatsächlich gibt es untergründige Beziehungen zwischen Mozarts Musik und Karl Barths Theologie, die man die sog. „Dialektische Theologie“ nennt. Diese war das Resultat der allgemeinen tiefen weltanschaulichen Erschütterung in den Wissenschaften und Künsten durch das Inferno des 1. Weltkriegs, und eines Aufbruchs, den dieses Empfinden einer Zeitenwende auslöste. Die dialektische Theologie brachte sowohl theologisch wie kirchlich eine starke Bewegung im deutschsprachigen Protestantismus zwischen 1920 und 1933 hervor.

Dialektik meint ein Erkennen der Wahrheit in Stufen. In einer These wird eine Behauptung auf-gestellt, in der Antithese wird diese in Frage gestellt, und in der Synthese der Gegensatz in eine neue und höhere Ebene gehoben, die dann wieder zur These wird, die eine neue Antithese herausfordert. So entsteht ein Wechselspiel zwischen Frage und Antwort, mit immer neuen Synthesen. Charakteristisch für das theologische Denken Karl Barths ist ein in der Theologie berühmt gewordener „Dreisatz“, den er 1922 aufgestellt hat. Er sagte in einem Vortrag: „Als Theologen sollen wir von Gott reden“ – das ist die These. Dann sagt er weiter: „Wir sind aber Menschen und können als solche gar nicht von Gott reden“ – das ist die Antithese. Und dann folgert er aus dieser Spannung: „Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben darin Gott die Ehre geben.“ – Das ist dann die Synthese. Etwas weniger formal und abstrakt formuliert: Der Mensch kann überhaupt nur deshalb von Gott reden, weil Gott selbst sich offenbart, und der Mensch nur deshalb überhaupt glauben kann.

In einem mit „Dankbrief an Mozart“ betitelten Text spricht Karl Barth von der Dialektik Mozarts: „Mit Ihrer musikalischen Dialektik im Ohr kann man jung sein und alt werden, arbeiten und ausruhen, vergnügt und traurig sein, kurz: leben.“ Auch in Mozarts musikalischer Dialektik sieht Karl Barth die Gegensätze nicht aufgehoben. „Er musizierte das wirkliche Leben in seiner Zwiespältigkeit, aber ihr zum Trotz auf dem Hintergrund der guten Schöpfung Gottes.“ Barth findet, dass bei Mozart „das Schwere schwebt und das Leichte unendlich schwer wiegt“.

Für Karl Barth ist Mozart der Musiker, der aus einer geheimnisvollen Mitte heraus musiziert. Er schreibt: „Mozart ist einer, der die Grenzen nach rechts und nach links, nach oben und nach unten kennt, wahrt und Maß hält. Da ist kein Licht, das nicht auch das Dunkel kennt, keine Freude, die nicht auch das Leid in sich schließt, aber auch umgekehrt.“ Barth fand in Mozarts Musik, was er auch selbst theologisch auszudrücken versuchte: dass alle Spannung, alles Schwere im Leben immer schon von ihrer Überwindung her gesehen werden kann. Für Barth lag diese in der bereits geschehenen Zuwendung Gottes zur Welt in Jesus Christus. Mozarts Musik war ihm dafür ein Gleichnis.

Und so sehr Karl Barth als reformierter Schweizer ein in der Wolle gefärbter Protestant war, mit der durch und durch katholischen Prägung Mozarts hatte er kein Problem. Er schreibt: „Wir Protestanten konnten Mozart darum nicht recht gefallen, weil wir unsere Religion nach seinem Geschmack zu sehr 'im Kopfe' hätten! (Zitat Mozart: „Kann etwas Wahres daran sein, das weiß ich nicht.“) Ich jedenfalls möchte Mozart einen jener besonderen, direkten Zugänge zum lieben Gott hin zubilligen, die es ja bei den erstaunlichsten Menschen geben soll. Mit einem besonderen, direkten Zugang des lieben Gottes zu diesem Menschen hin wird man auf alle Fälle rechnen müssen. Wer Ohren hat zu hören, der höre.“

AMEN.

Sich anders singen

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des MDR-Rundfunkgottesdienstes

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Liebe Gemeinde,

am Wochenende nach dem 24. Februar, als Putin die Ukraine überfiel, haben wir in der entschieden, die Displays unserer Schaukästen vor der Frauenkirche in den ukrainischen Farben blau-gelb zu unterlegen und ein Wort aus dem eben gehörten Predigttext aus dem 1. Kapitel des Lukasevangeliums daraufzusetzen: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“.

I.

Klingt ganz schön robust und kämpferisch. Aber wer sagt das denn: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“? Das sagt kein Revolutionsführer gegen Unterdrückung und Gewalt. Auch kein wortmächtiger Prediger am Jerusalemer Tempel. Das sagt eine blutjunge Frau aus tiefster Provinz. Es ist eine Aussage aus dem Magnificat, diesem wunderbaren Gesang der Christenheit, seit Jahrhunderten täglich im Stundengebet gesungen, von vielen Komponisten vertont. Gerade erst hat Maria durch den Engel die unglaubliche Mitteilung bekommen, dass sie gewürdigt ist, Gottesmutter zu werden, den Erlöser der Welt zu derselben zu bringen. Das kann sie nicht fassen. Wie sollte und könnte sie auch?! Aber sie tut intuitiv das Richtige. Gegen die innere Aufgewühltheit stimmt sie das Magnifikat an.

Maria gehört nicht zur Elite. Sie ist ein 15 oder 16 Jahre altes Mädchen aus Galiläa. Und nun singt sie, oder besser: Es singt aus ihr heraus. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Klingt mitreißend, ermutigend. Wie sehr wünschte man diese Erfahrung den gepeinigten Menschen in der Ukraine. Aber schnell ist die eigene Skepsis zur Stelle: So beschwingt kann doch nur singen, wer realitätsblind ist. Da herrscht Unterdrückung im jüdischen Land. Die römischen Besatzungstruppen halten mit eiserner Faust law and order aufrecht. Nichts zu sehen von Befreiung und Gerechtigkeit. Aber es gibt eine im Singen geweckte Wahrheit, die gilt, auch wenn für unser deprimiertes Erleben alles dagegen spricht. Wir erleben fast vor unserer Haustüre Ruchlosigkeit, Vernichtungswillen, brutale Gewalt, riesige Flüchtlingsnot. Ein nicht enden wollender Karfreitag. Ist diese Realität die letzte Wahrheit? Nach unserem menschlichem Ermessen spricht viel dafür. Eins aber spricht dagegen. Das ist die Tatsache, dass Menschen nicht aufhören zu singen, und wenn es noch so finster um sie herum ist. Töne, Melodien sind kraftvolle Licht- und Hoffnungssignale, dass das Leben am Ende stärker ist als der Tod - auch in seinen vielen elenden Spielarten, mit denen er sich immer wieder da einzuschleichen versucht, wo er nichts verloren hat.

Ich stelle mir das mit Marias Lied vor wie bei den Sklaven vor 200 Jahren in Amerika. Irgendwann fingen sie an, unter der gleißenden Sonne des amerikanischen Südens während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern sich gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage Glaubenslieder zuzusingen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern des Alten Testaments. Das war die Geburt der Gospels, deren Melodien und Texte uns das Herz anrühren. „When Israel was in Egypt’s Land, / let my people go…“ Und das zu einer Zeit, in der nicht einmal ein Fantast an Befreiung aus der Sklaverei gedacht hat. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“: Der Glaube, sagte Martin Luther King, ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. So wird Marias Magnificat zum Protestlied gegen die Dunkelheit, die Heillosigkeit ihrer und unserer Zeit. Wer singt, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. Weil er im Tiefsten weiß und darauf seine Hoffnung setzt, dass die Todesmächte und ihre menschlichen Handlanger am Ende doch den Kürzeren ziehen.

Einen bewegenden Beleg, dass das erfahrbare Wirklichkeit werden kann, habe ich, und sicherlich viele andere, noch vor Augen. Oder genauer gesagt, im Ohr. Das ist die Befreiung der drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen 1990 von fünf Jahrzehnten russischer Fremdherrschaft. Es ist ein erstaunliches Phänomen in diesen drei kleinen Ländern, dass das Singen dort seit Jahrhunderten ein so selbstverständliches Allgemeingut ist wie anderswo Dinge wie Skifahren oder Skatspielen. Überall im Baltikum gingen damals die Menschen mutig auf die Straßen, obwohl sie waffenstarrenden russischen Sicherheitskräften gegenüberstanden. Gegen die Panzer und Gewehrläufe setzten sie die Kraft ihrer Lieder - und sangen. Deshalb hat diese historische Umwälzung den Beinamen „singende Revolution“ bekommen. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“: Das haben die Menschen in den kleinen baltischen Davids-Ländern damals gegen den russischen Goliath erfahren. Wir freuen uns, dass die litauische Sängerin Aida Blum-Morkunaite heute in der Frauenkirche ist und jetzt ein Lied aus ihrer Heimat singen wird, das damals 1990 auch auf den litauischen Straßen erklungen ist, gegen die Macht der Waffen.

[Gesang: „Lietuva brangi“]

II.

Es ist sehr stimmig, dass wir am Sonntag Kantate in einem evangelischen Gottesdienst dieser eigenen, unvergleichlichen Kraft des Singens nachspüren. Denn das Singen gehört zur DNA der Reformation. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Ohne Martin Luther gäbe es keinen Gemeindegesang im Gottesdienst. „Das Lied ist die Predigt der Gemeinde“, hat Luther gerne gesagt. Man muss gar nicht besonders sangesfreudig sein, um zu spüren, dass wir, wenn wir singen, auf eine eigenartige Weise verwandelt werden. Lieder, Chorwerke berühren uns nicht nur durch ihre Melodien, sondern auch, weil in ihnen Grunderfahrungen des Lebens gebündelt sind, unsagbar schöne wie abgrundtief schmerzliche. Und indem wir vieles, was uns in der Tiefe bewegt, im Singen versammeln, sammelt das Singen auch uns und lässt uns selbst uns ein Stück weit vergessen. Das gilt für die alten Volkslieder ebenso wie für viele Choräle des Gesangbuchs. Selbstvergessenheit, Außer-mir-Sein: eine der schönsten, intensivsten Daseinsformen! Und besonders schön ist es, dass das quasi unmerklich geschieht. So bin ich im Singen immer beides: selbstvergessen, und doch ganz konzentriert, gesammelte Existenz. Das ist ja dieselbe Erfahrung, die wir in der Liebe machen. Lieben und Singen, das ist wie ein Zwillingspaar. Es ist kein Zufall, dass das Schönste und Tiefste über die Liebe in Liedern gesagt worden ist.

„Meine Seele erhebet den Herrn“, so beginnt Maria ihren Gesang. Das meint: Maria singt sich über sich selbst hinaus, sie macht Gott groß, und damit wird ihr auch das eigene Leben anders und groß. Manchmal geht der Dank langsam, und er kommt in der Sprache daher, die schon alle kennen. Das aber ist nicht seine eigentliche Sprache, denn dann wird der Dank formelhaft. Die Muttersprache des Dankes ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Deshalb sind Musik und Lieder wichtiger als alle Predigten und Lehren. Denken Sie an David: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel.

Dietrich Bonhoeffer hat das Lied der Maria das leidenschaftlichste, wildeste Adventslied genannt. Hier begegnet uns nicht die sanfte, andächtig versunkene Maria, wie sie in der Kunst so oft erscheint, sondern eine hingerissen-begeisterte, vitale junge Frau. Sie bleibt nicht bei der Frage hängen: Was macht das alles mit mir? Maria macht Gott groß, indem sie Gott nicht nur bei sich am Werke sieht, sondern überall dort, wo Ohnmächtige aufleben können. „Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen”. Kündigt Maria hier einfach einen Austausch der Machtverhältnisse an? Oft genug haben Revolutionen unter umgekehrtem Vorzeichen nur neue Unterdrückung hervorgebracht. So plump kann Maria es nicht meinen. Was es heißen kann, dass die Reichen leer ausgehen, haben viele aus der Nachkriegsgeneration erfahren. Meine Eltern haben uns, als wir Kinder waren, oft erzählt, wie das mit den sogenannten Care-Paketen war. Eines Tages brachte der Briefträger der Familie meines Vaters ein solches Care-Paket. Sie kannten den Absender nicht. Sie packten es aus und staunten: Schokolade, Kaffee und, für sie bis dahin ganz unbekannt, Erdnussbutter, Kaugummis. Das Care-Paket kam aus Amerika von entfernten Verwandten, zu denen es nie Kontakt gegeben hatte. Sie hatten über Jahre auf ein Auto gespart. Als es so weit war, ging der Krieg zu Ende. Sie hörten von den zerstörten Städten und vom Hunger in Deutschland. Da setzten sie ihr fürs Auto erspartes Geld in Care-Pakete um für unbekannte Verwandtschaft in Deutschland. Das Auto musste warten. Von solcher Qualität stelle ich mir die Umkehrung der Verhältnisse vor. Wer Gottes Erbarmen feiert wie Maria und sich davon staunend und dankbar bestimmen lässt, wird zum Handlanger einer stillen, aber nachhaltigen Weltverwandlung.


AMEN.

Den Sorgen den Vogel zeigen

Predigt im Abendgottesdienst gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

es gibt die nette Weisheit: „Wer ständig über seinen Sorgen brütet, dem schlüpfen sie auch aus“. Dieses Wort weist uns in die richtige Richtung, und zwar gerade auch zum Verstehen der Jesusworte aus dem eben gehörten Evangelium. Das Phänomen der Sorge an sich bewertet Jesus darin gar nicht. Dass es ein Grundzug des Menschen ist, sorgen zu müssen, erkennt Jesus natürlich an. Ihm geht es darum, wie wir damit umgehen. Da gibt es offenbar einen hilfreichen Umgang mit, aber eben auch einen fatalen. Vor dem will unser Abschnitt aus der Bergpredigt uns warnen.

I.

Was könnte Jesus nun mit seinem seltsamen Hinweis auf die Sorglosigkeit der Vögel und der Blumen gemeint haben? Sollen wir so werden wie Vögel und Blumen? Hier zeigt sich, wie schnell wir bekannte Bibelworte missverstehen, wenn wir nicht genau genug hinsehen. „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie sähen nicht, sie ernten nicht, und unser himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr wie sie?“ Nicht der berühmte Verweis auf die Vögel, der letzte Halbsatz ist entscheidend! Jesus fragt nicht: „Seid ihr denn nicht auch wie sie?“, sondern er stellt die rhetorische Frage: „Seid ihr denn nicht viel mehr wie sie?“ Dass die Vögel nicht sähen und ernten, die Lilien sich nicht abplagen und spinnen, wird uns also durchaus nicht als nachahmenswertes Vorbild empfohlen. „Seid ihr nicht noch viel mehr als sie?“, das will sagen: Wenn schon die nicht-arbeitende Kreatur von Gott am Leben erhalten wird, um wieviel mehr gilt dies dann erst für euch, die ihr arbeiten müsst! So hat es Jesus gemeint, und natürlich nicht als Anleitung zum Faulsein. Dass wir als Menschen arbeiten, tätig sein müssen, dass wir - eben aus der Sorge für das noch unbekannte Kommende - nicht aus dem Augenblick heraus leben können, das war für Jesus selbstverständlich. Sonst hätte er nicht so viele seiner Gleichnisse fürs Himmelreich aus dem Bereich der Arbeitswelt gewählt, mit Bauern, Weingärtnern, Hirten, Kaufleuten etc. Vögel und Blumen haben kein Bewusstsein von Zeit und Geschichte und darum auch kein Wissen von den Chancen und Gefahren der Zukunft. Jesus weiß, dass es mit uns anders ist. Arbeiten - ja, meint er. Sorge, oder jedenfalls falsche Sorge - nein.

Aber was heißt das? Sich einfach willentlich vorzunehmen, weniger sich zu sorgen, zumal wenn man von seiner Disposition ein eher ängstlicher Mensch ist, das funktioniert ja nicht. Die großen Philosophen haben zu Recht herausgestellt, dass die Sorge eine Grundbefindlichkeit des Daseins ist. Jeder versucht sich selbst zu erhalten und zu sichern. Man ist immer auf etwas aus, was man erreichen und gewinnen möchte. Von dem, was wir haben, befürchten wir, es könne uns verlorengehen. Wir wissen, dass unser Leben vergänglich ist und auf sein Ende zuläuft, und je älter je mehr spüren wir es am eigenen Leib. Der unbekannten Zukunft, von der wir nur wissen, dass sie uns dem Tod näher bringt, möchten wir das Unheimliche nehmen, indem wir sie planend versuchen in den Griff kriegen.

Aber was sollte dagegen einzuwenden sein? Es ist etwas tief Menschliches, dass wir an unserer Zukunft bauen. Sorge als Fürsorge und Vorsorge für andere und sich selbst - dagegen ist auch von unserem Glauben her nichts zu sagen. Jesus verweist in manchen Gleichnissen ja auf die vorausschauende Klugheit der Kaufleute und meint, dass wir in dieser Hinsicht von den „Kindern der Welt“ etwas lernen können. So gesehen könnte man sogar sagen dass die Sorge zu den schönsten und wichtigsten menschlichen Eigenheiten zählt. Wer sorgt, lebt nicht blind im Hier und Jetzt. Er weiß, dass auch morgen ein Tag ist, an dem seine Kinder oder Enkel essen wollen, sauberes Wasser zum Trinken und gute Luft zum Atmen brauchen. Große Zauberworte unserer Zeit kommen hier ins Spiel: Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Die Sorge kann uns Menschen nicht nur krank, sie kann uns auch schön machen - wie ein Mensch immer von innen heraus schön wird, der mehr bedenken kann als sich selber. Wer gar nicht sorgt, ist regelrecht zukunftsunfähig. Es gibt auch eine höchst sinnvolle, konstruktive Angst vor den Bedrohungen der Zukunft, weil sie uns die Augen öffnet und uns dazu bringt, mit unserer Gedankenlosigkeit zu brechen. Und es gibt eine menschenfeindliche Sorglosigkeit, einen dummen und feigen Optimismus, der uns unfähig macht, bedrohliche Wahrheiten zu sehen. Etwa von man von der „Klima-Lüge“ oder der „Impfdiktatur“ schwadroniert. Die Propheten nannten so etwas Verstockung, also die Augen penetrant vor den Zeichen der Zeit zu verschließen.

II.

Wer nicht sorgt, ist unfähig zur Zukunft. Aber es gibt auch eine Sorge, die gegenwartsunfähig macht. Um die geht es Jesus hier. Was die unvermeidliche menschliche Sorge zur falschen Sorge macht, ist, dass das alles in einer Haltung der Vertrauenslosigkeit, der Angst geschieht, als müsste ich mein eigener Schöpfer und Erhalter sein, als wäre das, was ich täglich tue, nicht umschlossen von der alles umgreifenden Fürsorge Gottes. „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen“, heißt es im 127. Psalm. Das ist es, was Jesus eigentlich meint. Wir wollen ernsthafte Christen sein, und dass an Gottes Segen alles gelegen ist, wissen wir auch - jedenfalls solange wir es singen, und es Theorie bleibt. Aber wenn wir einmal in stillen Momenten ehrlich uns selber anschauen, dann könnte es sein, dass unser Körper, unsere Art eine ganz andere Sprache spricht. Dann könnten andere vielleicht einen fatalen Zug an Vertrauenslosigkeit an mir entdecken: daran, wie verbissen ich arbeite; wie humorlos ich bin, wenn es um finanzielle Dinge geht; wie misstrauisch ich bin, wenn jemand mir Hilfe anbietet; wie reizbar, wenn meine Erfolge von anderen angezweifelt werden; wie gelähmt und nur noch um mich selber kreisend, wenn ich krank bin und gleich an das Schlimmste denke.

All dieses muss Gott, menschlich ausgedrückt, als eine Art Kränkung empfinden, als wäre auf ihn kein Verlass, als würde nicht stimmen, was Paulus im Römerbrief in einem seiner schönsten Worte so sagt: „Wir aber wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen sollen“ (Röm 8,28). Sorge, so gesehen, ist Misstrauen gegen Gott. Diese Sorge ist falsche Sorge, denn sie macht uns, wie alles Misstrauen, kaputt. „Woran du dein Herz hängst, worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott“, schreibt Martin Luther in seiner Auslegung des Ersten Gebots, und das ist heute noch aktueller als vor 500 Jahren. Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung und das, was es zur Beschaffung dieser Dinge braucht, kann für uns die Bedeutung gewinnen, die Gott allein zukommt, von dem auch alle diese Dinge her sind. Gott gibt uns Freiheit: Wir werden frei, die letzte Sorge um uns selbst und die, die uns lieb sind, ihm zu überlassen. Die Götter geben keine Freiheit - sie binden uns, machen uns abhängig.

Als zwar besonders erschreckender, aber beispielhafter Fall für so ein falsches Sorgen, das den einen Gott durch mancherlei Götter ersetzt hat, steht mir immer noch das Schicksal des früheren Ministerpräsidenten Barschel aus Kiel vor Augen. Der hatte, es ist jetzt 35 Jahre her, seinem Leben einsam ein Ende gesetzt, weil ein Leben ohne Macht, öffentliches Ansehen ihm nicht mehr vorstellbar, nicht mehr lebenswert erschien. Er hatte wohl all sein Sorgen auf diese Dimensionen gesetzt. Und als er aus diesem Sorgen heraus sich unrechtmäßiger Mittel bediente, um zu behalten, was ihm das Leben sinnvoll machte, und in Folge dessen erst recht in die Defensive geriet, konnte er sich offenbar an keinem Gott festhalten, der ihn rechtfertigt, sondern musste sich mit allen Mitteln selber rechtfertigen - bis er das nicht mehr konnte. Dies ist ein Beispiel für ein Sorgen, das nicht bei den Vögeln und den Lilien in die Lehre gehen will.

III.

Ein Gegenbeispiel habe ich vor Jahren erlebt. Ein junges Paar saß bei mir, das sein Kind zur Taufe bringen wollte. Ein sehr junges, denn beide waren gerade 18 geworden, kannten sich auch noch nicht lange, als wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Schwangerschaft kam. Wir hatten ein dichtes, für mich eindrückliches Gespräch über diese Situation, für alle unmittelbar Betroffenen ja eine existentielle Herausforderung, um nicht zu sagen: gefühlte Katastrophe ist. Beide waren sie mitten in der Ausbildung, und zumindest die Mutter hätte für das Kind ihre Ausbildung erstmal abbrechen müssen. Aber der für viele naheliegende Gedanke an einen Schwangerschaftsabbruch sei ihnen keinen Augenblick gekommen, erzählten sie - weil sie mit einem Mal ganz intensiv das Gefühl überkommen habe, dass dieses Kind, gerade weil es nicht gewollt und geplant gewesen war, ihnen sozusagen von weit her zum Geschenk gemacht worden sei und wofür sie jetzt Verantwortung zu übernehmen hätten. Sie sagten das als zwei Menschen, die nach eigener Auskunft bis dahin kaum religiös gewesen seien. Und dann sagte die Mutter einen erstaunlichen Satz: „Der liebe Gott hat uns jetzt dieses Kind anvertraut, und ich vertraue darauf, dass wir vom ihm auch die Kraft bekommen, die wir brauchen, dass es in Liebe und Geborgenheit groß werden kann.“ Vielleicht hatten diese beiden Menschen unsere Jesusworte noch nie gehört. Aber sie haben sie gelebt. -

Also: „Sorget nicht um euer Leben!“, was heißt das nun? Es bedeutet wohl unterm Strich eine letzte Freiheit von der Lebensangst, nach der wir uns und unser Leben aus eigener Kraft meistern und zum Abschluss bringen müssten. Wer dem begegnet ist, der unser Leben auf sich nimmt und es damit verantwortet und meistert, Jesus Christus, der wird – nein, nicht einfach frei von Sorge und Angst -, aber er wird lernen, sich von ihr nicht beherrschen zu lassen, sondern mit ihr zu leben. Und das heißt: trotz aller Sorgen mit aufrechtem Gang das Leben nach vorne hin zu gestalten. Leistung, Erfolg, Glück, Gesundheit sollen durchaus den ihnen gemäßen Platz haben, denn wir brauchen all dies für ein gutes Leben und für ein intaktes Selbstwertgefühl. Aber sie sind nicht das Letzte, nicht Mitte und Ziel. Das steckt in dem drin, was Dietrich Bonhoeffer in einem berühmten Text so ausgedrückt hat: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“

Und darum kann Jesus, auch wenn wir keine Vögel und keine Lilien sind, unseren Sorgen mit gutem Grund den Vogel zeigen.

AMEN.

Friedensstifter sind Realisten

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder!

Das passt: 8. Mai, 77. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Wir verabschieden heute die Peace Bell aus der Frauenkirche. Michael Patrick Kelly hat sie vor vier Jahren, 100 Jahre nach Ende des 1. Weltkriegs, geschaffen, aus Waffenschrott, den er auf dem Schlachtfeld von Verdun gesammelt hat. Schwerter nicht nur zu Pflugscharen, Schwerter auch zu Glocken! Zwei Wochen stand die PeaceBell hier in dieser Kirche. Die aktuelle Zeit mischt diesem Tag und dem Anlass einen schrecklichen und doch irgendwie passenden Unterton bei: Sinn und Klang dieser Glocke werden durch Wladimir Putin verhöhnt. Das legt sich bleiern auf diesen Tag.

Zugleich machen die Schreckensbilder aus der Ukraine für uns Nachgeborene nachvollziehbarer, wie es vor 77 Jahren in unserem Land und in dieser Stadt aussah. Die alten Dresdner, die noch da sind, wissen es noch. Als Willy Brandt 1945 aus der schwedischen Emigration nach Lübeck zurückkehrt, notiert er: „Eine Stadt am Rande des Lebens.“ Am Rande des Lebens! Das war ein Grundgefühl in jener Zeit. Gibt es ein Überleben, gar einen Neubeginn in ein anderes, besseres Leben? So haben damals viele gefragt. Ob wohl irgendwo in Deutschland damals am 8. Mai 1945 Gottesdienst gehalten wurde? Ich kann es mir kaum vorstellen. Das Empfinden in jenen Tagen war wohl zu erschöpft, und von Dankbarkeit, dass der Krieg vorbei ist, weit entfernt. Im westlichen Teil Deutschlands, wo ich großgeworden bin, hat es 40 Jahre gebraucht, bis dort ein Bundespräsident offiziell sagen konnte, was der 8. Mai 1945 zuallererst war: ein Tag der Befreiung. In der früheren DDR war das von Anfang an der Blick auf dieses Datum – aber eben mit entsprechender ideologischer Schlagseite.

I.

Ich versuche mir vorzustellen, es wäre an jenem 8. Mai 1945 Gottesdienst gefeiert worden. Was für eine Gemeinde wäre da wohl zusammengekommen? Frauen und Männer, junge Leute wären dabei gewesen, die sich jahrelang verstecken mussten, Tag für Tag in Angst. Jubelnd wären sie sicher nicht gekommen, aber tief aufatmend. Anderen hätte man die Schrecken über die Bombennächte angesehen, oder die namenlose Trauer über die im Krieg gebliebenen Männer oder Söhne. Andere wären wie versteinert in den Kirchenbänken gesessen; ihre Hoffnungen und Lebenspläne waren zerstört, aus der Heimat waren sie vertrieben, mit nichts standen sie da. Vor sie alle, die Trauernden, Erleichterten und Ausgebrannten, wäre Jesus Christus getreten, um ihnen zu sagen, was auch uns gilt: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Diese Aussage zu Beginn der Bergpredigt ist kein Appell. Gottseidank. Denn Appelle machen nicht selig, sie machen eher fertig. Ratschläge sind eben auch Schläge - sie legen uns auf das fest, was noch nicht ist und was wir gefälligst machen sollen. Jesus weiß das. Deshalb gibt er mehr als Appelle. Wo wir am Ende sind mit unseren Friedensbemühungen, wo wir über den Nachrichten aus der Ukraine, aber auch aus dem Jemen, aus Syrien und Mali desillusioniert geworden sind, was den allweihnachtlich beschworenen Frieden auf Erden angeht, da rechnet Jesus damit, dass es Friedensstifter gibt, die das Träumen und die realistische Hoffnung nicht unter lauter Resignation begraben haben.

Friede ist für Jesus nicht erst dann ein Thema, wenn es um den Schalom, den himmlischen Frieden seines Reiches geht. In seiner Bergpredigt, das ist das Unvergleichliche an ihr, bringt er das bruchstückhaft Alltägliche und das Große, Messianische zusammen. Es gibt sie, sagt Jesus, die Friedensmenschen, die Spuren ziehen, die nicht wieder zu planieren sind. Ihr lebt von ihrem heilenden Tun. Die innerlich einsam gewordenen jungen Frauen gehören dazu, die viel zu früh Kriegerwitwen geworden waren und dennoch alles getan haben, ihren Kindern ein gutes, lebenswertes Aufwachsen zu ermöglichen. Die wenigen jüdischen Menschen gehören dazu, die das Grauen überlebt hatten und dennoch in Deutschland geblieben oder später hierher zurückgekehrt sind. Die aus den ehemaligen Ostgebieten Vertriebenen mit ihrem Gewaltverzicht gehören dazu. Die früheren Feinde gehören dazu, die 1945 kein zweites Versailles dekretierten, sondern in Westdeutschland mit Marshall-Plan und Care-Paketen halfen, dass die Menschen wieder nach vorn blicken konnten. Frauen und Männer gehören dazu, die damals in der Stunde Null sich nicht in die innere Emigration zurückgezogen, sondern politische Verantwortung übernommen haben. Weil sie wussten: die letzte Rechnung der Naziverbrecher darf nicht aufgehen, dass Deutschland in verbrannter Erde untergeht. Sondern in der von ihnen geschaffenen Wüste an Kultur- und Rechtlosigkeit braucht es allen Einsatz, den Boden wieder urbar zu machen für Recht, Frieden und eine soziale Ordnung. „Selig sind die Friedensstifter“, sagt Jesus. So gab es Spuren des Friedens mitten in einem zerrissenen Land! Die Seligpreisungen gelten denen, die sich nicht mit harmlosen optimistischen Parolen zufrieden geben, sondern die ein Gespür für die Brüchigkeit der Welt haben und sich davon anrühren lassen. Sie gelten denen, die den Panzer des Erfolgs nach der Melodie „Wir sind noch einmal davongekommen! Wir sind wieder wer!“ ablegen. „Söhne, Töchter Gottes werden sie genannt werden“, sagt Jesus von ihnen.

II.

Von Bismarck bis Helmut Schmidt reicht die Tradition der sog. Realpolitiker, die die biblischen Friedensverheißung dem Sperrbezirk der frommen Seele zugewiesen haben mit der Behauptung, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen. Das ist ja auch nicht einfach nur falsch. Dem Vernichtungskrieg vor unserer östlichen Haustür gegen ein ganzes Volk lässt sich nach allem menschlichen und wohl auch biblischen Ermessen mit der Bergpredigt kein Ende machen. Ich habe Achtung vor denen, die auch jetzt noch eine konsequent pazifistische Haltung haben. Es gibt etliche von ihnen in unserer Kirche. Sie müssen ihren Raum in ihr behalten können. Aber Fragen hätte ich schon an sie. Schillers berühmtes Wort aus seinem „Wilhelm Tell“: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ wird ja zurzeit auf die bitterste Weise bestätigt. Aber heißt das nun im Blick auf die Bergpredigt, dass sie abgeräumt werden muss, wenn es um das soziale Miteinander der Menschen geht, dass sie wirklich nur etwas taugt für eine vielleicht moralisch ehrenhafte, aber einfältige inwendige Gesinnung? Dazu ein Wort eines anderen Politikers, unseres früheren Bundespräsidenten Johannes Rau. Der hat zur populären These, mit der Bergpredigt könne man nicht Politik machen, einmal lakonisch bemerkt: „Mag sein. Aber ohne die Bergpredigt könnte ich noch weniger Politik machen“.

III.

Wenn Jesus Christus von Frieden spricht, meint er mehr als das Befrieden nach Krieg und Zusammenbruch. Wie bei den messianischen Verheißungen der Propheten ist für ihn der Friede nicht nur ein Zustand, der auf den Krieg folgt, sondern der dem Krieg zuvorkommt. Ihn überflüssig macht. Jesus kennt uns besser als wir uns selbst kennen. Wir sind, was das Kippen von Frieden in Unfrieden angeht, gefährdeter als wir ahnten. Auch das wissen wir seit dem 24. Februar wahrscheinlich besser als lange Zeit. Ich erinnere noch gut, wie die Grundstimmung war vor 30 Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs. Manche waren nahe daran, eine Epoche des ewigen Friedens auszurufen. „Das Ende der Geschichte“ lautete triumphal ein viel gelesenes Buch eines amerikanischen Historikers. Und was ist daraus geworden! War uns nach 77 Friedensjahren in Mitteleuropa die Abwesenheit von Krieg zur routinierten Selbstverständlichkeit geworden? Mir kam in den letzten Wochen manchmal Helmut Kohl, in den Sinn. Der war ja wirklich ein leidenschaftlicher, überzeugter Europäer. Und eigentlich von seiner Wesensart ein durch und durch optimistischer Mensch. Aber wenn es um das Europa ging, dann wurde er immer sehr ernst. Bis ans Ende seiner Tage hat er oft gewarnt, dass wir auf dünnerem Eis unterwegs sind als wir meinen, dass die alten Gespenster von Nationalismus und Krieg noch längst nicht gebannt sind, dass die Einigung Europas eine Frage von Krieg oder Frieden ist. Wie Recht er hatte, erleben wir ja jetzt. Die Ukrainer kämpfen um ihre Freiheit und Unabhängigkeit, viele um ihr nacktes Leben. Und die Menschen in den Staaten Mittelosteuropas, den ehemaligen sog. „Bruderländern“, haben Angst um ihre nach 1989 wiedergewonnene Unabhängigkeit. Weil in Moskau einer an der Macht ist, getrieben von der Überzeugung, der Zusammenbruch des sowjetischen Mega-Reiches sei die Katastrophe schlechthin gewesen. Und der alles unternimmt, das wieder zu reparieren. Völkerrecht hin oder her. Es ist unheimlich, wie wir im 21. Jahrhundert wieder im 19. Jahrhundert angekommen sind, mit dem Denken in Großmächten, Hegemonien, territorialen Ansprüchen. Und mit einer Macht, die als Weltmacht respektiert und gefürchtet sein will, und die ihren eigenen Bürgern eintrichtert: Du bist nichts, dein Staat ist alles!

IV.

Dabei ist die große und großartige Idee eines vereinten Europas doch die moralische Konsequenz aus dem gewesen, was vor 77 Jahren sein verdientes Ende genommen hat. Und die immer noch ein einzigartiges Friedensprojekt ist. Wir können doch nur dankbar sein für die seit 1945 anhaltende stabile Friedenszeit in unserem Land. Beendigung der Erbfeindschaft mit Frankreich, Aussöhnung mit den Nachbarländern im Osten, denen von Deutschen Entsetzliches zugefügt wurde! Jetzt wissen wir wieder, wie wenig selbstverständlich das war und immer noch ist.

„Selig sind die Friedensstifter“: Friede, der dem Krieg zuvorkommt, hält Gewissen wach. Da sind die Bilder, die wir nicht loswerden und auch nicht vergessen dürfen: aus den KZ’s, mit den zusammengekarrten Leichen, Massengräbern, ausgemergelten Menschen. Einer, der die Exekutionen miterlebt hat, schildert, wie die Opfer nackt in die ausgehobene Grube steigen mussten, um erschossen zu werden. Er sieht einen Vater mit einem kleinen Jungen. Der Junge weint, der Vater zeigt mit dem Finger zum Himmel, erklärt ihm etwas, streichelt ihm den Kopf. Eine Szene, die sich in die Seele eingräbt. Können wir vor dem zum Himmel gehobenen Finger bestehen?

Wir können es nur dann, wenn wir alle Gedankenlosigkeit und Selbstgerechtigkeit fahren lassen. Wenn wir uns Gott zuwenden und seine Gebote nicht überfahren, wenn wir dankbar bleiben für erfahrene Hilfe in unvorstellbarer Not. Und wenn wir zuerst und zuletzt an dem Maß nehmen, der uns nicht nur friedensfähig macht, sondern der unser Friede ist: Jesus Christus. Denn er ist in diese friedlose Welt gekommen und hat sich Leid, Gewalt und Tod ausgesetzt, damit wir aufhören, weiterhin Gewalt, Kraftmeierei und das Recht des Stärkeren zum Daseinsgesetz des Menschen zu machen. „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“


AMEN.

Osterweinen

Geistlicher Impuls im Rahmen der Morgenandacht auf der Aussichtsplattform gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Ostern ist nicht nur das, was wir so unmittelbar mit ihm verbinden: das unwiderstehliche Hervorbrechen der blühenden Natur, Wärme, Farben, Osterspaziergang, Leichtigkeit. Nein, auch Trauer, Ohnmacht und Angst sind ein Teil von Ostern. Denn Ostern, die Auferstehung Jesu hat sich nicht jenseits der real existierenden Welt in einer Blase der Seligkeit ereignet, sondern mitten in ihr. Das erzählen uns die biblischen Osterberichte. Jedes Mal, wenn ich in ihnen lese, berührt es mich, dass die Evangelisten so ungeschminkt notiert haben, dass die erste Reaktion auf das Osterwunder alles andere als Jubel, sondern tiefstes Entsetzen und Angst ist, dass sie das nicht fromm wegretuschiert haben. Denn Ostern wäre nur ein schönes Märchen, wenn es nicht alle unsere Vorstellungskraft sprengen würde. Da bleibt bei allem Osterjubel ein letztes Erschüttertsein, ein Nichtverstehenkönnen.

Wie gesagt, in den Osterberichten geht es nicht um Friede, Freude, Ostereier. Sondern vorrangig um Fassungslosigkeit, abgrundtiefes Erschrecken und Tränen. Maria Magdalena, die Hauptperson des Osterberichtes bei Johannes, steht am leeren Grab Jesu - und weint und weint. Sie war die allererste gewesen, die noch halb in der Nacht zum ersten Tag der neuen Woche entdeckt hatte, dass der Leichnam Jesu, dem sie die letzte Ehre erweisen wollte, nicht mehr da ist, wo er nach der ehernen Ordnung des Todes hätte sein müssen. Das Grab ist leer. Weinend sieht sie hinein und sieht zwei Engel dort sitzen. Weinend wendet sie sich um und sieht den Auferstandenen - den sie aber gar nicht als den geliebten Jesus identifizieren kann. Sie hält ihn für den Friedhofsgärtner.

Maria Magdalena weint. Das Weinen der Liebe um das unwiederbringlich Verlorene. „Tränen sind der kleinste Fluss, / auf dem der größte Kummer schwimmt“, heißt es in einem Gedicht von Gabriela Mistral. Manche unter uns werden etwas davon wissen: von der tiefen Traurigkeit um das unwiderrufliche Ende einer Liebe, einer das Leben erfüllenden Beziehung. Manche werden auch die Erschütterung kennen, die einen überfallen kann: über sich selber, und was man alles versäumt oder, ohne es zu wollen, kaputt gemacht hat. Über das ganze Elend der Welt, und dass ich da so wenig tun kann. - Von all dem ist etwas in dem Weinen der Maria. Sie weint ja nicht nur um einen lieben Menschen. Sie weint um den, durch den ihr Leben heil geworden war, der sie frei gemacht hatte von Verstrickungen, die ihr nicht gut getan hatten. Sie hatte bei Jesus eine ganz neue Gemeinschaft erlebt: mit Menschen, die sich nicht damit abgefunden hatten, dass alles immer so weitergehen soll. Maria spürt: Wer Jesus verliert, hat alles verloren.

Tränen sind der Grundwasserspiegel unserer Seele. Es tut uns nicht gut, wenn er austrocknet. Wenn Tränen fließen, kann das der erste winzige, und doch wichtige Schritt aus der lähmenden Trauer sein. Tränen sind der Grundwasserspiegel unserer Seele. Es tut uns nicht gut, wenn er austrocknet. Wenn Tränen fließen, kann das der erste winzige, und doch wichtige Schritt aus der lähmenden Trauer sein. Vor vielen Jahren war mir aus ganz persönlichem Grund sehr zum Heulen. Aber ich konnte nicht weinen, wochenlang nicht. Das war schrecklich. Bis irgendwann, nicht durch Selbstbeschäftigung, sondern durch etwas von außen, nämlich ein nachdenkliches, gescheites Wort eines anderen Menschen, plötzlich die Dämme brachen und die Tränen endlich fließen konnten. Das war befreiend.

Bei Johannes sieht es so aus, als ob Maria Magdalena gerade deshalb die Engel im Grab sehen kann, weil ihre Augen voll Tränen sind. Zwei Jünger, die nach Auskunft des Evangelisten kurz vorher im Grab waren, haben gar nichts gesehen. Maria sieht, weil sie die Trauer zulässt. Weil ihre Trauer ihr bewusst macht, dass sie selbst nichts mehr tun kann. Dass sie ganz ohnmächtig, angewiesen ist. In ihrer bodenlosen Traurigkeit wird sie nun angesprochen. Wenn jemand meine Traurigkeit wahrnimmt und behutsam nach dem Grund fragt, dann macht das die Trauerarbeit einfacher. Gleich zweimal wird Maria Magdalena Bei Johannes gefragt, zuerst von den Engeln, dann von Jesus selbst: „Frau, was weinst du?“

Natürlich, damit wird es noch nicht Ostern. Aber es könnte ein leiser Anfang sein. Es gibt nicht nur das berühmte „Osterlachen“. Es gibt auch ein Osterweinen, das dem Ostergeheimnis vielleicht noch näher ist. Auch für Ostern gilt, und Maria erfährt das in einem sehr wörtlichen Sinn: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer“. Denn erst, als sie der Unbekannte dann bei ihrem Namen nennt, öffnen sich die tränenverschleierten Augen, und sie erkennt den, den sie sucht. Das hatte er ihnen ja gesagt, unvergesslich für sie: „Ich bin der gute Hirte, meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie“ (Joh 10,27). Durch die Namensanrede gibt er ihr zu verstehen: Ich kenne dich mit deiner ganzen Geschichte, mit deiner Art und deinen Unarten. Ich lasse dich nie mehr los. Ich werde weiter mit dir reden, du wirst meine Stimme heraushören aus den vielen Stimmen, die auf dich einreden. Und das gilt nicht nur für Maria, sondern für uns alle, denen er in unserer Taufe gesagt hat: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jes 43,1). Dein Name ist im Himmel eingeschrieben.


AMEN.

Das Ende der Erstarrung

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Seltsame Verkehrung der Dinge: Das Karfreitagsevangelium, die bittere Passionsgeschichte nach Johannes, endet einem abgeklärten, fast sieghaften Wort des sterbenden Jesus: „Es ist vollbracht“. Das gerade gehörte sieghafte Osterevangelium dagegen schließt mit der bitteren Feststellung: „Sie fürchteten sich“. Jedes Mal, wenn ich die biblischen Osterberichte lese, berührt es mich, dass die Evangelisten das so ungeschminkt notiert und nicht fromm retuschiert haben. Denn Ostern wäre nur ein ergreifendes Märchen, wenn es nicht alle unsere Vorstellungskraft sprengen würde. Da bleibt bei allem Osterjubel ein letztes Erschüttertsein, ein Nichtverstehenkönnen.

I.

Was wollen die beiden Marias und Salome eigentlich am Grab, in der Herrgottsfrühe eines Werktages? Markus berichtet, dass sie kostbare Einbalsamierungsmittel dabei haben. Wollen sie eine Art Jesus-Mausoleum einrichten, wie vor 100 Jahren in Moskau an der Kremlmauer für den „ruhmreichen Lenin“, dessen seltsame Ruhestätte in diesen Tagen wohl besonders viel Zulauf hat? So furchtbar dieses Ende auf dem Berg mit dem schaurigen Namen „Schädelstätte“ auch war - der Tod muss organisiert werden, er muss seine Ordnung haben. Der Tote ist tot, da ist nichts mehr zu machen. Aber ihn ehren, ihm posthum Respekt erweisen - da geht immer noch was. So geht es bis heute. Nur: an der unangreifbaren Macht des Todes ändert das nichts. Irgendwie hat dieser Gang der Frauen zum Grab etwas trostlos Beruhigendes. Ein geliebter Mensch ist nicht mehr. Wir ordnen das mit Nachruf, Kränzen und Grabstein und bringen so unsere Trauer in ein hilfreiches Gerüst. „Tot ist nur, wer vergessen ist“: diese beschwörende Aussage steht manchmal über Traueranzeigen. Nein, wir werden ihn nicht vergessen. Mehr können wir nicht tun.

Aber zugleich, vom Evangelisten fast beiläufig erwähnt, geht die morgendliche Sonne auf. Die österliche Sonne. „Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging“. Da ist jedes Wort mit Bedacht aufgeschrieben. Ein neuer Schöpfungstag beginnt. Es war eine revolutionäre Wende, dass die Christen nicht mehr den letzten, sondern den ersten Tag der Woche zu ihrem Sabbat gemacht haben. Den Auferstehungstag, den Tag der neuen Schöpfung, der überglänzt ist von Gottes neuer Sonne, also den Sonntag. Vielen ist das gar nicht mehr klar. Für sie ist der Sonntag „das Wochenende“, bevor mit dem Mühen des Alltags am Montag die neue Woche beginnt. Dabei ist es etwas anderes, wenn das Neue nicht mit Arbeit und Seufzen anhebt, sondern mit Aufatmen und Beschenktwerden. Der von Ostern bestimmte Sonntag ist der Freudentag, von dem her ganz neues Leben in eine Welt kommt, die vom Tod gezeichnet ist. Angesichts des Todes können wir, wie gesagt, nichts mehr machen. Aber für Gott ist etwas zu machen. Ostern, das heißt: wo uns alles aus der Hand genommen ist, hat ein anderer alle Initiative an sich gerissen. Deshalb sollen wir an dem Tag, der an diese unvergleichliche Initiative erinnert, aus Machenden, Produzierenden, Angestrengten einfach Beschenkte, Aufatmende werden. Am Anfang aller Lebensvollzüge steht nicht das Tun, sondern das Empfangen. So gesehen ist der Sonntag als erster Tag der Woche die zeitliche Gestalt der Rechtfertigungsbotschaft.

II.

Aber jetzt habe ich weit voraus gegriffen. Die Frauen wissen ja noch nichts von alldem. Sie sind noch mitten auf dem Weg zum Friedhof. Sie haben einen schweren Gang. Mit Jesu Tod sind auch alle ihre Hoffnungen zerbrochen. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt. Wenn Lebensperspektiven endgültig zerstört sind, dann stürzen Welten ein. Die Füße sind jetzt schwer wie Stein, und jeder Schritt tut weh. So gehen Verlierer. Wenn sie schon nichts ausrichten können gegen den Tod, dann wollen sie ihn wenigstens einkapseln. Da ist dieser Stein vor der Grabeshöhle. Wie kann man den wegkriegen? Doch siehe da: Der Stein ist weg. Und im Grab liegt kein Leichnam, sondern da sitzt ein Engel. Wie kräftige Hammerschläge sind seine Worte: Jesus sucht ihr, den Gekreuzigten? Der ist nicht hier, der ist auferstanden! Den kriegt ihr nicht einbalsamiert, den bringt ihr nicht durch die Rituale eurer Pietät zum Erstarren. Geht zurück in euer Leben und vergesst das mit dem Jesus-Mausoleum! Er bleibt nämlich der Lebendige. Er wird euch immer vorangehen, wo ihr auch seid. Aus der dunklen, muffigen Grabeshöhle geht es hinaus in den neuen, sonnendurchfluteten Tag.

So wird Ostern unerwartet zur Stunde der Frauen. Aber merkwürdig: „Sie gingen hinaus und flohen von dem Grab, denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen“. Etwas anderes hat Markus nicht zu erzählen über die Reaktion der Frauen. Nichts als Angst und Schock. Wie kann das nur sein, dass diese unerschütterlichste aller Ordnungen, die Abfolge von Leben und Tod, so einschneidend durchbrochen und auf den Kopf gestellt wird? Wenn Gottes Macht die vertrauten Abläufe durchbricht, wanken die Grundfesten. Das provoziert unseren gesunden Menschenverstand, unseren Ordnungssinn. Da hat ja nicht der Tod das erste Wort und das Leben das zweite, sondern umgekehrt. Die Frauen sind noch weit entfernt das zu begreifen. Innerlich sind sie immer noch auf dem Weg zum Grab. Das hilft mir bei den Zweifeln, die wir ja nicht so einfach wegkriegen. Nach jedem Sonntag geht ja montags weiter mit unseren elenden Halbheiten, unserer Routine. Die österliche Botschaft, dass am Ende nicht der Tod steht, sondern das Leben, ist eine erschütternde Überraschung. Da wird es nachvollziehbar, dass Schrecken die erste Reaktion ist.

III.

Aller Glaube, auch der österliche, steht zwischen Gewissheit und Zweifel. Das kann auch gar nicht anders sein - denn Jesus war dem ja selber ausgesetzt. Das Kreuz, der Schrei der Gottverlassenheit war eben kein Schattenspiel. Der Karfreitag bringt zutage, was an Gottes- und Selbsthass sich in unsere verborgenen Abgründe eingenistet hat. Er bringt zutage, warum es das gibt, Auschwitz und Hiroshima, Islamischer Staat und Wladimir Putin. Aber Jesus hält das an unserer Stelle aus. So wird er, in dieser Solidarität zu unseren Abgründen, selber zum Verworfenen. Manchmal, wenn mir elend ist, versuche ich mich in die Atmosphäre des Karsamstags hineinzuversetzen. Das muss ein fürchterlicher Tag für Jesu Freunde gewesen sein. Die ganze Welt wie zugefroren. Eine Welt, in der die Stimme dessen, der ihnen Gott gebracht hatte, verstummt ist. Grabesstille. An dieser hoffnungslosen Situation kann das Salböl der Frauen nichts ändern.

Da braucht es schon etwas anderes. Da braucht es einen Engel. Der teilt den konsternierten Frauen mit: „Er wird vor euch hergehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen“. Warum Galiläa? Das ist mehr als nur eine geographische Angabe. Galiläa steht für die Rückkehr an die Arbeit, in den Alltag des Fischerdaseins. Es steht für die sauren Wochen, die noch auf jedes frohe Fest folgten. Die hohe Zeit mit Jesus von Nazareth ist vorbei, die Welt ist wieder durchwachsen und temperiert. Aber die helle Nachricht heißt: Er wird vor euch hergehen nach Galiläa, zurück in die Alltagsroutine. Vor allem aber: Galiläa, das steht schon bei Jesaja, ist das Gebiet, in dem die Heiden Zuhause sind. Die, von denen es heißt, mit ihnen könne Gott nichts anfangen. Gerade da will sich der Auferstandene seinen Leuten zeigen, um aller Welt bekannt zu werden. Also: Wenn ihr all das begreift, dann werdet ihr nie mehr ohne ihn sein. Ihr werdet nie mehr allein sein mit eurer Arbeit, mit euch selbst, mit den ungelösten Fragen eures Lebens und mit dem schwersten aller Probleme, dem Tod. Der Auferstandene wird dabei sein, weil er selbst all das durch hat. Das ist die große österliche Nachricht. Etwas davon haben wir alle in den letzten sieben Wochen gespürt. Im Schrecken und der Ohnmacht über den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine gibt es eine überwältigende Solidarität und Hilfsbereitschaft in so vielen Ländern für die Millionen Geflüchteten. Eindrucksvolle Zeugnisse, was Menschlichkeit sein kann - und was Europa sein kann, wenn es zusammensteht. Ein Stück Osterlicht, das in den Karfreitag hineinleuchtet, in den die Ukrainer gestürzt wurden.

IV.

Eine Erinnerung noch, die auch beides ist, schrecklich und österlich. 8. April 1945, Palmsonntag. Wenige Wochen vor der Kapitulation. Im Bayerischen Wald ist eine Gruppe von besonderen Häftlingen einquartiert, die man nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli festgenommen hatte. Einer von ihnen ist Dietrich Bonhoeffer. Auf Wunsch der anderen Gefangenen, unter ihnen auch ein russischer Kommunist, hält er eine Morgenandacht. Sie geht über den Lehrtext jenes Sonntages. Der war das österliche Wort: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1. Petr 1,3). Kurz nach der Andacht erscheinen zwei Männer in den berüchtigten schwarzen Ledermänteln: „Gefangener Bonhoeffer, mitkommen!“ Ein SS-Kommando hat ihn noch aufgespürt und verbringt ihn auf persönlichen Befehl Hitlers ins nahe KZ Flossenbürg. Bonhoeffer kann sich nur noch von den Mitgefangenen verabschieden mit den Worten: „Das ist das Ende - für mich der Beginn des Lebens“. Das ist das letzte Wort, das von ihm überliefert ist. Am nächsten Morgen wird er nach kurzem Schnellgericht in Flossenbürg gehenkt. Der Lagerarzt hat dazu später notiert: „Ich habe in meiner langen Tätigkeit nie einen Menschen so gefasst und gottergeben sterben sehen wie Pastor Bonhoeffer.“ Mir kommt dazu in den Sinn, wie in der Apostelgeschichte über den ersten Märtyrer der Christenheit, den Diakon Stephanus, vor seiner Steinigung berichtet wird: „Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.”

Christus victor quia victima, so lautet ein uralter Osterruf der Kirche. Christus ist Sieger: weil er sich besiegen ließ. Denn der Tote lebt, für immer, und im Grab liegt nur noch der Tod selbst.


AMEN.

"Er wechselt mit uns wunderlich..."

Ansprache gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu an Karfreitag

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Liebe Gemeinde!

„Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn / muss uns die Freiheit kommen. / Dein Kerker ist der Gna-denthron; / die Heimstatt aller Frommen. / Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein, / musst‘ uns-re Knechtschaft ewig sein.“ Dieser Choral ist nicht nur der vielleicht schönste unter all den wun-derbaren Chorälen aus Bachs Johannespassion, die diesem Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu sein eigenes Kolorit geben. Ich gestehe, dass mir jedes Mal, wenn ich ihn höre, die Augen feucht werden. Dieser Choral - übrigens der einzige aus der Johannespassion, der nicht im Gesangbuch enthalten ist - ist auch der geistlich zentralste. Er bildet inhaltlich, theologisch die Mitte, das Herz von Bachs großem Werk. In ihm wird in einer sprachlichen und Verdichtung, die man nur genial nennen kann, der innerste Kern des Passionsgeschehens und überhaupt unseres evangelischen Glaubens ins Wort gebracht.

In diesen fast paradoxen Wendungen: Sein Gefängnis ist unsere Freiheit - Sein Kerker ist unser Gnadenthron - Seine Knechtschaft ist unsere Freiheit, ist das sprachlich verdichtet, was die Theo-logen der frühen Christenheit das commercium mirabile genannt haben, zu Deutsch: den „seligen Tausch“. Oder wie Martin Luther es nannte: den „fröhlichen Wechsel“. Der vielen von uns ver-traute Weihnachtchoral „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“ buchstabiert diesen Wechsel in sei-nen sechs Strophen wunderbar durch, etwa wenn es dort heißt: „Er wechselt mit uns wunderlich, / Fleisch und Blut nimmt er an, / und gibt uns in seins Vaters Reich / die klare Gottheit dran“, oder auch: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein“ (EG 27,4+5) Damit ist präzise dasselbe ausgesagt wie in dem jenem Choral aus der Johannespassion.

I.

Karfreitag, das ist: Ein Unschuldiger muss schuldig sterben, damit wir, die Schuldigen, vor Gott unschuldig dastehen. Aber was für ein dunkler, rätselhafter Rollenwechsel ist das! Wie lässt sich das, wenigstens von ferne, verstehen? Im Alten Testament findet sich beim Propheten Jesaja die dunkle Aussage: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit, er ist um unserer Missetat willen und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Die frühe Christenheit hat in diesen Sätzen des Alten Testaments das Rätsel des Sterbens Jesu vorweggenommen und auch gedeutet gesehen. Die neutestamentli-chen Zeugen verdichteten das in den beiden einfachen Wörtchen „für dich“, die uns aus der Li-turgie des Abendmahls vertraut sind. Mein Leib - für dich gegeben! Mein Blut - für dich vergos-sen! Die beiden Worte wollen den Glauben der Christenheit ausdrücken, dass Jesus seinen Weg durch diese Welt, vom Holz des Stalls zu Bethlehem bis zu den beiden Holzbalken auf Golgatha, als Platzhalter, als Stellvertreter gegangen ist. Stellvertretend für uns alle, die wir aus unseren Kräften niemals unsere Altlasten abwerfen, unser persönliches Konto auf eine schwarze Null bringen könnten. Diese Deutung des Todes Jesu ist in tiefsinnigen, hochkomplexen Lehrgebäu-den entfaltet worden. Das hat sein Recht - im Hörsaal. Auf der Kanzel taugt nur, was uns im Herzen erreicht. Ich möchte zwei Begebenheiten zur Hilfe nehmen, um diesem tiefen Geheimnis zumindest ein wenig auf die Spur zu kommen.

II.

Der Polizist hatte ihr gesagt, dass ihr Junge nach dem Autounfall noch einmal kurz zu Bewusst-sein gekommen war und geschrien hatte. Wohl vor Schmerz, und weil er spürte, wie es um ihn stand. Noch auf der Fahrt ins Krankenhaus war er gestorben. Immer wieder hörte sie innerlich diesen Schrei. Sie kam gar nicht mehr los davon. Dann, nach über einem Jahr, eine Freundin hatte sie an Karfreitag in den Gottesdienst mitgenommen, hörte sie in der Lesung, dass jener Mann am Holzpfahl mit einem lauten Schrei gestorben war. Sie fasst es nicht. Jesus, der Sohn Gottes, der hatte auch geschrien? Hatte er geschrieben wegen der Schmerzen, die die Peiniger ihm zugefügt hatten? Oder mehr aus tiefer Verzweiflung, weil ihn alle im Stich gelassen hatten? Lange trug sie das mit sich herum. Er hatte auch geschrien. Nun waren es zwei Schreie, die sich seltsam überla-gerten. Viele Jahre war sie ganz selten nur zur Kirche gegangen, und nie zum Abendmahl. Dies-mal, an Karfreitag, ging sie, ohne genau zu wissen warum eigentlich. Als der Pastor ihr das Brot reichte und sagte: „Christi Leib, für dich gegeben“, da brach sie in Tränen aus. Zum ersten Mal seit langem konnte sie wieder weinen. - Das an diesem Karfreitag, ein Jahr nach dem Tod des Kindes, in der Kirche Erlebte ließ sie nicht mehr los. Es arbeitete weiter in ihr. Sie ging wieder zum Gottesdienst, und wieder, immer öfter. Sie fing an sich in der Kirchengemeinde zu engagie-ren. Irgendwann wurde sie in den Kirchenvorstand gewählt. Die unerwartete Erfahrung, dass der Glaube an den für uns Getöteten ihr ein Halt war, am Tod des Kinder nicht irre zu werden, und dass sie diesen Glauben in der Gemeinde mit anderen teilen, vertiefen konnte, gab ihrem Leben einen neuen Boden.

III.

Viele Ältere unter uns werden das Bild noch immer Augen haben. 7. Dezember 1970. Erstmals besucht ein westdeutscher Regierungschef ein Land des sog. Ostblocks, dem 40 Jahre zuvor von Deutschland Entsetzliches angetan worden war. Willy Brand ist in Warschau, um den deutsch-polnischen Vertrag abzuschließen, ein wichtiges Mosaik seiner neuen Ostpolitik. Er macht den Gang zum Mahnmal des von den Nazis dem Erdboden gleichgemachten Warschauer Ghettos. Aus dem protokollarischen Ritual wird eine Sensation, etwas nie Dagewesenes. Vor dem Mahn-mal sinkt Willy Brandt in die Knie. In der BRD damals heftig umstritten, hat dieses Bild in der Welt, vor allem in den Staaten östlich des Eisernen Vorhangs, eine enorme Wirkung entfaltet und viel dazu beigetragen, dass man in der Welt wieder das Gefühl bekam, Deutschen vertrauen zu können. Hermann Schreiber, ein Journalist des „Spiegel“, der in Warschau dabei war, fand da-mals Worte dafür, die in ihrer Präzision unübertrefflich sind: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht kön-nen oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selbst nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“ Hier wurde in einem ganz kirchenfernen Blatt in Sprache gebracht, was das große schwere theologische Wort Stellvertretung meint, und warum von ihr etwas Befreiendes für ganz viele hervorgehen kann.

IV.

Man soll solche Gesten aus dem politischen Bereich nicht über Gebühr ins Geistliche, Theologi-sche ziehen. Das stellvertretende Leiden und Sterben, dessen wir heute gedenken, bleibt am En-de ohne Analogie. Aber gerade deshalb brauchen wir Bilder, Gleichnisse dafür aus unserer Sphä-re. Im Kreuz Christi stößt Gottes Heiligkeit mit dem ganzen Schmutz der Welt zusammen und geht eine unauflösbare Verbindung damit ein. Das ist das Alleinstellungsmerkmal des Christli-chen, das gibt es in keiner anderen Religion. Aus Sicht der Bibel haben wir alle durch tiefsitzen-de Schuld unser Leben im Grunde verwirkt. Das ist der Sinn der alten Geschichte von der Ver-treibung von „Adam und Eva“ aus dem Paradies. In ihnen finden wir uns alle wieder. Aber seit Karfreitag gilt: erst recht können wir uns in Jesus Christus entdecken, der uns so sehr geliebt hat, dass er dieses Urteil über uns an sich selbst hat vollstrecken lassen.

Liebe Gemeinde, am Ende bleibt das alles, wie wir in der Liturgie zum Abendmahl bekennen, ein tiefes Geheimnis. Wir können es nicht fassen. Wir können es uns nur wahr sein lassen:

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn
muss uns die Freiheit kommen.
Dein Kerker ist der Gnadenthron,
die Heimstatt aller Frommen.
Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein,
musst‘ unsre Knechtschaft ewig sein.


AMEN.

Blut ist dicker als Wasser

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Gründonnerstag, der Feier- und Gedächtnistag der Einsetzung des Herrnmahls, wie die frühen Christen das Hl. Abendmahl nannten. In vielen Gemeinden wird das Sakrament in Erinnerung an das „letzte Abendmahl“ an diesem Tag an einem Tisch gefeiert. Die Pandemie wie auch die räumlichen Umstände dieser Kirche machen das leider unmöglich. Aber das Bild des Tisches hat mich doch sehr begleitet bei der Arbeit an der Predigt für diesen Gründonnerstag.

I.

Dieser Tisch! Der geht mir, und sicher nicht nur mir, nicht mehr aus dem Sinn. Sechs Meter lang, 2,60 Meter breit. Dieser Tisch, an den Wladimir Putin, es ist schon eine gefühlte halbe Ewigkeit her, Emmanuel Macron und Olaf Scholz zum Gespräch empfing. Oder besser gesagt: an dem er Hof hielt und die beiden wie Schuljungen aussehen lassen und demütigen wollte. Und in Wirklichkeit gar nicht bereit war zum Gespräch.

Inmitten all der Bilder brutaler militärischer Gewalt und Verwüstung, die uns seit sieben Wochen durchschütteln, blitzt immer wieder dieser absurde Tisch vor meinem Auge auf. Vielleicht wird er einmal abgebildet sein in den Geschichtsbüchern, wo künftige Generationen nachlesen können, wie Wladimir Putin Anfang 2022 die Zukunft verspielt hat. Seine ganz bestimmt, aber vielleicht auch die seines großen stolzen Landes. Und jedes Kind wird, wenn es dieses Bild sieht, intuitiv verstehen, warum: Da sitzt einer nicht mit anderen zusammen. Einsam, völlig isoliert, sitzt er da in seinem Größenwahn. An so einem Tisch nimmt die Zukunft nicht Platz.

Vor dem 24. Februar bot er noch reichlich Stoff für Comedians und Kabarettisten. Es gab Fotomontagen, die allerlei an diesen verstörend leeren Tisch platzierten. Eine davon setzt die Szene des Gründonnerstags ins Bild: Zwischen Putin und Macron sind keine sechs Meter Leere mehr, sondern da sitzen Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl. Dieses provokativ verfremdete Abendmahlsbild hat mich bewegt. Es zeigt, was in Zeiten der Angst und der Verzweiflung wirklich tröstet und stark macht: wenn Menschen zusammenrücken, Gemeinschaft suchen, miteinander teilen. Das erlebt Europa ja seit sieben Wochen auf eine kaum mehr für möglich gehaltene Weise. In der Ukraine zuerst, wo ironischerweise Putin bewirkt hat, dass dieses bis dahin komplizierte Land unumkehrbar zu einer Nation geworden ist. Die Kraft, die den Angegriffenen aus ihrem gemeinsamen Leid zuwächst, ist eine andere und so viel größer als die Kampfkraft der Angreifer.

Mit dem sog. Triduum sacrum, den heiligsten drei Tagen des Kirchenjahrs von Gründonnerstag bis Ostersonntag, beschließen wir die Passionszeit. Was für ein Segen, dass es diese sieben Wochen gibt. Die Christenheit hat sie in ihren Kalender genommen, damit wir das Leid nicht triumphalistisch ausklammern und wegschieben, sondern es an uns heranlassen. Das Leiden Gottes an seiner Welt. Das Leiden von Menschen, denen Gewalt und Unrecht geschieht. In diesem Jahr hat die Passionszeit nicht am Aschermittwoch begonnen, sondern schon eine Woche früher, eben am 24. Februar. Der Abendmahlstisch, der am heutigen Tag für uns eine zentrale Bedeutung hat, ist mein Hoffnungsbild. Mein Gegenbild zu diesem gigantischen Tisch im Kreml. Er erinnert an überforderte, verängstigte, verstörte Menschen, die in jener Nacht, da unser Herr Jesus Christus verraten wurde, beieinander sind, die das Brot teilen und gemeinsam fest daran glauben: Es wird der Tag kommen, an dem wir es in Frieden miteinander essen werden.

II.

Das hat der Apostel Paulus vor Augen, wenn er die schwierige, alles andere als geeinte Gemeinde in Korinth erinnert: „Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s: so sind wir vielen ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben.“ Es gibt die Redewendung: Blut ist dicker als Wasser! Sie will ausdrücken, dass normalerweise, bei aller tiefen Nähe, die zwischen Menschen, die sich kennen und mögen lernen, erwachsen kann, am Ende des Tages doch die Nähe und der Zusammenhalt einer Familie immer das Größere und Stärkere ist, Die „Blutsbande“ eben. Deshalb überleben in Zeiten großer äußerer Not am ehesten Familien, und dies zumeist durch den unermüdlichen Einsatz des Frauen, der Mütter und Schwestern.

Blut ist dicker als Wasser. Unter den 12 Jüngern, die sich am Abend des Gründonnerstags im „Abendmahlssaal“ zu Jerusalem versammeln, gibt es auch verwandtschaftliche Beziehungen. Der spätere Apostelfürst Petrus und der Jünger Andreas sind Brüder. Dito die beiden „Zebedaiden“, die sog. „Donnersöhne“ Jakobus und Johannes, von denen am vorletzten Sonntag die Rede war. Und sogar ein direkter Bruder Jesu ist unter den Zwölf, Jakobus, der später als Chef der Urgemeinde in Jerusalem eine herausragende Figur sein wird. Zugleich erinnern uns diese familiären Verbindungen aber auch daran, dass - auch wenn Blut dicker als Wasser ist - durch Familien auch tiefe Risse gehen können. Was ist denn mit den weiteren Geschwistern Jesu? Was ist mit all den Familien, den Frauen und Kindern der Jünger, die diese nach ihrer Berufung durch Jesus einfach hinter sich, sich selbst überlassen haben? Nicht zufällig gibt es auch Aussagen von Jesus wie: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Mt 12,50). Mit Blick auf die natürliche Familie klingt das ganz und gar nicht warmherzig, sondern schroff und verstörend. Im Blick auf das Reich Gottes, dessen Nähe Jesus ankündigt, werden Blutsbande radikal abgeräumt.

Ja, und nicht selten gibt es ganz andere, manchmal viel geringere Anlässe als Konflikte in Glaubensfragen, die Familien entzweien können. Es ist manchmal schwer zu glauben, aber leider wahr, was die Dinge rund um Corona, das Impfen, die Maßnahmen gegen die Pandemie mit Familien gemacht haben. Aber selbst in solchen Gemengelagen kann Blut noch dicker sein als Wasser. So dick, dass es klumpt, anstatt zu fließen. Dann bleibt jede noch so läppische Bemerkung als schwere Beleidigung unvergessen. Blutsbande können lähmen, einengen, ja krank machen.

III.

Ist das Blut Christi, das für das Verständnis des Sakraments, um das es heute geht, so wichtig ist, eine Alternative zu unserem Familienblut? Kappen wir damit unsere natürlichen Verbindungen, die guten wie die heillosen? Mit den kurzen Versen unseres Textes, die ja sehr feierlich und liturgisch klingen und die Paulus in ihrer Substanz sicherlich bereits vorgefunden hat, erinnert er daran, dass Jesus bei jenem Mahl am Gründonnerstag einen jüdischen Kelchritus aus dem Familienleben übernommen hat. Beim Festmahl, besonders natürlich am Pessach-Fest, das an den Exodus, die glückliche Befreiung aus Ägypten erinnert, spricht der Familienvater einen Lobpreis über einen mit Wein gefüllten Kelch, bevor alle daraus trinken. Jesus hat sich an diese Ordnung seines Volkes gehalten. Und zugleich hat er doch bereits die Tradition gesprengt, denn anwesend war eben nicht die Familie, sondern lauter Männer - und, wie man heute einigermaßen verlässlich vermuten kann, auch einige Frauen -, die ihre Familien ja um Jesu willen zurückgelassen hatten. Und nun, daran erinnert Paulus ein Kapitel weiter, sagt Jesus nach dem Lobpreis zusätzliche Worte, die sie auf einen Schlag noch zu mehr machen als einem verschworenen Haufen von Gefolgsleuten: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird“ (1. Kor 11,25). Was an verwandtschaftlichen Banden zwischen dieser Gemeinschaft fehlt, soll dieser Becher bewirken. Und weil Blut eben dicker ist als Wasser, und auch Wein, weist Jesus damit schon geheimnisvoll auf das hin, was dieser Nacht unmittelbar folgen wird: dass sein Blut fließen wird. Alle, die sich davon berühren lassen, gehören zu dieser geistlichen Familie. Deshalb: „Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi?“ Ja, das ist er. Und wann immer wieder sein Mahl feiern, sind wir mitten drin, ein Teil dieser Gemeinschaft. Sind wir gewissermaßen ganz dabei in dem Saal vor fast 2.000 Jahren, in dem Jesus mit den Seinen das Pessach-Mahl feierte. Und weil das Blut, das Paulus hier als Kennzeichen dieser geheimnisvollen Gemeinschaft ausmacht, eben dasselbe Blut ist, das dann von Jesu Leib um unseretwillen, für uns geflossen ist, sind wir auch dabei bei dem, was dann kam, als es aus dem Abendmahlssaal hinaus an den Ölberg ging. Bei all dem, was dort dramatisch geschah, und was in der Szene unseres Altars, dem inhaltlichen Zentrum dieser Kirche, so eindringlich und facettenreich dargestellt ist.

Dasselbe gilt dann auch für das Brot des Abendmahls. „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?“ Auch mit dieser Frage bezieht sich Paulus auf die Festmahlpraxis der Juden. Dort nimmt der Gastgeber das Brot, legt beide Hände darauf, um daran zu erinnern, dass es Gott war, der uns das Brot als Frucht seiner Erde geschenkt hat, er spricht den Lobpreis, die anderen antworten „Amen“, und dann bricht er das Brot und teilt es aus. Jesus hält sich auch hier an die Praxis seines Volkes: „Er nahm das Brot, dankte, brachs, und gabs den Jüngern und sprach: Nehmt, esst, das ist mein Leib“ (1. Kor 11,25). Und mit einem Mal sind die Anwesenden, und mit ihnen jetzt auch wir Teil der Geschichte von Gottes Schöpfung, hineingenommen in das unendliche Wachsen, Vergehen und Neuentstehen. Jesus erinnert im Vorgriff daran, was das Geheimnis Gottes und unseres Glaubens ist: Leben, Tod und Auferstehung, untrennbar und geheimnisvoll ineinander verschlungen. Im Brot, das wir brechen, in der Hostie, die wir empfangen, schmecken und sehen wir, dass wir Anteil haben an dieser Neu-Schöpfung und damit am ewigen Leben, das Jesus den Seinen versprochen hat.

IV.

„Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet, / und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins“ - heißt es in einer der denkwürdigsten Elegien deutscher Sprache (F. Hölderlin, Brod und Wein). Ja, seit Jesu Tod, den er mit dem schweren Wort von der Gemeinschaft seines Blutes ankündigte, freut sich die Abendmahlsgemeinde darüber, dass der in dieser Welt Abwesende mit seinen Gaben von Brot und Wein selber anwesend ist. Er ist so anwesend, dass der dieser Welt durch seinen Tod, seine Auferstehung und seinen Heimgang zum Vater Entzogene sich uns in diesem Mahl auf neue Weise zugänglich macht: Er ist da, er ist für uns da. Die christliche Kirche jubelt darüber, dass Jesus Christus zum Festmahl einlädt, um die Mühseligen und Beladenen zu erquicken. Dass da eine Gemeinschaft entsteht zwischen solchen, die sonst wenig bis gar nicht miteinander zu tun haben. Sie kommen zusammen, weil sie trotz allem, was sie in ihrem Leben, ihrem sozialen Status, ihren Weltanschauungen unterscheidet oder gar trennt, überzeugt sind, dass sie auf eine tiefe Weise zusammengehören.

Sie gehören zusammen, weil sie daran glauben, dass ihrem Zusammenkommen noch ein ganz anderes Zusammenkommen vorausgegangen ist und zugrunde liegt: nämlich das zwischen Gottes Himmel und unserer Erde, in der Person Jesu. Sein Blut ist nicht nur dicker als Wasser, es ist auch allemal dicker als unsere Blutsbande. Weil es niemals klumpt, sondern geflossen ist - für uns. So verspricht Jesus jedem, der nach der Gemeinschaft mit Gott hungert und den nach menschlichem Miteinander dürstet, zu sättigen: Nimm hin und iss, nimm hin und trink. Und deshalb gilt für uns im Heiligen Abendmahl, und nur dort: Nehmen ist seliger denn Geben!


AMEN.

Predigt gehalten von
Landesbischof Tobias Bilz

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Liebe Gemeinde,

als ob ich jemanden beim Gebet belausche, so komme ich mir vor, wenn ich diesen Text lese. Macht man das? Es ist so persönlich, wie Jesus betet, so intim. Wer hat es gewagt, das mitzuhören und aufzuschreiben?

Lassen Sie mich mit einer Anekdote beginnen. Ich habe sie vor Jahren gelesen und muss sie aus dem Gedächtnis erzählen:
Auf einer christlichen Konferenz ist ein Redner eingeladen, der seiner Frömmigkeit ja Heiligkeit wegen hoch verehrt wird. Ein einfacher Landpfarrer hat im Hotel das Zimmer direkt neben ihm gebucht. Am Abend, als er sich zur Ruhe begeben will, kommt ihm der Gedanke: Ich könnte versuchen herauszufinden, wie mein Zimmernachbar betet. Wie spricht er mit Gott? Was ist das Geheimnis seiner Frömmigkeit? Hat er eine Gebetsgewohnheit, die ich mit abgucken könnte? Mit diesen Gedanken legt er sein Ohr an die Wand. Direkt dahinter steht das Bett des Anderen. Er muss geduldig sein. Irgendwann aber hört er wie nebenan die Bettfedern quietschen und dann kommt der Moment, in dem das hochverehrte Glaubensvorbild sein Nachtgebet spricht: „Herr, zwischen dir und mir bleibt alles beim Alten. Amen.“
So klingt es also, dass Gebet eines Heiligen…

Liebe Gemeinde,

vermutlich hatte Jesus beim Beten nicht immer eine Rückzugsmöglichkeit. Er hat mit seinen Schülern vierundzwanzig Stunden am Tag beinahe alles geteilt. Vielleicht hatte er auch nichts zu verbergen und „Beten lernen“ vom Meister, war Teil der Lebensschule. Jedenfalls schließt dieses Gebet direkt an eine Unterweisung an.

Lassen Sie uns heute anhand dieses Textes ein wenig über die Art des Betens von Jesus nachdenken.
Ich beginne mit einer scheinbaren Äußerlichkeit:

Jesus hob seine Augen auf zum Himmel.
Damit beginnt das Gebet. Über uns würde man wohl schreiben: Und sie senkten die Köpfe, schlossen die Augen und falteten die Hände. Ist es bedeutsam, in welcher Haltung gebetet wird? Sitzend, stehend oder kniend – nach oben hin geöffnet oder nach innen gewendet versunken… Wie halten wir die Hände, ausgestreckt oder empfangend oder eben doch gefaltet, damit sie wenigstens für einen Moment nichts zu schaffen haben. Mit unserer Gebetshaltung entsprechen wir dem, wie wir zu Beten gelernt haben. Sie ist aber auch ein Ausdruck unserer Beziehung zu Gott und entspricht manchmal ganz einfach dem, wie uns gerade zumute ist.

Jesus betet also nach oben zum Himmel hin ausgerichtet, ausgestreckt, mit suchendem Blick. Genauso lese ich auch seine Worte: Sie suchen nach Gott, den Jesus Vater nennt und den wir auch Vater nennen sollen. Sie meditieren den Vaterbegriff. Jesus bewegt sich betend zwischen den Welten, zwischen irdischem Schicksal und himmlischer Herrlichkeit. Er reflektiert, was ihm wichtig ist und fragt, ob sein Wirken dem Willen Gottes entspricht. Er ist bei seinen Grenzen und Gottes Möglichkeiten und er hat natürlich Bitten, die er ausspricht.

Liebe Gemeinde,

wie betet man „richtig“? Welche Formulierungen passen zu mir und vor allem zu unserem Gott, der doch sowieso alles weiß und das große Weltgeschehen wie mein kleines Leben lenkt?
Das Gebet ist so vielgestaltig wie unser Reden auch sonst. Es folgt vorgegebene Texten und den Regungen des Herzens. Es kann kurz oder lang sein (hier: 24 Verse). Lob und Dank, Bitten und Flehen, Klagen und eben Suchen! Jesus betet suchend!
Er sucht Orientierung und sucht Gott selbst. Sein Blick geht suchend zum Himmel und seine Worte erforschen das Geheimnis, wie Gott wirkt.
Wie beten wir jetzt in Zeiten des Krieges? Gibt es da nicht unendlich viele Fragen?

  • Wo Gott ist, wenn geschossen wird…?
  • Wie kann der Weg zum Frieden gefunden werden, wenn Waffen jede Brücke zerstören…?
  • Sollen wir um die Niederlage oder gar den Tod von Putin beten?
  • Oder beten wir doch das, was andere für uns formuliert haben (VELKD-Gebet zu Palmarum):
    Jesus Christus,
    du Friedenskönig,
    du bist auf dem Weg in deine Stadt.
    Auf dich warten Schmerz und Tod.
    Du kommst zu uns.
    Dir rufen wir zu.
    Hosianna – Erbarme dich.


Ich lass mich heute zuerst von den geöffneten Augen Jesu inspirieren! Sie sind zum Himmel gerichtet! Sie halten Ausschau nach dem unsichtbaren Gott. Sie suchen Kontakt, fragen nach den Absichten Gottes und bringen die Sehnsucht danach zum Ausdruck!

Meine nächste Beobachtung möchte ich mit einer gängigen Floskel oder positiver „Redewendung“ verbinden, die Christen gern benutzen, wenn sie zum Beten auffordern oder selbst ansetzen: „Alles in Gottes Hand legen!“

Auf diese Weise wird zum Beispiel am Ende eines seelsorgerlichen Gespräches zum Gebet übergeleitet: „Legen wir Ihr Anliegen doch in Gottes Hand!“ Für den Moment mag das eigentümlich klingen, es steckt aber eine starke Vorstellung dahinter:
Ich übergebe die Verantwortung Gott: Er soll handeln! Ich habe mein Möglichstes gegeben! Ich weiß jetzt auch nicht weiter. Du Gott musst jetzt aktiv werden!

Bei Jesus ist ziemlich eindeutig, was er meint. Da fallen Sätze wie: „Ich habe das Werk vollendet … Ich habe weitergegeben, was ich von Dir (Gott) wusste … Du hast mir Menschen anvertraut, um die ich mich jetzt nicht mehr kümmern kann…“

Alles In Gottes Hand legen: Du, Gott, bist jetzt am Zuge! Ich lasse los!

Liebe Schwestern und Brüder,

ich schaue an dieser Stelle zu Euch und Ihnen hin, die mit mir gemeinsam unsere Kirche leiten. Wir sind an diesem Wochenende im Rahmen der Landessynode zusammen. Wir beraten über Gesetze und über unseren Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Wir befassen uns mit den schlimmen Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kirche und mit Eingaben, die wir von unseren Gemeindegliedern erhalten. Wir ordnen die Finanzen und verbinden uns mit den Christen in Osteuropa und Russland. Unsere Frühjahrssynode ist nicht überfüllt, die Themen aber haben Gewicht.

Was können wir tun und was ist Gottes Sache? „In Gottes Hand legen“ – das kann Ausdruck von Nachlässigkeit sein. Alles in den eigenen Händen zu behalten kann zur schweren Last werden. Wie finden wir das richtige Maß?

Der erste Satz im Gebet von Jesus lautet: „Vater, die Stunde ist da…“ Jesus wusste, was jetzt dran ist. Für ihn war der Moment des Loslassens gekommen. Es war alles getan, was er hatte tun können.
Ich wünsche mir für unsere Kirche, dass wir ein Gespür dafür entwickeln, was wann dran ist. Es geht nicht darum, prinzipiell mehr oder weniger zu tun, sondern darum herauszufinden, was jetzt dran ist. Wo geht gerade die Energie hin? Was tun wir jetzt?
Manchmal empfinde ich, dass etwas zwar richtig aber noch nicht dran ist. Da gibt es noch keinen Weg … Andermal wünsche ich uns, dass wir endlich in die Gänge kommen: Notwendige Veränderungen mutig anpacken! Dem Unangenehmen nicht ausweichen. Dann wieder gilt es auch loszulassen: Wir können Glauben nicht „machen“! Gott hat alles in der Hand – deshalb legen wir es auch bewusst dorthin!

Dieses Geheimnis – wann was dran ist – zu entschlüsseln, das ist auch eine Sache des Gebetes! Lasst uns darin stärker werden, im Kontakt zu ihm und Gespräch miteinander herauszufinden, was dran ist!
Es geht nicht nur darum, was richtig und gut ist, sondern auch darum, was jetzt unser Auftrag ist!

Am Ende meiner Predigt komme ich auf einen Punkt im Gebet von Jesus, den ich ansprechen muss, ohne ihn zu Ende gedacht zu haben. Ich werde nicht fertig damit. Wahrscheinlich ist es auch ein Geheimnis. Und möchte doch nicht dazu schweigen. Es geht um das, was mit den Worten „Verherrlichen“ beschrieben wird: „Vater, ich habe dich verherrlicht … verherrliche du nun mich … damit ich wiederum dich verherrlichen kann… „. - „Doxa“ – Fünfmal kommt es in den ersten Versen vor.

Menschlich gesprochen: Es geht um den ganz großen Glanz - auf wen fällt er? Was hat Ausstrahlung? Wie wird Wirkung erzielt? Worin zeigt sich die Herrlichkeit Gottes und des Glaubens?
In dieser wunderbaren Kirche scheint das gar keine echte Frage zu sein. Hier ist die Herrlichkeit Gottes eingefangen, oder? – Wir sehen vorn die Strahlen um das Auge Gottes. Sie setzen sich im ganzen Raum fort. Ein Himmel aus Stein – so heißt ein Buch über die wunderbare Frauenkirche. Was für ein Strahlen!!!

Mitten drin aber sehen wir vorn im Altar den knienden betenden Jesus im Garten Gethsemane. Da gibt es keine Vergoldung. Nur grauer Stein. Da ringt einer mit der Herausforderung, die er auf sich zukommen sieht. Er ringt mit dem Tod. Das treibt ihm den „Blutschweiß“ auf die Stirn und um dieses Ringen geht es auch im Predigttext. Dieses Gebet von Jesus gehört zum Leiden, welches bereits einen breiten Schatten auf sein Leben wirft.

Es gibt Zeiten, da strahlt es und andermal wird alles eingerissen und zerstört, was Strahlkraft hat. Und über den charismatisch-ausstrahlenden Jesus wird man (nachdem er ausgepeitscht wurde) wenig später sagen: „Seht, was für ein Mensch!“ Er wird verlieren, was an Wirkung von ihm ausgegangen ist. Jesus betet also: Ich bitte darum, dass du mir Würde gibst, wenn ich leide und sterbe! Wenn keiner mehr hinschauen möchte, weil ich zerstört worden bin. Schaue Du weiter auf mich! Kümmere Du dich um mein Ansehen.

Liebe Schwestern und Brüder,

es geht um eine zentrale Frage unseres Menschseins. Wir stellen sie beinahe nie laut und sie ist doch ständig in uns präsent. Ich höre sie hier überlaut heraus und bin erleichtert, dass Jesus sie sich auch gestellt hat. Ganz schlicht und einfach lautet sie: Wie stehe ich dann da?

  • Wenn ich sage, was ich wirklich denke …
  • Wenn herauskommt, dass ich …
  • Wenn alle merken, dass ich eine bestimmte Schwäche habe …
  • Wenn ich zugeben muss, dass ich mit etwas nicht fertig werde …
  • Aber auch: Wenn ich dem folge, was in meinem Herzen ist! Wenn ich nicht mehr mitspiele! Wenn ich umsetze, wovon ich überzeugt bin ...

Jesus betet ein Gebet, was ich mir zu Eigen mache! Er sagt: Gott, ich mache dich für meinen guten Ruf verantwortlich! Es geht (spätestens) von jetzt an nicht mehr um mich. Ich will um Deinen guten Ruf besorgt sein.

Wie gesagt: Ich bin damit noch nicht zu Ende!
Ich weiß und spüre aber, dass der Kampf um Glanz und Ansehen, gut Dastehen und Strahlkraft haben, nicht nur furchtbar anstrengend ist, sondern kaum gewonnen werden kann. Wird nicht gerade dem die Anerkennung verweigert, der sie am meisten haben will?

Wie stehen wir als Kirche da? Worin liegt unsere Anziehungskraft? Was macht unseren Glanz aus?
Wir stehen oftmals nicht gut da, verlieren an Vertrauen und haben mit Bedeutungsverlust zu kämpfen. Manchmal möchten wir uns darüber beklagen, dass keiner sieht, was wir alles Gutes tun. Andermal wissen wir ganz genau, dass wir zu Recht kritisiert werden.

Vor diesem Hintergrund kann es ein Schritt nach vorn sein, wenn wir nicht länger um unser Ansehen bemüht sind, sondern um die Ehre Gottes und darum, dass wir anderen Menschen dienlich sind! Jesus befreit sich mit seinem Gebet von der Sorge darüber, was Menschen denken könnten und denken werden. Er lässt das los! Damit macht er sich für das Leiden bereit und wird frei, Gott und sich selbst treu bleiben zu können.

Liebe Gemeinde,

wie beten man „richtig“? Die Jünger haben das Jesus gefragt und das Vaterunser gelehrt bekommen.
Heute haben wir Jesus beim Beten über die Schulter geschaut.
Wir haben etwas über seine Gebetshaltung erfahren und die Hingabe gespürt, die er betend vollzieht. Das wird uns für unsere eigene Gebetspraxis und Glaubenshaltung inspirieren.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.


AMEN.

Ohne Kelch geht es nicht

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

dieser Textabschnitt macht eine heikle Frage auf: Was macht die Kirche mit der Macht? Um Ansehen geht es hier, und um Prestige. Also um Dinge, die nach offizieller Lesart und in unseren Sonntagsreden in der Kirche von nachgeordneter Bedeutung sind. Angeblich. Bevor ich letztes Jahr hierherkam, war ich in Freiburg Dekan gewesen. Ein Leitungsamt auf der sog. mittleren Ebene. Immer wieder war zu erleben, wie schwierig es ist, psychologisch, aber auch in der Sache, wenn die Amtszeit eines/einer Dekan*in endete. Die Kirchenleitung hatte dann größte Mühe, für den/die betr. Kolleg*in eine Aufgabe zu finden, die diese als für sich angemessen empfand. Im Klartext: Wenn schon kein weiterer „Aufstieg“ möglich war, als Mitglied der Kirchenleitung etwa, musste es doch wenigstens etwas sein, das zum Dekansamt „auf Augenhöhe“ war, also hierarchisch auf keinen Fall wie ein „Abstieg“ aussehen könnte. Eine Rückkehr in ein normales Pfarramt war für die meisten unvorstellbar, es wurde irgendwie als unehrenhaft empfunden. Diese Befindlichkeiten dürften nicht nur in meiner badischen Heimatkirche verbreitet sein. In ganz seltenen Fällen ist ein evangelischer Bischof nach seiner Amtszeit ins Pfarramt zurückgekehrt, zuletzt gab es das vor wenigen Jahren einmal. Vor so etwas habe ich größten Respekt. Es zeugt davon, dass da jemand verstanden hat und ernst nimmt, wie Jesus es gemeint hat mit der Macht und dem Herrschen, und wie es in der Kirche eigentlich sein sollte. Aber meistens ist es eben anders – weil die Kirche nicht nur die Gemeinschaft der Heiligen, und damit ein herrschaftsfreier Raum ist, sondern auch eine Organisation, mit ihren sehr irdischen Strukturen. Weshalb ihre Vertreter, wenn es ums Herrschen und Dienen geht, auch nicht viel anders ticken als Politiker, Wirtschafts- und Verwaltungsleute. Aber die klare Ansage Jesu in unserem Text, die bleibt doch als ein Stachel im Fleisch des kirchlichen Prestigedenkens: „Aber so soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.“

I.

Jesus weiß, warum er das hier sagt und vor allem, wem er das sagt. Nämlich zwei charakteristischen Repräsentanten jenes kirchlichen Macht- und Prestigedenkens, in denen ich mich, und wahrscheinlich viele Pfarrer*innen, sich ganz gut wiedererkennen, wenn wir ehrlich in den Spiegel gucken. Jakobus und Johannes. Die beiden Brüder sind die Söhne des Zebedäus, dessen Frau Salome die Schwester von Maria ist. Sie sind also Jesu Vettern. Jesus hat sie nicht zufällig als Jünger ausgewählt. Neben dem selbsternannten Klassensprecher Petrus sind sie die stärksten Persönlichkeiten unter den 12. Zwei Alphatiere. Die beiden Brüder sind hochengagiert, mit Leidenschaft dabei, manchmal etwas aufbrausend. Wegen ihres Feuereifers und weil sie so eloquent sind, hat Jesus ihnen den eigenartigen Beinamen „Donnersöhne“ gegeben (Mk 3,17). Wohl weil ihre Rede wie ein Donner bei den Hörenden nachhallt. Mehr als einmal haben sie Jesus klargemacht: Sie sind bereit, für seine Sache zu sterben. Bei Jakobus wird sich das dereinst auch erfüllen. Er wird ein früher Märtyrer der Christenheit. Aber so weit ist es jetzt noch lange nicht. Jetzt geht es erstmal nach Jerusalem. Endlich. Offenbar sind die Donnerbrüder ganz high von der Vorstellung, dass Jesus dort in der Metropole Klartext reden, mit eisernem Besen seine Herrschaft durchsetzen und sich so als der verheißene Messias erweisen wird. Da wollen sie in der ersten Reihe dabei sein. Mitmischen, wo die großen Räder gedreht, die strategischen Weichen gestellt werden. Zeit also, Kabinettsliste und Ressortverteilung zu klären. Vielleicht beanspruchen die beiden wegen ihrer Verwandtschaft zu Jesus auch ein familiäres Vorrecht, als Mitglieder der königlichen Familie sozusagen. Ihr Heldenmut ist ihnen offenbar zu Kopf gestiegen. Johannes und Jakobus wollen Macht. Anerkennung. Prestige. Sie wollen ihre Namen in den Geschichtsbüchern lesen. Dabei sollten sie es besser wissen. Sie sind lange genug mit Jesus unterwegs gewesen, haben so viel von ihm gehört und gelernt, dass sie wissen müssten, dass ihre Bedürfnisse völlig quer stehen zu dem, was Jesus über Herrschen und Dienen predigt und vorlebt. Sehr verständlich, dass die anderen Jünger not amused sind, als sie Wind davon kriegen.

Eindrücklich, wie nun Jesus damit umgeht. Natürlich wehrt er ab - aber nicht frontal und schroff, sondern umsichtig und nur indirekt. Er hält nicht dagegen, nach dem Motto: Aufwachen, nichts da mit Königtum und Ministersesseln, Ämtern und Ehren! Schon wahr, es geht jetzt nach Jerusalem. Aber es wird dort ganz anders sein. Deshalb Jesu Entgegnung: „Ihr wisst nicht, was ihr bittet“. Denn in Jerusalem wird ganz anderes geschehen, als die beiden Übereifrigen sich das ausgemalt haben. Da wird ein „Kelch“ auszutrinken sein, da wird eine „Taufe“ vollzogen. Der Kelch ist ein Bild dafür, dass ein Leiden wartet, das von Gott kommt und auf sich genommen werden muss. Die Taufe ist ein Bild für eine riesige Überflutung, in der das irdische Leben untergehen wird. Mit diesen Bildern bricht Jesus radikal mit den überkommenen Vorstellungen vom Messias. Sein Reich kommt nicht durch einen Staatsstreich, nicht durch militärische Unternehmungen und Machtergreifung zustande, wie das das Gesetz der Welt ist. Hier löst nicht ein Regime das andere ab. Wie aber kann Jesus dann König sein? Nur so, indem Gott ihn von dem bevorstehenden Gericht, also vom Tod auferwecken wird. Dann aber wird, so wahr die Auferstehung der Anfang von etwas völlig Neuem ist, mit seinem Reich keines von dieser Welt entstehen. Jesus ist der Messias, der die Dimensionen von Raum und Zeit, also den Rahmen dieser irdischen Welt, durchbricht und überwindet. Für uns steckt darin auch die zeitlos gültige, und doch zu jeder Zeit anstößige Einsicht: Es ist uns nicht versprochen, dass sich im kontinuierlichen Lauf der Weltgeschichte Jesus Christus immer mehr durchsetzen wird und in einem alles mit sich reißenden Prozess der Durchchristlichung die Welt mehr und mehr in sein Reich verwandeln wird.

II.

So weist Jesus in dieser indirekten Art der Bilder vom Kelch und von der Taufe auf das kommende Gericht Gottes hin, das nicht ihm, sondern den Menschen gilt – das er aber freiwillig auf sich nehmen wird, und in dessen Geschehen seine engsten Gefolgsleute aber mit einbezogen sein werden. In Klartext übersetzt: Ihr seid aufs Regieren, auf Macht und Ehre aus. Zunächst aber seid ihr gefragt, ob ihr bereit seid mit mir zu leiden. Könnt ihr das? Mit Jesus leiden? Die Antwort der Brüder kommt wie aus der Pistole geschossen und sie macht ihrem Label „Donnersöhne“ alle Ehre: Ja, wir können! Ist man da eher peinlich berührt, weil es einem als Maulheldentum erscheint? Oder ist man beeindruckt von solcher Tapferkeit? Mir geht es durchaus so. Wer würde solchen Mut schon aufbringen? So oder so, jedenfalls wird den beiden kein Weg zugemutet, den ihr Herr ihnen nicht vorausginge. Und das gilt nun für alle Nachfolger Jesu zu allen Zeiten. Und das finde ich sehr tröstlich, wenn ich an die noch unbekannten Kelche denke, die vielleicht von mir getrunken sein wollen: wie immer der Kelch aussehen wird, es wird immer sein, Jesu Kelch sein. Es gibt nichts, wo er nicht selbst auch durch ist.

Nun könnte man meinen, dass Jesus den beiden Brüdern die Erfüllung ihrer Bitte zusagt, wenn sie so unumwunden bereit sind, den schweren Weg mitzugehen. Aber nein - die beiden können auch jetzt nicht sicher sein, dass sie die ersehnten Ministersessel bekommen. „Zu sitzen zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu“ - Jesus sagt also nicht: Was ihr wollt, das gibt es gar nicht! Sondern: Über das, was ihr wollt, verfügt Gott allein. Ob Jesus hier vielleicht mit einem leisen Lächeln auf seine Nichtzuständigkeit hinweist, um den Donnersöhnen klar zu machen, dass ihnen solche hochfliegenden Träume nicht zustehen? Als hätte er sogar etwas Mitleid mit den beiden. Das wäre eine behutsame Weise, dem frommen Rigorismus die rote Karte zu zeigen, der zwar bereit ist, Jesu Leidensweg mitzugehen, aber dabei auch im Blick hat, dass sich das am Ende doch wohl auszahlen wird, also auf eine Art Leidensdividende abzielt. Im Leiden an Jesu Seite stehen, aber dabei doch immer an sich selbst denken? Nein, ihr Beiden, sagt Jesus, darüber, ob und wenn ja, wie es sich lohnt, reden wir jetzt nicht. Das gehört allein in die Zuständigkeit des Vaters, der hat sich in dieser Hinsicht alles vorbehalten. Martin Luther hat einmal sinngemäß gesagt: Wo es um Christus geht, oder um das Beste für den Mitmenschen, da kommen alle eigenen Ambitionen an ihr Ende. Da gilt es Gott lieben um Gottes willen, die Menschen um Gottes und der Menschen Willen. Aber weder Gott noch die Menschen um meinetwillen. Etwas steil und für uns sicherlich streng klingend kann man es auch so sagen: Als Christen sollen wir den Weg des Glaubensgehorsams gehen, ohne zu fragen, was es uns bringt. Sondern uns einfach darauf stellen, was Paulus im Römerbrief so ausdrückt: „Wir aber wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zu Besten dienen“ (Röm 8,28). Alle Dinge! Also auch die, die uns erst einmal gar nicht gut, sondern schlecht erscheinen.

III.

Wie das im ganz echten Leben existenziell werden kann, dazu abschließend eine Erinnerung. Zwei Theologiestudierende hatte sich vor 40 Jahren ineinander verliebt. Nach ihren Examina wollten sie heiraten. So weit, so schön. Aber da war ein schier unlösbares Problem: er lebte in der damaligen DDR, sie in der BRD. Was tun? Für die westdeutschen Eltern der Freundin war es unvorstellbar, dass ihre Tochter „nach drüben“ in die DDR gehen könnte. Dort könne sie nicht leben. Wenn ihr Freund es ernst mit ihr meine, dann könne er doch einen Ausreiseantrag stellen und Pfarrer im Westen werden. Gottes Wort werde doch überall gleich verkündigt. In seiner Not vertraute sich der junge angehende Pfarrer seinem Bischof an. Der Bischof, ein sehr seelsorgerlicher Mann, sagte ihm ruhig, aber entschieden: „Bleiben Sie bei uns. Gott hat Sie hierher gestellt, er braucht Sie genau hier! Und wir brauchen Sie auch nötiger als die Kirche im Westen“. Es war schwer für ihn, aber jener Theologiestudent hat damals sehr unmittelbar für sich als Gottes Ruf gehört und so angenommen. Er ist heute noch in Ostdeutschland Pfarrer, und ist es gern. Aber es sei, so sagte er manchmal, schon ein ganz tiefer Einschnitt gewesen damals. Für ihn war es eine Sache des Glaubensgehorsams, seine Liebe seiner Berufung gewissermaßen zu opfern.

Ich bin froh, dass ich nie in eine so existentielle Entscheidungslage geraten bin. Denn man kommt wohl nicht um die Feststellung herum: Das Evangelium von Jesus Christus ist nicht einfach ein schönes, wohliges Versprechen. Es ist anspruchsvoll, es kann auch wehtun und zurechtstutzen. Es ist kein kurzes Schillern im Rampenlicht. Jesus bietet Liebe an, die unbedingte Hingabe ist. „Wer unter euch der Erste sein will, der soll euer aller Diener sein“. Er bietet den Jüngern und uns einen Platz im Himmel: Es ist der Platz neben dem Nächsten, der Not leidet. Wem es gelingt, ohne inneres Hadern diesen Platz zu suchen, der sitzt hier wie dort neben Jesus, zu seiner Rechten oder zu seiner Linken, ganz in seiner Nähe – neben dem, der sein Leben als Lösegeld gab für uns.


AMEN.

Gott ist der erste Seelsorger

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

In den fünf Versen dieses Textes gebraucht Paulus gleich zehn Mal die Worte „Trost“ oder „trösten“. Das Wortfeld „Trost“ in unserer Sprache zeigt an, wie fern dieses Thema uns gerückt ist. Es sind überwiegend negativ besetzte Worte: trostlos, nicht bei Trost sein, vertrösten, Trostpflaster, Seelentröster, billiger Trost etc. Aber ist nicht gerade die Fülle solcher Wörter auf ironische Weise ein Indiz, wie sehr wir Menschen der Moderne, die wir unsere Probleme aus eigener Kraft bewältigen wollen und unsere Autonomie hüten wie einen Augapfel, wie sehr wir trostbedürftig sind? Nur: Wer gesteht schon gerne ein, dass er Trost braucht? Können Sie sich erinnern, wann Sie das zum letzten Mal jemand signalisiert haben? Können wir zugeben, nicht bei Trost zu sein?

I.

Wie oft habe ich das schon gedacht: jemanden trösten ist schwer. Jeder von uns kennt das: ich sitze neben einem tieftraurigen Menschen und überlege angestrengt, was ich jetzt sagen oder tun könnte. Etwas, was einfach tröstet. Und dann geht mir ein verlegenes „Es wird schon wieder gut“ über die Lippen. Und schon während ich das sage, spüre ich, dass das nicht nur verlegen, sondern auch verlogen klingt. Denn Mensch neben mir will nicht mit Floskeln abgespeist werden. Er hat kein Beschwichtigen oder Kleinreden verdient, sondern eben Trost. Und der geht anders.

Oder ich sage: „Jetzt iss doch erstmal was, komm, wir kochen uns Tee“. Und auch das hört sich falsch an, weil ich merke, dass ich ausweiche, weil mir nichts einfällt, was wirklich tröstet.
Oder, wenn neben mir jemand sitzt, der um einen geliebten Menschen trauert, nehme ich Zuflucht bei einer unter Christen beliebten Aussage und sage: „In Gottes Ewigkeit seht ihr euch doch wieder!“ Aber woher weiß ich das denn so genau? In der Bibel wird das so jedenfalls nicht gesagt. Und es hat sich leider noch niemand aus der Ewigkeit bei uns rückgemeldet und Andeutungen gemacht, wie es dort eigentlich ist. Ist solcher Trost nicht eher Frömmelei?

Oder ich nehme den Klassiker unter den Aufmunterungen und sage: „Die Zeit heilt alle Wunden“. Aber woher weiß ich das eigentlich? Gibt es nicht Wunden, die immer offen bleiben? Trauer, die bleibt, ein Leben lang? Der „13. Februar“ scheint mir für manche Dresdner so ein Geschehnis zu sein, das den Satz von der Zeit und den Wunden einfach widerlegt. Also: Wie macht man das, trösten? Trost geben, ohne Lüge, ohne Beschwichtigung? Trost ohne: „Das geht vorbei“ oder „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“, und was wir so von uns geben in unserer Hilflosigkeit.

Paulus verwendet für „trösten“ das Wort parakalein. Es gehört zu den großen, wichtigen Worten im Neuen Testament. Jesus gebraucht es, als er sich von den Jüngern verabschiedet und verspricht, ihnen an seiner Stelle einen Beistand und Tröster zu schicken für den Weg, den sie nun ohne ihn gehen müssen. Parakalein, das Wort bedeutet eigentlich: Hilfe herbeirufen. Zusprechen und stärken stecken auch darin. Es kann aber auch mahnen bedeuten. Luther hat genau richtig übersetzt. Das deutsche Wort „Trost“ bildet die Wortfülle seiner griechischen Schwester ab. In ihm stecken auch „Treue“ und „Trauen“. Das englische Wort tree (Baum) gehört auch zur Verwandtschaft.

Das ist also Trost: Hilfe herbeirufen für einen Menschen. Zusprechen, aufrichten und beistehen. Treu zu einem Menschen stehen, trotz der eigenen Hilflosigkeit. Wer getröstet wird, wird neu aufgerichtet, dass er wieder baumstark wird. Paulus findet das richtige Wort, das weit ist und vieles aussagt, und formbar ist für die Situation der Menschen, die nach Trost fragen. Und wie das Wort, so der Trost, den Paulus gibt. Er redet das Schwere nicht weg, er macht die Leiden nicht klein. Er sagt nicht: So schlimm ist es doch gar nicht! Er lässt das Leiden stehen. Das Leid der Menschen in Korinth an, der kleinen Gemeinde, die bedrängt wird von außen und im Innern deprimierenden Streit erlebt. Er erkennt das Leid der Menschen an, die sich mit Zweifeln plagen, um das Heil ihrer Toten sorgen und innere Zerwürfnisse erleben. Aber auch seine eigene Not redet Paulus nicht klein. Er kann auch „Ich“ sagen. Gerade im 2. Korintherbrief tut er das viel, er spricht offen von seiner Müdigkeit, seiner Todesangst, von einer Krankheit, die ihm zusetzt.

II.

Und noch einen Trost weiß Paulus, und der ist für ihn der Entscheidende: die Leiden der Menschen sind die Leiden Christi. Gott hält sich nicht fern. Gott hat sich dem Leiden von Menschen preisgegeben. Er kommt auch in unser Leid. Paulus ist sicher: Gott hilft im Leid, er richtet auf in der Not. Gott ist der Gott allen Trostes. Was jetzt ist, die Not, die Angst, die gefühlt unendliche Leere, ist nicht alles. Gott hält noch besseres für uns bereit. Gott kommt zur Hilfe. Ich sage es jetzt mal eher untheologisch, sozusagen nach menschlicher Art: Gott ist für uns gerade auch deshalb ein so glaubwürdiger Tröster, weil er all das, was uns den Boden unter den Füßen wegziehen kann, selber durch hat. Die Passionszeit, in deren Mitte wir heute sind, führt uns vor Augen, dass er im Weg Jesu durch eine Welt, die ihn nicht akzeptieren wollte, am eigenen Leib alles erlitten hat, was das Leben an Ohnmacht und grenzenloser Einsamkeit bereithalten kann.

Menschen, die selbst Schwerstes haben aushalten müssen, sind ja oft wirklich gute Tröster und Seelsorger. Rebekka zum Beispiel. Sie war vor Jahren an Brustkrebs erkrankt. Mehrere Operationen und Chemos musste sie durchstehen, bis sie irgendwann als geheilt galt. Sie sagt: „Geholfen hat mir, dass jemand einfach nur bei mir war und es ausgehalten hat, wenn ich nur noch heulen konnte. Das hat mir mehr geholfen, als wenn jemand mich vielen ‚tröstlichen‘ Worten erdrückt hat. Oder in Watte gepackt.“ Man spürt, dass Rebekka dadurch selbst zu einer Trostexpertin geworden ist. - Ich sehe Paulus nicken. Es miteinander aushalten, dass die Not groß ist und der Schmerz auch, das macht er in seinem 2. Korintherbrief auch. Er entzieht sich nicht, sondern stellt sich mitten hinein in dieses Leid.

Die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen verlor nur ein halbes Jahr nach der Hochzeit ihren Mann. Über das Jahr danach hat sie ein bewegendes Buch geschrieben. Sie sagt: „In den ersten Monaten nach Hans Tod wollte ich nicht getröstet werden. Die Trauer war das einzige, was ich noch hatte. Sie war meine Verbindung zu ihm. Die Trauer ließ mich ihn spüren, und auch mich selbst. Trotzdem fand ich es wichtig, nicht allein zu sein. Man kann nicht für sich sorgen, das müssen andere tun. Am besten hält man Menschen aus, die einfach tun und nichts fragen. Wenn ich jetzt jemanden trösten will, dann weiß ich, was ich tue. Ich mache einen großen Topf Suppe, packe ein paar Sachen ein, fahre hin und sage fast nichts. Ich mache Kaffee, hole Wein, all die einfachen Dinge.“

Wieder sehe ich Paulus nicken. Für ihn ist Trost das Herbeirufen von Hilfe. Das kann auch eine ganz zupackende, tatkräftige Hilfe sein, ohne viele Worte. Er schreibt, dass Getröstete andere zu trösten vermögen. Der Trost geht ein in ihr eigenes Tun. Wie vorhin gesagt, das griechische Wort parakalein heißt auch mahnen. Wer Trost erfahren hat, wird ermahnt und kann andere Traurige ermahnen, sich mit der Trostlosigkeit nicht abzufinden. Die aktuelle tiefe Dunkelheit, und sich in ihr, nicht ein für alle Mal auf die Zukunft hin zu projizieren. Ein getrösteter Mensch bleibt dünnhäutig und wach für Menschen, die diese Art von Mahnung brauchen.

Arnd, ein Schlossermeister, ging mit seinem Betrieb insolvent. Er erzählt: „Am liebsten wäre ich in einem Mauseloch verschwunden und nie mehr rausgekommen. Ich fühlte mich als Versager, hatte keine Perspektive mehr. Dann habe ich mich an eine Therapeutin erinnert, die ich mal kennengelernt hatte. Ich bin zu ihr gegangen, zum Ausheulen. Sie hat mir geholfen zu erkennen, dass das, was mich ausmacht, nicht das ist, was ich habe oder im Beruf leiste, sondern das, was und wer ich bin. Mein Menschsein an sich. Es waren einfache Worte, aber sie waren entscheidend.“

Da ist er ganz bei Paulus. Wir werden getröstet durch Christus, schreibt er. Christus ist mitten hinein in das Leid gegangen. So wertvoll sind wir unserem Gott. Dieser Wert liegt nicht in unserem Tun und wie hoch wir hinaus kommen in unseren Dasein. Er ist ganz von selbst da. Und auch Paulus hat nach Worten gesucht, die etwas bewirken, die für die, die sie lesen oder hören, einen Unterschied machen. Wenn es so etwas gibt wie das „Trostamt der Kirche“, wie man früher sagte, dann hat es seinen Kern in Gottes Zusage, dass ich und mein Leben mehr sind als ich daraus mache. Das kann ich mir nicht selbst sagen, das muss mir von außen gesagt werden. Das können wir bei Paulus lernen: wechselseitiges Begleiten, Trösten, Ermutigen gehört zum Kern des Christlichen. Martin Luther hat gesagt: „Daran erkennt man die Kirche, dass einer dem anderen zum Christus werde“. Eine steile, aber großartige Aussage.

III.

Paulus spricht unserem Text vom „Gott allen Trostes“. Wie meint er das? Bei schwierigen Konflikten ist man gut beraten, das Vorgefallene nicht zu schnell beiseite zu wälzen, sondern erst einmal ungeschminkt anzuschauen, auch wenn es weh tut. Viele Konflikte, damit sie sich nicht subkutan immer tiefer fressen, können nur über diesen schmerzhaften Weg gelöst werden. Menschlich gesehen ist das richtig so. Gottes Klugheit aber geht anders. Bei Gott sollen wir das, was uns nach unten drückt, von uns wegwälzen, weil er in Jesus Christus uns versprochen hat, das zu seiner Last zu machen. Was zwischen uns nur in anstrengenden Prozessen möglich ist - nicht umsonst gibt es das Wort „Trauerarbeit“ - und was immer gegenseitig ist, das ist bei Gott etwas ganz Einseitiges. Gott gegenüber wird, was zwischen Menschen verheerend sein kann, zur Wohltat: einfach von sich wegschieben, es bei ihm liegen lassen und ohne diese Last weitergehen! Gott weiß, wie er damit fertig wird. Dafür ist der weggewälzte Stein von Ostermorgen ein Zeichen von großer Aussagekraft. Wie damals der Stein als Symbol der Unüberwindbarkeit des Todes nicht mehr da war, wo er nach menschlicher Ordnung hingehörte, so soll der Glaube an den, der für unsere Steine gestorben ist, diese Steine uns vom Herzen fallen lassen. Zeichenhaft geschieht das in der Lossprechung in der Beichte. Es ist ein Verlust, dass dieses Ritual so ein Schattendasein fristet in unserer Kirche.

„Wie ihr am Leiden teilhabt, so werdet ihr auch am Trost teilhaben“, schreibt Paulus. Bei Gott, liebe Gemeinde, gilt das erst recht. Wäre er in Jesus nicht durch Leid und Dunkelheit gegangen, dann wäre er nicht zum Helfer, zum Seelsorger für uns geworden. Am Kreuz finden wir Gottes Sorge um uns in Aktion, sehen wir den unermüdlichen Seelsorger an der Arbeit gerade in al seiner Ohnmacht dort. Weil er im Blick auf seine Peiniger, auf uns alle nicht ruft: „Herr, gib’s ihnen“; sondern bittet: „Herr vergib ihnen!“ Das Kreuz ist das therapeutische Ereignis schlechthin. Wo Jesu Weg durch diese Welt sein nach menschlichem Ermessen elendes Ende nahm, da soll unser Weg nach Gottes Ermessen neu beginnen. Auch wenn es, zum Glück, immer wieder wunderbare, tröstende menschliche Seelsorger gibt: der erste und letzte Seelsorger ist ein anderer.

AMEN.

Glauben ist: In Paradoxien leben

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Seit alters her ist die vorhin gehörte Versuchungsgeschichte das Evangelium dieses ersten Passionssonntages. Jesus verzichtet auf spektakuläre Beweisführungen seiner Macht gegenüber dem verschlagenen Einflüsterer in der Wüste. Er entscheidet sich für den gegenteiligen Weg. Keine Frage: Hätte er gewollt, dann hätte er Triumphe feiern können. Aus Steinen Brot, Brot für die Welt machen. Seine körperliche Unverletzlichkeit demonstrieren. Die römischen Besatzer wegräumen und selbst den Thron besteigen. All das konnte man von einem Messias mit Fug und Recht erwarten. Aber zur Versöhnung einer tief mit sich selbst und mit Gott zerspaltenen Menschheit wäre es durch solche Kraftmeierei nicht gekommen. Es wäre das Spiel gewesen, das bis heute immer gespielt wird, seit 10 Tagen durch den Diktator in Moskau in aller Brutalität: Eine Macht wird durch eine andere Macht ersetzt, und es gilt das Recht des Stärkeren. Wenn Gott seine Welt zurückgewinnen will, dann muss das anders vor sich gehen. Zum Beispiel durch das tiefe Paradox, das die ersten Christen victor quia victima genannt haben, zu Deutsch: Sieger, weil Besiegter! Das meint: Gott ist in Christus gerade darum Sieger über das Böse und dessen stärkstes Bataillon, den Tod, weil er sich dem Bösen und dem Tod rückhaltlos ausgeliefert hat. Weil er dem, was in dieser Welt Macht hat, nichts entgegengesetzt hat als - Ohnmacht und Liebe.

I.

Für unser menschliches Denken ist das eigentlich ein unerträgliches Paradox. Und angesichts der augenblicklichen Lage klingt diese theologisch wahre Aussage fast schon unüberbietbar zynisch. Wer würde es wagen, dem gepeinigten Volk der Ukraine zu raten, sich nicht aktiv zu wehren, sondern Putin Invasoren Ohnmacht und Liebe entgegenzusetzen? Ich nicht. Aber eben, zum tiefen Geheimnis des Kreuzes gehört, dass da etwas ausgefochten und definitiv entschieden wurde - zu unserem Heil. Nicht zu unserem Wohl. Jesu Kreuzestod bewahrt uns nicht vor Leid und Ungerechtigkeit. Dessen sich bewusst zu bleiben ist wichtig. Paulus jedenfalls, der erste Theologe der Christenheit und ein tiefschürfender Interpret des Kreuzes, ist einer, der das Paradoxe liebt. Unser Text ist eine einzige Aneinanderreihung von Paradoxen. Das provokanteste davon: „Als die Sterbenden, und siehe, wir leben“. Wie kann Paulus das gemeint haben? Dazu nachher. Im Grund beginnt unser Text schon mit so einem harten Paradox: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“ Das war schon in der alles andere als heilvollen Zeit der Adressaten des Paulus eine ziemlich steile Ansage. Und heute erst?! Unsere aktuelle umdunkelte Zeit - eine Zeit der Gnade und des Heils??

Ich versuche mal einen Schritt zurück zu treten, mit der Schriftstellerin Juli Zeh und ihrem letzten Roman. Er trägt den hintersinnigen Titel „Über Menschen“. Seine Hauptfigur ist Dora, eine erfolgreiche Werbetexterin. Sie hat das dauerflirrende Hauptstadtleben in Berlin satt und zieht aufs Land nach Bracken, ein winziges Dorf in der tiefsten Brandenburgischen Provinz. Vor dort aus kann sie in Coronazeiten bequem für ihre Berliner Agentur im Homeoffice arbeiten. Sie hat sich auf Kredit ein altes Haus gekauft. Ihr direkter Nachbar lebt hinter einer Mauer in einem Bauwagen. Er ist ein Glatzentyp und stellt sich ihr als „Dorf-Nazi“ vor. Eigentlich heiße er Gottfried, er nenne sich aber Gote. Der junge Dorf-Nazi gibt ihr Rätsel auf. Ihr gegenüber gibt er sich schroff und abstoßend, zu seiner kleinen Tochter ist er aber sehr liebevoll. Dann stellt sich heraus, dass er unheilbar krank ist. Ein inoperabler Gehirntumor. Die Prognose ist schlecht, er wird bald sterben. Aber vor seinem Tod feiern seine Freunde noch ein Fest mit ihm. Jetzt zitiere ich eine Passage aus dem Roman: „Dora denkt, wie wenig Polarisierung es in Wahrheit gibt. Kein Ost und West, oben und unten, links und rechts. Weder Paradies noch Apokalypse, wie es Medien und Politik oft schildern. Stattdessen Menschen, die einfach beieinanderstehen. Die sich mehr oder weniger mögen. Die aufeinandertreffen und sich wieder trennen. Dora gehört dazu und Gote gehört dazu. Auch wenn sich beide wenig bewegen und kaum etwas sagen. Auch wenn bestimmt alle wissen, dass Gote im Gefängnis war und denken, dass Dora seine neue Freundin ist. Sie machen eine Party, um die einzige Wahrheit zu feiern, die es gibt: dass sie alle hier und jetzt gemeinsam auf diesem Planeten sind. Als Existenzgemeinschaft. Was für ein verdammtes Wunder!“ (Juli Zeh, Über Menschen, S. 355f)

Ob so eine Szene in unserer so überhitzten Zeit noch vorstellbar wäre? Jedenfalls kam sie mir in den Sinn, als ich über das gefühlte Paradox nachdachte, das in der Behauptung des Apostels steckt: „Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“ Ja, wenn wir uns inmitten all dessen, was uns trennt, als Gleiche sehen könnten in der tiefen Gemeinsamkeit, dass wir alle „gemeinsam auf diesem Planeten“, also Erdenbürger sind, unter demselben Himmel, der sich über alle wölbt, unter derselben Sonne, die Gott jeden Morgen neu aufgehen lässt über Gute und Böse: dann könnten wir uns in dieser Gemeinsamkeit auch entdecken und gegenseitig wahrnehmen. Als solche, die auf der Erde sind und bleiben, sterblich, verletzlich, fehlbar. Und das könnte unser Miteinander vielleicht doch etwas anders machen. Barmherziger, vielleicht auch demütiger.

II.

Paulus hat jedenfalls seine Leute in Korinth so ansehen wollen. Obwohl viele von ihnen ihm hart zugesetzt haben. Manche haben sich auf ihren Gemeindegründer richtig eingeschossen. Das ist nicht einfach menschliche Bosheit. Es ist tragischer: nämlich Ausdruck einer tiefen religiösen Enttäuschung über den Mann, der bisher die theologische Autorität gewesen war, aber jetzt im Vergleich mit neuen Autoritäten, die nach Korinth gekommen sind, ziemlich alt aussieht. Die Korinther fangen an zu fragen: Was hat Paulus eigentlich zu bieten? Keine Legitimation - außer einer Offenbarung vom Himmel herab, die außer ihm selbst keiner bestätigen kann. Und dann dieses monotone, anstrengende „Christus allein“, „Allein der Gekreuzigte“. Geht das nicht an den wirklichen Fragen und Bedürfnissen der Gemeinde vorbei? Wir kommen in deiner kopflastigen Predigt nicht vor - sagen die Korinther.
Paulus regiert darauf in unserem Abschnitt mit der Aussage: „Wir sind darauf bedacht, in unserem Amt niemandem Anstoß zu geben“. M.a.W.: ich weiß schon, dass meine Predigt vielen von euch den Christusglauben nicht gerade attraktiv macht. Ich weiß, was ich euch damit zumute. Und klar, ich bin ein Mensch, mit meiner Art und meinen Unarten. Aber das hoffe ich doch, dass ihr sehen könnt: Wo ihr euch an mir reibt, das liegt nicht an mir. Das ist eine unweigerliche Folge aus dem Evangelium. Ich wäre ein unglaubwürdiger Botschafter des gekreuzigten Gottes, hätte ich die Aura des strahlenden Erfolgsmenschen. Und eben darum sieht Paulus für die Korinther so alt aus. Und nicht nur für sie. So richtig populär in der Kirche, wie Petrus oder Franz von Assisi oder Mutter Teresa, ist Paulus nie gewesen. Ihm fehlt einfach das gewisse religiöse Etwas, um zu faszinieren. Würde er sich in den USA als TV-Prediger versuchen, das wäre vermutlich ein Quotenkiller.

III.

Stattdessen solche schwer zu fassenden Paradoxien: „Als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gequälten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich“: so sieht es aus, das apostolische Leben. In vieler Hinsicht bedrängt, aber nicht völlig erdrückt. Zwar nicht gänzlich ausweglos, aber doch ratlos. Zwar nicht total verlassen, aber doch immer wieder verfolgt und angefeindet. Zwar nicht am Boden zerstört, aber immer wieder unten. Und das ist kein Zufall. Denn es ist nun einmal Gottes Art, sich im Schwachen, Unansehnlichen, Menschlich-Allzumenschlichen erkennen zu geben „Wir haben den Schatz Christi in irdenen, tönernen Gefäßen“ (2. Kor 4,7), sagt Paulus zwei Kapitel vorher. Ein starkes Bild. Jesus selbst: sein Gottsein ganz im Menschlichen verborgen, wie die Goldmünzen in den Tonkrug. Jesu Wort: ganz menschlich, durch kein äußeres Merkmal als Gottes Wort selbst zu erkennen. Die Sakramente: Wasser, Brot und Wein sieht an nicht an, was Gott da hineingibt und mit ihnen bewirkt. Die Bibel: auf sehr menschliche Weise zustande gekommen, mit einer komplizierten Entstehungsgeschichte, jedem Zugriff der Kritik ausgesetzt - und doch den Schatz enthaltend. Die Kirche: oft kraftlos, ausstrahlungsarm, deprimierend mittelmäßig, Dinge mehr politisch als geistlich entscheidend, auf (wichtige) Menschen mehr hörend als auf Gott - und doch Gemeinschaft der Heiligen. Wir Pfarrer*innen: immer wieder enttäuschend, ängstlich, gehetzt, ehrgeizig - und doch von Gott mit einer Sendung versehen, die größer ist als wir selbst und die durch unsere Unzulänglichkeiten nicht ungültig wird. - Die Korinther irren sich in ihrer Meinung über Paulus, weil sie sich über Gott überhaupt irren. In der Schwachheit zeigt er sich uns.

III.

Und eben damit macht es Paulus seiner Konkurrenz erst einmal einfach. Die hat mehr zu bieten. Die Korinther sprechen das offen aus. Und Paulus, auch wenn ihm das, er ist ja auch nur ein Mensch, ganz schön zusetzt, stimmt ihnen zu. Der Apostel hält nicht nur dem religiösen Vergleich nicht stand, mehr noch: in Wahrheit ist er ohne Konkurrenz. Und genau das, liebe Gemeinde, gilt auch für jeden von uns. Im Grunde vertragen wir alle keinen Vergleich. Nämlich dann, wenn es nicht um unsere Leistungen, sondern um uns selbst geht. Unsere Leistungen, die Werke, die kann man vergleichen. Es gibt nun mal bessere und schlechtere Handwerker, bessere und schlechtere Pfarrer. Man darf und soll sie vergleichen. Aber wenn es um die Person geht, erst recht wenn es um die geliebte Person geht, dann hört jeder Vergleich auf. Stellen sie sich eine Liebeserklärung dieser Art vor: Vergleichsweise liebe ich dich! Doch, echt, wenn ich dich so mit der oder der vergleiche, dann muss ich sagen, ich liebe dich! Diese Liebesgeschichte ist vorbei, bevor sie wirklich angefangen hat. Unsere Person verträgt das Vergleichen nicht. Vergleichen heißt immer werten, auf- und abwerten. Bei Produkten, Währungen, Parteiprogrammen, bei Leistungen muss das sein. Aber sobald wir anfangen, Menschen zu vergleichen, hören wir auf, jemand um seiner selbst willen anzusehen. Indem wir ihm einen Wert geben, nehmen wir ihm seine Würde. Damit beginnt der würdelose Umgang des Menschen mit dem Menschen: man fängt an zu fragen, wann das Leben wert ist gelebt zu werden und wann nicht mehr. Das ist ja inzwischen Realität.

Was aber von uns Menschen gilt, gilt erst recht von Gott. Gott ist in jeder Hinsicht unvergleichlich! Denn Gott vergleichen, das hieße ja: andere Götter neben ihm haben. „Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils“: Jesus bittet durch seinen Botschafter Paulus, uns auf den Friedensschluss mit Gott einzulassen und die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Unter Druck werden wir dabei nicht gesetzt - so wie der Verführer in die Wüste Jesus unter Druck setzen wollte. Wir sind ganz frei. Aber das sollten wir in dieser Passionszeit in uns bewegen, dass dieser angebotene Friede mit Gott und mit uns selbst eine unvergleichliche Chance ist. Zeit des Willkommens: der verlorene Sohn kehrt zurück und erlebt, dass der Vater nicht mit ihm abrechnet, sondern ihm jubelnd entgegenläuft. Auch wir sollen es erfahren: als die Traurigen, und doch allezeit fröhlich.


AMEN.

Es wird regiert

Impuls gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Musikalischen Friedensandacht mit Daniel Hope und Alexey Botvinov aus Anlass des russischen Angriffs auf die Ukraine

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Liebe Gemeinde,

seit dem Wochenende haben wir die Displays unserer Schaukästen draußen vor der Kirche blau-gelb unterlegt und ein Wort aus dem 1. Kapitel des Lukasevangeliums daraufgesetzt: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Manch einen, der da vorübergeht, mag das irritieren. Klingt das nicht etwas arg robust? Wäre ein Wort wie das, was wir auf unserem Banner stehen haben: „Selig sind die Friedensstifter“ nicht angemessener für ein Gotteshaus?

I.

Aber wer sagt das denn in der Bibel: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“? Das sagt kein revolutionärer Kämpfer gegen Unterdrückung und Gewalt. Auch kein wortmächtiger Prediger am Jerusalemer Tempel. Das sagt eine blutjunge Frau aus der tiefen Provinz. Es ist eine Aussage aus dem Magnificat, diesem wunderbaren Gesang der gesamten Christenheit, seit Jahrhunderten täglich im Stundengebet gesungen, von vielen Komponisten vertont. Maria kann es nicht fassen, dass sie gewürdigt ist, die Gottesmutter zu werden, den Erlöser der Welt zu derselben zu bringen. Das überfordert sie erst einmal, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Aber sie tut genau das Richtige. Gegen das eigene Aufgewühltsein stimmt sie das Magnifikat an.

Maria singt. Wir erfahren es in dieser Stunde vielleicht, hoffentlich, ein bisschen: manchmal bringt die Musik Licht, einen hellen Schimmer der Hoffnung ins Leben, wo vieles umdunkelt und erloschen erscheint. Ich habe das als Pfarrer gelegentlich an Sterbebetten erlebt, wenn die Sterbende, die schon ganz weit weg erscheint, durch Worte nicht mehr erreichbar, beim Anstimmen eines Liedes mit einem Mal doch noch die Lippen mitbewegt, und manchmal ein verhaltenes Leuchten über das Gesicht ging. Töne sind so kraftvolle Licht- und Hoffnungssignale, dass das Leben am Ende stärker ist als der Tod - auch in seinen vielen elenden Spielarten, mit denen er sich immer wieder da einzuschleichen versucht, wo er nichts verloren hat.

II.

Maria gehört nicht zur Elite. Sie ist ein 15 oder 16 Jahre altes namenloses Mädchen. Und nun singt sie, oder besser: es singt aus ihr heraus. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Klingt mitreißend, ermutigend. Aber wir halten dagegen: So kann doch nur singen, wer realitätsblind ist. Da herrscht schlimme Unterdrückung im jüdischen Land. Die römischen Besatzungstruppen halten mit eiserner Faust law and order, ihre „pax romana“ aufrecht. Nichts zu sehen von Befreiung und Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Aber es gibt eine im Singen, im Musizieren geweckte Wahrheit, die gilt, auch wenn für unser deprimiertes Erleben alles dagegen spricht. Wir erleben fast vor unserer Haustüre Ruchlosigkeit, Rechtsbruch, brutale Gewalt, wachsende Flüchtlingsnot. Ist diese Realität die letzte Wahrheit? Zur Zeit scheint nach unserem menschlichem Ermessen viel, allzu viel dafür zu sprechen. Aber eines spricht dagegen. Es ist die in einem Adventslied gesungene Hoffnung: „Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, / nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! / Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, / weil Stiefel auf das Pflaster schlagen“ (EG 20,3). Er, der da kommen wird, Jesus Christus, ist unser Friede.

Ich stelle mir das mit Marias Lied vor wie bei den Sklaven vor 200 Jahren in Amerika. Die fingen an, während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern ihrer weißen Herren gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage sich Glaubenslieder zuzusingen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern des Alten Testaments. Das war die Geburt der Gospels, die wir heute so gerne hören. Der Glaube, sagte M.L. King, ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. So wird Marias Magnificat zum Protestlied gegen die Dunkelheit, die Heillosigkeit ihrer und unserer Zeit. „Böse Menschen haben keine Lieder“, sagt das Sprichwort. Wer singt, wer Musik macht, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. Weil er im Tiefsten weiß und darauf seine Hoffnung setzt, dass die Todesmächte und ihre menschlichen Handlanger am Ende doch den Kürzeren ziehen. Denn am Ende wird die Stärke des Rechts die Menschen anziehen und mobil machen. Auch dort, wo die Führung grade brutal auf das Recht des Stärkeren setzt.

III.

Der berühmte Theologe Karl Barth, den man den evangelischen Kirchenvater des 20. Jahrhunderts nennt, telefonierte am Abend vor seinem unerwarteten Tod im Advent 1968 mit einem engen Freund. Sie sprachen über die damals auch sehr düstere Weltlage: Vietnam, Tschechoslowakei Biafra, Memphis. Zum Schluss, so hat der Freund später berichtet, sagte Barth, bevor er den Hörer auflegte, fast beschwörend: „Aber ja nicht den Kopf hängen lassen! Denn es wird regiert!“ In der Nacht starb er, vermutlich waren das seine letzte Worte. „Es wird regiert“: wenn wir darauf doch vertrauen und Kraft schöpfen könnten gegen alle Ohnmacht und Ratlosigkeit. Und weitermachen für eine Welt, in der der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf, sondern sein Bruder ist.

Oder dasselbe mit einem Wort eines Ihrer Vorgänger, Herr Bundespräsident, gesagt: Die Herren dieser Welt gehen. Unser Herr kommt. (Gustav Heinemann).


AMEN.

Predigt gehalten von
Pfarrer i. R. Joachim Zirkler
im Friedensgottesdienst aufgrund der aktuellen Situation in der Ukraine (18 Uhr)

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2 HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? 4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, 5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. 6 Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; / mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.

 

Liebe Gemeinde,

vor 7 Jahren, Ende Februar 2015 wurde im hiesigen Panometer das Panorama des zerstörten Dresdens, geschaffen vom Künstler Yadegar Asisi, eröffnet. Der Rundumblick über die Ruinen der Stadt ließ die Anwesenden still werden. Allen wurde durch die monumentale Dimension deutlich, was Krieg bedeutet. Der Kameramann und Dokumentarfilmer Ernst Hirsch war unter den Gästen. Vom Besichtigungsturm zeigte er auf die rauchenden Trümmer der Straßen beim Hygienemuseum und sagte: „Da haben wir gewohnt. Achteinhab Jahre alt war ich an jenem 13. Februar 1945. Die Erinnerung an diese Nacht hat sich eingebrannt.“

Ich stelle mir einen ähnlich alten Einwohner von Kiew vor. Er erlebte 1941 im Alter von 6 Jahren den Einmarsch der Deutschen. Die Wohnung seiner Eltern in der Nähe des Maidan wurde zerstört. Nun erlebt er, im Alter von 87 Jahren, das zweite Mal Krieg in seiner Stadt. Und vielleicht muss er sehr bald wieder, mit Blick auf seine jetzige Wohngegend sagen: „Da haben wir gewohnt.“

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

Wenn wir uns ausmalen, dass Bomben wieder auf Dresden fallen und die noch lebenden Zeitzeugen von damals die Zerstörung ihrer Stadt das zweite Mal erleben müssen. Wenn wir uns das vorstellen, begreifen wir, was momentan 1400 km östlich von uns geschieht.

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Wie lange, Herr, wie lange...wird Krieg Teil unseres Lebens bleiben?

Das Unvorstellbare ist Realität geworden. Meine Generation ist mit den Erzählungen vom Krieg groß geworden und wir haben uns daran gewöhnt, dass Krieg etwas ist, das nichts mit uns zu tun hat – weil es in ferner Vergangenheit stattfand oder in fernen Weltgegenden geschieht. Das ist seit dem vergangenen Donnerstag, seit dem 24. Februar 2022, anders. Es gibt, das erste Mal seit 1939, in Europa wieder den Angriffskrieg eines großen Landes auf seinen Nachbarn. Ich muss mir immer noch klarmachen, dass es kein böser Traum ist, aus dem ich nur aufwachen muss, sondern bittere, schmerzvolle Wirklichkeit.

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich?

Das Volk Israel hat viele Kriege erlebt, es ist in die Welt zerstreut worden, es sollte in eigens dafür errichteten Lagern vernichtet werden. Es hat die Kraft zum Leben und Überleben gefunden, weil es die Psalmen, die alten Gebete des Volkes immer wieder gebetet, in allen Situationen durchdekliniert hat.

Krieg und Frieden, Leid und Freude – alles wurde vor Gott und in Verbindung zu ihm gebracht. Wenn nichts mehr zu helfen schien, dann half dieses „Ich habe Gott mein Leid geklagt“. Das hat dem Volk trotz allem und in allem immer wieder Kraft gegeben.

Die Psalmen sind Übungen zum Leben und Überleben. Sie wollen geübt sein wie ein Musikinstrument. Mit der Zeit entfalten sie einen eigenen Klang. Einen Klang, der mit unserer Lebensmelodie zusammenpasst. Die Klage führt zum Nachdenken, das Nachdenken zur Umkehr und die Umkehr zum Handeln (zum Beschreiten neuer Wege).

Es ist eine Zeit der Wut und der Ohnmacht, der Enttäuschung und der Klage:

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Es ist eine Zeit des Nachdenkens. Was haben wir unterlassen, was haben wir nicht sehen wollen, was haben wir zugelassen?

Das Nachdenken setzt bei den Politikern ein. Der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzek, der sich seit langem um das deutsch-russische Verständnis bemüht, sagt ehrlich: „Ich habe mich getäuscht. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass der russische Präsident eine solche rote Linie überschreiten würde. Unser Verhältnis ist an einem Tag um Jahrzehnte zurückgeworfen worden.“

Das Nachdenken setzt bei uns allen ein. Wir müssen uns  fragen: Haben wir unser Leben in Frieden und Freiheit für zu selbstverständlich gehalten? Wie konnte es geschehen, dass sich die Verachtung der Demokratie immer mehr ausbreitet? Welchen Leuten haben wir in den letzten Jahren die Straße überlassen?

Sind wir, eingepackt in einem sicher geglaubten Wohlstand, mehr und mehr eingeschlafen?

4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht bis zum Tode entschlafe, 5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke.

Es ist eine Zeit der Umkehr. Uns wird bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, im Frieden zu leben und das bereits seit 77 Jahren. Und wird bewusst, dass wir uns nicht einfach ausruhen können, dass wir uns von den Diktatoren dieser Welt keinen Sand in die Augen streuen lassen dürfen. In unserer Stadt wird uns mit einem Mal wieder bewusst, dass in einer Nacht zerstört werden kann, was Jahrzehnte zum Wiederaufbau braucht.

Was können wir tun? Das gleiche, was der Psalm uns sagt: Beten. Nachdenken und Wachen. Umkehren und Handeln.

Beten: Es tut gut, dass Sie alle hier in der Kirche sind. Von unserem Gebet für den Frieden in dieser Kirche, in allen Kirchen unseres Landes, in allen Häusern, in denen Menschen die Hände falten, geht eine Kraft aus, die größer ist als wir ahnen. Beten heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen, sondern alles, was uns bewegt, mit gefalteten Händen vor Gott zu bringen und dadurch Mut zum Handeln zu erhalten. Nutzen wir die offenen Kirchen, nutzen wir die stillen Minuten zu Hause. Beten ist Überlebenstraining.

Nachdenken und Wachen: Dass wir uns nicht einlullen lassen von Phrasen. Von Leuten, die meinen, die Autokraten dieser Welt bringen neues Heil indem sie altes Unheil wie Krieg herauf beschwören. Das Geschenk des friedlichen Lebens der letzten Jahrzehnte neu schätzen lernen. Nicht mehr schläfrig werden und damit den Feinden der Freiheit und Demokratie das Feld überlassen!

Umkehren und Handeln: Wir können auf die Straße gehen und zeigen: Wir leben zusammen in einer Stadt, in einem Land. Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit verschiedenem Glauben und eigener Tradition. Genau so gehören wir zusammen. Das verstehen wir als Bereicherung. Wir wollen keinen Krieg, wir wollen in Frieden leben.

Es erfüllt mich mit Hoffnung, dass heute in Dresden und Berlin, in vielen deutschen Städten, tausende Menschen genau das zeigen. Und es ist ein wunderbares Zeichen, dass sich junge Deutsche an die polnische Grenze begeben, um ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das lautet:

„Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“

Darum geht es. Wir sind viele und können viel tun, damit es endlich aufhört, dass Menschen sagen müssen: „Da haben wir  gewohnt. Damals vor dem Krieg.“ Brechen wir auf und gehen diesen Weg – mit Gottvertrauen, Nächstenliebe und der Hoffnung, die unser Denken übersteigt. Dann wird unser Leben einen neuen Klang bekommen.

Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; / mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.


AMEN.

Suche den Frieden

Impuls gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des Ökumenischen Friedensgebets aus Anlass des russischen Angriffs auf die Ukraine

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Liebe Gemeinde,

es ist ein berührendes Bild. Eine Kollegin aus der Stiftung Frauenkirche hat es mir heute gesendet. Ein Schnappschuss, der vor acht Jahren bei der Peace Academy 2014 entstanden war. Es nahmen damals auch junge Leute aus der Ukraine und aus Russland teil. Nur wenige Wochen vor der Peace Academy hatte Russland damals die Krim annektiert. Nach der gegenseitigen Vorstellung vor dem Mittagessen nahm ein ukrainischer Jugendlicher, der ganz woanders saß, sein Essenstablett und ging demonstrativ zur russischen Gruppe. Er sagte, er wolle damit zeigen, dass an diesem Pfingstwochenende der tiefe Konflikt zwischen ihren Ländern nicht trennend zwischen ihnen stehen solle. Als ich das Foto des mit den Russen lächelnd zusammensitzenden jungen Ukrainers heute sah, überfiel mich sofort die Vorstellung, dieselben Menschen könnten jetzt gezwungen sein, gegeneinander zu kämpfen. Das schneidet ins Herz.

II.

„Suche den Frieden und jage ihm nach“: unter diese Aufforderung aus Psalm 34 haben wir diese Gebetsandacht gestellt. Haben wir ernsthaft den Frieden gesucht, ihn aktiv versucht zu sichern? Oder war er uns nach 77 Friedensjahren in Mitteleuropa zur routinierten Selbstverständlichkeit geworden? Ich denke an Personen wie den großen Europäer Helmut Kohl, der bis ans Ende seiner Tage oft gewarnt habt, dass wir auf dünnerem Eis unterwegs sind als wir ahnen, dass das vereinte Europa eine Frage von Krieg oder Frieden ist. Haben wir das ernst genug genommen? Seit heute früh durchpflügen Raketen den ukrainischen Himmel, reißen die Bomben tiefe Wunden in den Städten. Alles direkt vor der Haustür der EU.

„Suche den Frieden und jage ihm nach“. Diese Aufforderung ist ein Antidot gegen Verzweiflung oder Resignation, die mich an einem Tag wie heute überkommen. Sie hilft mir, die Sehnsucht wach zu halten, dass der Kampf der einen gegen die anderen, die Geißel des Krieges doch nicht das letzte Wort behält, weil sie am Ende nur Verlierer produziert: Getötete, Vergewaltigte, Verschleppte, Geflüchtete in riesiger Zahl. In den Kirchen wurden früher in Kriegszeiten oft genug Waffen gesegnet und „Gott mit uns!“ gepredigt. Inzwischen haben wir gelernt, wacher auf die Bibel zu hören. Die Anwendung von militärischer Gewalt ist immer eine schreckliche Niederlage, und bringt Schuld mit sich. Da ist alle leidenschaftliche Klarheit gefordert: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. Wer einen Krieg zu verantworten hat, ihn vom Zaun bricht, lästert Gott und bestreitet seinen Frieden.

III.

Suche den Frieden – das heißt für Christen letztlich den suchen, der, so sagt die Bibel, unser Friede ist: Jesus Christus. In dem großen Friedensmanifest, das er der Welt geschenkt hat, in der Bergpredigt, sagt er den unglaublichen Satz: „Gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Und betet für eure Verfolger!“ Abgebrühte mögen abwinken: Euer Jesus ist ein Phantast, weltfremder Gutmensch! Jesus sagt aber direkt nach diesem Satz noch etwas anderes: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. Das meint doch: Gott selbst geht in Sachen Feindesliebe voran! Er gewährt der ganzen Welt, nicht nur seinen Freunden, die nötigen Mittel zum Leben. So gibt er uns unaufdringlich zu verstehen, dass er nicht unser Vater sein will, ohne zugleich der Vater aller Menschen zu sein - auch derer, die nicht seine Kinder sein wollen, weil sie ihn durch ihr Tun verhöhnen. Was uns unmöglich erscheint, Gott leistet sich das: Mit übermenschlicher, eben göttlicher Geduld bleibt er denen nahe, die meinen, es gehe ohne ihn.

Aber das demonstriert er uns nicht nur natürlich, durch Sonnenschein und Regen, sondern erst recht höchst persönlich! An uns selber nämlich hat Gott anschaulich gemacht, was es heißt, seinen Feind zu lieben, ein Freund-Feind-Verhältnis einseitig für beendet zu erklären. Das hat er nicht mit großen Worten proklamiert. Sondern er hat es an sich selbst erlitten, was das heißt: seine Feinde lieben und für seine Peiniger beten. Nicht das menschlich verständliche: Vater, gib’s ihnen! Sondern: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Am Kreuz wird Feindesliebe konkret. Da sieht man, was einseitige Abrüstung ist. Und deshalb, bei aller Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die jetzt Schreckliches erleben müssen, bleiben auch die, die das jetzt anrichten, im Licht Gottes unsere Menschenbrüder und -schwestern.


AMEN.

Nein zur Vergeltung, Ja zur Vergebung.

Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
am 13. Februar, dem 77. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik (16 Uhr)

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Liebe Gemeinde,

in der Bergpredigt Jesu, die der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker „den humanistischsten Text der Weltliteratur“ genannt hat, begegnen wir der unglaublichen Aufforderung: „Liebet eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen“. Auf den ersten Blick spricht das allem gesunden Menschenverstand Hohn. Und doch ist der Gedanke der Feindesliebe ein ganz großes Geschenk Jesu an diese Welt. Er ist, so denke ich, der Schlüssel zu der neuen Welt, die Jesus das Himmelreich nennt. Diese Form der Liebe ist auch eine radikale Absage an den Zeitgeist der Christenheit seit der frühen Zeit des römischen Kaisers Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion machte. Kirchen aller Konfessionen, mit Ausnahme kleiner Minderheiten, haben die Feindesliebe zur irdischen Unmöglichkeit erklärt. Sie gelte nur fürs eigene fromme Herz, aber nicht für das organisierte Miteinander, also die Politik. Gute Protestanten von Bismarck bis Helmut Schmidt haben das ihrer Kirche entsprechend ins Stammbuch geschrieben. „Heilige Kriege“ gibt es nicht erst heute, im Zeichen des Islams. Mit religiösem Pathos haben auch die christlichen Ritter im Mittelalter im Namen Gottes tausendfach Muslime getötet, später haben Christen verschiedener Konfessionen mit ihren Religionskriegen Deutschland in Schutt und Asche gelegt. Bittere Ironie, dass all dies im Namen des Bergpredigers geschah.

Aber das muss nicht so sein. Sechs Wochen, nachdem deutsche Bomber die englische Stadt Coventry dem Erdboden gleich gemacht hatten, predigte zu Weihnachten 1940 der dortige Domprobst in der Ruine seiner Kathedrale: „Obwohl es uns schwer fällt, sagen wir Nein zur Vergeltung und Ja zur Vergebung“. Diese Aussage war eine radikale Abkehr von geltenden Vorstellungen. Keine Vergeltung? England und Amerika, die sich schon immer für christliche Nationen gehalten haben, antworteten darauf, indem sie deutsche Städte zu Trümmerwüsten machten. Heute vor 77 Jahren war unser Dresden an der Reihe. Die Ursachen dafür freilich haben wir nicht in der englischen oder amerikanischen Geschichte zu suchen, sondern in unserer.

Fast acht Jahrzehnte sind eine lange Zeit. Die es noch erlebt haben und nie werden vergessen können, werden immer weniger. Je länger das alles zurückliegt, desto abstrakter, ungreifbarer erscheint es. Und desto leichter verbreitet sich die Haltung: Was geht mich das noch an? Müssen wir etwa auf ewig in Sack und Asche laufen? Man wird ja wohl noch sagen dürfen… Vielleicht ist es das Beste, was wir überhaupt können, nichts anderes als die Fragen lebendig zu halten. Antworten, und seien sie noch so klug, die diese Vergangenheit „bewältigen“ könnten, die gibt es nicht. Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Was wir brauchen, ist nach wie vor solides historisches Wissen über die Vergangenheit. Wissen, das Fragen nicht glatt beantwortet, sondern überhaupt erst weckt und wach hält. Das ist weiß Gott nötig in einer Zeit, einflussreiche Politiker offen von einer Entsorgung der Schatten der deutschen Vergangenheit reden und Tage wie den heutigen missbrauchen, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen.

Feindesliebe: Der Feind ist nie nur der andere, sondern als Menschen Gottes Ebenbild und damit immer auch mein Ebenbild. Wir haben nicht nur Feinde, sondern wir sind auch selbst Feinde, manchmal auch Feinde Gottes, die immer wieder Vergebung brauchen - und Gottseidank auch erfahren. Wir kennen alle das sehr lebenskluge Jesuswort: „Wer ohne Schuld ist unter euch, der werfe den ersten Stein.“ Am heutigen Tag könnte das so gemeint sein: Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen vor dem Kreuz Jesu Christi für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig! Denn dieses Kreuz steht dafür, dass Jesus Christus nicht gegen Deutsche oder gegen Engländer und Amerikaner gestorben ist, sondern für uns alle.

AMEN.

Gott, sei uns Sündern gnädig!

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
am 13. Februar, dem 77. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Hauptgottesdienst (11 Uhr)

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Liebe Gemeinde,

ich erinnere noch, wie ich als Kind meinen Großvater einmal gefragt habe: „Großvater, hast du im Krieg einen Menschen erschossen?“ Ich spürte, er wollte darüber nicht reden. Es kam nicht mehr als die knappe Antwort: „Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht, mein Junge.“

Was für die New Yorker „9/11“ ist, ist für die Dresdner der 13. Februar. Ein Datum, das ohne Jahreszahl auskommt. Es gibt ein Davor und ein Danach. Jeder Dresdner weiß, dass heute vor 77 Jahren um 21:45 Uhr unter dem Codenamen „Operation Chevin“ die erste von mehreren fürchterlichen Angriffswellen über der Stadt zusammenschlug. Apokalyptische Reiter aus der Luft, die in wenigen Stunden eine apokalyptische Wirklichkeit schufen. Wie in so vielen Städten in jenen Monaten, die es ebenso verheerend traf: Hamburg, Köln, Stuttgart, Pforzheim u.v.a. Diese Unternehmungen hatten keine kriegsentscheidende Bedeutung im strategischen Sinn. Ihr Motiv war die Demoralisierung der Bevölkerung. Wie viele Dresdner am 13. Februar und in den Tagen danach ihr Leben verloren, ist seit Jahrzehnten Gegenstand erbitterter, ideologisch hocherhitzter Debatten, hinter denen oft fragwürdige Motiven stehen. Als Christen können wir nur sagen: Es macht den Schrecken und die Trauer über das, was damals geschah, nicht größer und nicht kleiner, wenn die Zahl der Opfer mehr oder weniger hoch veranschlagt wird. Schrecken und Trauer machen sich doch daran fest, was Menschen, als Ebenbilder Gottes geschaffen und wunderbar von ihm begabt, Böses ersinnen und einander antun können.

I.

„Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, dass nur diese Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen aber nicht?“ Eine eindringliche Frage Jesu in dem eben gehörten Text. Sie spricht eine bleibende Wahrheit über das aus, was der Krieg ist. Es hat nicht nur in Deutschland, genauso auch in England, den USA, Russland Kinder gegeben, die ihren Großvätern gegenübersaßen und sie gefragt haben: „Opa, hast du im Krieg einen Menschen getötet?“

Wir Christen glauben: Jeder Mensch ist in einem letzten Sinn anderen, aber auch sich selbst entzogen. Denn er ist ein Geschöpf Gottes. Jedem Menschen hat Gott seine Würde verliehen. Unverlierbar und unantastbar. Deshalb hat jeder Mensch ein Recht, dass am Ende seines Lebens in einem Gottesdienst seine eigene Lebensgeschichte Gott anvertraut wird: mit dem, was sein Leben für uns erkennbar gewesen ist, was gelungen ist darin, was sich sehen lassen kann, aber eben auch mit seinen Brüchen. Das ist der erste ganz wichtige Schritt zu einer gelingenden Trauerarbeit. - Wenn aber Leichnam an Leichnam liegt, wenn Tote für immer unter meterhohen Trümmern geblieben sind, dann sind sie dieses Rechts, unverwechselbar zu sein, und damit auch eines Teils ihrer Würde beraubt. Bei jedem Sterben schmerzt das Unwiderrufliche, Endgültige. Beim Sterben junger Menschen kommt der fast unerträgliche Schmerz hinzu, dass Leben, das sich erst entfalten möchte, abgebrochen, verstümmelt wird. - Zu den großen Errungenschaften unseres demokratischen Gemeinwesens gehört der einfache Satz, mit dem unsere Verfassung beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt den Lebenden. Aber es hat auch eine Geltung gegenüber den Toten. Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Toten wirkt zurück auf ihren Umgang mit den Lebenden. Auch jenseits des irdischen Lebens sind Ehre und Würde des Menschen zu schützen. Das ist ein Grundrecht schon in alten Kulturen. Auch deshalb begehen wir den 13. Februar, um die Toten jener Tage um ihrer Würde willen dem kollektiven Vergessen zu entreißen. Damit die Bitte des Dichters nicht ins Leere gesprochen bleibt: „Oh Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ (R.M. Rilke)

II.

Quälend ist die Frage nach dem Warum. Und zugleich unvermeidlich, ja verzweifelt notwendig. Auch wenn sie niemals abschließend und überzeugend beantwortbar sein wird. Klar und für denkende Menschen einsichtig ist: der Schrecken des 13. Februar hat seinen Ausgang nicht mit dem Start der britischen und amerikanischen Jagdflieger genommen. Auch nicht mit dem Beginn des 2. Weltkriegs. Ja, auch der 30. Januar 1933, der Tag der „Machtergreifung“ ist nicht als der historische Wurzelgrund anzusehen dafür, dass aus deutschen Städten Trümmerwüsten wurden. Man muss noch tiefer hinsehen.

Ich bin Theologe und will den vielen Deutungen der Historiker, wie es zu all dem kommen konnte, keine weitere hinzufügen. Ein - scheinbar – beiläufiger Aspekt ist mir aber wichtig geworden. Es gibt eine geradezu unheimliche Sukzession des Brennens. In einer sich abgründig steigernden Intensität. Am Anfang, schon lange vor 1933, im Kaiserreich, brannten die Herzen. Für den Kaiser und den preußischen Militarismus. Gegen die angeblich privilegierten und erfolgreichen Juden. Dann gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, die, so hieß es damals, der tapferen, „im Felde unbesiegt“ gebliebenen kaiserlichen Armee 1918 an der Heimatfront hinterrücks den Dolchstoß versetzt hatten. Dann brannten die Herzen gegen den Versailler Vertrag und die sog. „Verzichtspolitiker“, die ihn unterschrieben hatten. Und gegen die erste deutsche Demokratie, die eine Mehrheit des Volkes ablehnte, ja verachtete. Leider vor allem die Protestanten. Dann, am 30. Januar 1933, wurden aus den vielen brennenden Herzen die brennenden Fackeln der Tausende, die durchs Brandenburger Tor zogen, um dem Machtergreifer zu huldigen. Bald darauf brannten viele Bücher. Am 9. November 1938 brannten im ganzen Land die Synagogen. Das führte dann zu den brennenden Öfen in Auschwitz. Und wegen all dem brannten am Ende deutsche Städte.

Kürzlich kam in einer Fernsehsendung zum Wiederaufbau der Semperoper Gunter Emmerlich zu Wort, mit der Aussage, er habe von Erich Honecker ein einziges Mal einen klugen Satz gehört. Bei der feierlichen Wiedereinweihung Semperoper zum symbolträchtigen Datum des 13. Februar 1985, 40 Jahre nach dem Inferno habe er, Honecker, gesagt: „Die Fackeln, die von Deutschland ausgegangen waren, kamen am Ende auf uns zurück.“ Das war wohl wirklich ein bemerkenswerter Satz, weil die ideologische Position der DDR-Führung zur Zerstörung Dresdens über 40 Jahre ja in eine ganz andere Richtung gegangen war.

So war das damals natürlich nicht nur, aber auch eine Langzeitfolge der vielen brennenden Herzen. Schillers Wort „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären“ ist noch tiefer auszulegen: Das ist der Fluch des bösen Gedankens, des bösen Wortes, dass sie früher oder später böse Taten hervorbringen. Die Zeit, die wir aktuell durchleben, macht uns dafür wieder sensibel. Vielleicht ist es das Beste, was wir überhaupt tun können, nichts anderes als einfach die Fragen nach dem Warum lebendig zu halten. Antworten, und seien sie noch so klug, die diese Vergangenheit „bewältigen“ könnten, die gibt es nicht. Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Was wir brauchen, ist mehr denn je solides Wissen über die Vergangenheit. Wissen, das Fragen nicht glatt beantwortet und abräumt, sondern überhaupt erst weckt und wach hält. Das ist dringend nötig. Wie groß müssen Vergessen und Verdrängen sein, wenn bei vielen Leuten trotz gut informierender Schulbücher elementare Fakten aus unserer Vergangenheit kaum bekannt sind? Wenn Straßenzüge oder ganze Quartiere zu „ausländerfreien Zonen“ ausgerufen werden, in denen Migranten, sofern es dort überhaupt welche gibt, sich besser nicht mehr auf die Straße begeben?

III.

„Großvater, hast du einen Menschen erschossen?“ Das heißt: Bist du schuldig geworden? Du, mein Großvater, zu dem ich aufschaue und den ich lieb habe, hast du persönlich Schuld auf dich geladen? - Als Pontius Pilatus ohne ersichtlichen Grund Menschen hatte umbringen lassen, kommen die Leute zu Jesus und wollen wissen, was die Schuld der Ermordeten war. Anders konnten sie sich nicht erklären, dass Gott sie diesen grausamen Tod erleiden ließ. Jesus lässt sich auf eine solche Sicht aber gar nicht ein. Er sagt ihnen: „Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Im Gegenteil: Ihr werdet genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt.“ Meine Generation ist nicht mehr dazu angehalten worden, auf Feinde zu schießen. Wir konnten aus der Gnade der späten Geburt leben. Aber unsere Enkel könnten uns eines Tages die Frage nach unserer Schuld stellen: Warum habt ihr so lange gezögert, als eine Volksgruppe die andere zu eliminieren versuchte, vor den Augen der Welt - in Ruanda damals, dann in Darfur, aktuell in China an den Uiguren? Warum hatte eure Weltgemeinschaft so wenig Interesse am Schicksal dieser Menschen? Und wie steht es gerade jetzt um das Land unweit von unserer Haustüre? Wie ist den Menschen der Ukraine in deren aktueller Bedrohung zu helfen? Ich habe großes Verständnis für die Zurückhaltung unserer Regierung, Waffen dorthin zu liefern. Wenn es um Waffen geht, zumal in Richtung der früheren Sowjetunion, muss äußerste Zurückhaltung geradezu ein Teil unserer Staatsräson sein und bleiben. Aber - ich frage das nur, ohne selbst eine Antwort zu haben - kann es manchmal auch Situationen geben, die eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigen? Es gibt mir jedenfalls zu denken, wenn namhafte Schriftsteller*innen, die von ihrem Selbstverständnis her alles andere als kriegsaffin sind, diese Zurückhaltung jetzt im Blick auf die Ukraine deutlich kritisieren.

Mein Großvater hatte blutjung noch im 1. Weltkrieg gekämpft. Wir wussten, dass er, wie so viele seiner Generation, mit Begeisterung für Kaiser und Vaterland damals an die Front gezogen war. Aber darüber gesprochen hatte er mit der Familie nie. Nach seinem Tod sichteten meine Eltern die Schubladen seines Schreibtisches. Zwischen Zeugnissen, Urkunden und Photographien stießen sie auf ein Eisernes Kreuz zweiter Klasse. Seine vier Kinder, sie wussten alle nichts von dieser Auszeichnung für besondere „Tapferkeit vot dem Feind“. Die Frage: „Opa, hast du im Krieg einen Menschen erschossen?“ - er hätte sie mir wohl mit Ja beantworten müssen.

IV.

„Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Im Gegenteil: Ihr werdet genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt“. Die Zahl aller Toten aus dem letzten Weltkrieg wird auf über 60 Millionen Menschen geschätzt. Eine Zahl, so unvorstellbar, dass sie furchtbar abstrakt bleibt. Gar nicht abstrakt, sondern anschaulich und tief schmerzhaft sind die Erinnerungen, die sich in unserer Stadt mit heute vor 77 Jahren verbinden. Wir trauern heute um sie, um Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer. Noch sind Menschen unter uns, die damals Geschwister, Eltern, Großeltern, Klassenkameraden oder Freunde verloren haben. Die Bilder der brennenden Stadt, auch dieser niederbrennenden Kirche, der Anblick der Toten haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

In den Monaten und Jahren nach Kriegsende kamen die überlebenden Soldaten nach Hause. Auch sie hatten vor ihrem inneren Auge die Bilder der Zerstörung und Verwüstung. Auch sie mussten damit weiterleben. Was sie in diesem Krieg erlebt hatten, schob sich auf immer zwischen sie und ihre Familien. Das war ihre Last. Damit waren auch sie für ihr Leben gezeichnet. Sie fühlten sich auf ihre Weise als die „Draußen vor der Tür“, wie das berühmte Stück von Wolfgang Borchert heißt, das ihr Schicksal zum Inhalt hat.

Zum Schluss noch einmal unser Jesuswort: „Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Nein, im Gegenteil!“ - Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Gott wird jeden einzelnen von ihnen fragen: „Hast du einen Menschen getötet?“ Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen - vor dem Kreuz Jesu Christi - für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig!

AMEN.

Gottes Herrlichkeit

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

uns ist das von vielen Darstellungen der Weihnachtskrippe vertraut: Vom göttlichen Kind geht ein Licht aus, das sich in den Gesichtern derer um die Krippe herum spiegelt. Bei Rembrandts berühmter „Anbetung der Hirten“ etwa. Und unsere Sprache kennt die Wendung vom „Strahlen über das ganze Gesicht“. Etwa wenn man frisch verliebt ist. „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“, trällerte vor 50 Jahren ein Schlager. Trivial, und doch einfach wahr. „Du bist verliebt.“ - „Wie kommst du darauf?“ - Man sieht es dir an, 10 Meter gegen den Wind! Du strahlst so. Bist sogar nachmittags noch gut drauf. Hast du jemand kennengelernt?“

Auch Mose glänzt. Er strahlt über das ganze Gesicht. Zum zweiten Mal kommt er vom Berg Sinai herab. Diesmal nicht einem hochglänzenden Goldenen Kalb entgegen, das ihn verstört und verdüstert. Sondern mit einem überirdisch strahlenden Gesicht, das nach seiner erneuten Gottesbegegnung den Glanz der Herrlichkeit und Nähe Gottes spiegelt. Heute, am letzten Sonntag des weihnachtlichen Festkreises, zwei Tage vor „Mariae Lichtmess“, ist der Glanz von Weihnachten verblasst und fast nur noch Erinnerung. Ein Christbaum strahlt anders an Heiligabend als Ende Januar (wo die allermeisten Christbäume eh längst entsorgt sind). Aber eigentlich ist das gut so, und soll auch so sein. Nur so kann es in 11 Monaten wieder diesen kostbaren Moment geben, wenn wir die verborgenen Schachteln mit den Sternen, Kugeln und Räuchermännchen wieder herholen und öffnen. Denn das Kostbare ist auch das Besondere, das sich nicht zu sehr in die Länge ziehen lässt. Davon erzählt auch dieser verrätselte Predigttext.

I.

40 Tage und Nächte war Mose weg gewesen von seinen Leuten, allein da oben auf dem Sina-Berg. Ganz nah bei Gott. Im Kapitel davor hatte er Gott angefleht: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“. Da hatte Gott ihm diese Bitte verwehrt und ihn in eine dunkle Felsspalte verwiesen, an der er dann nicht sichtbar vorüberzog. Jetzt zeigt sich Gott zugänglicher. Und Mose wird damit zu einem anderen Menschen. Stolz trägt er die neuen Tafeln mit den Zehn Geboten vor sich her, deren Originale er damals aus Zorn über das Goldene Kalb zertrümmert hatte. Ein sichtbares Zeichen, dass Gott diesen Treuebruch nicht seinerseits mit einem Bruch quittiert, sondern den gebrochenen Bund mit Israel erneuert hat. Was wird Mose ihnen nach ihrer Untreue gegenüber ihrem Befreier von Gott ausrichten? Nach dem Text sind es zuerst Aaron und die Fürsten Israels, die sich Mose in seinem Strahlenglanz zu nähern wagen. Auch sie hatten in der Krise kläglich versagt. Aaron hatte dem Verlangen des Volkes nach einer sichtbaren, glänzenden Darstellung der Gottheit nachgegeben und das Goldene Kalb entworfen. Die Befriedigung von erhitzten religiösen Bedürfnissen war ihm wichtiger als die Frage nach der Wahrheit Gottes. Würde er jetzt sein Strafurteil erhalten? Als nichts dergleichen geschieht, wagt auch das Volk, dem himmlischen Abgesandten näherzutreten. Und der hält keine Strafpredigt, sondern richtet ihm freundlich aus, was Gott ihm auf dem Berg Sinai gesagt hatte. Und auch zukünftig, wenn Mose dem Volk Botschaften von Gott überbringt, wird sein Gesicht von der göttlichen Begegnung widerstrahlen - während er sonst eine Decke, einen Schleier über dem Gesicht tragen wird, damit die Gotteserscheinung, die er erlebt, nicht banal wird. Sie soll nicht popularisiert werden - und vielleicht spielt auch mit, dass die Israeliten vor diesem überirdischen Glanz geschützt werden müssen, weil sie ihn nicht ertragen können. Wenn der große unendliche Gott allzu direkt kleinen endlichen Menschen erscheint, kann es auch ein Zuviel an Gott und seiner Herrlichkeit geben.

Liebe Gemeinde, was diese erneute Gottesbegegnung auf dem Sinai mit dem Mose macht, versteht man erst dann wirklich, wenn man sich seine Rollen in der bisherigen Geschichte vor Augen hält. Im Auftrag Gottes hatte er Israel aus der Sklaverei in Ägypten rausgeführt. Als Vermittler der Gebote Gottes hatte er das Volk in einen Bund mit seinem göttlichen Befreier hineingeführt. Doch schon als Mose auf dem Berg die beiden Gesetzestafeln zur Beurkundung dieses Bundes in Empfang nahm, fühlte sich das Volk unten in der trostlosen Wüste von Gott und der Welt verlassen. Es schuf sich ein Substitut, jenes Goldene Kalb, betete es an und ließ so seinen göttlichen Befreier einen guten Mann sein. Damit übertrat es das erste und das zweite Gebot. Genauso wie Gott, war Mose über den Götzendienst des Volkes empört; er zerschlug die Gebotstafeln zur Demonstration des zerbrochenen Bundes. Aber je länger je mehr stellte er sich doch solidarisch auf die Seite des Volkes, legte beherzt Fürbitte für es ein und rang mit Gott, dass er dieses flattrige Volk nicht ein für alle Mal abschreibt. Nach einigem Zögern erklärte sich Gott bereit, den gebrochenen Bund mit seinem Volk Israel zu erneuern. Er rief Mose zu sich auf den Berg und offenbarte ihm sein barmherziges Wesen, nachdem der ihn so leidenschaftlich bedrängt hatte, Gnade vor Recht walten zu lassen. Es war diese intensive Begegnung mit dem von Herzen gütigen Gott, die Moses Gesicht, ohne dass er selbst es merkte, so zum Strahlen brachte. Wenn er darauf mit diesem strahlenden Antlitz vom Berg hinabsteigt, dann spiegelt er in seiner Person die Barmherzigkeit Gottes wider, die die Erneuerung des Bundes ermöglichte. Ihn, der sich so selbstlos für das Überleben des Volkes eingesetzt hatte, ihn hat Gott zu seinem Heilsmittler bestimmt. Mose soll von nun an mit seinem verklärten Antlitz eine gütige, eine schonende Form der Gottesnähe verkörpern, in der jeder, auch der an schwerer Schuld tragende, auf Vergebung hoffen darf. Und solange sich das Volk an Mose und seine Botschaft erinnert, kann es der Treue Gottes zu seinem erneuerten Bund gewiss sein.

II.

„Weißt Du noch, wie, als wir von Gott sprachen in unserem Haus, der goldene Schimmer auf der Wand stand?“ So hat es Paul Celan als junger Mann in einem Brief an seine damalige Freundin Ingeborg Bachmann geschrieben. So von Gott reden können, dass goldener Schimmer aufglänzt: wenn wir das doch in diesem Jahr manchmal erleben könnten! Manchmal nur, denn wie gesagt, das Kostbare muss das Besondere, Seltene bleiben. Wie bekommen wir Zugang zu diesem Glanz der Nähe Gottes? In dieser Unmittelbarkeit, wie Mose es hier erlebt, ist uns das nicht verheißen. Da blieb Mose ein Solitär - auch davon zeugt jene seltsame Decke, von der unser Text berichtet. Wir begegnen Gott nur indirekt, gebrochen sozusagen, und gewissermaßen nur einem Abglanz seines Glanzes. In so einem „Schimmer, der an der Wand aufglänzt“. Durch menschliche Begegnungen manchmal, die uns unendlich gut tun. Und durch sein Wort, wie es uns in der Bibel geschenkt ist. Wie zum Beispiel durch das Evangelium dieses Sonntages, diesem auch sehr geheimnisvollen Bericht von der „Verklärung“ Jesu, der wie ein neutestamentliches Echo auf unseren Predigttext anmutet. Wir haben es vorhin gehört: Drei Jüngern Jesu wird auf einem hohen Berg ein kurzer Blick in die himmlische Welt gewährt, aus der Jesus stammt. Sein Gesicht strahlt plötzlich in einem blendenden Glanz, und seine Kleider gleißen in einem überirdischen Licht. Und aus einer Wolke tönt eine Stimme, mit der sich Gott, wie schon bei der Taufe Jesu, ganz und gar mit diesem einen Menschen, der bereit ist, sich für die Seinen aufzuopfern, identifiziert: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“.

Seltsamerweise ist Jesus in diesem besonderen Augenblick nicht allein. Denn die drei Jünger erblicken zwei weitere wichtige Mittlergestalten aus der Geschichte Gottes mit seinem Volk: Elia, der wie kein anderer Prophet Israel zu Gott zurückgerufen hatte und der darum zu Gott in den Himmel auffuhr - und eben Mose. Die Jünger sehen den verklärten Jesus mit Mose und Elia im trauten Gespräch, so als kennten sie sich lange. Das Bild der drei Gottesmänner wirkt so harmonisch, dass Petrus, wie immer initiativ und vornedran, spontan vorschlägt: „Hier ist gut sein, lasst uns drei Hütten bauen!“ Er will diesen einzigartigen Moment auf Dauer stellen. Sich da oben, wo alles schön und leicht erscheint und die Mühen der Ebene weit weg sind, häuslich einrichten, aus drei Hütten quasi ein kleines Tagungszentrum errichten, in dem die drei in aller nicht enden wollender Beschaulichkeit ihre religiösen Erfahrungen austauschen könnten. Aber das bleibt ein frommer Wunsch. Gott lässt sich, solange wir in dieser Welt sind, nicht einfach nur genießen. Es gibt ein Zuviel an göttlicher Herrlichkeit. Der Glaube an ihn ist kein religiöser Wellness-Event. Es geht wieder runter ins Tal, in den Alltag. Auf die frohen Feste folgen immer wieder die sauren Wochen.

III.

Liebe Gemeinde, wir sind gewohnt, Mose und Jesus zueinander in Kontrast zu stellen und wir können uns dabei durchaus auf Sätze aus dem Neuen Testament berufen, etwa den aus dem Johannesevangelium: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ (Joh 1,17). Aber Moses Rolle beschränkt sich nicht auf die des strengen Gesetzgebers. Er vermittelt in seiner Person auch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. So ist er zumindest ein Vorläufer von Jesus Christus, so wie das die Verklärungsgeschichte im Matthäusevangelium darstellt. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Rollen der beiden ähneln: Noch viel mehr als Mose steht Jesus einerseits auf der Seite Gottes, er ist ja Gottes Sohn. Zugleich solidarisiert er sich wie Mose mit den Menschen. Zuerst mit den schwachen, kranken, ausgestoßenen und sündigen Menschen in Israel, die er heilt, dann aber auch mit allen Menschen darüber hinaus, die ihn um Hilfe oder um Vergebung angehen. Noch viel konsequenter als Mose opfert sich Jesus für uns Menschen auf, nimmt stellvertretend in seinem Tod unsere Schuld auf sich, damit wir überleben, ja neu leben können. Und noch realer und folgenreicher als in der Verklärung des Mose bezeugt Gott in der Verklärung und Auferstehung Jesu seine Liebe und Treue zu uns Menschen im Neuen Bund, weil er mit uns Gemeinschaft haben will, auch über den Tod hinaus. Letztlich überbietet Gottes Identifikation mit Jesus diejenige mit Mose - so wie mit dem Erscheinen der Wolke und dem Ertönen der Stimme Gottes bei der Verklärung Jesu Mose und Elia in den Hintergrund gestellt werden. Nachdem Gott seinem Volk immer wieder Mittler wie Mose gesandt hat, um die gefährdete Beziehung zu ihm neu auszurichten, hat er am Ende selbst die Mittlerrolle auf sich genommen, ist uns in Christus selbst zum Heilsmittler geworden. Auf ihn können wir unsere Hoffnung richten, selbst wenn wir seine Macht und Größe als Schöpfer des Universums und Herr der Geschichte zuweilen kaum ertragen können und nicht verstehen. Da bleibt immer etwas Ambivalentes. Es bleibt Gott gegenüber auch eine Fremdheit, die sich nicht einfach in die kleine Münze vom netten, kumpelhaften „lieben Gott“ wechseln lässt. Gott ist heilsam und unerträglich.

Liebe Gemeinde, wenn aber Jesus Christus Ziel- und Höhepunkt einer langen Geschichte menschlicher Mittlergestalten Gottes ist, dann versteht es sich von selbst, dass wir als Christen in diese Geschichte mit einbezogen sind. „Das ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören!“: so setzt Gott seinen neuen Impuls, der die Geschichte der Kirche begründet. Der auferstandene Jesus wird zu seinen Jüngern sagen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Joh 20,21). Eine ungeheuerliche, zugleich eine unglaublich tröstliche, ermutigende Zusage. Wir alle werden somit von dem einen großen Heilsmittler Christus als seine Mitarbeiter, seine kleinen Mittler in die Welt gesandt, um in ihr Zeugen der Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes zu sein.

Und dabei spielt nun all das, was wir von Moses und Jesu Mittlerschaft lernen konnten, eine wichtige Rolle: Die Solidarität mit in Not und Schuld geratenen Mitmenschen, unsere intensive, nicht nachlassende Fürbitte für sie bei Gott und auch das strahlende Angesicht, mit dem wir ihnen gegenübertreten. Vor Weihnachten sah ich mal wieder den Film vom „Kleinen Lord“. Es ist einfach anrührend, wie hier ein kleiner Junge, der sich beharrlich weigert, die Bosheit und die Not seiner Mitmenschen zu akzeptieren, mit seinem strahlenden Kindergesicht das Misstrauen, den Dünkel und die Einsamkeit seines Großvaters hinwegschmelzen lässt und ihn wieder zu einem sozialen, barmherzigen und versöhnungsbereiten Wesen macht. Es ist wirklich kein Zufall, dass im Zentrum des Feindesliebegebots die Fürbitte für diejenigen steht, die uns verfolgen (Mt 5,44). Ja, die Fürbitte hat eine große entfeindende und solidarisierende Kraft! Sie öffnet, wie es schon Mose erlebt hat, den Zugang zu Gottes gütigem Herzen. Auch Mose hatte, als er von Gott herab stieg, seinen bitteren Konflikt mit dem Volk schlichtweg vergessen. Gebe Gott, dass etwas von dieser seiner wunderbaren Vergesslichkeit Gottes auch auf uns abstrahlt in diesem noch frischen Jahr.


AMEN.

Heilsame Ohrfeigen

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Paulus ist mit seiner Weisheit am Ende. In der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth sind tiefe Spaltungen entstanden. Die eine Gruppe sagte: Petrus, der ist eine echte, durch seinen Lebensweg an der Seite des Herrn beglaubigte Autorität. Ein echter Leader, der uns sagt, wo’s lang geht. So einen brauchen wir! - Die andere Gruppe propagierte: Nein, den können wir gar nicht hören. Viel zu konservativ und eng. Aber dieser Apollos, ein mitreißender Redner, charismatisch und intellektuell auf der Höhe der Zeit, mit dem haben wir Zukunft! - Und Paulus? Naja. Auch er ist zwar gebildet, aber sein rhetorisches Talent findet er selbst überschaubar. Lieber greift er in der Studierstube zur Feder und schreibt gelehrte Briefe. Zum Beispiel, was uns in diesem Predigttext überliefert ist: „Worum geht es hier eigentlich? Um unsere Weisheit? Wer am klügsten rüberkommt, in den Dialog mit den geistigen Größen der Zeit gehen kann? Oder geht es um Gottes Weisheit?“ - Für Paulus ist die Antwort klar. Es geht um das - wie er es nennt - tiefe Geheimnis, dass in dem Schrecken einer Hinrichtung am Kreuz höchste Weisheit verborgen ist. Gottes Weisheit eben. Mit seiner Weisheit, wie gesagt, ist Paulus am Ende. Aber über dieser Erkenntnis gerät er wieder und wieder ins Staunen.

I.

Direkt vor diesem Abschnitt erklärt Paulus der in die genannten Fraktionen gespaltenen Gemeinde in Korinth ganz klar: Die Botschaft vom gekreuzigten Christus, der gerade durch die Ohnmacht am Kreuz sich als Sieger, als Erlöser der Welt erweist, ist ein Ärgernis, eine Torheit. Ein Skandal und ein Rätsel für den gesunden Menschenverstand. Stellen wir uns einmal vor, das stünde nicht in der Bibel, wäre nicht vom großen Paulus gesagt: wir würden abwinken! Die Predigt vom Gekreuzigten, von dem, der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, ein Skandal und eine Torheit? Das verstehe, wer will! Wir hätten’s gerne andersrum: Das Evangelium als mitreißende Botschaft. Keine Torheit, sondern höchste Weisheit, von keiner Weisheit dieser Welt zu erreichen.

Aber wir feiern Gottesdienst nicht, um unsere Wünsche an Gott in den Mittelpunkt zu stellen, sondern um darauf zu hören, was er uns durch sein Wort in der Bibel sagen will. Wenn man so liest im Neuen Testament, dann merkt man, dass es schon den frühen Christen zugesetzt hat, dass ihr Herr kein strahlendes Alphatier war - sondern ein Gekreuzigter, ein am Galgen als Verbrecher zwischen zwei anderen Verbrechern Gehenkter. Ein Erhängter ist ein grauenhaftes Bild. Der allmächtige Gott, grausam hingerichtet: wenn das nicht wirklich ein Skandal ist! Man muss sich einmal klar machen, was mit einem Todesurteil ausgesagt ist: Du bist nicht mehr wert, in der Welt zu leben; aus unserem System von Normen, Werten und Idealen hast du dich definitiv und für immer verabschiedet. Wo kämen wir hin, wenn wir gelten ließen, was du bist!

Paulus hat nichts getan, um diesen Skandal abzumildern. Dass er das, was menschlich verständlich wäre, um keinen Preis tun wollte, dass er sich vehement dagegen wehrte, die Sache irgendwie zu beschönigen - das meint er, wenn er hier sagt: „Ich beschloss, nichts unter euch zu wissen als allein Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten“. Liebe Gemeinde, wir führen in unseren Liedern und Gebeten den Gekreuzigten zwar sehr selbstverständlich im Mund. Aber angesichts dessen, was der Apostel uns hier ins Stammbuch schreibt, sollten auch wir uns ehrlich machen und einfach zugeben, dass der gekreuzigte Jesus uns auch irgendwie peinlich, unangenehm ist. Ich denke dabei weniger an viele Bilder, in denen man das schreckliche Leiden Jesu ins Süßliche, Sentimentale gezogen hat - die „Christliche Kunst“, manchmal auch die Musik („Ruhe sanfte, sanfte Ruh“) hat da so allerhand angerichtet. Aber das ist nicht das eigentliche Ärgernis. Zu den schlimmen Erinnerungen an den Krieg gehört der Anblick derer, die die Nazis noch in den letzten Tagen vor dem Untergang an Bäumen und Laternen aufgehängt haben. Anna Seghers hat das in ihrem großen Roman „Das siebte Kreuz“ erschütternd dargestellt. Mitleid kam kaum auf, weil stärker das Grauen war: da waren Menschen gezeichnet, gestempelt von etwas Unsagbaren, das Paulus den „Fluch“ genannt hat. „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“, sagt er im Galaterbrief. Man erlebte damals nicht nur den Tod unschuldiger Menschen. Vielen war es, als sei Gott selbst gestorben. Das ist der wahre Skandal, den Paulus hier meint: Am Kreuz hängt nicht einfach ein großer, unschuldiger Mensch. Vom Kreuz Jesu geht der Geruch der Verwesung Gottes aus.

II.

Handfertiger, billiger ist das „Geheimnis Gottes“, das Paulus verkündigen wollte, nicht zu haben. Gestorben, hilflos verendet ist der Gott, von dem die Menschen träumen, von dem sie sich die Erfüllung ihrer Wünsche erwarten, den sie über den Sternen oder in der Tiefe ihrer eigenen Seele suchen. Den sogenannten „lieben Gott“ gibt es nicht mehr, den man beschwören, für politische Zwecke vereinnahmen oder dessen Gunst man sich durch Opfer erkaufen wollte. Leer ist der Platz eines Gottes, den man zum Zentrum einer Weltanschauung machen will, sei sie kapitalistisch, sozialistisch, kirchlich oder wie auch immer. Das alles sind ja sehr menschliche Sehnsüchte. Wir alle tragen sie in uns. Und darum ist es verständlich, wenn die Botschaft von einem Gott, der so anders ist, der so quer steht zu unseren Bedürfnissen, für uns ein Ärgernis, ein Skandal ist. Martin Luther King hat einmal gesagt: „Wer sich im Angesicht des Kreuzes noch nicht geohrfeigt gefühlt hat, dass ihm die Backen glühten, der hat das Kreuz noch nicht verstanden“.

Aber, und darauf kommt es nun an: das Wort vom Kreuz soll ein produktives Ärgernis sein! Ein Skandal, der - anders als die vielen Skandale in unserer Welt - uns nicht in Strudel und Abgründe an Peinlichkeit reißt, sondern der für uns, um unseretwillen geschieht. Denn das ist jene „heimliche, verborgene Weisheit Gottes“, wie Paulus sie nennt, die so anders ist als unsere Weisheiten: Gott hat sich den Schrecken der Welt ausgesetzt und sich das alles nicht erspart. Ihnen hat er sich selbst preisgegeben, und eben damit hat er ihnen ihre Macht genommen. Da, wo Menschen ganz schwach und klein, mit ihrer Weisheit am Ende sind, da ist der Boden, wo Gottes Kraft und Weisheit wächst. Da, wo Menschen, anstatt sich auf der Suche nach persönlichem Glück und Selbstverwirklichung aufzureiben, der Welt ungeschminkt ins Auge sehen, wie sie ist, und bereit sind, im Leiden Gott zu begegnen anstatt ihn zu bestreiten, da werden sie auch erfahren, dass Gott da ist. Denn seit dem Kreuz, diesem furchtbaren Werkzeug, mit dem er zu Tode gefoltert wurde, gibt es keine Schrecken mehr, in denen Gott nicht wäre. Mir ist unvergesslich, wie vor Jahrzehnten ein alter Pastor, der wegen seines Widerstandes gegen die Nazis Jahre im Gefängnis zubrachte, von dem Grauen dort erzählte. Ich konnte das nur ertragen, sagte er, weil ich wusste, dass auch das getragen war, dass auch das zu der Finsternis gehörte, in der Jesus umkam.

Paulus hat in Korinth keine Antrittsbesuche bei den Oligarchen und Honoratioren gemacht. Er ging zu den kleinen Leuten, ins Hafenviertel. Den dort in prekären Umständen lebenden Menschen hat er den nahegebracht, der am tiefsten im Elend steckte. Obwohl er aus ausgebildeter Rabbiner ein Intellektueller aus dem Lehrbuch war, hatte er jedes Mal Angst, wenn er den Mund aufmachte, weil er wusste: alle meine Worte sind umsonst, wenn nicht Gott selbst sie bestätigt. Und das hieß für Paulus: jeder macht sich verdächtig, der den Gekreuzigten anders predigt als mit Furcht und Zittern. Er wollte kein gefeierter Kanzelredner sein. Das hat er denen überlassen, die einen Christus verkündigten, der jedem wohl und keinem weh tut. Zu denen zu gehen, um die andere einen weiten Bogen machte war für Paulus ein Erweis von Gottes Kraft: weil es für Gott keine hoffnungslosen Fälle gibt. Am Kreuz hat Gott ja alle Hoffnungslosigkeiten der Welt sich aufgeladen.

III.

Wenn aber keiner unter uns für Gott ein hoffnungsloser Fall ist, dann ist es uns schlichtweg verboten, andere, oder uns selbst, zu hoffnungslosen Fällen zu stempeln. Dann gilt: Schluss damit, Schuld immer nur die der anderen sein zu lassen. Der Gekreuzigte verbittet sich das und sagt uns: Lass es sein, auf andere zu zeigen! Das ist ein Gift, das sich nicht erst seit Corona, aber seitdem in einem schrecklichen Ausmaß als Gift in unser Gemeinwesen eingeträufelt hat. Gott sagt uns: Lass es sein! Du kriegst davon ein hartes Herz und dein Gesicht wird auch nicht schöner. Und drei Finger deiner Hand zeigen ja auf dich selbst zurück. Sicher haben die anderen auch ihre Schuld. Aber um die habe ich mich schon gekümmert und sie ihnen abgenommen. Deine übrigens auch. Also lass das meine Sache sein! Und hör mit dem Krieg auf. Du wirst sehen: es ist viel schöner so.

Wer hat also Recht, das Kreuz oder wir? Jesus, der sich dahingab, oder wir, die wir uns selbst behaupten, unser Prestige, unsere Überzeugungen? Paulus ist sich da seiner Sache sicher - nein, nicht seiner, sondern Gottes Sache. „Uns aber, die wir gerettet werden, ist’s eine Gotteskraft“. Eine Kraft, die uns entdecken lässt: wir alle sind voreinander und erst Recht vor Gott im Unrecht. Wir alle wüssten nicht mehr aus noch ein, wenn wir nicht das wüssten: so viel können wir gar nicht falsch machen, wie Jesus am Kreuz wieder gut macht.


AMEN.

Gottes Logik der Erwählung

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Von einem unbekannten sog. Gottesknecht ist hier im zweiten Teil des Jesajabuchs die Rede. Was hier von ihm gesagt ist, soll auch für alle die gelten, die es nicht als Herabsetzung, sondern als Auszeichnung nehmen, wenn man sie „Knechte“ nennt: Gottes Knechte wohlgemerkt. Paulus jedenfalls hat sich selbst mit allem Selbstbewusstsein „Knecht Jesu Christi“ genannt (Röm 1,1).

I.

Dass Knecht genannt zu werden eine Auszeichnung ist, das ist uns allerdings fern wie nur was. Für uns ist dieses Wort negativ besetzt. Wir denken an den geknechteten, unfreien Menschen, der nicht frei sein kann, nicht frei sein soll. Im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es deshalb keine Knechte mehr - außer als Schimpfwort. „Folterknecht“, Henkersknecht“ etc. In den Monarchien gibt es Untertanen, bei uns gibt es Beschäftigte, Weisungsgebundene, es gibt Bedienstete und im schlimmsten Fall Abhängige.

Knechte - die gibt es nur noch inkognito. Aber so, verschwiegen und uneingestanden, gibt es sie reichlich: überall da nämlich, wo ein Mensch seine Macht über andere Menschen missbraucht, wo er die Abhängigkeit anderer ausnutzt. Da werden Menschen, um das Bild unseres Textes zu nehmen, wie Rohre geknickt, damit sie sich nicht mehr aufrecht halten können und dadurch erst recht abhängig sind von dem, der sie dann stützt und aufrecht hält - solange er will. Er kann sie jederzeit auch fallen lassen. In diesem üblen Sinn gibt es wohl viele äußerlich freie Menschen, die in Wahrheit moderne Knechte sind. Die Zahl derer ist riesig, die in den Beratungsstellen Hilfe suchen wegen Mobbing am Arbeitsplatz, dem sie sich ausgeliefert fühlen, weil sie um den Verlust ihrer Stelle fürchten. Oder man denke an die vielen Frauen, die von ihren Männern immer wieder mit physischer Gewalt klein gehalten werden. In Lockdown-Zeiten hat das, wie man immer wieder lesen kann, beängstigend zugenommen. In früheren Zeiten war das anders. Da musste Knecht kein Schimpfwort sein. Ein guter und treuer Knecht hielt etwas auf sich und konnte von seiner Herrschaft durchaus mit Achtung behandelt werden. Aber er blieb, und war er noch so gut und treu, eben ein Knecht. Er war nicht sein eigener Herr, er blieb abhängig.

Nicht so der „Gottesknecht“ aus dem Jesajabuch. Vielleicht ist Ihnen bei der Textverlesung aufgefallen, dass Gott in unserem Text den Knecht, auf den er sich stützen will, als den Erwählten vorstellt: „Siehe, das ist mein Knecht..., mein Erwählter“. Eine seltsame Kombination. Das passt doch nicht zusammen: Knecht und Erwählter! Einen Knecht ließ man arbeiten. Er hatte seine Pflicht zu tun. Hatte er die eine Aufgabe erledigt, dann wartete schon die nächste. Anders gesagt: Ein Knecht bringt seine Schuldigkeit niemals hinter sich. Meint er, sie jemals getan zu haben, kann er gehen, wie Shakespeares Mohr, weil er entbehrlich, ersetzbar ist. Ein anderer Knecht tut’s auch. - Einen Erwählten aber lässt man nicht gehen. An einem erwählten Menschen hat der Erwählende Gefallen - nicht weil er etwas für ihn tut, sondern weil er etwas für ihn ist. Deshalb will er nicht, dass er geht. Im Gegenteil: wo du hingehst, will ich auch hingehen - das ist die Sprache von Menschen, die sich erwählt haben. Die Sprache der Liebe. Sie wollen zusammenbleiben, weil sie füreinander unersetzbar geworden sind. - Knecht und Erwählter: zwei Welten prallen da aufeinander. Und dennoch heißt es: „Siehe, das ist mein Knecht, auf den ich mich stütze, mein Erwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat“. Wie geht das zusammen?

II.

Der unbekannte „Gottesknecht“ aus unserem Predigttext gehört zu den großen, umrätselten Gestalten in der Bibel. Seit über 100 Jahren arbeiten sich die gelehrten Ausleger daran ab, wer oder was sich hinter dieser Gestalt verbirgt. Manche meinen sogar, es sei gar keine Einzelperson gewesen, sondern der „Gottesknecht“ sei ein typologischer Ausdruck für das ganze Gottesvolk und seine besondere Sendung. Andere sagen wiederum ganz anderes. Sicher ist nur, dass er in der schweren Zeit der Verbannung des Gottesvolks in Babylon gelebt hat. Er konnte also noch nichts von dem gekreuzigten und auferstandenen Christus wissen. Dennoch hat die Kirche die Worte Gottes über ihn - man nennt sie in der Fachsprache „Gottesknechtslieder“ - von Anfang an auf Jesus Christus bezogen und in diesem „Gottesknecht“ einen geheimnisvollen Herold, einen Vorläufer des Gottessohnes gesehen. Des einen ewig Erwählten also, von dem Paulus in einem Hymnus gesagt hat: Er nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,7+8). Denn hier wie dort stimmt zusammen, was sonst nur als schroffer Gegensatz erscheint: erwählt, geliebt - und dennoch Knecht. Und darüber hinaus sagt nun die Kirche, seit es sie gibt, dass das auch für alle Mitarbeiter Gottes zutrifft. Also auch für uns. Wir alle sind erwählt und Knechte zugleich. Luther hat das genial in einen berühmten Doppelsatz gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Damit wir das wirklich verstehen, müssen wir darauf achten, was das für ein Herr ist, der sich einen Knecht in bedingungslosem Gehorsam hält - und ihn zugleich voller Liebe erwählt hat. Was es mit einem solchen Herrn auf sich hat, das kommt an dem heraus, was sein Knecht tut. Er bringt, so heißt es in unserem Text, Gottes Recht unter die Völker. Und er tut das, so wird hier weiter gesagt, ohne dabei das geknickte Rohr zu zerbrechen und den glimmenden Docht auszulöschen. Er bringt auf andere, nämlich auf Gottes Weise Recht in die Welt. Was bedeutet das?

Recht unter die Völker zu bringen, das war seit jeher eine große Sache. Mehr Achtung konnten die Völker früher ihren Herrschern nicht zollen, als wenn sie sie als gerecht bezeichneten. Der Kühne, der Große, selbst der Weise war nicht so geschätzt bei seinen Untertanen wie der Gerechte. Recht unter die Völker zu bringen, bis zu den entferntesten Inseln, wie es hier in einem schönen Bild ausgedrückt ist: das war und ist ein so heiß ersehntes wie immer noch weit entferntes Ziel der Menschheit. In der großen Mehrheit der Staaten dieser Erde ist Korruption an der Tagesordnung. Auch in mancher der westlichen Demokratien, die eigentlich als Vorbilder eines Rechtsstaats gelten. Erst dann, wenn überall auf Erden gerecht Recht gesprochen wird, kann man von der Menschheit sagen, dass sie menschlich ist. Deshalb lohnt es sich nie aufzuhören, für das Recht zu streiten und zu arbeiten. Und deshalb beeindrucken Menschen wie etwa der vor zwei Wochen verstorbene Desmond Tutu so sehr, die das ein Leben lang getan haben.

Der „Gottesknecht“ ist ein solcher Streiter und Arbeiter für das Recht. Indem er Recht unter die Völker bringt, bringt er Gott unter die Völker. Vor allem aber ist wichtig, wie er das tut. Dem Recht Geltung zu verschaffen, das geht in dieser Welt nicht ohne Gericht und Rechtsspruch. Die irdische Gerechtigkeit verlangt, dass Schuldige entsprechend der Schwere ihrer Schuld verurteilt werden. Suum cuique, jedem das Seine: Der alte römische Rechtsgrundsatz, nach dem jeder ohne Ansehen seiner Person strikt nach dem Maß seiner Tat zu beurteilen ist, ist bis heute ein Fundament aller Rechtsstaatlichkeit. Das antike Recht kannte das Ritual, über dem schuldig Gesprochenen einen Stab zu brechen. Und man hat damals auch ein für den Angeklagten brennendes Licht gelöscht, wenn man ihn für schuldig erkannt hatte.

Der „Gottesknecht“ spricht anders Recht. Das „geknickte Rohr“, also den schon angebrochenen Stab zerbricht er nicht, und den „glimmenden Docht“ löscht er nicht aus. Die für die Welt schon sichtbar Gerichteten - er richtet sie nicht hin, sondern begnadigt sie. Der Gottesknecht bringt also das Recht der Gnade unter die Völker. Und so bringt er Gott, bringt er einen gnädigen Gott unter die Menschen: der gerade mit denen unter uns, mit denen wir nichts mehr anfangen können oder wollen, wieder anfangen will. Wo bei uns verurteilt und hoffentlich gerecht verurteilt wird, bricht er den Stab nicht. Gott steht dafür ein, dass jeder Mensch nicht nur Täter, sondern zuerst und zuletzt Person ist, und dass er als Person noch mehr und anderes ist als seine Tat. Kein Mensch darf mit seinem Tun, und sei es noch so grauenhaft, ganz und gar identifiziert werden. „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch“: diesen einfachen, und einfach wahren Satz hat vor 21 Jahren der damalige Bundespräsident Johannes Rau auf dem Erfurter Domplatz gesagt, bei der Trauerfeier für die von einem Mitschüler umgebrachten Schüler und Lehrer eines Gymnasiums. Ein in der Situation damals auch mutiger Satz. Einfacher, klarer kann man kaum ausdrücken, was in der Politik gerne „das christliche Menschenbild“ genannt wird. Deshalb können Menschen, die an diesen Gott glauben, nicht für die Todesstrafe sein. Und deshalb ist es mir rätselhaft, dass in einem so christlich geprägten Land wie den USA eine große Mehrheit der Leute, die sonntags treu in die Kirche gehen, so entschiedene Anhänger der Todesstrafe sind.

III.

Unser Text weiß es besser: Wenn wir mit einem Menschen nichts mehr anzufangen wissen, aber auch wenn jemand mit sich selbst nichts mehr anfangen kann, wenn er am Ende ist - dann ist da immer noch der Gott, der mit ihm nicht am Ende ist. Den glimmenden Docht, dem jedes menschliche Leben gleicht, solange noch ein Herz in ihm schlägt, wird er nicht auslöschen. Und nun, liebe Gemeinde, fangen wir vielleicht an zu verstehen, was es heißt, dass wir Gottes Knechte und zugleich Gottes Erwählte sind. Jemanden erwählen, wie gesagt, heißt Gefallen an ihm haben, bei ihm bleiben und mit ihm immer etwas anfangen wollen. Gott kann und will in jeder, auch in der aussichtslosesten Lage noch etwas anfangen mit uns.

Sicher, nach dem Schema der Welt geht es anders zu. Recht muss durch Macht durchgesetzt werden. Immer wieder gab es auch solche, die unter Berufung auf Jesus die Welt mit Gewalt verbessern wollten. Jesus, der Gottesknecht, sieht das anders. Als ihm der Großinquisitor in Dostojewskis berühmter Legende erklärt, dass die Kirche Gewalt anwenden muss, weil sonst alles aus den Fugen gerät, antwortet Jesus ihm, indem er kein Wort sagt, sondern ihn küsst. Er hat die weltlichen Mittel abgelehnt. Immer wieder ist seine Kirche von ihm abgefallen, indem sie es auf „weltliche“ Weise versucht hat: mit Prunk und Pomp, mit Kreuzzügen und Scheiterhaufen, mit moralischem und gesellschaftlichem Druck. Jesus aber geht unaufdringlich durch die Welt. Er weiß, dass man mit Zwang die Menschen nicht für Gott zurückgewinnen kann. Druck schafft nur Gegendruck. Wo ein Mensch sich in aller Freiheit von Jesus anrühren und verändern lässt, da setzt sich Gottes Herrschaft durch - und damit sein Recht. So arbeitet Jesus, der erwählte Gottesknecht, für die Erwählung der Menschheit. Und so sind auch wir durch unsere Taufe erwählt.

Das ist allerdings wirklich eine Arbeit mit geknickten Rohren und glimmenden Dochten. Nach dem Leistungsprinzip, nach dem Motto: Du bist das, was du kannst und hast, haben sie wenig Wert. Ein geknicktes Rohr, ein angebrochener Stock geben nichts her. Man kann sich darauf weder stützen noch damit schlagen. Man zerbricht ihn besser und wirft ihn weg. Das ist unsere Logik des Verbrauchs. Die Logik der Erwählung hingegen gilt den geknickten Menschen, den angeknacksten Existenzen. Sie dürfen um Gottes willen nicht zerbrochen werden.

Genauso mit dem glimmenden Docht. Ein nur noch glimmendes Teelicht wärmt keine Kanne mehr. Man löscht es besser und ersetzt es durch eine neues. Aber ein glimmendes Lebenslicht, ein mühsam sich aufrecht haltendes Menschenleben, die vielen traurigen Gesichter, aus denen nur Hoffnungslosigkeit spricht - die fallen unter die Logik der Erwählung. Da gilt es, den glimmenden Docht ja nicht auszulöschen, sondern mit ihm in Gottes Namen wieder etwas anzufangen.

Gottes Knechte müssen nicht groß von sich reden machen. Nicht wir sind interessant. Interessant ist der Gott, der das erwählt, was vor der Welt schwach, unansehnlich und verachtet ist: eben glimmende Dochte und geknickte Rohre. Das ist dann die Arbeit der Liebe. Die Liebe hat keine Gewalt, sie ist wehrlos, das weiß eine Mutter, und wer das Schicksal einer Ehe vor Augen hat, der weiß es auch. Wer am meisten liebt, kann sich am wenigsten wehren. Das Kreuz zeigt uns: auch Gottes Liebe ist wehrlos. Man kann sie verlachen, wie damals, als er am Kreuz hing. Man kann sie vergessen und mit Füßen treten. Aber man kann sich in ihr auch bergen. Sie hat keine Gewalt, aber sie hat Kraft. Das ist ein Unterschied, und man kann sich noch daran halten, wenn die Gewalten vergangen sind.


AMEN.

Predigt gehalten von

Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des ZDF-Neujahrsgottesdienstes aus der Frauenkirche

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Liebe Gemeinde an den Bildschirmen,

zu meinen Kindheitserinnerungen gehört, dass meine Eltern eine Zeitlang großen Wert darauf legten, dass wir Kinder Sonntags zum familiären Kirchgang ein weißes Hemd tragen. Ich fand das natürlich doof. Aber ich weiß noch gut, wie sich mit der Zeit dann doch so eine Vorstellung in mir breit machte, dass man nicht einfach so zu Gott kommen kann. Man muss sich schon fein machen. Also ein weißes Hemd - eine weiße Weste? -, um bei ihm wirklich willkommen zu sein.


I.

Mehr als 50 Jahre ist das her. Die Losung für das neue Jahr hat mich daran denken lassen. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Ein schönes, warmes Bibelwort. Ein klares, einfaches Versprechen. An der Schwelle zum neuen Jahr tut es mir gut zu hören: Vor der Tür zu Gott steht keiner und kontrolliert meine Performance. Da geht es anders zu als vor der Disco, wo der Türsteher nach Gutdünken den Daumen hebt oder senkt, wer reinkommen darf. Es tut mir auch deshalb gut, dass Gott keine Einlassbedingungen aufstellt, weil ich weiß, dass das für viele, die darum ringen, einen Zugang zu Gott zu bekommen, gar nicht so selbstverständlich ist.

Denn wenn man genauer hinschaut, dann könnte man dieses Jesuswort ja auch so hören, dass sein schönes Versprechen fragwürdig erscheint. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Der erste Teil des Satzes „Wer zu mir kommt“ sagt ja ziemlich klar: ich muss erst einmal den Weg zu ihm gefunden, es dahin geschafft haben. Den ersten Schritt muss ich machen. Scheint es jedenfalls. Du musst schon glauben, dich ernsthaft bemühen, sonst erfährst du Gottes Liebe und Barmherzigkeit nicht. Über Jahrhunderte haben solche Mahn- und Moralpredigten Übles angerichtet. Bei manchen Christ*innen wirkt das bis heute nach. Zwar sagt Jesus von sich „Ich bin die Tür“. Aber er sagt eben auch: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“. Bin ich auserwählt? Oder droht mir am Ende das Nichts, lande ich bei denen, von denen es heißt: „Die im Dunkeln sieht man nicht“? Für nicht wenige Menschen ist das bitter erfahrene Wirklichkeit. Ersehnte, lange gesuchte Türen bleiben verschlossen. Ich komme nicht da rein, wo die anderen sind, die im Licht. Ich bleibe buchstäblich „draußen vor der Tür“. Gewogen und zu leicht befunden.

Gibt uns diese Jahreslosung also doch nicht nur eine schöne Einladung, sondern durch die Hintertür auch das mit: Gott wird nur den nicht abweisen, der zu ihm gekommen ist, der wirklich etwas von ihm will!? Gilt bei Gott tatsächlich die schöne Devise: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit? Oder ist die Angst berechtigt, dass die Tür bei Gott auch verrammelt bleiben kann? Das dann auch alles Rütteln an der Klinke, alles Rufen „Ich will da rein!“ nichts nützt?

Bei mir hat es damals schon seine Zeit gebraucht, bis mir aufgegangen ist: Nein, Gott schaut nicht auf die porentief reine Weste. Bei ihm geht es nicht so, dass ich mir einhämmern muss: Ich bin okay, alles okay! Gott heißt mich anders willkommen: Nein, manchmal bist du gar nicht so okay, ich sehe auch die Schatten und Peinlichkeiten bei dir - denn du bist ja ein Mensch. Aber gerade so habe ich dich unendlich lieb! Deshalb steht meine Tür sperrangelweit offen für dich.

Das war ja schon die weihnachtliche Erfahrung der Hirten in der Heiligen Nacht. Die kitschige Idylle, die die Weihnachtstradition um sie herum aufgebaut hat, hat mit dieser Berufsgruppe in Wahrheit wenig zu tun. Selbst wenn einer von ihnen die Idee gehabt hätte, für die Begrüßung des Krippenkinds wäre ein weißes Hemd angemessen - sie hätten gar keins gehabt! Ausgerechnet die sind nicht nur die ersten irdischen Adressaten der unglaublichen himmlischen Botschaft von der Geburt des Erlösers. Sie sind auch die ersten, die nach hektischem Gerenne den Viehstall vor den Toren der Stadt erreichen - und dort ganz persönlich erfahren, was dieses Baby in der Futterkrippe 30 Jahre später von sich sagen wird: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Fassen, begreifen, was das für sie bedeutet, können sie das jetzt noch nicht. Sie können jetzt erstmal nur zur Ruhe kommen und staunen: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“

II.

Ganz anders, aber doch irgendwie ähnlich wie bei den Hirten ist es mit dem Zollbeamten Zachäus, dessen erstaunliche Geschichte wir vorhin gehört haben. Als Geldabpresser ist auch er eine finstere Figur. Dieser neureiche Parvenü klettert wie ein Schuljunge auf einen Baum. Ein unmöglicher Mensch in einer unmöglichen Situation. Kaum hat Zachäus sich da oben in den Ästen eingerichtet, macht er die Erfahrung, dass Jesus alle Klimmzüge, die Zachäus unternommen hat, um ihn zu sehen oder selbst gesehen zu werden, souverän unterläuft. „Zachäus, komm schnell da oben runter, heute Nacht muss ich bei dir bleiben!“ sagt Jesus zu dem tragikomischen Mann im Baum. Er lädt sich, ganz unkonventionell, als Gast bei Zachäus ein.

Und, das ist auch wichtig: Jesus redet ihn mit seinem Namen an. Zachäus, das heißt wörtlich übersetzt: Gott gedenkt deiner. Darin steckt: Du, Zachäus, bist nicht nur einer, der es abgezockt zu Reichtum gebracht hat, du bist auch nicht nur einer, dessen Geschichte von geheimer Tragik umweht ist. Nein, zuerst bist du ein Mensch. Das heißt: Gott hat schon an dich gedacht, als an dich noch gar nicht zu denken war, ehe du davon wusstest. Und jetzt ist der Moment, wo du erfahren sollst: Gott meint jetzt dich, gerade dich, der du diesen Namen trägst, mit dir hat er etwas vor, was dein Leben verändern kann. Deshalb, schnell runter von deiner unmöglichen Lage auf diesem Baum. „Heute muss ich in deinem Haus einkehren“: Heute, nicht morgen oder in zwei Wochen. Und ich komme zu dir, du musst dir nicht den Kopf zerbrechen, wie du zu mir kommst! Weil ich immer schon an dich gedacht habe, immer schon da war, auch wenn du es gar nicht gemerkt hast.

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“: so ist das also auch mit unserer Jahreslosung. Zu Gott kommen, mich zu ihm in Bewegung setzen, das kann ich überhaupt nur, weil er sich längst zu mir aufgemacht hat, weil er zu mir gekommen, immer schon da ist in meinem Leben. Irgendwie ist das so wie in der alten Legende von den beiden Mönchen. Die geht so:

Zwei Mönche lasen in einem Buch, am Ende der Welt gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. Sie beschlossen loszuziehen und den Ort zu suchen. Sie durchwanderten die Welt, bestanden Gefahren, erlitten Entbehrungen. Sie suchten den Ort - eine Tür sei dort, man brauche nur anzuklopfen und befinde sich bei Gott. Schließlich, nach Jahren des Wanderns, fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür. Bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete. Als sie eintraten, standen sie - daheim in ihrer Klosterzelle. Da begriffen sie: Der Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren, ist auf dieser Erde, an dem Ort, den Gott uns zugewiesen hat. (Nach Ernst Lange)

Ich komme nochmal aufs weiße Hemd meiner Kindheit zurück. Kennen Sie das Bestattungsritual der gekrönten Habsburger Häupter? Zuletzt vor 30 Jahren in Wien zu erleben, als die letzte Habsburgische Kaiserin Zita gestorben war. Vor dem Portal zur Kapuzinergruft steht der Zeremonienmeister mit dem Sarg und klopft. „Wer begehrt Einlass?“ ruft von drinnen ein Mönch. Der Zeremonienmeister antwortet protokollarisch korrekt mit einer Kaskade von Titeln: „Ihre Majestät, Zita, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, Königin von Böhmen, Dalmatien, Kroatien, Slavonien, Galizien,“ und und und. Der Mönch lässt dazu knapp verlauten: „Ich kenne sie nicht.“ - Wieder klopft der Zeremonienmeister. Wieder die Frage von innen: „Wer begehrt Einlass?“ Der Zeremonienmeister fährt mit noch mehr Titeln der Verstorbenen auf. Und wieder dieselbe lapidare Antwort von innen. - Dann wir ein drittes Mal angeklopft. „Wer begehrt Einlass?“ - „Zita, ein sterblicher, sündiger Mensch“, heißt es dieses Mal vom Zeremonienmeister. Darauf der Kapuzinermönch: „So komme sie herein!“ Dann öffnet er die Flügeltüren.

Eigentlich sind wir ja alle gekrönte Häupter. Gekrönt mit Gottes unendlicher Liebe. Sie wird uns auch durch das annus domini, das Jahr des Herrn 2022 tragen. Garantiert.

AMEN.