Kanzelworte
Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.
2022
Gottes Liebe: alle Jahre frisch und neu
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Schwestern und Brüder,
Altjahrsabend: das ist wie das wie das nachdenkliche, etwas melancholische Betrachten einer herunterbrennenden Kerze. In den letzten Stunden des Jahres flackert sie noch einmal auf und wirft einen Schein auf Erlebtes im vergehenden Jahr. Sie lässt mich fragen: wie war dieses Jahr 2022? Und natürlich auch: wie war es für mich, und für die, die ich liebe?
In diese Stimmung hinein gibt uns unser Predigttext eine alles entscheidende Antwort. Wie immer dieses 2022 für uns gewesen ist, was immer 2023 für uns bringen wird, eines ist auf jeden Fall gewiss: Wir haben einen Gott, der für uns ist! – „Ist Gott für uns, wer sollte dann noch gegen uns sein?“: diese rhetorische Frage, mit der Paulus diesen Predigtabschnitt beginnt, klingt wie ein Fanfarenstoß! Hätte Bach diese Aussage vertont, er hätte dazu sicherlich Pauken und Trompeten eingesetzt wie beim Anfang des Weihnachtsoratoriums. Diese Schlussverse aus dem 8. Kapitel sind ein Gipfelpunkt in dem grandiosen Gebirge des Römerbriefs.
I.
Gott ist für uns! Gott ist keine rätselhafte, undurchdringliche „Vorsehung“, die in einem Stellwerk sitzt und den einen Lebenszug gut durchkommen, den anderen schrecklich entgleisen lässt. Von nichts und niemandem gezwungen, hat Gott neben sich noch Anderem Existenz und Freiheit gegönnt: uns Menschen als seinem Bild, bestimmt zur Gemeinschaft mit ihm. Auch wenn dieses Jahr 2023 wie selten eines in der jüngeren Vergangenheit gezeigt hat, wie sehr wir Menschen diese Gemeinschaft bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Gott aber lässt sich davon nicht verzagen, sondern brennt nur in umso tieferem Heimweh nach uns und seiner Welt. „Welt ging verloren, Christ ist geboren!“ In dem Kind in der Krippe, dem größten Geschenk, das wir Menschen bekommen können, verdichtet sich wie in einem Brennglas: Gott ist für uns! „Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“, fragt Paulus hier.
Dass er für mich ist: das ist das Wichtigste, was wir von einem anderen Menschen wissen und sagen können, jedenfalls wenn er uns etwas bedeutet. Am intensivsten, existentiellsten wird das natürlich in der Liebe. Auch in diesem Paulustext ist dies das entscheidende Wort, auf das alles wie auf einen strahlenden Schlussakkord zuläuft. Die Liebe zwischen uns Menschen lebt ja, wenn sie gelingt, immer in einer Balance von Selbsthingabe und Selbstbehauptung. Besonders schön hat das der Dichter Reiner Kunze in Sprache gebracht:
Rudern zwei ein Boot,
der eine kundig der sterne,
der andre kundig der stürme,
wird der eine führn durch die sterne,
wird der andre führn durch die stürme,
und am ende ganz am ende
wird das meer in der erinnerung
blau sein
Glücklich, wem es geschenkt ist, das so von seiner Liebe sagen zu können! Es kann ja auch ganz anders gehen. Unsere Liebe hat Grenzen. Sie kann nicht alles. Wie viele Menschen meinen, sie könnten mit ihrer Liebe die Depressionen, den Alkoholismus oder die Arbeitswut des Partners heilen. Das ist verständlich, aber es übersteigt unser menschliches Maß. Liebe vermag enorm viel - aber eben im Maß des Menschlichen. Und das bleibt immer bruchstückhaft.
Paulus hat nun aber nicht unsere menschliche Liebe vor Augen. Sondern den, der nicht nur, wie wir, Liebe hat - mal mehr, mal weniger -, sondern der selber die Liebe, und nichts als die Liebe ist. Mit einem Glaubensstolz, der uns heute unendlich fern gerückt scheint, buchstabiert Paulus hier, dass Gott ein für alle Mal Ja zu uns gesagt hat, dass er ein Immanuel, ein Gott-für-uns ist. Paulus hat überreich erfahren, was Gottes Liebe ist und bewirken kann. Er kann wahrlich ein Lied davon singen und er hat keine falsche Bescheidenheit, es zu tun. Dieser von Menschen verfolgte, von Krankheit und Ängsten gequälte Apostel könnte von ganz anderen Dingen Lieder singen: von Trübsal und Angst, von Hunger, Gefahr und mörderischem Schwert. Dennoch stimmt er selbstvergessen, fast übermütig ein Werbelied für die Liebe Gottes an. Es wirbt in einer Welt, die damals wie heute voll von Macht, Gewalt, Lieblosigkeit ist, unbeirrt für die Ohnmacht der Liebe Gottes. Sieben eindringliche Worte bringt Paulus hier, um anschaulich zu machen, was die sog. unerlöste Welt ausmacht. Das ablaufende Jahr hat das beklemmend konkret werden lassen.
II.
Am unmittelbarsten gilt das wohl für das Wort Schwert. Es steht für das, was den 24. Februar zu einem tiefen Einschnitt gemacht hat. Mit einem Vorher und Nachher. Nicht zufällig ist Olaf Scholz‘ Wording von der „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres gewählt worden. Das Schwert, die unselige Macht der Waffen scheint wieder den Lauf der großen Politik zu bestimmen. Vermeintliche Gewissheiten, bei uns in der evangelischen Kirche ein in den letzten Jahren dominierender Pazifismus, sind brüchig geworden, haben an Glaubwürdigkeit verloren. Es ist uns wie Schuppen von den Augen gefallen, auf wie dünnem Eis wir unterwegs sind. Mit Paulus‘ Eingangsfrage zu unserem Textabschnitt gesprochen: Was sollen wir hierzu sagen?
Nicht für uns, aber im globalen Süden beklemmend unmittelbar dann das Wort Hunger, das Paulus hier auch nennt. Die Auswirkungen von Putins Krieg auf die weltweiten Lieferketten haben die Bemühungen um ein Zurückdrängen des Hungers v.a. in Afrika um Jahre zurückgeworfen. Bei uns wiederum geraten Menschen aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten in Existenznöte. Ich denke an eine Familie, drei Kinder, die gerade ein Haus gebaut hat. Beide Eltern berufstätig - und doch wissen sie gerade nicht, ob sie das neue Haus halten können, weil die Inflation ihren Finanzierungsplan total durcheinandergeworfen hat.
Oder die Worte Trübsal und Angst aus unserem Text. Für wie viele Menschen ist Corona noch lange nicht Vergangenheit, weil sie an Long-Covid-Schäden leiden, oder weil sie - vor allem junge Leute - von Angststörungen gequält werden aufgrund der langen sozialen Isolationen. Der Krieg hat das dann noch potenziert, so dass mancher sich nur noch vorstellen konnte, seinen Alltag im geschützten Raum einer Psychiatrie zuzubringen.
In all diese Erfahrungen der Gebrochenheit der Welt und unseres Lebens, die Paulus mit den sieben großen Worten zur Sprache bringt, mischt er sich mit seinem Werbelied für Gottes Liebe ein. Denn gerade diese nach allen weltlichen Maßstäben ohnmächtige, ja lächerliche Liebe wird für Paulus am Ende einmal alles zum Besten wenden. Paulus wirbt hier für Gottes Liebe, indem er von dem spricht, der uns diese Liebe greifbar, anschaulich macht: „Jesu Christus ist hier, der gestorben, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ Das klingt wie ein feierliches, steiles Bekenntnis. Zugleich sagt Paulus hier etwas sehr Elementares. Wen ich gern habe, den habe ich auch gern bei mir. Und wen ich gern bei mir habe, der darf auch ein wichtiges Wort bei mir mitreden. Christus ist ganz nah bei Gott, „zu seiner Rechten“, wie Paulus schreibt. Er redet mit, wenn Gott „regiert“: zu unseren Gunsten, als unser Anwalt. Er mobilisiert Gottes Liebe, um sie mit vollen Händen an uns auszuteilen.
III.
Aber Vorsicht an der Bahnsteigkante: von Gottes Liebe ist die Rede - nicht von Gottes Macht. Gottes Liebe und seine Allmacht: sie sind zwar nicht voneinander zu trennen, aber sie sind genau zu unterscheiden. Anders als wir will Gott seine Siege durch Liebe erringen, nicht durch Ausübung von Macht. Darum wirbt Gott durch die Ohnmacht des Todes Jesu. Deshalb darf auch die Kirche kein weltlicher Machtfaktor sein, wie wir es verstörend bei der Kirche in Russland sehen. Sie ist nur Kirche Christi, wenn sie ein Faktor der Liebe ist. Deshalb kann die Kirche nicht anders als immer wieder durch offene Herzen und Hände zu bezeugen, dass die Tradition des christlichen Abendlandes nicht bei Ressentiments, Kraftmeierei und Aggressionen zuhause ist.
Paulus‘ Werbelied für Gottes Liebe verspricht keinen weltlichen Erfolg. Keine revolutionären Veränderungen unserer weiß Gott verbesserungsbedürftigen Welt. Es verspricht auch keine Gesundheit an Leib und Seele. Gottes Liebe macht keinen Arzt, keinen Therapeuten überflüssig. Nicht einmal den Tod, auch nicht den gewaltsamen, von ihm ausdrücklich verbotenen Tod kann Gottes Liebe verhindern. Denn mit seiner Allmacht mischt er sich nicht ein in die Machtkämpfe der Welt. Die überlässt er uns. Von Gottes Allmacht, liebe Gemeinde, trennen uns Welten. Wenn wir auf Kraftakte Gottes warten, weil wir all das Leid in dieser Welt nicht mehr aushalten und meinen, Gott müsse da doch dazwischenfahren, dann warten wir umsonst. Denn es ist das Wesen der Liebe, dass sie ohnmächtig ist gegenüber allem, was nicht Liebe ist. Das hat jede/r von uns beim ersten Liebeskummer auf dem Schulhof erfahren. Diese Ohnmacht, die Gewaltlosigkeit der Liebe braucht unsere Welt mehr als alle Macht und Gewalt. Und weil Gott das weiß, mischt er sich mit seiner Macht nicht in den Lauf dieser Welt. Uns hat er seine Erde anvertraut. Es ist unser, nicht Gottes Versagen, das sich in den Geschehnissen spiegelt, die 2022 für viele Menschen zu einem annus horriblis gemacht haben. Martin Luther hat gesagt: „Wir sollen beten, als ob alles Arbeiten nichts nützte. Wir sollen arbeiten, als ob alles Beten nichts nützte.“ Das gilt auch für die Lage in Europas Osten. Wir Menschen müssen es schaffen, dass in der Ukraine einmal wieder die Waffen schweigen. Und neben allen gewaltlosen Mitteln der Hilfe kann zu dieser Friedensarbeit - wir haben es in diesem Jahr vielleicht wieder lernen müssen zu akzeptieren - auch die Lieferung von Waffen gehören.
IV.
Am Ende des Tages aber – so singt Paulus in seinem Lied – werden wir „in dem allen einen herrlichen Sieg erringen durch den, der uns liebt.“ Und deshalb ist Paulus, deshalb ist der Glaube, deshalb bin ich gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Weltmächte, weder die Gegenwart noch die Zukunft, weder Höhen noch Tiefen noch sonst irgendetwas uns von Gottes Liebe trennen können, die in Jesus Christus greifbar und anschaulich da ist. Von Gottes Allmacht, wie gesagt, trennen uns Welten. Von seiner Liebe trennt uns kein Augenblick. Es mag alles gegen mich sprechen. Gottes Liebe spricht für mich. Und anders als unsere menschliche Liebe ist sie unerschöpflich. Zwischen ihn und die Welt, die er aus Liebe ins Dasein gerufen hat, kann nichts endgültig Trennendes treten. Gottes Verliebtheit in diese Welt kommt nicht nur nie ans Ende, sie ist alle Morgen – und alle Jahre! – frisch und neu.
Wie gut, liebe Gemeinde, dass dieser rein weltliche, christlich gesehen belanglose Wechsel eines Kalenderjahres vom anderen Rhythmus des Kirchenjahres umgriffen ist. „Heut schließt er wieder auf die Tür…“: es ist die Tür zu einer Welt, in der „der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein wird“ (Off 21,4). So wird im letzten Bibelbuch beschrieben, was hinter dieser Tür auf uns wartet. Wir können vertrauensvoll den Ausgang unseres Lebensspiels erwarten: weil wir einen Anwalt „zur Rechten Gottes“ haben, der unseren Prozess schon gewonnen hat, noch ehe der begonnen hat. Was immer uns das neue Jahr vielleicht an Niederlagen, Tiefschlägen bescheren mag – am Ende sind wir Gewinner. Wir wissen nicht, was 2023 uns bringen wird. Aber wir wissen, wen es uns bringen wird. Es ist der, der von sich und uns gesagt hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28).
AMEN.
Die PR-Agenten der Weihnacht
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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„Und es waren Hirten in derselben gegen auf dem Felde“. Zwar ist eines der populärsten Bilder, das die Bibel für Gott findet, das eines Hirten. Aber die durch zahllose kitschige Darstellungen beförderte Vorstellung eines romantischen Naturidylls ist fehl am Platz. Als Hirte zu arbeiten war damals ein extrem hartes Brot. Einheimische gaben sich für dieses trostlose Leben unter freiem Himmel selten her. So stellte man als Aufseher für die Schafherden umherziehende Wanderarbeiter ein, die sich in der Fremde ihr Geld verdienten. Eher eine zweifelhafte Corona, wie häufig bei vagabundierenden Leuten. Hartgesotten waren sie und abgebrüht, manche sicher mit so mancher Leiche im Keller. Bezeichnend jedenfalls, dass wir eigentlich nichts über sie wissen. Wir wissen nicht, wie viele da nachts ihre Schafe hüteten vor den Toren von Bethlehem. Kein Hirte wird in der Weihnachtsgeschichte beim Namen genannt. Dabei ist der erste von ihnen, der schließlich den Stall erreicht hat, doch ein Zeuge von welthistorischer Bedeutung, der es wahrlich verdient hätte, mit seinem Namen in die Geschichtsbücher einzugehen!
Wenn ich darüber nachsinne, finde ich es immer wieder erstaunlich und auch ein Zeichen für das Wunderbare, all unser Verstehen Übersteigende dieser Heiligen Nacht, dass diese abgezockten Figuren nicht ihre Ohren nicht auf Durchzug stellen gegenüber dem, was sie da in ihrer Tiefe aus der Höhe zu hören bekommen. Sie lassen sich auf die unglaubliche Mitteilung aus Engelsmund ein. Freilich, und darin sind sie uns Heutigen durchaus nah: ein Stück Skepsis hat den Hirten auch der Engel nicht austreiben können. „Ich glaube nur, was ich sehe“ – dieses Dogma unserer Zeit scheint auch das Motto der Hirten zu sein. Mit eigenen Augen sich überzeugen wollen sie schon, ob da was dran ist. Das wollen wir doch erstmal sehen! Sie machen die Probe aufs Exempel und ziehen los.
Der Engel hat sie dazu nicht aufgefordert. Das kommt aus eigenem Antrieb; ein Sekundeneinfall, der sich wie ein Lauffeuer zwischen ihnen ausbreitet: „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist“! Wer im Ohr hat, wie Bach im Weihnachtsoratorium diesen Ausruf in Töne bringt, in Form einer unruhigen, immer drängender werdenden Chor-Fuge, der hat das so richtig vor sich, was für ein hektisches Gerenne da einsetzt auf dem Feld. Was immer es ist, das die Hirten treibt, bei manchen sicherlich pure Neugier oder Sensationslust: Irgendwie beginnen sie an ihrem Unglauben zu zweifeln und lassen sich auf die Botschaft von der Geburt des Heilands der Welt ein.
Und dann finden sie den Stall mit dem Neugeborenen. Was sie da sehen, ist gar nichts Außergewöhnliches. Ein brüllender Säugling, über ihm die Eltern mit der geburtstypischen Mischung aus Erschöpfung, Glück und Überforderung: das war und ist immer und überall so. Zudem sind die Rahmenbedingungen dieser Geburt ja noch dürftiger als gewöhnlich. Aber für die Hirten ist entscheidend, dass es gerade so ist. „Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“: Gerade diese profane Kläglichkeit von Stall und Futtertrog ist für die Hirten das unwiderlegbare Signal, dass ihnen der Engel nichts vorgemacht hat. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Es ist also kein Opium fürs Hirtenvolk, sondern es ist wahr: Gott ist mitten drin im Alltag der Welt, greifbar und anschaubar.
Und doch ist das alles bis zu diesem entscheidenden Moment erst ein Vorspiel gewesen. Denn die eigentliche, die unverzichtbar wichtige Rolle der Hirten in jener Nacht - die beginnt jetzt erst. „Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war...“: Sie behalten das, was sie gehört und gesehen haben, nicht für sich, als Herrschaftswissen einer elitären Blase. Nein, sie bringen ihr Erlebnis unter die Leute, sie werden zu Lobbyisten des Krippengeschehens. Offenbar waren sie d auch ohne Fernsehen und Internet durchaus erfolgreich. Sonst wären nicht alle Jahre wieder in der Heiligen Nacht die Kirchen so brechend voll.
Fast genauso erstaunlich wie, dass ausgerechnet sie die ersten Zeugen und Ausleger des Weihnachtswunders werden, ist es, dass sie danach keine steile Karriere machen, ihre abgewetzten Feldjacken nicht gegen schicke Designerklamotten eintauschen und von Agenturen unter Vertrag genommen werden. Wäre das alles heute passiert, die Hirten wären vor keiner Einladung zu Lanz und Maischberger sicher gewesen. Stattdessen tauchen sie wieder ins Dunkel der Nacht ein, aus dem sie gekommen waren. Als Menschen aus Fleisch und Blut verlieren sie sich wieder; die Bibel erwähnt sie kein einziges Mal mehr. So teilen sie das Schicksal eines Homer oder Shakespeare, von denen man kaum mehr weiß als dass es sie gegeben hat - aber ihre Spur in Gestalt ihrer Verse bewegt die Welt bis heute. So auch die Spur, die die Hirten durch ihre Kommunikationsarbeit gelegt haben: die hat sich tief und unverlierbar in die Geschichte dieser Welt eingegraben. Sonst stünde nicht noch heute, nach mehr als 2000 Jahren, in der Heiligen Nacht die Welt still.
Amen.
»Willkommen, süßer Bräutigam!«
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Schwestern und Brüder,
Weihnachten: der große unendliche Gott wird ein kleiner endlicher Mensch. Das ist das denkbar größte, unfasslichste Geheimnis. Unsere gesamte, in diesen Zeiten oft und mit vielen schrägen Tönen beschworene abendländisch-christliche Kultur kommt und lebt aus diesem Geschehen, in dem Himmel und Erde sich nicht nur für einen kurzen, seligen Moment berühren, sondern unauflöslich für alle Zeit miteinander verbinden. Das sprengt alle Möglichkeiten, dieses Wunder mit sprachlichen Mitteln irgendwie zu fassen. Da gilt erst recht: Mehr als Worte sagt ein Lied! So hat Weihnachten wie kein anderes Fest der Christenheit Klänge, Lieder, Kompositionen in unendlicher Fülle hervorgebracht. Und deshalb nehmen wir uns heute am auch besonders viel Zeit und Raum zum Singen - auch mancher Weihnachtslieder, die an Heiligabend und am 1. Christtag kaum gesungen werden, einfach weil sie nicht so populär sind.
I.
Zu diesen gehört auch der eben gesungene Choral „Brich an, du schönes Morgenlicht“. Musikliebhabern ist er wahrscheinlich aus Bachs Weihnachtsoratorium vertraut. Weihnachten, „Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute“! Das heißt: Gott hat unendliches Heimweh nach dieser ihm verloren gegangenen Welt. Heimweh kann nur ein wirklich liebendes Herz empfinden. Gott hat sich in diese Welt hineingeliebt. Sonst gäbe es Weihnachten nicht. In der 2. Strophe von „Brich an, du schönes Morgenlicht“ haben wir gesungen: „Willkommen, süßer Bräutigam, du König aller Ehren!“ Auch hier also, wie vor allem in etlichen Adventsliedern, eine zarte, gefühlige Liebesmetaphorik, um das Kommen Gottes in diese Welt ins Wort zu bringen. Gott wird hier in das Bild des liebenden, aber auch des geliebten Bräutigams gebracht. Biblisch verbinden dieses Bild eher mit dem Ewigkeitssonntag und seinem Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen, die auf den zur Hochzeit kommenden Bräutigam warten. Aber so unweihnachtlich ist das Bild gar nicht, denn es taucht auch in etlichen Arien- und Rezitativtexten in Bachs Weihnachtsoratorium auf.
Dieser Weihnachtschoral will sagen: Das Betrachten der weihnachtlichen Geschichte zieht uns in eine große Liebesgeschichte hinein, in die zwischen Gott mit uns. Wenn Gott hinabsteigt in diese Welt, dann kommt er eben nicht nur als „König aller Königreich“ in seine Schöpfung. Dann will er uns unendlich nahe kommen - wie ein Liebhaber der Geliebten. Ein Liebesstrom beginnt zu fließen und kommt an sein Ziel, wenn - wie es in der 3. Strophe heißt - das Krippenkind die Krippe, „sein“ lässt und in unser „Herz hinein“ eilt. Dort ist der Ort, für den die beherzte Devise gilt: „Komm, komm, ich will beizeiten / dein Lager dir bereiten“. Nicht also, dass Jesus einst zu Bethlehem geboren wurde, ist entscheidend an Weihnachten, sondern dass er in dir, in mir zur Welt kommt. Mit dem berühmten Vers von Johann Scheffler (Angelus Silesius) gesagt: „Wär‘ Christus tausend Mal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir / so bliebst du doch verloren.“
II.
„Lob, Preis und Dank, Herr Jesu Christ, / sei dir von mir gesungen, / dass du mein Bruder worden bist / und hast die Welt bezwungen”, heißt es in der letzten Strophe. Gott verwandelt sich vom majestätisch, aber unerreichbar über uns thronenden rätselhaften Weltenlenker zu unserem Bruder. Ganz geerdet und auf Augenhöhe. Warum machen wir uns zu Weihnachten so gerne und viele Geschenke? Den meisten ist das nicht mehr bewusst, aber eigentlich ist es sehr einfach: Wir tun das, weil wir alle, ohne Ausnahme, an Weihnachten das größte Geschenk bekommen haben, das sich denken lässt. Wir haben an Weihnachten einen gemeinsamen Bruder bekommen! Vielleicht ist es uns durch die Jahrzehnte doch haften geblieben, wie das war, als unsere Eltern uns das erste Mal gesagt haben: Du bekommst ein Brüderchen, oder ein Schwesterchen! Ich war drei Jahre alt, als meine Eltern mir das gesagt haben. Und das weiß ich bis heute, was für ein aufregendes Glücksgefühl mich durchströmte, als ich diese Botschaft hörte. Nicht mehr das einzige Kind zu sein, nicht mehr allein im Kinderzimmer spielen zu müssen, sondern einen Bruder zu bekommen: das war das Größte!
Genau das kündigt uns Gott an Weihnachten an: Ihr seid nicht mehr allein auf euch selbst gestellt, ihr bekommt einen Bruder! Im Hebräerbrief heißt es von Jesus: „Er schämte sich nicht, sie alle Brüder und Schwestern zu nennen“ (Hebr 2,11). Und der das von uns sagte, ist ja der, von dem Gott gesagt hat: „Das ist mein lieber Sohn, den ich lieb habe“ (Mt 3,17). Du, Jesus, Sohn der Maria, du gehörst zu mir wie keiner sonst. In dir ist - wie bei mir - nichts als Liebe. Liebe, die nie aufhört, und die vor keinem zurückschreckt. Wenn so einer uns seine Brüder und Schwestern nennt, dann sagt er uns doch: Wir haben alle denselben Vater. Ihr und ich, wir sind miteinander Gottes Kinder. Nach ihm genannt, von ihm geliebt.
Dass Jesus, obwohl er das gar nicht nötig hätte, sich nicht zu gut ist, sich zu uns zu stellen, uns seine Geschwister zu nennen: das ist auch ein Wunder von Weihnachten. Und deshalb ist Weihnachten das größte Geschenk aller Zeiten. Anders als wir schenkt Gott uns nicht etwas, sondern nicht weniger als - sich selbst. Indem er in dem Krippenkind selbst zur Welt kommt, teilt er der ganzen Welt mit: Hier bin ich! Ich wollte nicht mehr länger weit weg von Euch über den Wolken sein - ich hatte solche Sehnsucht nach euch, nach der Welt, das ich einer von euch werden wollte. In der Welt sein wie ihr, glücklich und traurig sein, geboren werden und am Ende sterben wie ihr auch! Ein unglaubliches Geschenk.
Also: dass dieser Jesus, der Sohn Gottes, mich und uns alle seine Brüder und Schwestern nennt, darüber will ich mich an Weihnachten freuen! Jesus unser gemeinsamer Bruder: das verbindet uns mehr als alles andere.
Amen.
Weihnachtsfreude - Weihnachtsrauer
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Schwestern und Brüder,
„Wie in allen protestantischen Städten spielt Weihnachten hier die Hauptrolle in der großen Winterkomödie“ - notiert Heinrich Heine vor gut 200 Jahren aus Berlin. Er schildert, wie die Menschen „wie Schmetterlinge von Laden zu Laden flattern und von einem Geschäft zum nächsten wallfahren, als wären es Passionsstationen.“ 1819? Nein, das ist zeitlos, es könnte auch jetzt 2022 so gesagt sein. Gerade hier in Dresden, dem Epizentrum des „Weihnachtswunderland Sachsen“. Für manche wird dieser Heilige Abend, den wir so anders erleben als alle anderen Abende, vielleicht eher wie eine Passionsstation sein. Etwa so: die Familie unter dem Christbaum, und die Mutter auf der Palme, fix und fertig. Das ist dann die „Bescherung“. Andere haben vor diesem Abend einfach nur Angst. Ihnen graut davor, weil ihnen die Liebe fehlt und sie keine Wärme erwarten können, weil sie in diesem Jahr einen geliebten Menschen verloren haben. Oder weil sie schon lange einsam sind, ohne stabiles Netzwerk. Wieder andere werden an Weihnachten enttäuscht sein, weil sie anderes bekommen als sie erhofft haben, auch jenseits der Geschenke.
Es gibt das eigenartige, bei manchen sehr schmerzende Phänomen der Weihnachtstraurigkeit. Warum gehört Weihnachten für gar nicht so wenige zu den Momenten, vor denen sie am meisten Angst haben? Warum werden in der stillen, der heiligen Nacht mehr Tränen geweint als in jeder anderen? Ein Grund für diese Weihnachtstraurigkeit liegt vielleicht darin, dass das Christfest nach landläufiger Meinung irgendwie Freude verordnet. Wir haben das Gefühl, wir müssen zu Weinachten froh gestimmt sein. Ist es doch das Ereignis, das - wie es in einem Weihnachtslied heißt - „Gott gemacht“ hat, um seine Liebe über uns auszuschütten. Und wir, in unserem komplexen Gemisch aus familiären Ritualen, bürgerlichen Konventionen und dem, was wir noch an Religion haben, fühlen uns irgendwie zur Liebe verpflichtet, die der Ausdruck unserer „Weihnachtsfreude“ sein soll. Diese christlich verordnete Liebe und Freude, die sich alle Jahre wieder als Selbstanspruch vor uns aufbaut: das ist es, was Weihnachten für wache und sensible Menschen manchmal eher zu einer Passionsstation macht. Sie stimmt uns traurig, weil uns Kälte, Unversöhnlichkeit und Trauer um uns her, vielleicht auch ins uns, ans Herz greifen.
I.
Die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist allerweltsbekannt und zugleich ein literarisches Wunderwerk. Weil sie uralt ist und doch nie veraltet, und wir uns in ihren vertrauten wärmenden Klang fallen lassen können. Dieser Weihnachtsgeschichte ist das alles gar nicht fremd. Sie hebt nicht an mit Pauken, Trompeten und dem triumphalen „Jauchzet, frohlocket“ wie das Weihnachtsoratorium. Leise, eher beiläufig erklingt ihr erster Ton: „Es begab sich aber zu der Zeit“. Aber: unauffällig und bescheiden mischt sich die Weihnachtsgeschichte mit diesem Wörtchen in den Lauf der Dinge ein. Es deutet an, es gebe da noch etwas anderes, quer zum Üblichen, zum Gewöhnlichen. Leicht zu übersehen, aber nicht mehr wegzukriegen: „Es begab sich aber…“
Der Kaiser, der seine Provinzen mit eiserner Faust zusammenhält, erfasst seine Untertanen zu Steuerzwecken mit demographischen Mitteln. Ja, so ist es, sagt die heilige Geschichte. Aber - während all dem geschieht noch etwas ganz anderes. - Flüchtlinge, die Schutz vor Hunger, Bomben und Aussichtslosigkeit suchen, finden keinen Viehstall, sie landen, falls sie es lebend übers Mittelmeer geschafft haben, erstmal hinter Stacheldraht. Aber, sagte die heilige Geschichte, in Bethlehem… - Junge Menschen können sich nicht mehr vorstellen, ein Kind in diese aus den Fugen geratene Welt zu bringen, weil sie angesichts der Zukunft nur noch Verzweiflung fühlen. Aber, sagt die heilige Geschichte, Maria gebar, obgleich sie unter dubiosen Umständen in andere solche gekommen war. - Herden brauchen bei uns keine Hirten mehr, Elektrozäune sichern das Vieh. Aber, sagt die heilige Geschichte, „da waren Hirten auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde“. Das gibt es also in dieser Welt, dass Leben in die Hut, in Obhut genommen wird.
Mit ihrem schlichten aber schafft die weihnachtliche Geschichte eine Gegenwelt zu der unseren. So fängt sie an, in uns zu spielen und sich auszubreiten. Sie schafft mit ihren eindringlichen Bildern, ihrem unverwechselbaren Klang eine neue Wirklichkeit in uns.
II.
Nur: spüren wir denn etwas von diesem Neuen, das Weihnachten in diese Welt und in unser Leben bringt? Ist uns wenige Tage nach dem Fest nicht doch wieder vieles so alt und gewohnt wie davor? Unsere Angst, zu kurz zu kommen. Unsere Bitterkeit gegen die, von denen wir uns unfair behandelt fühlen. Unsere Furcht vor dem Neuen, Unerwarteten, was die sog. Zeitenwende dieses Jahres gebracht hat und was tief in unser tägliches Leben reicht. Das Licht der heiligen Nacht ist für manche eher ein Zwielicht geworden, wenn sie den hellen Schein Gottes wie eine Weihnachtskerze anzünden möchten und dabei spüren, wie ausgebrannt sie selber sind. Weihnachten mit seiner Botschaft vom Frieden auf Erden, seiner Aufforderung zum hehren Ideal der Liebe und Freude, das ist für viele ein Anlass, den breiten Graben zwischen Ideal und Wirklichkeit schärfer zu sehen als sonst - auch indem man ihn an sich selber erfährt.
Auch wenn ich als Pfarrer quasi von Berufs wegen zur Zuversicht und an Weihnachten zur Freude verpflichtet bin, aber manchmal sind mir solche Befindlichkeiten nicht fremd. Mir hilft dann der Blick auf die weihnachtliche Geschichte. Das Wunderbare an ihr ist, dass sie so konkret, anschaulich ist, weit weg von aller blutleeren Abstraktion. Sie führt uns vor: Gott bleibt nicht bei einem allgemeinen Ideal von „Mitmenschlichkeit“ und hoher Moral stehen, das die Freude nur verordnen kann und letztlich in die Traurigkeit treibt. Die Botschaft des Engels vom Frieden und Erden und Gottes Wohlgefallen an uns wäre am Ende nur ein theoretisches Prinzip, wenn es nicht vorher heißen würde: „Euch ist heute der Heiland geboren“.
In dieser knappen Mittelung verdichtet sich alles, was Weihnachten unvergleichlich macht, in Freude oder Traurigkeit. Durch den, dessen Geburt wir heute Nacht feiern, wird das mit dem Frieden und dem Wohlgefallen nämlich erst anschaulich, im buchstäblichen Sinn geerdet. Indem deutlich wird, dass sein Ursprung eben nicht auf der Erde, sondern im Himmel ist. Gott kommt als Heiland, d.h. als Retter zu uns. Nicht als Führer, als starker (weißer) Mann, wie das inzwischen für viele so populär ist. Nicht als einer, der top down diktiert, wo es lang geht. Nein Gott kommt - und dann hält er an. Er macht Halt meinem beschädigten Dasein mit seinen Rissen und Brüchen. Er macht Halt an meinem Leben mit allem, was ich schuldig geblieben bin. Er macht Halt, wo ich gnadenlos mit mir selbst umgehe, weil ich mir und anderen nicht vergebe. Gott will heilen, wo wir heillos sind. Du und ich mit unseren unverwechselbaren Namen und Geschichten, wir sind in den Mittelpunkt des Christfestes gestellt. Wegen Dir und mir ist Gott Mensch geworden. Gott sagt uns: Euch, Ihr Christnachtleute 2022, ist heute der Heiland geboren! Ich, Gott, bin euer Geschenk!
III.
Ein Geschenk, wenn es für jemand ist, den wir richtig gern haben, ist eine Zuwendung von Herz zu Herz. In seinem Geschenk, dem Krippenkind, schließt uns Gott vorbehaltlos sein Herz auf und lässt uns sehen, wer er ist, wie er es mir uns meint. Gott ist kein Appell, keine Forderung. Er wendet sich einfach uns zu. Und deshalb konnte es gar nicht anders sein als dass er als Kind sich uns zu sehen gab Denn nur Kinder sind ja zu vorbehaltloser Zuwendung und Hingabe fähig. Deshalb rühren sie uns so an. Ein Kind ist das größte Geschenk, das wir bekommen können. Das ist der eigentliche Grund, weshalb Geschenke zur Weihnacht gehören wie das Amen zur Kirche und die Frauenkirchenkuppel zu Dresden. Die Reverenz, die Gott uns erweist, geben wir im Geschenk weiter an andere. Und so kann ganz überraschend, ganz von außen, die weihnachtliche Freude über uns kommen und uns doch mit sich ziehen.
„Lasset fahrn, o liebe Brüder, / was euch quält, was euch fehlt, / ich bring alles wieder“ (EG 36,5), heißt es in Paul Gerhardts Weihnachtlied, das wir jetzt singen. Etwas fahren, also loslassen: manchmal kann das anstrengender sein als alles Festhalten. Aber wenn es geschafft ist, ist man befreiter. Weihnachten ist jedenfalls eine große Einladung an uns, einfach einmal abzustreifen, loszulassen, was wir an Lasten so durch die letzten Wochen und Monate geschleppt haben - und all das an der Krippe liegen lassen. Wenn wir das hinkriegen, wenigstens ein bisschen, dann wird uns Weihnachten nicht schwer, sondern ein Glück. Das wünsche ich uns allen.
Amen.
»Weihnachtsstress«
Geistliches Wort gehalten im Rahmen des Adventsliederdingens von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Die »Geistliche Besinnung« soll heute über ein (prima vista) ziemlich ungeistliches und unbesinnliches Thema gehen: den sog. »Weihnachtsstress«. Ein Wort, das alle Jahre wieder in diesen Wochen vielen, nicht zuletzt uns Pfarrer*innen flott über die Lippen kommt. Dieser elende »Weihnachtsstress«! Aber was ist das eigentlich?
Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, und mit ihm all der vorweihnachtliche Zinnober, den wir gerne als »Pervertierung von Weihnachten« brandmarken. In meinen frühen Jahren als Pfarrer, wo man gerne mal nassforsch ist und noch nicht so zu verbaler Abrüstung tendiert, habe ich das auch wortreich getan. Die Lebkuchen schon im Frühherbst, die zu vielen Herrnhuter Sterne über den Fußgängerzonen, das »Stille Nacht«-Gedudel in den Kaufhäusern, das aggressive Gedränge vor den Verkaufstischen, der Geschenke-Overkill: ja, das kann man ohne großen Aufwand locker als »Pervertierung von Weihnachten« brandmarken. Vor 10 Jahren brauste ein ziemlicher Empörungshype durch die Kirche wegen des Werbeslogans einer Elektronik-Kette: »Weihnachten wird unterm Christbaum entschieden«. Dabei wäre dieser Slogan eine prima Steilvorlage gewesen, sich einmal wieder über die tiefere Bedeutung von Weihnachten Gedanken zu machen. Dann hätte man vielleicht entdeckt, dass Weihnachten in einem tiefen Sinn tatsächlich unterm Christbaum entschieden wird – ja wo denn sonst?
Jedenfalls dämmerte mir mit den Jahren: Was sich an Kitsch, Kommerz, Hektik um Advent und Weihnachten herum aufbaut, ist nur oberflächlich betrachtet eine Banalisierung. In Wahrheit ist es eher ein viele Male übertünchter, aber immer noch freilegbarer Abglanz dessen, was der Kern des Christfestes ist. Was wir so schnell als Weihnachtskitsch geißeln, ist Ausdruck unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, Zusammengehören, Angekommensein. Nach all dem also, was in dem großen biblischen Wort Schalom drinsteckt: der Erfahrung des endlich gelingenden Lebens mit Gott und miteinander. Es ist doch gut, dass uns wenigstens einmal im Jahr die Sehnsucht nach der heilen, gelungenen Welt so richtig packt. Deshalb bleiben auch längst erwachsen gewordene Leute mit ihren Kindern zu Weihnachten nicht unter sich, sondern fahren hunderte von Kilometern »nach Hause«, zu den Eltern, um dort die eigene Ur-Heimat zu spüren, die so ganz nie weggeht. Dass wir an Weihnachten nicht genug kriegen können mit der Erfahrung von Harmonie und gegenseitiger Zuwendung, und, ja, auch mit Schenken und Beschenktwerden: dahinter steckt die tiefe Sehnsucht, unser Leben nicht nur selbst meistern zu müssen, sondern auch als das zu erfahren, was es letztlich ist: ein Geschenk. Deshalb lassen wir uns das Häuslichwerden und Miteinander-Feiern so viel an vorheriger Hektik und Erschöpfung kosten. Bis dahin, dass – wie ich mal in der Zeitung las – die Herzinfarkte zu Weihnachten um ein Drittel ansteigen.
Weihnachten ist eben nicht die Flucht vor einer bedrohlichen Welt in ein heuchlerisches Idyll, sondern es ist ein Vorschein der neuen, gelungenen Welt: der Welt, die nicht dem Dunkel und dem Leid ausgeliefert bleibt, sondern in der Wärme, Friede, Licht erfahrbar sind. Nicht umsonst spricht Paul Gerhardt in einem Adventschoral vom »Reich, da Fried und Freude lacht«. Ich meine: in der Hektik, die manchen bis in den Mittag des Heiligabends den Atem nimmt, spiegelt sich eine ferne Ahnung davon, dass Gott mit der Geburt Jesu Christi unsere Welt in Bewegung gebracht hat, dass mit jener Nacht, die wir die Heilige nennen, etwas grundstürzend Neues, noch nie Dagewesenes in diese alte Welt gekommen ist: Wer kann da noch ruhig bleiben??
So atemlos und unruhig diese Tage vor Weihnachten auch sind - wir alle sind in der Situation der Hirten auf dem Feld vor Bethlehem. Mitten in ihren immergleichen Alltag kommt senkrecht von oben die Botschaft von der Geburt Jesu. Daraufhin lassen sie alles stehen und liegen, geraten erst recht in Unruhe: »Und sie kamen eilend«. Bach hat diese Unruhe im Weihnachtsoratorium genial erfasst, in der drängenden, immer hektischer werdenden Chorfuge »Lasset uns nun gehen nach Bethlehem«. Lassen wir uns nicht einreden, Weihnachten könne nur feiern, wer besinnlich gestimmt ist! Ich bin immer irritiert, wenn mir auf den Weihnachtskarten eine »besinnliche Weihnacht« gewünscht wird. Wie auch immer: dieses Fest macht vor keinem halt. Es übt eine unwiderstehliche Kraft aus, und wir alle sind alle Jahre wieder in sein Kraftfeld hineingezogen.
Kurz und treffend gibt, worum es mir geht, eine kleine Geschichte wieder. Sie stammt von dem großen Denker des Christlichen Clive Staples Lewis. Die Geschichte spielt in New York und endet so:
Unser Taxi schaffte in jener Vorweihnachtszeit in 20 Minuten zwei Häuserblocks. »Dieser Weihnachtsverkehr ist eine Katastrophe«, schimpfte Bob. »Er nimmt mir das ganz bisschen Weihnachtsstimmung, das ich habe.« April dagegen war philosophischer. »Es ist unglaublich«, sinnierte sie, »ganz und gar unglaublich. Denk doch bloß: Da ist vor über zweitausend Jahren irgendwo in der palästinischen Wüste, mehr als achttausend Kilometer von hier ein Kind zur Welt gekommen - und das verursacht ein Verkehrschaos auf der Fifth Avenue in Manhattan.«
Ja, das ist wirklich unglaublich. Anders gesagt: Weihnachten ohne Stress, Hektik und blank liegende Nerven (es muss ja nicht gleich ein Herzinfarkt sein): das geht gar nicht. Es wäre wie Dresden ohne Stollen und wie die Kirche ohne Amen.
„Und abermals sage ich: Freuet euch!“
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Eigentlich hat die Adventszeit im Kirchenjahr ja einen stillen, ernsten Charakter. Die Kanzeln und Altäre sind in Lila gekleidet, die kirchliche Farbe der Buße und Selbstbesinnung. In diesem Jahr spüren wir diesen Ernst vielleicht noch stärker als in den vergangenen beiden, durch die Corona-Lockdowns bestimmten Adventszeiten. Da hinein diese steile Aufforderung: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ Wie Worte aus einer anderen Welt, einer sorgloseren Zeit, so klingt dieser Ruf. Wir hören ihn inmitten der bangen Fragen, ob und wie es weitergehen kann im Betrieb, im Laden oder auf dem Hof. Der 4. Advent trägt einen neuen Akzent in den Ernst, wie ein Farbtupfer im Grau, wie ein Kinderlachen, das auf eine leere Straße dringt. Sein Thema ist die Freude. Der 4. Advent öffnet die Räume, damit die Freude einziehen kann.
I.
„Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich euch: Freuet euch. Der Herr ist nahe.“ So schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi, einer Stadt in Nordgriechenland. Den Menschen dort fliegt die Freude nicht zu. Sie leben in einer Situation der Bedrohung. In der noch jungen Gemeinde, die Paulus gegründet hatte, erleben sie Anfeindungen und Isolation von ihrer Umwelt. Intern haben sie harte Konflikte um den richtigen Kurs. Erstaunlich ist auch, dass gerade Paulus sie so eindringlich zur Freude auffordert. Der Mann war ja nicht wirklich für die Leichtigkeit des Seins bekannt. Paulus war eher ein Angefochtener, er hat sehr an seinem apostolischen Dasein getragen. Und noch erstaunlicher ist, dass er in denkbar freudloser Lage zur Freude aufruft: Paulus sitzt in Ephesus im Gefängnis. Er wartet auf den Prozess wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er muss mit dem Schlimmsten, d.h. mit der Todesstrafe rechnen. Die Christen in Philippi auf der anderen Seite des Meeres sind in Unruhe über sein Schicksal. Was Paulus ihnen aus der Zelle schreibt, das atmet eine beeindruckende Gelassenheit. Seine Antwort auf besorgte Nachfragen aus Philippi, wie es ihm geht: „Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten“. Zu Deutsch: Danke der Nachfrage, dem Evangelium geht‘s bestens! Etwas von so einer inneren Freiheit den eigenen Stimmungen gegenüber täte uns gut - kurz vor einem Weihnachten, auf das wir aufgrund der Weltlage mit vielen gemischten Gefühlen zugehen. Da kann man diesen doppelten Imperativ, doch fröhlich zu sein, fast als etwas zynisch empfinden.
Und doch schreibt Paulus so, aus seiner Zelle heraus: „Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich euch: Freuet euch. Der Herr ist nahe.“ Das ist keine Freude, die einem so zufliegt. Es ist eine Trotzdem-Freude. Fast befohlen wird sie, mit doppeltem Imperativ: Freuet euch!
Freut euch - wie hört das der alte Mann, der dieses Jahr seine Frau verloren hat und nun doppelt allein ist. Seine Frau fehlt unendlich, und seine beiden Kinder leben im Ausland und können zu Weihnachten nicht zu ihm reisen.
Freut euch - wie hört das die Pflegerin, der Nacken und Rücken schmerzen, die manchmal still vor sich hin weint, einfach, weil sie so erschöpft ist, weil sie die letzten Kraftreserven zusammentrommeln muss, um den Tag zu überstehen.
Freut euch - wie hört das die Studentin, die nach den ersten Monaten in der noch fremden Unistadt noch keine Freunde gefunden hat und allein durch die festlich geschmückten Straßen geht.
Freut euch - wie hört das der Bürgermeister, der in diesem Jahr völlig erschöpft und mit den Nerven am Ende sein Amt niedergelegt hat, weil er und vor allem seine Familie die vielen Drohungen und Anfeindungen „besorgter Bürger“ nicht mehr aushalten konnten.
Freut euch - wie hört das die junge Frau aus der Ukraine, die es mit ihren Kindern hierher geschafft hat, in Sicherheit ist - aber oft spürt, dass sie nicht willkommen ist und jeden Morgen in Angst aufwacht, ob ihr Mann an der Front, der Vater ihrer Kinder noch am Leben ist.
Freut euch - wie höre ich das, wie hörst Du das, sechs Tage von einem Weihnachten entfernt, das - obwohl wir wieder ungehinderter zusammenkommen können - so überschattet ist von Mega-Krisen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
II.
Paulus, wie gesagt, hat keinen Grund zum Lachen. Aber er spricht von der Freude, unbeirrt. Ein kleines Wort fällt auf: allewege. Das Wort im Griechischen dafür schillert, man kann es auf verschiedene Art übersetzen. „Freut euch allewege“: immer, freut euch in jeder Situation. Oder: Freut euch auf viele Weisen. Freude kann sehr verschieden sein. Laut, aber auch ganz leise. Ganz unterschiedliche Gewänder kann die Freude sich überziehen in verschiedenen Colors of Christmas. Das warme Rot der Erinnerung. Das glänzende Gold des Festes. Das nachdenkliche Lila der Stille. Das zarte Weißrosa eines Wintermorgens. Das frische Grün eines neuen Gedankens.
Die Freude kommt nicht irgendwann, wenn alles wieder gut ist, sondern allewege. Das will sagen: sie ist schon da. Paulus nennt den Grund: „Der Herr ist nahe“. Der Herr kommt, er ist schon ganz nahe und er kommt auch zu dir. Es ist jetzt schon da, was sein wird, worauf du zugehst und was die Bibel Heil nennt. Das ist die Haltung des Paulus. Ich finde sie wieder bei einem anderen Häftling. Auch er sitzt in einer Zelle und schreibt einen Brief, von dem er ahnt, es könnte sein letzter sein. Er richtet ihn an die, die ihm die Nächsten sind: an seine junge Verlobte und an seine alten Eltern. Er schreibt Verse, die - weil ein menschlicher Aufseher den Brief nach außen passieren lässt - weltberühmt geworden sind: „Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Dietrich Bonhoeffer ist der Schöpfer dieser Verse. Auch er spricht von der Freude, die Gott schenken wird: Freude an der Welt und ihrer Sonne Glanz und von der Dankbarkeit, weil jeder Tag ein Tag aus Gottes Hand ist, jeder Weg ein Weg, den Gott mitgeht. Und er sagt noch etwas anderes: Christus geht auch durch die Gefängnisse. Christus geht auch durch die allzu stillen Wohnungen, an den Tischen vorbei, wo manch einer fehlt. Christus geht durch die Alten- und Flüchtlingsheime und durch die Intensivstationen. Christus geht durch die stillen Straßen, durch die Büros, in denen Menschen voller Sorge über Rechnungen sitzen.
III.
Ich sehe die junge Studentin, die von ihrem Weg durch die lange Fußgängerzone in ihr stilles Zimmer zurückkommt und ihr Handy in die Hand nimmt. Welche Botschaft postet sie? „Ich bin neu und allein in dieser Stadt, ich kann nicht nach Hause, geht es anderen auch so?“ Ich denke, wenn Menschen den Mut haben, anderen eine Botschaft zu senden: ich brauche euer Interesse, ich brauche eure Wärme, eure Aufmerksamkeit, dann wird diese Botschaft gehört. Das hat uns dieses Jahr ja auch gelehrt. Es war in vielen kleinen und großen Situationen eben nicht nur das Jahr von Krieg und Gewalt, sondern auch ein Jahr unglaublicher Solidarität und Mitmenschlichkeit.
Ich sehe den Witwer vor mir. Er ist traurig und es gibt Stunden, da übermannt ihn das Alleinsein. Aber inmitten des Schweren sehe ich ihn auch besondere Augenblicke setzen wie Lichtmarken. Vielleicht noch keine Freude, aber etwas Helles. Wenn er die Kerze anzündet am Grab seiner Frau und in der Stille mit ihr spricht. Beim Telefonieren mit seinem Sohn in den USA und beim Schreiben von WhatsApp-Nachrichten an seinen alten Freund. Er ahnt: ich bin doch von guten Mächten treu und still umgeben. Es gibt sie, sie sind da, auch wenn sie heute nicht hier sind.
Ich sehe die Pflegerin vor mir. Sie lehnt an der Wand in einem kurzen Augenblick des Atemholens. Ein Kollege kommt und reicht ihr eine Tasse Kaffee. Eine Tasse Kaffee, das ist für viele Erschöpfte der einzige Moment des Atemholens inmitten der Flut von Aufgaben. Der andere legt ihr die Hand auf die Schulter. Auch er ist total müde. Hilft ja nichts, sagt er. Dem Patienten, um den sie so gerungen haben, geht es heute etwas besser. Es ist nicht umsonst, was ich hier tue, denkt die Schwester in ihre Tasse Kaffee hinein. Es macht einen Unterschied.
Welche Augenblicke der Freude wirst Du sammeln? Welche wirst Du schenken? Es macht einen Unterschied. Es macht einen Unterschied, dass Gott kommt, dass er uns schon ganz nahe ist, dass seine Nähe aufblüht in jedem guten Wort, in jeder Geste der Hilfe, in jeder Aufmerksamkeit, die Menschen einander schenken. Gott kommt; er ist schon ganz nahe; er kommt auch in unsere Sorge und in unsere Ratlosigkeit. Gott kommt und er kommt auch zu Dir. Freue dich! Allewege. „Und abermals sage ich: Freue ich!“
Amen.
Ad limina amoris
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Frühlingsgefühle im Dezember. Blütenträume im Advent. Erotisch flirrende Sprache im Gottesdienst. Intimes Liebesgeflüster in diesem barocken Dom. - Geht’s noch? Ist Helene Fischer zur Frauenkirche unterwegs? Warum dieser ziemlich spezielle Predigttext an einem Adventssonntag?
Eigentlich klingen diese Verse aus dem Hohelied der Liebe ja wunderschön. Zärtlich und zugewandt, voll von Liebe und Leidenschaft. Nur sind wir in der evangelischen Kirche so einen Sound halt nicht gewohnt. Der Protestantismus ist ja eher als herb und sinnenfeindlich beleumundet. Da finden sich Anklänge an sinnliches Begehren, an Erotik noch am ehesten bei manchen Arien-Texten in Bachkantaten. Dabei sollte doch auch in der Kirche Eichendorffs Vierzeiler gelten: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ Das Zauberwort schlechthin, das wirklich in allen Dingen ein Lied erwecken kann, ist natürlich - die Liebe. Und eben sie - und zwar zwischen zwei liebenden Menschen, nicht zwischen Gott und Mensch - ist das große Thema dieses kleinen, aber feinen Buches im Alten Testament, das man zu Recht „Hohelied der Liebe“ nennt.
I.
„Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Sieh doch, dahin ist der Winter, vorbei, vorüber der Regen. Die Blumen sind im Land zu sehen, die Zeit des Singens ist gekommen, und das Gurren der Taube hört man in unserem Land. Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften.“ Liebesgeflüster, Blütenträume, Frühlingsgefühle im Advent! Seltsam. Jedenfalls ist es absolut bemerkenswert, dass diese Liebesdichtung, diese erotische Poesie in der Bibel enthalten ist. Gott ist hier eigentlich kein Thema. Die naheliegende Frage, wie eine so weltliche Liebespoesie einen Platz in der Bibel hat finden können, die kann bis heute keiner beantworten. Man weiß es einfach nicht. Irgendwann war das „Buch Liebe“ drin in der Bibel, geriet das Lied der Lieder in das Buch der Bücher. Und man fragt sich bis heute, was dieses Liebeslied nun mit Gott zu tun hat.
Im Judentum ist es eine Tradition, diese Beziehung zwischen dem Geliebten und seiner Freundin auf die Beziehung zwischen Israel und Jahwe, seinem Gott hin zu deuten. So ist es nicht verwunderlich, dass später die christliche Auslegung sich ähnlich entwickelt hat. Zum Geliebten wurde Christus und die Freundin war die Kirche (das ist die katholische Lesart), oder die Seele des gläubigen Menschen (das ist die protestantische Deutung). Ein mehr oder auch weniger überzeugender Versuch, das Lied der Lieder gleichsam zu taufen, mit ihm von Gott zu reden, obwohl von Gott darin nicht die Rede ist. Auch wenn die heutige Bibelauslegung ganz anders verfährt, finde ich es hier doch hilfreich, uns einmal auf diese Sicht einzulassen. Denn unsere Beziehung zu Gott hat doch auch etwas mit Liebe, Intimität und Sehnsucht zu tun. Wir reden nur nicht davon.
II.
Was sehen wir? „Horch, mein Geliebter! Sieh, da kommt er, springend über die Berge, hüpfend über die Hügel. Einer Gazelle gleicht mein Geliebter oder dem jungen Hirsch. Sieh, da steht er hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.“ Eine junge, ziemlich unsterblich verliebte Frau erzählt mit pochendem Herzen, dass ihr Geliebter auf dem Weg zu ihr ist. Sie kann seine Stimme hören und sie sieht, wie er kraftvoll und leichtfüßig zu ihr eilt. Noch ist sie nicht bei ihm, vielmehr: er noch nicht bei ihr. Er draußen, sie drinnen. Er lockend und werbend, sie sehnsüchtig lauschend. Er draußen am Fenster, sie drinnen hinter dem Gitter. Der Geliebte ist ganz nah - aber er kann nur durch das Fenster zu ihr sprechen. Er ruft sie: Siehe, der Winter ist vorbei! Sie hört es, aber sie bleibt noch da, wo man eben bleibt, wenn es Winter ist: im Haus. Sie ist noch nicht da, wo das Leben blüht. Und er, der schon da ist, ruft: Komm!
In unseren Adventsliedern ist das spiegelverkehrt. Da sind wir diejenigen, die immer wieder sagen: Komm! „Nun komm, der Heiden Heiland.“ - „Komm, o mein Heiland Jesu Christ.“ - „O komm, o komm, du Morgenstern.“ Advent heißt für uns: Wir warten im Dunkeln. Wir spüren schmerzlich, dass wir nichts von Gott sehen, wir sehnen uns danach, etwas zu spüren, zu erfahren von ihm. Und sowieso bitten wir ja in jedem Gottesdienst: Dein Reich komme.
Und hier jetzt: Das Bild eines Liebenden, der es eilig hat, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es junge Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch eilt er zu ihr. Still steht er erst vor dem Haus der Freundin, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Er bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon immer ihr Ort war. Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Seine Gegenwart, der Umriss seines Gesichts hinter der Scheibe durchdringt alles. Nun lockt er sie heraus aus dem trauten Heim in die Freiheit der Liebe. Aus der introvertierten Häuslichkeit des Winters, wo alles auf Standby runtergefahren ist, hinaus in die Weite und Lebendigkeit des anbrechenden Frühlings. Wir können das deuten als ein irdisches, menschliches Bild für Gottes Sehnsucht nach uns Menschen, nach einer liebenden, erfüllten Beziehung zwischen ihm und uns. Er ist ja längst zu uns geeilt. Er ist zur Welt gekommen im Krippenkind - auf dieses Wunder aller Wunder versuchen wir uns in diesen Wochen wieder einzustellen. „Wie soll ich dich empfangen, und wie begegn‘ ich dir“: Er weiß besser als wir, was wir brauchen, um ihn angemessen zu empfangen. Deshalb ruft er uns aus dem Haus, aus dem, was uns Sicherheit, aber auch Einschränkung bedeutet, hinaus ins Offene und wirbt um unser Vertrauen.
Eine Szene, so richtig Leben pur. Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, zu Pferd, mit dem Fahrrad, dem Mofa, mit der ersten Karre. Kommt und steht vor meiner Tür, mit windzerzausten Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will nur zu mir. Und der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. „Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!“
III.
Ein Lied vom Frühling und von der Liebe. Und eben doch auch ein Lied von Gott. Dass Gott die Liebe ist, das haben wir unzählige Male gehört. Vielleicht so oft, dass wir es gar nicht mehr richtig hören, ermessen können, was das eigentlich für eine ungeheuerliche Aussage über Gott ist. Aber so wie hier habe ich es noch nicht gehört, das von Gott und der Liebe. Dass Gott Liebe ist: das habe ich noch nie im Bild einer flirrend frühlingshaften Liebe verstanden. Sondern mehr wie eine „reife“, aber nicht mehr von glühend sinnlicher Anziehung befeuerte Liebe nach langen gemeinsamen Jahren: Ich kenne dich gut. Ich bleibe bei dir. Zu mir kannst du immer zurückkommen. Aber Gott als Liebhaber, der es nicht erwarten kann bei mir zu sein und der mich ruft: Steh auf, meine Schöne, und komm: Das sind doch andere Wünsche. Nebenbei bemerkt, nicht nur weibliche, auch wenn das Hohelied noch nichts von Gendergerechtigkeit weiß und die Rollen klassisch verteilt sind. Steh auf, meine Schöne und komm! Dass das eine*r zu mir sagt und es wirklich so meint! Dass der Frühling wiederkommt, wo schon so lange Winter ist und das Leben so graubraun und stumpf aussieht wie das Gras Anfang März. Das sind andere Wünsche. Und warum sollen sie nicht erlaubt sein, wenn es um Gott geht - der doch auch die erotische Liebe geschaffen hat?
Und die leidenschaftlich Liebende aus unserem Text kommt ihrem Geliebten entgegen und öffnet ihm. Nicht nur die Tür. Vor allem ihr Herz. „Komm, o mein Heiland, Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist“, singen wir zum Advent. Ja, Gott ist da, und natürlich können wir ihm vertrauen und immer zu ihm kommen wie zu unserem Partner nach langen gemeinsamen Jahren. Aber er kommt eben auch zu uns, wie ein Geliebter, wie ein junger, schöner Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei mir sein will, nur bei mir. Martin Luther hat diesen Satz aus dem Hohelied auf Gott bezogen. Er schreibt dazu: „Unter den Leiden, die uns von Gott scheiden wollen wie eine Wand, ja wie eine Mauer, steht er verborgen und sieht doch auf mich und verlässt mich nicht. Denn Gott steht und ist immer bereit zu helfen, und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt er sich sehen.“
IV.
An der Stelle kann ich mich fragen: In welchem Haus sitze ich? Welche Wand steht jetzt zwischen Gott und mir? Aus welchem Gefängnis versucht er, mich herauszuholen? In welchem Winter stecke ich noch drin? Vielleicht ist etwas in mir festgefroren durch Schmerz und Verlust. Vielleicht ist Winter in meiner Seele, weil jemand gestorben ist, der mir wichtig war, weil eine Liebe zerbrochen, weil mir etwas Wichtiges versagt geblieben ist. Für eine neue, intensive Beziehung zu Gott, für Gefühle und Leidenschaft fehlt die Kraft. Vielleicht ist aber auch gar nichts Dramatisches passiert, sondern ich bin einfach nur eingehaust in einer Routine des Lebens, die gut läuft, aber ohne Ausschläge. Alles gut eingespielt, berechenbar, erwartbar. - Vielleicht steht zwischen mir und Gott aber auch eine Wand des Misstrauens. Vielleicht habe ich etwas erleiden müssen, bei dem ich mich von Gott im Stich gelassen fühlte. Das soll mir nicht nochmal passieren! Besser Gott nicht mehr an mich heran lassen, mich nicht mehr auf ihn verlassen. Sein Wort höre ich allenfalls durch vergitterte Fenster, in schönen Konzerten vielleicht, oder geistvoll-kultivierten Predigten. Aber mein Herz, meine Seele bleiben unter Kontrolle und geschützt.
Ja, liebe Gemeinde, Advent kann auch das heißen: Sehen, spüren, wo noch Winter ist. Sehen, spüren, wo die Wand ist. Erkennen, was uns von Gott fernhält, oder was ihn von uns fernhält, und sich dem stellen. Heute hören wir zärtliche, sehnsüchtige Worte. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her. Versuchen wir zumindest, sie als Gottes Worte zu hören. Als das Werben des großen Liebhabers um jede und jeden von uns. Und antworten wir darauf, wie wir es jetzt eben können.
Amen.
Memento mori
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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„Denen die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein. (…) Dennoch bleibst du auch im Leide / Jesu, meine Freude“ - haben wir gerade in der Schlussstrophe von Bachs Motette gehört. Eine unendlich schöne Musik - ein irrsinnig steiles Wording. Wem heute die Seele zentnerschwer ist vor Betrüben, weil er/sie in diesem Jahr den geliebten Partner hat loslassen müssen, und ihn doch schier nicht loslassen will und kann: dem muss so eine Aussage scheinbar unerschütterlicher Glaubenszuversicht doch im Hals steckenbleiben! Oder?
Heute ist Totensonntag. In der Sache treffender, aber womöglich weiter weg von dem, was viele Menschen heute empfinden, nennen wir ihn inzwischen Ewigkeitssonntag. In den Gottesdiensten an diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr stehen die sog. „Letzten Dinge“ im Mittelpunkt. Es geht darum, dass das Leben endlich ist. Der 90. Psalm, der Bibeltext, der wie kein anderer die Vergänglichkeit alles Geschaffenen umkreist, macht die berühmte Aussage: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Mit unseren Worten: Lass nicht zu, dass wir den Gedanken an unseren Tod oft so gekonnt verdrängen; gib, dass wir ihm standhalten und Raum geben. An Wissen fehlt es ja nicht. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen. Nichts wird in der Zeitung aufmerksamer studiert als die täglichen Anzeigen, die uns vor Augen führen, dass keiner vor dem Tod sicher ist. Wir wissen, dass niemand von uns seinem Leben, wie es in der Bibel heißt, „eine Elle zusetzen“ kann.
Aber wissen, dass wir sterben müssen, und bedenken, dass wir sterben müssen: das ist nicht dasselbe. Wir sind immer wieder in der Gefahr, das Wissen zu verdrängen - damit es nicht zu einem Bedenken, dass wir sterben müssen, kommt. Wir versuchen immer wieder, unser alltägliches Leben so einzurichten, als gebe es den Tod nicht. Aber: „Der Tod ist groß / Wir sind die Seinen, / Lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Mit diesen sechs Zeilen, großartig in ihrer elementaren Lakonik, bringt Rilke auf den poetischen Punkt, dass wir dem Tod kein Schnippchen schlagen können.
Mors certa, hora incerta: so stand es früher oft auf Wanduhren geschrieben. Der Tod ist sicher, nur kennen wir seine Zeit nicht. Früheren Generationen war diese Einsicht noch selbstverständlich. In der Barockzeit standen in vielen Studierstuben sog. „Wendeköpfe“ auf den Schreibtischen. Das waren kleine Plastiken von wenigen Zentimetern Höhe: auf der Kehrseite eines blühenden Menschengesichts fand sich ein grinsender Totenschädel: zur ständigen Erinnerung an den künftigen Zustand eigener Verwesung. Darin sprach sich keineswegs eine bizarre Todessehnsucht aus, sondern es sollte zur Meditation des Memento mori helfen: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“…
In einem alten Lied gab es die Bitte: „Bewahre uns vor bösem, schnellen Tod“. So war das einmal: da wurde der schnelle Tod als der böse Tod angesehen - weil er uns keine Chance lässt, unser Haus zu bestellen und uns aufs Sterben vorzubereiten. In dieser Hinsicht waren die früheren Zeiten wohl wirklich die besseren. Heute ist es umgekehrt. Im berühmten Proust-Fragebogen der FAZ gab es die Frage: „Wie möchten Sie sterben?“ Die meisten haben etwa so geantwortet: „Schnell, schmerzlos und aus dem vollen Leben heraus.“ Es fragt sich, ob wir diese Einstellung zum Tod nicht mit einem hohen Preis für unser Leben bezahlen.
Ich schließe mit Worten des berühmten Hamburger Theologen Helmut Thielicke. Seine Autobiographie mit dem Titel „Zu Gast auf einem schönen Stern“ hat er mit diesen Sätzen beschlossen:
„Warum wage ich es trotzdem, diese gefährdete Erde als schönen Stern zu rühmen und mich ihrer Gastfreundschaft zu freuen? Immer wieder, wenn der Blick sich in die verhangene Zukunft bohren will, denke ich an das Wort, das Gott nach der Sintflut-Katastrophe über unsere Erde gesprochen hat: ‚Wenn es denn kommt, dass man Wetterwolken über die Erde führe, dann soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.‘ Dieser Bogen soll Zeichen einer Zuwendung sein, die uns durch alle Zeiten treu bleibt. Ich habe ihn in meinem Leben immer wieder gesehen - jedenfalls dann, wenn ich aufhörte, monoman ins Dunkel zu starren und meine Augen erhob, um ihn zu suchen. Ja, mir ist noch keine Finsternis begegnet, über der er nicht leuchtete und kein noch so dunkles Tal, wo mich nicht einige Grüße Gottes erreicht hätten.
Nur um dieses leuchtenden Bogens willen rühme ich unsere Erde als schönen Stern und gehe dem Kommenden getrost entgegen. Wir sind freilich nur Gäste auf diesem schönen Stern. Bewohner auf Abruf mit versiegelter Order, in der Tag und Stunde des Aufbruchs verzeichnet sind. (...) Doch als Christen sind wir gewiss, dass die uns zugemessene Lebenszeit nur die Adventszeit einer noch größeren Erfüllung ist. Das Land, in das wir einmal gerufen werden, ist ein unbekanntes, ja unvorstellbares Land. Nur eine Stimme gibt es, die wir wiedererkennen werden, weil sie uns hier schon vertraut war: die Stimme des guten Hirten.“
Soweit Helmut Thielicke. Ich füge hinzu: Nur wegen dieses einen Grundes, wegen der Hoffnung, die uns schon vertraute Stimme Jesu dann wieder zu hören, noch einmal ganz anders, viel klarer, tiefer, wohltuender: nur deshalb kann man es wagen, zu singen und zu sagen: „Denen, die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein.“
Amen.
Gott ist unvergesslich
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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I.
Eberhard malte Tiere. Er ertappte sich dabei, dass er sich die Zunge zwischen die Zähne geschoben hatte wie ein Nerd in der Schule bei einer kniffligen Matheaufgabe. Auch das Lachen, das in ihm aufstieg, war jung. Er hatte sich schon lange auf den Besuch der Familie seines Sohnes gefreut. Sie wohnten weit weg, ihre Besuche waren so selten, dass Eberhard jeden Moment auskostete. Pauline, die große Enkelin, saß am Tisch und versuchte sich am Kreuzworträtsel der Tageszeitung. Die kleine Marie saß auf seinem Schoß und klatschte begeistert in die Hände, wenn sie wieder ein Tier erraten hatte. „Noch eins“, juchzte sie. Eberhard malte einen Pinguin. Er zog ihm gerade seinen Frack an, als Marie rief: „Pinguin, ein Pinguin!“ und auf seinem Schoß wie ein Gummiball auf und ab hüpfte. Eberhard lachte mit; das Lachen flutete den Raum.
Irgendwann schweifte Marie ab und sah ihren Opa nachdenklich an. Die kleine Stirn legte sich in Falten. „Du bist doch der Papa vom Papa.“ Eberhard nickte. „Und wo ist dein Papa?“, fragte Marie ernsthaft. Darauf war Eberhard nicht vorbereitet, die Frage traf ihn ungebremst ins Herz. Pauline sah von ihrem Rätsel auf und neugierig zum Opa rüber. „Mein Papa ist schon lange tot“, sagte er zögernd. Maries Blick trübte sich ein. „War er alt und krank?“ Eberhard schüttelte den Kopf. „Nein, er war noch ganz jung. Vor langer Zeit gab es einen schlimmen Krieg. Da haben die Menschen in ganz Europa gegeneinander gekämpft. Und da ist mein Papa gestorben.“ Eberhard fröstelte. „Mein Papa“ - wie lange hatte er das nicht mehr gesagt und noch nicht mal gedacht. Jetzt klang ihm das fast wie aus einer fremden Sprache. „Erster oder zweiter Weltkrieg?“, hakte Pauline nach. Sie war wirklich schon groß. „Zweiter“, sagte Eberhard. „Gehst du manchmal zu seinem Grab? Wir gehen immer zu Oma Ellis Grab, wenn wir in Köln sind“, sagte Pauline. „Dann zünden wir eine Kerze an. Mama muss dann manchmal weinen.“ Eberhard schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß nicht mal, wo das ist, sein Grab. Es ist ganz weit weg.“ - Die Kinder fragten nicht weiter. Pauline beugte sich erneut über das Kreuzworträtsel. Marie verlangte nach noch einem Tier. Eberhard malte weiter.
II.
Später, nach dem Kaffeetrinken, zog Eberhard aus dem Korb die Zeitungen der letzten Tage hervor. Er wusste noch, dass er irgendwann in den letzten Tagen die Anzeige dort gesehen hatte. Er musste nicht lange suchen. Die Anzeige zeigte ein fragendes Kindergesicht. Wo ist mein Uropa, wollte das Mädchen wissen. Darunter stand ein Hinweis auf die Online-Suche der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Eberhard nahm die Zeitung, ging leise die Treppe runter in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Er tippte die Adresse ein und sah zu, wie sich die Seite der Kriegsgräberfürsorge vor ihm auffächerte. „In unserer Online-Suche können Sie nach dem Verbleib bzw. der Grabstätte Ihres Angehörigen forschen“, las er dort. Er klickte das Feld Onlinesuche an und gab Namen und Geburtstag seines Vaters ein. Dann tippte er sich mühsam durch eine Reihe von Fragen zu seiner eigenen Person und wartete auf das Ergebnis der Suche.
Schon lange hatte er nur selten noch an seinen Vater gedacht. Flüchtig waren die Erinnerungen an ihn; manchmal kehrten sie nachts im Schlaf wieder, Traumschatten. Ein großer Mann in Wehrmachtsuniform, der ihn hochhebt und in die Luft wirft. Ähnlich sehe er ihm, das hatten die Mutter wie die Oma oft gesagt. Manchmal versuchte Eberhard in seinem Spiegelbild Züge des verlorenen Vaters wieder zu finden. Irgendwo da musste er doch sein, im Blick seiner Augen oder in der Art, wie er die Stirn runzelte oder lächelte. Eberhards Hand lag auf der Maus, er starrte sie an. Sie verwandelte sich in eine schmale Bubenhand. Da, wo die Narbe war, sah er das Blut herausschießen. Beim Holzspalten hatte er sich mit neun Jahren die Axt in den Handrücken gehauen. Nicht tief zum Glück, aber das Blut strömte nur so. Er sah das Gesicht seiner Mutter, weiß vor Schreck, und hörte ihr verzweifeltes: „Ach, wenn doch der Papa hier wäre!“ Aber er war nicht da. Auch mit diesem Moment musste sie alleine klarkommen. Sie wussten, dass er tot war. Der Feldpostbrief mit der Mitteilung, dass der Vater den „Heldentod“, wie das damals hieß, gestorben war, war schnell gekommen. Und doch war es Eberhard viele Jahre lang, als müsse er auf ihn warten. Glühend beneidete er seinen Klassenkameraden Götz, dessen Vater drei Jahre nach Kriegsende heimgekommen war. Abgemagert, mit erloschenen Augen und mit einem Gesicht, das kein Lachen oder Leuchten mehr trug. Aber er war da, und das schien Eberhard das Wichtigste. Im Jahr darauf bekam Götz ein Schwesterchen, und auch darum beneidete Eberhard ihn. Wie schön musste es sein, eine kleine Schwester zu haben, die man beschützen konnte. Als Eberhard aufs Gymnasium kam, was seine Mutter gar nicht gewollt hatte, aber nach beharrlichem Zureden ihres Pastors ihm ermöglichte, verloren sie sich aus den Augen. Was wohl aus Götz geworden war?
Er zwang seinen Blick wieder auf den Bildschirm und stellte verblüfft fest, dass da wirklich ein Ergebnis stand. Wie lange mochte schon bekannt sein, wo seines Vaters Grab lag, ohne dass er es wusste? In den ersten Nachkriegsjahren hatte seine Mutter oft beim Roten Kreuz nachgefragt, ob man etwas wisse über das Grab ihres Mannes, aber nie war etwas dabei herausgekommen. Irgendwann hatten die Alltagssorgen als Witwe und Mutter die Frage erlöschen lassen. Eberhard las den Namen seines Vaters, das Geburtsdatum, den Dienstgrad, Obergefreiter, und das Datum des Tages, an dem er gefallen war: 17. Januar 1945. Ja, es war bitterkalt gewesen, als die Nachricht eintraf. Er sah das Bild wieder vor sich: die Mutter mit erloschenem Blick am Küchentisch. Sie weinte nicht, und darum weinte Eberhard auch nicht, obwohl er gerne geweint hätte. Manchmal hörte er nachts durch die dünne Wand ihr Schluchzen. Später hatte er es sich gefragt, warum er nicht hinübergegangen war, um die Mutter zu trösten. Aber damals hatte er keinen Trost und keine Worte, die er ihr hätte geben können. Jetzt spürte Eberhard, wie das Elend dieses Winters vor 77 Jahren in ihm aufstieg, das über so viele Jahre in einer Seelenkammer zugeschlossen war. Seine Augen huschten über die dürren Daten: Nowowolynsk, nahe Lemberg, westliche Ukraine. Merkwürdig, dachte er: sie hatten immer gesagt, dass er „in Russland“ gefallen war. Dabei war es ja in der Ukraine gewesen. Und zum ersten Mal stieg in ihm die Frage auf, ob der Vater wohl in „schlimme Dinge“ verstrickt gewesen war. Es war ja viel ans Tageslicht gekommen in den letzten 20 Jahren über die furchtbaren Verbrechen der Deutschen im Osten, bei denen eben auch die Wehrmacht mitgemacht hatte. Er konnte weiter klicken, um Bilder des Soldatenfriedhofs anzuschauen. Ein weites großes Feld, Wege aus Kieselsteinen, viele Kreuze und ein hoher blassblauer Himmel. Und kein einziger Baum, dachte Eberhard, noch nicht mal ein Baum. Dann wurden seine Augen feucht. Er war wieder ein Kind, und ein paar Kindertränen rollten über sein Gesicht.
III.
Leise Schritte kamen die Treppe runter. Hanna stand in der Tür, eine Tasse Tee in der Hand. Sie stellte sie auf dem Tisch ab, sah Eberhard an und dann die Fotos, die der Bildschirm zeigte. Sie schwieg, legte nur ihre Hand auf seine Schulter. Eberhard war seiner Frau dankbar, dass sie nichts sagte. Manchmal in den letzten Jahren hatte er sich gefragt, ob sie sich fremd geworden seien. Aber jetzt spürte er, dass das gar nicht so war. Sie war ihm noch immer nah, las seine Gedanken und verstand ihn. Ein paar Augenblicke war es ganz still und gut zwischen ihnen, und Eberhard fühlte, dass etwas wie Trost durch sein Herz flatterte, wie ein aufgescheuchter Vogel.
Leise ging Hanna wieder nach oben, und Eberhards Blick kehrte zum Soldatenfriedhof zurück. Dort also war die letzte Ruhestätte seines Vaters. 29 war er, als er gestorben war, in einem Krieg, in den er wie die meisten damals ohne die Begeisterung von 1914, aber doch mit einem Gefühl gezogen war, dass er wohl sein musste. Die Nazis hatte der Vater nicht gemocht, daran erinnerte sich Eberhard noch. Aber er hatte geglaubt, es sei richtig, die gottlosen Bolschewisten zu bekämpfen, wie das damals hieß. Vor denen hatten alle Angst. Später hatte die Mutter ihm erzählt, dass der Vater bis zuletzt in seinen Briefen von der Front fast beschwörend die Hoffnung auf den Sieg hochgehalten hatte. Eberhard war jetzt 83. So viele Jahre, die der Vater nicht mehr hatte leben dürfen. So viele zu Asche gewordene Pläne. Kein Tod mit einem Grab, zu dem Kinder und Enkel kommen und weinen konnten und über dem sich ein Baum wölbte als Schatten und Schutz. Ein Vers des Dichters Rilke ging Eberhard durch den Kopf: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ Wieder lief eine einsame Träne über sein Gesicht. Hatte sein Vater einen solchen „eignen Tod“ gehabt?
Da, wo die Kieswege sich kreuzten, entdeckte Eberhard auf dem Bildschirm eine Stele, die hoch in den Himmel aufragte. Er zoomte näher. Fremde Schriftzeichen füllten die Stele, Kyrillisch wohl, doch dann vertraute Schriftzüge auf Englisch und Deutsch: „Gott vergisst nicht“, war da zu lesen. Im ersten Moment las Eberhard die Worte wie einen Vorwurf, aber dann schob er den Vorwurf weit weg. Er hatte ja auch nicht vergessen. Es war alles noch da, die Erinnerungen, die Trauer und auch die Liebe für diesen Vater, den er viel zu wenig kennengelernt hatte. Die Trauer um die Geschwister, die er nicht hatte haben können. Das Mitgefühl für die Mutter, die es so schwer gehabt und nie mehr geheiratet hatte. Und die sich doch kaum je etwas anmerken ließ. Die all Ihren Kummer in sich verschloss, auf ihre stille Art heiter wirkte und ihm das ermöglicht hatte, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt. Ganz plötzlich, mit Mitte 70, hatte sie scheinbar aus dem Nichts eine schwere Altersdepression bekommen. Mitten in jener schweren Zeit war sie gestorben, eines Morgens wachte sie einfach nicht mehr auf. Gott vergisst nicht. Sanft wie ein Windhauch war ihm dieses Wort jetzt, als eine Ahnung von Trost. Wie gut, dass es da noch einen gab, der nicht vergisst, der alle Erinnerungen festhält, dachte Eberhard, die glücklichen wie die schrecklichen. Auf einmal fühlte er sich diesem Gott auf eine merkwürdige Weise nah. Er hatte eigentlich immer ein rationales, distanziertes Verhältnis zum Glauben gehabt und ging nur an den hohen Feiertagen zur Kirche. Aber jetzt wusste er. Und verstand. Gott vergaß nicht.
Das Lachen von Pauline und Marie drang vom Garten her zu ihm. Er hörte die Stimme seines Sohnes dazwischen und dachte erstaunt, wie vieles es gab, was er ihm noch erzählen wollte. Dann ging er nach draußen in die Sonne.
„Sammle meine Tränen in deinen Krug, ohne Zweifel, du zählst sie alle.“
AMEN.
Gott und die Kirche: nicht zu verwechseln !
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde!
Martin Luther liebte bekanntlich die Bibel. Am meisten in ihr liebte er die Psalmen. Und unter denen liebte er über alles den 46. Psalm, den wir eingangs gebetet haben. Er wurde zum Psalm des Reformationstages: weil er mit großer sprachlicher Kraft und eindrücklichen Bildern entfaltet, dass keine Kirche, kein Heiliger und kein noch so beeindruckender Mensch uns die Freiheit eines Christenmenschen bringt, sondern allein Gott selbst.
I.
Schon mit dem ersten Vers dringt der Psalm zum Kern vor, worum es Luther immer gegangen ist: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Es folgt eine Selbstaussage: „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge, wenngleich das Meer wütete und von seinem Ungestüm die Berge mitten ins Meer sänken.“ Starke Bilder. Aber glauben wir das noch? So vieles schiebt sich vor unseren Augen gegen solche Furchtlosigkeit. Dass „die Berge mitten ins Meer sinken“: das ist, etwa auf den Malediven im Indischen Ozean, inzwischen nicht mehr nur ein Bild, sondern schon Realität. Und davor fürchten wir uns. Zu Recht. Zum Fürchten gibt es ja überhaupt mehr als genug Gründe für uns. Von alten Menschen höre ich zurzeit oft, dass sie bis in den Krieg zurückdenken müssen, um zu erinnern, wann es so umdunkelt war zur Zeit. Klimawandel, Pandemie, Krieg, Inflation, Energieknappheit - fünf weltumspannende Krisen, von denen schon jede einzelne die Politik rund um die Uhr in Anspruch nehmen kann. Manchmal frage ich mich: Woher können unsere politisch Verantwortlichen, von Kanzleramt bis zum Dorfrathaus, die Kraft nehmen, diese Mega-Herausforderungen zu bewältigen? Und das, wo sie oft mehr Hass und Verachtung als Verständnis und Unterstützung ernten?
Auch Martin Luther hat sich vielfach gefürchtet. Der 46. Psalm mit seinen kraftvollen Bildern über Gottes Stärke und Schutz war ihm ein Zufluchtstext. Es ärgerte ihn, dass für die nun endlich in deutscher Sprache gefeierten Gottesdienste keine für die Leute singbaren Psalmen vorlagen. Die gab es nur auf Latein, was die meisten nicht verstanden. So machte er sich mit Mitarbeitern daran, die Psalmen nachzudichten und sie singbar zu machen. Zu Luthers vielen Begabungen gehörte auch, dass er ein begnadeter Liedermacher war. Es war wahrscheinlich 1527, dass er den 46. Psalm zu dem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ vertont hat - neben „Vom Himmel hoch“ sein berühmtestes Lied. Damals durchlebte Luther für ihn beängstigende Tiefpunkte. Bis dahin mit robuster Gesundheit gesegnet, trafen ihn 1527 diverse Krankheiten. Mehrfach streckten ihn unerklärliche Ohnmachtsanfälle nieder. Einmal war er überzeugt, seine letzte Stunde sei gekommen. Er verabschiedete sich von Frau und Sohn, und legte ein erschüttertes Schuldbekenntnis ab. Er rappelte sich dann wieder auf - das Gefühl aber, an der Schwelle des Todes gestanden zu sein, schüttelte den 42 Jahre alten Luther durch. Zugleich bricht in Wittenberg die Pest aus. Viele verlassen die Stadt. Dazu kommt eine veränderte Stimmung. Bekam die Reformation zunächst breite öffentliche Zustimmung, so war diese Sympathie durch die Bauernkriege und Luthers einseitig-scharfe Positionierung gegen die Bauern und für die Fürsten weggebrochen. Die reformatorische Bewegung drohte sich zu spalten. Es wurde einsamer um die „Wittenbergisch Nachtigall“.
II.
Gegen diese für ihn existentiellen Erschütterungen schafft Luther ein Vertrauenslied. „Ein feste Burg ist unser Gott…, / er hilft uns frei aus aller Not“. Dieses Lied hatte immer eine besondere Kraft, wenn Ohnmacht und Verzweiflung um die Ecke lauerten. Etwa zur Zeit des sog. Kirchenkampfs im „Dritten Reich“. Da wurde es zum Protestlied. In den Gottesdiensten der Bekennenden Kirche wurde es oft gesungen, meist stehend. Viele sahen damals das Böse in die Kirche eindringen. Sahen Menschen, die, vom braunen Zeitgeist verwirrt, nicht mehr wussten, was sie glauben sollten. Da ging von diesem Lied Orientierung und Halt aus. Gesungen wurde es aber auch schon im 30jährigen Krieg, oder noch früher in den Zeiten der Bedrohung durch die Gegenreformation, oder bei Hunger und Pest. Martin Luther wollte mit ihm eine Art Schutz- und Trutzlied des Glaubens schaffen: gut und tröstlich zu singen für alle, die sich müde und hoffnungsleer fühlen.
Psalm 46 nennt Gott „eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Eigentlich steht dort das Wort „Zuflucht“. Gott ist unsere Zuflucht. Eine Zuflucht ist ein Ort, wohin ich fliehen kann, wenn ich akut bedroht bin und mich nicht selbst schützen kann. Wo ich an Leib und Leben sicher bin. Etwa wenn Krieg kommt, wenn geschossen wird und Raketen einschlagen. Wir erleben das seit neun Monaten konkret: Europas Länder werden zur Zuflucht für die Menschen aus der Ukraine. Als ich vor 44 Jahren erstmals in Israel war, fiel mir auf, dass dort an vielen Unterführungen und Brücken Schilder standen mit der Aufschrift: „Shelter“. Das war der Hinweis: Wenn hier die Fetzen fliegen, kann man dort Schutz suchen und finden.
Gott als unsere Zuversicht und Stärke, als feste Burg für gequälte Menschen: Wenn das für uns wahr werden soll, dann müssen wir diesen alten Choral aber anders singen als unsere Vorfahren. Man hat diesen Choral zu lange zu laut gesungen. Man hat ihn nur zu gern als deutschnational-protestantische Kampfhymne angestimmt. Gegen Rom zuerst, und dann gleich noch gegen den Rest der Welt. Bis dann kam, was so wohl kommen musste: Viele deutsche Protestanten konnten das Reich, das uns doch bleiben muss, von einem anderen Reich, dem sog. „Tausendjährigen“ nicht mehr richtig unterscheiden. Als es dann vor 77 Jahren nichts mehr zu verwechseln gab, als das „Großdeutsche Reich“ in Trümmern lag, und in ihm auch diese Kirche, da war man der hohen Töne müde. Wollte nichts mehr hören von einem Gott, der mit Wehr und Waffen verglichen wird. Wir sind zu Recht misstrauisch gegen eine Frömmigkeit, die nicht nur den eigenen Leib, sondern dazu auch noch Gut, Ehr, Kind und Weib einfach so dahinfahren lässt, wie es in der Schlussstrophe heißt, die heute viele als eine nicht mehr erträgliche Zumutung empfinden. Kurzum: die evangelischen Christen haben kein einfaches Verhältnis zu ihrem alten Reformationslied.
III.
Das müsste aber nicht sein. Denn eigentlich sollten es alle Christen statt gegeneinander miteinander singen. Denn unser Gott wird ja hier als feste Burg besungen - nicht die (protestantische) Kirche! Zu früheren Zeiten, vor allem in Preußen, wo sie bis 1919 Staatskirche war, hat sie sich wohl gerne so gesehen: als eine Burg, stolz und kühn in der Landschaft stehend, mit ihren Türmen, Mauern und Schießscharten. Die Pracht und Überwältigungsarchitektur unserer Frauenkirche kann ja auch zu Fantasien von einer einflussreichen Kirche verführen. Aber so eine Burg wird in diesem Lied eben nicht besungen. Und die evangelische Kirche tut gut daran, sich nicht mit einem Bauwerk zu vergleichen, das als Denkmal vergangener Epochen in unsere Zeit hineinragt. Ein Bauwerk, das man zwar gerne mal besichtigt, in dem man aber bloß nicht bleiben, wohnen will.
Wie gesagt, es war kein selbstgewisser, heldischer Luther, wie er in der Geschichte des Protestantismus so oft verklärt worden ist, der diesen Psalm vertont hat. Es war ein von seiner Zeit geängstigter Christenmensch in einer vom schwarzen Tod bedrohten Stadt. Die Macht des Bösen schien ihm wie ungehemmt freigelassen. Für Luther, darin noch ganz Mensch des späten Mittelalters, war klar: Da muss der Teufel dahinterstecken! Das ist „der altböse Feind“, ausgestattet mit „groß Macht und viel List“. Und doch ist Luther überzeugt: Nur „ein Wörtlein kann ihn fällen“! Was Luther aus seiner Depression hilft, ist ein kindlich erscheinendes Zutrauen in Jesus Christus. So deutet er die Aussage im Psalm „Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jacobs ist unser Schutz“ ganz ungeniert auf Christus hin. Er ist der „rechte Mann“, der „für uns streitet“. Gott selbst hat ihn erkoren: „Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesu Christ, / der Herr Zebaoth, / und ist kein anderer Gott.“ In all seiner Not empfindet sich Luther bei Jesus aufgehoben. Auch Jesus hat gelitten, auch er kennt das Leid. Das bedeutet aber nun für Luther: Gott leidet nicht nur mit, sondern das Leiden kommt in Gott selbst vor. Das Kreuz, Jesu Mitleiden und seinem stellvertretenden Leiden für uns, wird für Luther der Grund seiner Zuversicht. So enden die Strophen 2-4 des Chorals jeweils mit Worten tiefer Glaubenszuversicht: „Das Feld muss er behalten.“ - „Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ - „Das Reich muss uns doch bleiben.“
IV.
Eine Perspektive des Psalms aber hat Martin Luthers Lied nicht aufgenommen. Das ist ein Jammer. In Vers 10 preist der Psalm Gott als den, „der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt.“ Das sind Worte gegen Gewalt und Krieg von großer Klarheit - im Alten Testament nicht selbstverständlich. Schade, dass gerade für Luther, den Theologen des Kreuzes, so wenig wichtig war, dass zum Wort vom Kreuz auch diese Seite gehört, die Jesus so benannt hat: „Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Der Gott, der die große Geborgenheit schenkt, macht zugleich allem Kriegsgerät, aller Kriegswut ein Ende.
Martin Luther war ein Kind seiner Zeit wie wir Kinder unserer Zeit sind, das ist klar. Aber heute, gerade heute ist es doch unerlässlich, klar zu sagen: So tröstlich es ist in dieser dunklen Zeit, dass die Kirche, die Gemeinde Jesu bleibt, dass er „das Feld behalten muss“, wie Luther dichtete, - aber darüber hinaus gilt doch auch: Es wird einmal die Zeit kommen, in der nicht Hass, Waffen und das Recht des Stärkeren siegen werden, sondern die Gewalt der Gewaltlosen, die Macht der Ohnmacht und die Liebe der Geliebten. „Das Reich muss uns doch bleiben.“ Wir Christ*innen sind nicht naiv. Wir können, ja wir sollen vielleicht sogar in unserer persönlichen Lebenshaltung Pazifisten sein. Aber eine politisch verantwortliche Haltung in dieser noch unerlösten Welt kann der Pazifismus wohl nicht sein. Die Kirche Jesu Christi hat nicht erst in den letzten Monaten lernen müssen, dass im Extremfall auch die begrenzte, klar definierte Anwendung von Gewalt verantwortbar ist, um der unbegrenzten Gewalt zu wehren. Dietrich Bonhoeffer hat das mit seinem Weg in die Verschwörung gegen Hitler aufgezeigt. -
Noch einmal zurück zu Martin Luther. Als er im Februar 1546 in seiner Geburtsstadt Eisleben im Sterben liegt, notiert er, als er schon nicht mehr sprechen kann, mit letzter Kraft auf einen Zettel: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Was für ein „Letztes Wort“! Wir stehen vor Gott mit leeren Händen. Aber das heißt auch, mit geöffneten Händen, um zu empfangen, was Gott nun in sie hineinlegt. Wir brauchen uns nur ganz und gar unserem Gott anzuvertrauen, jeden Tag aufs Neue: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ - „Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat getroffen“.
Das singen wir jetzt. Noch einmal - aber nun in einer textlichen Übertragung in unsere heutige Zeit, und auch musikalisch in einem schönen Mix der Stile zwischen „klassisch Luther“ und ein bisschen Pop. Auch das ist sehr protestantisch: ecclesia semper reformanda, mit der Kirche wandeln sich auch ihre Texte und Lieder. Und: wir singen es nicht als Evangelische gegen andere Christen, sondern einfach dankbar, dass die Tore dieser festen Burg für alle bedrohlichen Mächte, für „Hölle, Tod und Teufel“, wie Luther gesagt hätte, fest verschlossen, für jeden Sünder aber, der dorthin flieht, sperrangelweit offen sind. Der Herr dieser Burg sieht uns längst kommen und wartet auf uns. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ.
AMEN.
Kapernaum ist überall
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
eine im buchstäblichen Sinn bewegende Geschichte. Nicht nur auf der Ebene ihrer Handlung, sondern auch in einem hintergründigen Sinn ist sie zwischen Lähmung und neuem Aufbruch angesiedelt. Irgendwie auch so, zwischen Lähmung und neuem Aufbruch, kommt mir unsere liebe Evangelische Kirche vor, fünf Jahre nach 2017, dem großen Reformationsjubiläum. Gelähmt von Kleinmut, der sich in nostalgischer Rückschau auf die vermeintlich „besseren Zeiten“ ergeht und zugleich einer seltsamen Überheblichkeit, als könne es einfach so weitergehen, wie es über Jahrzehnte gewesen ist. Auf der anderen Seite gibt es an manchen Stellen auch echte Aufbrüche, die Ausbrüche aus der gewohnten Routine sind. Es gibt dort den Mut, liebgewordene Traditionen abzubrechen, weil sie eigentlich nur noch äußerliche Traditionen sind, museal, aber nicht mehr lebendig. Vielleicht tut es uns ja gut, auf diese Geschichte zwischen Lähmung und Aufbruch zu hören: damit wir selber etwas in diese Bewegung reinkommen, die da an einer Straßenecke anfing. In Kapernaum, dem Fischerdorf am See Genezareth, das zu Deutsch „Dorf des Trostes“ heißt.
I.
Die Bewegung, die unser Text nachzeichnet, fängt nicht bei dem Gelähmten an. Der ist so unbeweglich, wie eine 505 Jahre alte Kirche nur unbeweglich sein kann. Nein, die Bewegung fängt erst an, als sich ein Gerücht ausbreitet. „Schon gehört? Jesus ist wieder da! In dem Haus am Ende des Dorfes soll er sein. Kommst du auch mit? Ich mach schon mal los, damit ich auf jeden Fall vorn dabei bin!“ Da gibt es Gerenne und Geremple, da kommt eine richtige Jesusbewegung in Gang. Der Gelähmte merkt, da liegt ein Event in der Luft. Zu diesem Jesus, da würde er auch gern hin. Aber bei dieser Jesusbewegung hat er keine Chance. Es bleibt ihm nur, traurig auf der Bahre liegenzubleiben, auf die ihn sein Schicksal in jeder Hinsicht festgelegt hat.
Dann kommen plötzlich noch vier hergelaufen. Die wissen noch gar nicht, was los ist. Der Gelähmte sagt es ihnen. „Was, Jesus ist da? Da müssen wir auch hin. Willst du nicht mit?“ - „Ach, nur zu gern! Aber ihr seht ja, wie ich hier festliege.“ Und nun handeln diese vier anders als die anderen. Sie lassen den Armen nicht einen gelähmten Mann sein, um nur ja die besten Plätze zu kriegen, sondern sie überlegen, ob da was geht. Sie schauen sich die Bahre an. Und ja, bei geschicktem Anfassen lässt sie sich gut hochheben. Sie packen zu und ziehen mit dem Kranken los.
Versuchen wir uns jetzt einfach mal in diesen speziellen Zug einzureihen. Unsere Fragen und Probleme mit der gelähmten Kirche legen wir gleich mit auf die Bahre drauf. Die sind doch wohl nicht so erdrückend, als dass die Vier sie nicht auch noch mit zu Jesus schleppen könnten. Die haben ja eine Menge Power. Vor allem aber haben sie offenbar ein weites Herz, und viel Phantasie. Kaum sind sie ans Ortsende gekommen, da sehen sie schon die Bescherung. Das Haus, in dem Jesus jetzt ist, ist hoffnungslos überfüllt - wie im letzten Mai, als Michael Patrick Kelly hierher in die Frauenkirche kam. Selbst draußen stehen sie Schlange. Keine Chance mehr, auch nur auf Sichtweite zu Jesus zu kommen. Der Gelähmte kann ihn kaum hören, bei dem hektischen Gewusel draußen. Wieder mal die bittere Bestätigung seines Lebensthemas: Ich bin zu spät dran…
Liebe Gemeinde,
damit könnten theoretisch auch wir wieder abziehen, mit unseren Fragen und Zweifeln. Wenn, ja wenn da nicht diese Vier wären, deren Beharrlichkeit und Phantasie größer sind als unsere Resignation. Not macht erfinderisch: Sie setzen sich kurzerhand über die Konventionen hinweg, hieven sie den Gelähmten auf das Dach des Hauses und fangen an, das Dach abzudecken. Man kann sich anschaulich ausmalen, wie sie da über Jesus gekratzt, gebohrt, geschuftet haben, bis das Loch groß genug ist, den Gelähmten runterlassen. Jesus direkt vor die Füße.
II.
Passen wir jetzt auf, was Jesus mit dem Gelähmten macht. Wenn es gut geht, könnte es nämlich sein, dass dabei auch wir mit unseren Fragen nach der unbeweglichen Kirche in Bewegung kommen. „Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Erstaunliche Worte. In zweifacher Hinsicht.
1. Da heißt es: „Als Jesus ihren Glauben sah...“ Es heißt nicht: „Als Jesus den Glauben des Gelähmten sah“, und schon gar nicht heißt es: „Als sich der Gelähmte zu Jesus bekehrte.“ Nein, von irgendeiner Handlung, mit der der Gelähmte einen entscheidenden Schritt hin zu Jesus getan hätte, kein Wort. Woher auch sollte er die Kraft nehmen, wo er doch so festliegt?! Es heißt einfach: „Als Jesus ihren Glauben sah...“ Also den Glauben der vier Leute, die nicht zuerst gefragt haben: Was bringt Jesus uns? - sondern die fragten: Wen können wir zu Jesus bringen?
Was wäre der Gelähmte ohne diese Vier gewesen? Er wäre wohl noch ewig an seiner Straßenecke geblieben und hätte die große Wende seines Lebens vielleicht nie erlebt. Er wäre so ein Sinnbild für alle geblieben, die von einer bitteren Lebensgeschichte, einer unseligen oder auch verklärten Kirchengeschichte gelähmt sind und keine Vorstellung mehr für die Zukunft haben. Dass es vier Menschen gibt, die für den Gelähmten eintreten, die für ihn Phantasie und Ausdauer, und das heißt: Glauben aufbringen: das erinnert uns daran, was die Kirche, was eine Gemeinde wirklich lebendig macht. Nicht ihre Vergangenheit, und sei sie bedeutend, nicht ihre Gebäude, und seien sie prächtig, auch nicht ein toller Pfarrer oder so - sondern zwei oder drei oder vier Menschen, die sich in Jesu Namen versammeln und stellvertretend für all die trägen oder müden Anderen sich nicht abbringen lassen zu fragen: Wie können wir einen Weg zu Jesus finden - nicht nur für uns selbst, sondern für solche, deren Geschichte ihnen den Zugang zu ihm viel schwieriger macht? Die durch Enttäuschungen oder Schicksalsschläge in ihrem Glauben erstarrt sind? Es gibt nicht nur die Fürbitte, es gibt auch Für-Glaube für die, die selbst nicht mehr glauben können. Ein solcher Fürglaube sagt dem anderen: Auch wenn du nicht glauben kannst, Gott glaubt an dich. Das ist unser aller gemeinsames Ding, das Dach zu öffnen und durch das Loch Verbindung zu Jesus herzustellen.
2. Das zweite, was ich an der Geschichte des Gelähmten erstaunlich finde: Jesus sagt zu ihm „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“. Ich stelle mir diesen Menschen gar nicht wie ein Kind vor. Aber diese Anrede aus Jesu Mund macht deutlich, dass in ihr bereits die Vergebung anfängt. Vergebung der Sünden, das heißt ja: Dein alter Adam, der alte, unbewegliche Greis in dir, der Menschen und Dinge unabänderlich festgelegt hat und immer wieder nur um die Bestätigung der eigenen Vorurteile kreist, der kann noch einmal jung und beweglich werden. Vergebung der Sünden heißt: Du kannst mit dir selbst und deinem Nächsten, ja auch mit deiner Kirche noch einmal neu anfangen! Du vergibst dir nichts, wenn du dir vergeben lässt! Deshalb hat Sündenvergebung etwas mit der Anrede „Kind“ zu tun - denn Kindsein heißt ja, jeden Tag etwas Neues anzufangen. Kinder, deshalb rühren sie uns so an, sind anfängliche Wesen.
III.
Klar, dass die Schriftgelehrten dagegen Einspruch erheben. Das tun Schriftgelehrte immer gern, wenn die Sünde und ihre Vergebung im Namen Jesu so kinder-leicht erscheint. Sünden vergeben - das darf doch nur Gott allein, und nicht ein Mensch, der ja selbst Sünder ist! Sünde heißt doch Trennung von Gott, unüberwindliche Gottesferne. Und die kann logischerweise auch nur von Gott selbst überwunden werden. Theologisch völlig korrekt. So haben wir es in unseren Dogmatik-Lehrbüchern gelernt. Echte Schriftgelehrte lassen keine Lücken. Eine Lücke aber gibt es in unserer Geschichte, und die kann auch durch alle Schriftgelehrsamkeit nicht abgedichtet werden: die Lücke im Dach des Hauses. Dass die von den Vieren wieder ordnungsgemäß geschlossen worden wäre, darüber wird nichts berichtet. Das heißt also, dass der Gelähmte von seiner Bahre unten zu Jesus hoch - und gleichzeitig über ihm durch das Loch im Hausdach den offenen Himmel sieht. Er sieht also, was die auf Jesus herabschauenden Schriftgelehrten nicht sehen: wie in Jesus Himmel und Erde zueinander finden. Das sieht der Gelähmte aus einer Perspektive, die außer Kranken nur kleine Kinder und Sterbende haben. „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“ - das hört unser Gelähmter anders als die gelehrten Theologen. Er hört diese Worte, als würden sie ihm direkt vom Himmel gesagt, der ihn wieder Kind sein und somit neu anfangen lässt. Anders gesagt: Er sieht, dass in Jesus eben nicht nur ein Mensch, sondern wirklich - Gott selbst ihm die Schuld vergibt.
Die Schriftgelehrten hören Jesu Wort nicht so. Sie hören einen Begriff, den sie aus der Schrift kennen und den sie in ihrem dogmatischen System für Gott reserviert haben. Liebe Gemeinde, wie viele Worte und Taten Jesu mag es wohl geben, die wir auf den Spuren der Schriftgelehrten in eine falsche Heiligkeit eingezwängt und fest in den Griff unserer Kirchensprache genommen haben: Gnade - Rechtfertigung - Heiligung - Seligkeit - Sünde etc.: Wer spürt noch die Kraft, die eigentlich in diesen großen alten Worten steckt? Da tragen die modernen Schriftgelehrten, also wir Theologen viel Schuld dran, weil wir uns zu wenig Mühe machen, die Aktualität, die diesen Worten innewohnt, durch eine Sprache zum Leuchten zu bringen, die die Menschen heute erreicht. Ich erinnere eine Situation in meinem Studium, als einer meiner Professoren in einer Seminarsitzung scharf dazwischen, als ein Kommilitone mit getragenem Ton von „unserem sündigen Fleisch“ salbaderte. Der Professor forderte ihn auf, die Sitzung jetzt mal zu verlassen und sich auf einem Spaziergang ein paar Gedanken darüber zu machen, wie man vom Glauben redet.
IV.
Nun kann ich mir vorstellen, dass sich mancher zum Schluss fragt: Wo gehöre ich denn nun eigentlich hin? An die Seite der vier Träger? Oder auf die Bahre des Gelähmten? Oder zu dem erstaunten Volk, das einfach zuschaut? Oder gar zu den oberlehrerhaften Schriftgelehrten? Das muss jeder für sich selbst bedenken. Ich weiß nur, dass es in der Gemeinde Jesu immer welche gibt, die die Kraft zum Tragen haben, und andere, die getragen werden müssen. Und dass, da alles seine Zeit hat, jeder von uns mal zu den einen, mal zu den anderen gehört. Martin Luther hat einmal Sätze geschrieben, die für unsere heutige Situation fast visionär sind: „Diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müssten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Haus allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. Hier bedürfte es nicht viel und groß Gesänges. Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles auf Wort und Gebet und die Liebe richten.“ - Was für eine Bereitschaft, die ganzen kirchlichen Traditionen auch preiszugeben, wenn es am Platze ist! Was für eine Offenheit zur radikalen Reduktion auf „das eine, das not tut“. Das schwebte Luther vor: die kleine Gemeinde, die sich in einer Wohnung versammelt, in der man einander kennt und miteinander unter dem Evangelium zusammen ist, in der nicht einer predigt und die anderen hören zu, sondern in der man miteinander die Bibel liest und einander Anteil gibt an dem, was einem am Evangelium aufgegangen ist, wie man als Christ im Alltag Jesus treu sein kann, nicht introvertiert, sondern ganz missionarisch; in der man aneinander Seelsorge übt, miteinander Abendmahl feiert und tauft.
Gerade in einer Kirche wie unserer muss man nüchtern festhalten: Diese Gedanken von Luther sind unserer kirchlichen Gegenwart immer noch weit voraus. Und doch sind sie uns schon viel näher, als wir meinen. Denn so oder so ähnlich wird jedenfalls für die, denen es ernst ist mit ihrem Christsein, die Zukunft aussehen. Denn damit unsere Kirche bleibt, kann in ihr vieles nicht mehr bleiben, wie es Jahrzehnte lang war. Und mir ist überhaupt nicht bange davor, im Gegenteil. Denn Kapernaum liegt nicht nur am See Genezareth. Es kann überall sein: Ort des Trostes, der Ermutigung. Überall, wo Jesus hinkommt, können Menschen nicht nur aufatmen, sondern sogar aufstehen, weil ihnen vergeben wird, weil sie nicht auf der Bahre ihrer selbst festgeschnallt bleiben. Und weil ein Glaube erwacht, der weniger an das eigene Heil denkt als vielmehr daran, dem einen Platz bei Jesus zu schaffen, der mit seinem Leben schon am Ende schien. So werden wir, was wir von Gott her sein sollen: ecclesia semper reformanda, die sich immer erneuernde Kirche Jesu Christi.
AMEN.
Gottes WG-Regeln
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
der Epheserbrief, aus dem der vorhin gehörte heutige Predigttext kommt, gehört in die zweite Generation der Christen. Allmählich wird die Kirche als Institution erkennbar. Nun geht es darum, dass das große Mysterium, das für den Epheserbrief die Kirche ist, auch nach außen erkennbar werden muss, und zwar durch die Art, wie die Christen miteinander umgehen. Der Verfasser des Epheserbriefs, ein anonym gebliebener enger Schüler des Apostels Paulus, sagt: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (2,19.20) Wir gehören also zu Gottes Wohngemeinschaft. Wir sind nicht mehr Fremde, nicht mehr Gäste, sondern sollen uns in seiner Wohnung „ganz wie zuhause“ fühlen.
I.
Mitglieder einer WG haben Rechte und Pflichten. Unser Predigtabschnitt benennt die Pflichten. Seine beiden ersten Verse lauten: „Achtet nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht wie Toren, sondern als Weise, indem ihr die Zeit auskauft, denn die Tage sind böse.“ Die erste Pflicht lautet also: achtet umsichtig auf euer Leben! Gebt acht auf euch! Euer Leben ist wertvoll, jedes Leben. Wert und Würde hat jedes Leben in sich und unabhängig von allen Leistungen in Gott. Deshalb lebt wie weise Menschen und nicht wie Unweise, wie Toren, die meinen, sich ständig selbst produzieren, rechtfertigen zu müssen, vor den Mitmenschen oder gar vor Gott.
Um im biblischen Sinn ein weiser Mensch zu werden, muss man keineswegs erst ein höheres Lebensalter erreicht haben. Nein, diese Aufforderung gilt allen Christ*innen, ja eigentlich allen Menschen - unabhängig von Bildung und Diplomen. Ein Vorbild dafür finde ich Greta Thunberg, die viel Bewunderte und viel Geschmähte. Die inzwischen 19jährige ist zunächst ein Vorbild für Mut und Zivilcourage - am Anfang vor fünf Jahren, als sie sich ganz allein auf öffentliche Plätze in Stockholm setzte und mit an Sturheit grenzender Beharrlichkeit darauf verwies, dass die Natur mit dem aus den Fugen geratenen Klima uns das zurückspielt, was wir ihr durch unseren way of life antun. Dieser Sommer hat uns das ja vor unserer Haustür auf eine drastische Weise präsentiert. Und später dann Greta Thunbergs Stehvermögen, nicht klein beizugeben durch nicht enden wollendem Hass und Bedrohungen von Leib und Leben. Zugleich ist sie darin auch ein Vorbild für Weisheit, weil sie so unbeirrt dabei bleibt und dafür eintritt, dass die Menschheit ihrem Dogma den Abschied geben muss, dass der Mensch sich selbst das Maß aller Dinge ist. Ich weiß nicht, ob Greta Thunberg ein religiöser Mensch ist. Aber mit dieser Unbeirrbarkeit, den Finger immer wieder in diese Wunde der menschlichen Maßlosigkeit zu legen, ist sie nah dran an dem, was für die Bibel Weisheit ist. „Lehre uns unsere Vergänglichkeit bedenken, damit wir ein weises Herz gewinnen“, heißt es im 90. Psalm.
Unser Text knüpft sein Zutrauen, dass wir als Mitbewohner in Gottes Haus weiser werden können, an die Feststellung: „Die Tage sind böse“. Wie aktuell das ist, muss ich gar nicht weiter ausführen. Es ist selbsterklärend bei der aktuellen Großwetterlage - das Wort ist wörtlich und übertragen zu nehmen. Und weil die Tage böse sind, sollen wir, so heißt es hier, „die Zeit auskaufen“. Was Luther hier mit diesem etwas zopfigen Wort übersetzt, ist auch im griechischen Original nicht ganz klar zu deuten. Gemeint ist jedenfalls nicht, in einer Art Torschlusspanik unserer Lebenszeit ein Maximum an Intensivierung und Effektivierung auszupressen und uns damit total zu überfordern. Sondern eher, die Zeit in der Weise zu nutzen, dass wir sie wirklich wach und ausgeschlafen wahrnehmen und ihre „Zeichen“ erkennen, auch die Botschaften, die sie an mich aussendet: Was ist jetzt an der Zeit für mich? Und dann schwingt auch noch mit, dass dieses „Auskaufen“ in der antiken Welt an ein Freikaufen auf dem Sklavenmarkt erinnert - christlich gewendet: ein Freikaufen von der Sünde, von dem, was mich immer wieder von Gott und von den Mitmenschen trennen, mich nur auf mich selbst fokussieren will. Die Zeit nutzen, das sollen wir als von unguten Fesseln Befreite, als Gottes Mitbewohner, die für Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einstehen. Vor allem aber kennen wir als Gottes WG-Genossen die Hoffnung: die bösen Tage sind begrenzt. Sie dauern nicht ewig. Gott selbst hat ihnen ihre Grenze gesetzt. Diese Hoffnung macht unseren Einsatz nicht überflüssig, im Gegenteil, sie beflügelt ihn.
II.
Dann wird die nächste Pflicht in Gottes Wohnung aufgeführt: „Deshalb werdet nicht unvernünftig, sondern versteht, was Gottes Wille ist.“ Wieder die Aufforderung, zu verstehen! Den Willen Gottes kann ich nicht so einfach auswendig lernen und dann aufsagen. Er liegt nicht wie ein Keks in der Dose. Ich kann nicht mit einzelnen Bibelworten wie ein senkrecht vom Himmel gefallenes Gotteswort um mich werfen, sondern ich muss mich mühen zu verstehen, was sie mir jetzt sagen wollen. Muss fragen: Was ist der Wille Gottes heute, für mich, oder für uns in Kirche und Gesellschaft? Das ist häufig ganz schön strittig. Zumal in unserer evangelischen Kirche, die kein oberstes Lehramt kennt, das uns sagt, was wir zu glauben haben und was nicht. Gerade in komplexen ethischen Dilemma-Situationen, wie bei der Frage der Lieferung sog. schwerer Waffen an die Ukraine, oder welche evt. einschneidenden Maßnahmen wir gegen die drohende Energieknappheit einleiten müssen, um über den Winter zu kommen.
Um etwas zu verstehen, brauche ich einen klaren Kopf. Deshalb ist die Mahnung des Textes kein moralinsaurer Spielverderber, auch wenn sie erstmal so klingt: „Sauft euch nicht voll Wein, das bringt nur Unheil, sondern seid vom Geist erfüllt.“ Hier geht es nicht um wilde WG-Partys, die es sogar in Dresden geben soll. Hier geht es um die Party in Gottes Wohngemeinschaft: nämlich um den Gottesdienst und das Zusammensein der Gemeinde. Ich weiß nicht, ob die Epheser beim Abendmahl dem Wein besonders zugesprochen haben. In der von Paulus gegründeten Gemeinde in Korinth kam das, wie man weiß, wiederholt vor. Immerhin ist das Zentrum des christlichen Gottesdienstes die Mahlgemeinschaft; und die war damals noch eine richtige Mahlzeit. Zu ihr gehörte natürlich Wein, denn der erfreut des Menschen Herz, er wurde von Christus eingesetzt und ist ein Symbol des Festes. Die Mahnung im Epheserbrief zielt auf die zweite Hälfte des Satzes, auf Gottes Geist. Um den Willen Gottes zu verstehen, braucht es einen klaren Kopf, und es braucht Begeisterung. Gottes Geist soll unsere Wohn- und Gottesdienstgemeinschaft erfüllen.
III.
Dazu braucht er äußere Mittel, die abschließend in unserem Abschnitt genannt werden: „Lasst euch vom Geist erfüllen, indem ihr einander mit Psalmen, Hymnen und Liedern ermuntert, indem ihr dem Herrn singt und spielt in eurem Herzen, indem ihr allezeit für alles Gott dem Vater dankt im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Äußerlich wirkt Gottes Geist unspektakulär, fast unscheinbar. Er ist es deshalb, weil er immer der Geist Christi ist. Er wirkt in der Kommunikation, in der Begegnung. Eigentlich jedes Mal, wenn ich einem Menschen begegne, kann ich damit rechnen, dass mir dabei Gottes Geist etwas schenkt und zu verstehen gibt.
Zur gottesdienstlichen Begegnung und Kommunikation gehören Psalmen und Hymnen: alte, aber auch neue Lieder, die sie in die jeweilige Sprache und die Kontexte ihrer Zeit übersetzen. Bei den geisterfüllten Liedern dachten die Epheser an ihre Begabung, mit Hilfe des Geistes neue Lieder zu erfinden. Als Protestanten sind wir dankbar und, ja, auch ein bisschen stolz auf den enormen Reichtum, den Schatz unserer Lieder von Martin Luther bis Paul Gerhardt, von Matthias Claudius bis Manfred Siebald. Sie stellen uns in eine lange Tradition, sie werden in unseren Gottesdiensten in der Frauenkirche oft besonders üppig und herrlich musiziert. So macht Gottes Geist unser Singen zum Mittel, um präsent, gegenwärtig zu werden. Immer wenn ich Musik höre oder selbst singe, soll ich damit rechnen, dass mir dabei Gottes Geist etwas schenkt und zu verstehen gibt und das Herz erhebt.
Zum Singen helfen soll uns, meint unser Text, dass wir „allezeit für alles Gott dem Vater danken im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Von dem großen Mystiker Meister Eckart stammt die Aussage: „Wäre das Wort ‚Danke‘ das einzige Gebet, das Du je sprichst, so würde es genügen.“ Die Muttersprache des Dankens, denke ich, ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Deshalb sind Musik und Lieder wichtiger als alle Predigten und Lehren. Man denke an David: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch kluge religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel.
IV.
Was Lieder für ein Kraft haben! - John wälzt sich auf dem Sofa hin und her. Es ist schon Mittag. Der Schädel brummt wie verrückt, der Kater trocknet ihm die Kehle aus. „Wie konnte ich sie nur wieder so beschimpfen! Jetzt wird sie mich für einen anderen verlassen. Ich kann nicht schlafen. Es hat doch alles keinen Sinn!“ - „Kauft die Zeit aus, singt und spielt dem Herrn in euren Herzen und dankt Gott allezeit für alles - das würde John jetzt grotesk und zynisch in den Ohren klingen. Es bricht aus ihm heraus: ich bin ein Niemand! Das Beste aus meiner Zeit machen? Wünsche, Ziele, Sehnsüchte - in seinen Gedanken führt alles ins Nichts. John ist ein berühmter Mann. Doch in ihm ist nur Leere, und seine Ehe ist am Kippen. In diesem traurigen Zustand findet ihn sein Kollege und Freund Paul vor. Johns Gedanken formen sich zu dem vor sich hin gemurmelten Vers: „He’s a real nowhere man, sitting in his nowhere land, making all his nowhere plans for nobody“. - Er ist ein echter Nirgends-Mann, sitzt im Niemandsland und macht Nirgends-Pläne für niemanden… Klingt total desolat - aber Paul muss doch auch schmunzeln. Irgendwie liegt auch Witz in diesen Worten. So langsam dämmert John seine Situation. Jetzt wacht er auf, kann wieder etwas tun. „Du Nirgends-Mensch, die Welt steht dir trotzdem offen!“, dichtet er weiter. Der Nowhere Man fasst Vertrauen ins Leben und öffnet sich anderen: „Leave it all till somebody else lends you a hand.“ Gemeinsam finden John und Paul eine heitere Melodie, die die Finsternis auf die Schippe nimmt. Aus einer großen inneren Leere heraus wird ein humorvoller Welthit geboren: „Nowhere Man“ von Lennon/McCartney. Ein Balanceakt zwischen Hilferuf und Selbstbehauptung, Klage und Lebenslust.
„Singt und spielt dem Herrn in euren Herzen.“ Erzählt ihm euer Leben, wie es ist, singt vom Schmerz und von der Freude, von der Fülle und der Leere, von Finsternis und von Licht, und Gott wird euer Lied in einen Lobgesang verwandeln.
Amen.
Gott will zu allen
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
hier versucht einer, im Lärm der Welt Gehör zu finden. Nicht nur bei denen in Hörweite, sondern weltweit: „Hört mir zu, ihr Inseln und Völker in der Ferne!“ Er hat kein Mikrophon, kein Smartphone, kein Facebook und Twitter. Er hat nur seine Stimme. Es ist nicht die Stimme des Herrschers einer Weltmacht. Im Gegenteil, es ist die Stimme eines Anonymus, der in dunkler Zeit spricht. Das Gottesvolk befindet sich in der Entwurzelung: es ist die Zeit des Exils in Babylon, wohin die führenden Schichten Israels nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 durch den babylonischen Potentaten Nebukadnezar zwangsverschleppt worden waren. Eine lähmende, depressive Zukunftslosigkeit hatte sich breit gemacht. Angesichts der übermächtigen babylonischen Supermacht hatte lange Zeit alles grau in grau ausgesehen. Die realen Erfahrungen fraßen alle Hoffnungen auf bessere Zeiten auf. Das muss man sich mal vorstellen: Ein total Machtloser, einer, der nichts hat und nichts gilt, wendet sich an die Welt. Und das nicht mit einer Anklage gegen die Unterdrücker oder einem Hilferuf, sondern mit einer unglaublich hoffnungsvollen Botschaft für und an die Welt.
Unser Text ist eine von vier berühmten Prophetenreden, die wir im mittleren Teil des Jesajabuchs finden. Man nennt sie die Gottesknechtslieder. Sie zählen zu den großen, bewegenden Texten der Bibel. Wer ist dieser ominöse „Gottesknecht“? Der Prophet selbst, oder ein anderer, Unbekannter? Oder gar das Gottesvolk als Kollektiv? Darüber rätseln die Ausleger bis heute. In dem Gottesknechtslied, das wir heute bedenken, spricht der Prophet tatsächlich von sich selber. „Du bist mein Knecht“, hat Gott zu ihm gesagt, und: „Ich mache dich zum Licht für die Völker“. Der Prophet hätte das sicher nie von sich selber gesagt: Ich bin das Licht für die Völker. Aber ein halbes Jahrtausend später kam einer in Israel, der seine Heiligen Schriften und dieses Gottesknechtslied kannte und sich ihn ihm erkannte: Dieser Gottesknecht bin ich! Und der darum von sich sagte: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Und das dann sogar in einem unglaublichen Zutrauen auf seine Leute ausgeweitet hat: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). - Wir werden also in dem geheimnisvollen „Gottesknecht“ mehr als nur den Propheten sehen, der hier spricht. In dem, was der Prophet hier sagt, von seiner Berufung, von seiner Angst, von seinem universalen Auftrag, kommt etwas zum Vorschein, was Gott mit der Welt vorhat. Man kann es einfach sagen: Gott beschränkt sich nicht auf sein auserwähltes Volk. Er will zu allen. Von daher sind mir drei Dinge an diesem Text wichtig geworden.
I.
Gott will zu allen: Deshalb nimmt er Menschen in seinen Dienst. - Gott will seine Welt wiederhaben, die ihn vergessen hat und ihre Sache selbst in die Hand nehmen will. Die sich aber zerstören würde, wenn Gott sie sich selbst überließe. Weil Gott das nicht will, hat er eine Gegenbewegung gegen die Todesmechanismen der Welt in Gang gesetzt. Sie beginnt mit der Erwählung Israels zum Hoffnungsträger für die Welt. Nicht etwa, weil es ein besonders großes und starkes Volk war. Das war es ja notorisch nicht. Aber Gott will die Geschichte zum guten Ende der Welt nicht mit solchen machen, die sich selbst als Herren der Weltgeschichte aufspielen. Die Menschen in der Ukraine erleiden jetzt ja peinigend, was das heißt. Es ist andersherum: Gott beruft Menschen, die sich selber loslassen und sich ihm anvertrauen können.
„Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war“, sagt der Prophet von sich. Ehe er also denken konnte, hat Gott schon an ihn gedacht. Genauso war das auch bei Jeremia: „Ich sonderte dich aus, ehe du von deiner Mutter geboren wurdest“, sagt Gott zu ihm. Und später auch bei Paulus - wie auch bei uns in der Gemeinde der Gottesmägde und Gottesknechte. „Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wollest werden“, dichtet Paul Gerhardt im Weihnachtslied. Und so hat Gott heute auch zu Florentin und Rosalie in ihrer Taufe gesagt wie hier zum Propheten: Du bist mein Knecht, meine Magd. Auch durch dich sollen Menschen auf mich neugierig werden, sollen erfahren, dass ich Gutes mit ihnen will, dass ich sie liebhabe. Auch wenn wir uns dazu gar nicht für geeignet halten. Die Bibel kennt das. Mose: „Herr, ich bin keiner, der öffentlich reden kann. Da komme ich ins Stottern.“ - Jesaja: „Herr, ich habe unreine Lippen.“ - Jeremia: „Herr, ich tauge nicht dazu, ich bin viel zu jung.“ - Sind uns solche Einwände fremd? Wohl kaum. Ich kann das nicht, die krebskranke Nachbarin besuchen. Ich krieg das nicht hin, meinen Kindern biblische Geschichten erzählen. Ich trau mir nicht zu, für den Kirchenvorstand kandidieren. Bei der Flüchtlingsarbeit oder beim Hospiz mitmachen. Aber Gott lässt solche Einwände nicht gelten. Die Bibel erzählt in vielen Geschichten: Wem Gott eine Aufgabe zeigt, den macht er dann auch fähig dazu. „Gelobt sei der Herr täglich. Er legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“, heißt es im 68. Psalm.
II.
Gott will zu allen: Deshalb trägt er Menschen in ihren Erfahrungen von Vergeblichkeit und Scheitern. - Eigentlich müsste Gott, wenn er jemand in seinen Dienst nimmt, ja auch dafür sorgen, dass etwas dabei rumkommt. Dass Menschen, und zwar immer mehr, sich von ihm treffen und ihr Leben von ihm verändern lassen, so dass andere aufmerksam werden und ins Nachdenken kommen. Wie in der Antike bei Augustinus, im Mittelalter bei Franz von Assisi oder in unserer Zeit bei Frère Roger von Taizé. Aber es kann eben auch anders sein. So wie hier, dass einer die frustrierende Erfahrung macht: „Ich dachte, ich arbeitete vergeblich, verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz“. Es beeindruckt mich, was für ein ehrliches Buch die Bibel ist, dass solche Erfahrungen der Vergeblichkeit, des Scheiterns Platz in ihr haben. Darin spiegelt sich ja viel von unserer Realität. Die Eltern, die ihre Kinder immer wieder ermuntern, mal mit in den Gottesdienst zu kommen - und ernten nur ein genervtes Augenrollen. Der Pastor einer Landgemeinde, der sicher nicht nach dem Motto lebt: Wie erhalte ich der Kirche einen rüstigen Rentner? Sondern sich abmüht, Besuche macht ohne Ende und täglich für das Wachsen seiner Gemeinde betet - und dann kommen jeden Sonntag doch nur dieselben 15 bis 20 Gesichter. Und der sich irgendwann fragt: Lohnt das alles noch? Sollte man das marode Kirchengebäude wirklich für viel Geld sanieren? Statt zu wachsen, scheint die Kirche überall nur abzunehmen. Und darum erwarten die Menschen von der Kirche manchmal vielleicht noch Herzbewegendes (hier im barocken Glanz der Frauenkirche ist das wohl so), aber nichts Weltbewegendes mehr. - Alles Erfahrungen, die einen ganz schön mürbe machen können.
Aber nun ist es hilfreich zu sehen, wie unser Mann aus dem alten Gottesvolk mit seinem Frust umgeht. Offensichtlich lässt er sich davon nicht in die Resignation treiben. Das schafft er dadurch, dass er den Blick von der Fixierung auf die trostlose Gegenwart löst und ihn zurück auf den Anfang lenkt. Er macht sich klar: Nicht ich habe mich ja zu diesem Dienst gedrängt, sondern Gott hat mich dazu gerufen. Und deshalb muss auch nicht ich über Erfolg und Misserfolg meiner Arbeit befinden. Mir kommt es zwar vor, als käme bei dem, was ich tue, nichts heraus. Aber: „Mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn ist bei meinem Gott“. Im Klartext: Mein Tun wird nicht gerechtfertigt durch das, was ich kontrollierbar erreicht habe, wieviel Menschen sonntags zu mir in die Kirche kommen, wie viele ich pro Jahr getauft habe, wie hoch die Kollekten sind, wie viele sich nach dem Gottesdienst bedanken. Sondern mein Dienst hat seine Legitimation einfach darin, dass Gott Ja zu mir gesagt und meine Berufung nicht zurückgenommen hat. Zu seinem Volk, zu seinen Botschaftern zu gehören, ist mir genug. Das lohnt auf jeden Fall! Von Gott, und uns als seinen Werkzeugen, gehen Wirkungen aus, die sich menschlicher Messbarkeit entziehen.
III.
Gott will zu allen: Deshalb gebraucht er Menschen zum Heil-Werden der Welt. - Gott zieht seine müde gewordenen, sich scheinbar für nichts und wieder nichts abmühenden Dienstleute nicht aus dem Verkehr. Er verengt auch nicht ihren Aktionsradius, im Gegenteil: er erweitert ihn noch! Er setzt ihnen neue Ziele und öffnet ihnen den Blick für das Universale ihres Dienstes. Sie sind nicht an einer Winkelsache beteiligt, sondern sie arbeiten - auch in der kleinsten Lausitzer Dorfgemeinde - im Welthorizont. Wir alle sind durch unsere Taufe Glieder am universalen Leib Christi, und als solche sind wir Global Player. Unser Prophet bekommt zu hören: „Ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde“. Auch zu den ganz Fernen, auch zu denen, die weit weg sind von Gott, mit ihm und seiner Gemeinde nichts am Hut haben, zu denen „am Ende der Erde“. Und die müssen nicht über dem Ozean sein, die sind über dem Hausflur oder der Straße. Auch zu ihnen will Gott hin und ihr Leben verändern.
Liebe Gemeinde, das sollte die Frage sein, die aus diesem Gottesdienst mit uns geht und uns - jedenfalls soweit wir Christen sind - hoffentlich ein bisschen in Unruhe bringt: Macht uns das zu schaffen, dass so viele Menschen, denen wir täglich begegnen, nichts davon wissen wollen, dass Gott sie einlädt zu einem Leben mit ihm? Sind wir bereit, uns dafür von Gott gebrauchen zu lassen, dass Menschen, mit denen wir zu tun haben, mit Gott in Kontakt kommen? Es macht mir schon zu schaffen, wie „schicksalsergeben“ wir darauf reagieren (oder eben nicht reagieren), dass Jahr für Jahr immer mehr Menschen mit der Kirche abschließen.
Vor vielen Jahren saß ich mit Tausenden junger Leute auf dem kalten Boden einer Stuttgarter Messehalle und hörte Frère Roger zu, dem Gründer von Taizé. Er sagte damals: „Wenn einer auch nur ganz wenig von Gott weiß, wenn er nur ganz wenige Erfahrungen mit ihm gemacht hat, so hat er doch so viel, dass er einen anderen auf ihn aufmerksam machen, dass er einem, der nach Leben hungert, zeigen kann, wo es Brot gibt, und ihn vielleicht ein Stück weit dahin mitnimmt.“ - Ich füge hinzu: Dass er einen, der im dunklen Keller seiner Traurigkeit, seiner Angst, seiner Verbitterung sitzt, behutsam ans Licht führt. Das können wir alle.
Amen.
Die Abwesenheit des Heiligen
Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik
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Liebe Gemeinde,
heute steht die Bach-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ im Mittelpunkt. Wir werden sie nachher hören. Sie hat es zu besonderer Popularität gebracht. Das liegt einmal natürlich an der hinreißenden Musik. Es hat aber auch damit zu tun, dass diese Kantate in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung in Bachs großen Kantatenwerk Bachs einnimmt. Sie ist eine der ganz wenigen Solokantaten, also ohne Chor, für Solo-Sopran und Trompete. Und ihre Musik verlangt beiden, der Singstimme wie dem Instrument, Außerordentliches ab. Teilweise, vor allem im Schlusssatz mit seinem „Halleluja“, klingt es fast wie in einer Opern-Arie. Wir werden es dann hören.
Aber das sind kompositorische Dinge. Wie steht es geistlich, inhaltlich mit dieser Kantate? Dazu einige Gedanken. Zunächst kommen wir um die nüchterne Feststellung nicht herum, dass wir nicht nur diese Bach-Kantate mit sehr anderen Empfindungen hören, als sie die Hörer*innen damals zu ihrer Entstehungszeit hatten - und für die auch J. S. Bach die Vorstellung gefehlt hätte. „Dass wir ihm fest vertrauen, / Gänzlich uns lass'n auf ihn, / Von Herzen auf ihn bauen, / Dass uns'r Herz, Mut und Sinn / Ihm festiglich anhangen“: Am 15. Sonntag n. Tr., wahrscheinlich (ganz genau wissen wir es nicht) im Jahr 1730, das war damals der erste Septembersonntag, hörte die Leipziger Thomaskirchengemeinde in diesem Text den gesungenen Nachhall zur Predigt. In einer Form, die man mutmaßlich mit mehr Genuss als die Predigt konsumierte. Denn glücklicherweise hatte Luthers Reformation nicht jede Kunst aus dem Gottesdienst ausgetrieben. Aber dass die Künste dem Wort dienstbar bleiben mussten, verstand sich auch in der Leipziger Thomaskirche von selbst. An dieser ehernen Hierarchie änderte eine miserable Predigt so wenig wie eine begnadete Musik.
Zugespitzt gesagt: Auch der Text einer Kantate kann so hölzern sein wie der dieser Cantata 51 – die Musik ist dafür geschaffen, dass man ihn hören soll, und sie schafft es auch, dass er sich hören lässt. Und in unseren Ohren sorgt sie jetzt dafür, dass wir ihn gegebenenfalls auch überhören können. Er geht in Bach einfach auf wie Salz in der Suppe, der seltsame Text, und die Frage bleibt uns erspart, wie er uns, für sich genommen, schmecken würde, ohne die Musik. Wir hören nicht Gottes Wort, wir hören Bach. Mit weniger gibt sich ein heutiges Publikum nicht zufrieden, während für die Thomasgemeinde um 1730 die menschliche Unvollkommenheit auch in dieser Form im Lob Gottes eingeschlossen gewesen war. Es genoss die Erleichterung von der Schwere des Wortes durch die schönen Töne, während wir auch ihre geistliche Dimension vor allem ästhetisch wahrnehmen. Uns packt die unglaubliche Strukturiertheit, dass präzise Durchkomponierte der Bachschen Musik, weshalb man sie gerne „objektiv“ oder „absolut“ nennt. Was zu Bachs Zeiten nur einige Kenner gehört haben - den einzigartigen Rang dieser Musik -, gehört heute allgemein zum Ruf, die ihr vorausgeht, zur Aura, die sie umgibt. „Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen“, hat Albert Schweitzer voller Ehrfurcht gesagt, der wohl größte Bachforscher und -kenner seiner Zeit.
Wahrscheinlich erscheint uns Bach auch darum als beispiellos, als Solitär, weil die sakrale und soziale Umgebung seiner Musik so restlos weggebrochen ist. Ganz anders als die großen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts, von Mozart bis Wagner, gibt Bach als Person kaum etwas her zum Faszinosum. Sein Musikerhaushalt, die Wohngemeinschaft mit seinen Schülern inklusive, ist, bis zu Schlafrock und Perücke, von durchdringender Biederkeit, die kaum durch ein paar Anekdoten aufzulockern ist. Wir sehen einen bürgerlichen Musikmeister am Werk, der nach Brot geht und nicht ohne Pfiffigkeit die nächstbessere Stelle sucht, die ihm auch die Butter dazu verspricht. Diese professionelle Mobilität ist die auffälligste Bewegung, die man an ihm wahrnimmt, bevor er sich 1723 dauerhaft in Leipzig niederlässt, bis an sein unspektakuläres Ende. Ein solches Leben gibt kein Künstler-Narrativ her. Aber dann im 20. Jahrhundert hatten die Erschütterungen und Umstürze des überkommenen Menschenbildes die merkwürdige Nebenwirkung, Bachs Licht immer stärker und unangefochtener leuchten zu lassen. Er wurde für die Moderne und Postmoderne der Inbegriff absoluter, objektiver Kunst. Die sie auch schon für ihren Urheber gewesen war - aber für ihn als demütige Spiegelung der objektiven Allmacht einer absoluten Größe. „Muss gleich der schwache Mund von seinen Wundern lallen, / So kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohlgefallen.“
Und fasziniert können wir die grandiosen Sopran-Koloraturen seines Halleluja im Schlusssatz hören, ohne die Verpflichtung, was wir hören, auch zu glauben. Man ist kein Spielverderber, wenn man daran erinnert, dass wir diese Kantate ganz außerhalb des Kontexts genießen, in dem sie komponiert wurde und ohne den sie nicht entstanden wäre. Es wäre schon viel, wenn es uns gelänge, ihren Resonanzraum gegen den obligatorischen Lärmpegel des Gottes unserer modernen Welt, nämlich des Marktes, abzudichten. Dieser Gelegenheit verdanken wir das Erlebnis einer aus ihrem Zusammenhang entnommenen Kunst als Absolutum. Es ist gerade ihre Ferne, die die größte Nähe erzeugt: als wären in ihr Fernweh und Heimweh eins geworden.
Ja: Bachs Musik hat die seltene Eigenschaft, die Leere, in der wir sie hören, nicht zu übertönen, nicht zu verkleiden, nicht zu beschönigen, sondern fühlbar zu machen. Sie macht uns Musik-Kunden zu Lauschenden. Wir hören etwas nach, das auf keinem Markt zu haben ist - weil man es überhaupt nicht haben kann. Das Schöne sei „nichts als des Schrecklichen Anfang“, sagt Rilke in einer seiner Duineser Elegien. Und weiter: „…und wir bewundern es so, / weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“. Etwas von dieser schrecklichen Schönheit berührt uns in Bachs Kantaten, die uns vom Heiligen nur eines, dies aber unüberhörbar zu melden haben: Es fehlt, und es fehlt uns. Unter dem Eindruck dieser überwältigenden Abwesenheit werden wir, in Bach, fast wieder eine Gemeinde. Und dann können wir das Lob Gottes in dieser Kantate 51 auch als Klage hören. Wenn uns da ein Trost bleibt, hat ihn vielleicht nur Bachs Musik zu bieten.
AMEN.
Die Bekehrung des Ananias
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
der vorhin gehörte Predigttext erzählt das sprichwörtlich gewordene „Damaskuserlebnis“. Von den Begleitern des Paulus heißt es dort: „Sie standen sprachlos da.“ Ja, man kann sprachlos werden angesichts dieser grundstürzenden Lebenswende, die hier überliefert ist. Am Anfang hören wir: „Paulus raste vor Wut und Mordgier gegen die Jünger des Herrn.“ Am Schluss heißt es: „Alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus“. Was für eine Wende! Vor 30 Jahren war aus guten Gründen viel von den „Wendehälsen“ die Rede, die vor 1989 ihr „Er lebe hoch!“ auf Honecker & Co. angestimmt hatten, und danach gar nicht flott genug im Kapitalismus ankommen konnten. War die große Wende, die Paulus vollzogen hat, war dieses ebenfalls sprichwörtliche „Vom Saulus zum Paulus werden“ eine echte Wende? Dabei bekommen leicht übersehene Einzelheiten in dieser Erzählung ihr besonderes Gewicht.
I.
Musikliebhabern wird diese Geschichte Klänge aus Mendelssohns Oratorium „Paulus“ durchs Ohr gehen lassen. Sie spielt sich vor und in Damaskus ab. Das war kein unbedeutender Fleck irgendwo an der Peripherie. Damaskus war in der damaligen Zeit eine echte Metropole, wie heute Berlin, London oder Paris. Eine Weltstadt mit Atmosphäre und Kultur, ein Soziotop konkurrierender Weltanschauungen und Lebensentwürfe. Die Römer haben beflissene Beamte eingesetzt, die dort die Verwaltung innehaben. Wer sich zu auffällig benimmt, wird überwacht. Paulus wird später einmal durch ein Fenster in einem Korb die Stadtmauer hinabgelassen, um sein Leben vor dem Zugriff der Besatzungsmacht zu retten. Dort in Damaskus gibt es auch eine junge, sehr kleine Gemeinde von Christen. Um nur ja nicht aufzufallen, führt sie eine unauffällige Nischenexistenz. Man gibt sich gegenseitig Nestwärme und schaut sorgfältig darauf, dass nur die dazugehören, denen alle vertrauen können.
Unsere Geschichte wird in allen Bibeln mit der Überschrift „Die Bekehrung des Paulus“ versehen. Es ist hier aber nicht nur von einer Bekehrung die Rede, sondern untergründig noch von einer zweiten. Und erst die macht es möglich, dass das, was Saulus vor Damaskus erfährt, wirklich zu einer Bekehrung wird. Aber dazu müssen wir diese Geschichte von hinten her lesen – indem wir unseren Blick ein bisschen von Saulus weg und auf jemand anderen richten: jener Christ aus Damaskus namens Ananias. Deshalb soll heute von der Bekehrung des Saulus zum Paulus die Rede sein, indem ich die Bekehrung eigener Art, die Ananias erfährt, in den Blick nehme.
Die Bibelkundigeren mögen sich wundern. Dieser Ananias, wer ist das schon?! Er taucht noch ein einziges Mal kurz auf in der Apostelgeschichte, er ist keiner der großen Namen, eher eine Randfigur. Ananias ist der Pastor der kleinen Christengemeinde in Damaskus. Er tritt erstmals in dem Moment auf, da er erfahren hat, das Saulus, der gefürchtete Christenfresser, ante portas ist – versehen mit Vollmachten aus Jerusalem, Frauen und Männer, die sich in Damaskus zur Gemeinde Jesu Christi bekennen, zu verhaften. Man kann sich vorstellen, wie es Ananias zumute ist und was er jetzt als seine Aufgabe ansieht: unauffällig für seine Gemeinde da sein, sie schützen, mit ihr im Verborgenen bleiben. Und dann hört er wie aus dem Nichts Gottes Anruf. „Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann namens Saulus von Tarsus“. Ausgerechnet an diesem unscheinbaren Repräsentanten einer kleinen Gemeinde entscheidet sich, ob Paulus, der große Völkerapostel, wirklich erkennt, was Gott mit ihm vorhat, ob das, was ihm vor den Toren von Damaskus widerfahren ist, wirklich zum „Damaskuserlebnis“ wird oder nicht. Ananias soll sich nicht weiter verkriechen, sondern raus, hin zu Paulus, und das ins Zentrum der Stadt. Die Gerade Straße war damals in Damaskus die Magistrale, der Prachtboulevard. Wie die Champs Elysées in Paris oder Unter den Linden in Berlin. So war es mit dem Evangelium von Anfang an: Es lässt sich durch nichts aufhalten; es kann mich ansprechen, wo ich ganz bei mir selbst bin, so wie Ananias, als ihm Gott erschien. Dasselbe Evangelium bleibt aber nicht im Leisen, Verborgenen. Es lässt sich nicht aufhalten und drängt hinaus auf die Gassen und die Prachtstraßen, auf die Märkte und Plätze.
II.
Es folgt der nächste Schritt zu seiner Bekehrung: Ananias blockt, wehrt ab! „Herr, ich habe von vielen gehört, wieviel Böses dieser Mann deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat“. Daraus spricht nicht nur Angst vor dem berüchtigten Christenverfolger, sondern auch ein gehöriger Schuss Misstrauen, ja Resignation. Ananias mag bei sich denken: Ist das wirklich Gottes Stimme gewesen, die ich gehört habe? Kann Jesus einen so fanatischen Gegner wie diesen Saulus umkrempeln? Ist das wirklich eine dauerhafte Bekehrung von Grund auf, oder eher nur ein vorübergehendes Nachgeben in der Schwäche und Blindheit? Isst und trinkt Saulus wirklich nicht aus echter Buße und Erschütterung über sich selbst - oder einfach nur, weil er nicht kann, weil der körperliche Schock jener Lichtvision zu groß war? Hier bricht das Dilemma auf, das wir so gut kennen wie damals Ananias. Auf der einen Seite glaubt er an den Gott, der Wunder tut, und an das Kreuz, das Versöhnung für alle bringt. Auf der anderen Seite aber scheint alles beim Alten zu bleiben. So steht es da, unerschütterlich: das Dogma von der Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Unveränderbarkeit der Menschen. Aber Ananias lernt nun, sich nicht lähmen zu lassen von seinen ängstlichen Vorurteilen. Gegen alle inneren Widerstände macht er sich auf den Weg ins Stadtzentrum. So erfährt auch er ein wichtiges Stück Bekehrung - indem er das Zutrauen in Gott lernt, dass er Menschen gewissermaßen „umdrehen“ kann, dass Menschen nicht auf immer festgelegt bleiben auf ihre Ideologie, ihren Fanatismus.
Und dann - das ist die dritte Stufe seiner Bekehrung - erfährt Ananias, dass Jesus den Saulus nicht nur erschüttert hat und neu ausrichten will, sondern mit ihm Großes vorhat: „Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel“. Saulus wird nichts Geringeres zugetraut als dass er den Namen Jesu dort ins Spiel bringt, wo Macht und Gewalt herrschen. Aber gerade nicht so, wie es heute der Patriarch von Moskau tut, wenn er dem Diktator im Kreml seine Aufwartungen macht und ihn segnet zum Schlachtenglück im Nachbarland. Sondern so, wie man es sich vom Papst wünschen würde, wenn Putin ihn denn empfangen würde: „Herr Präsident, in Jesu Namen, zu dem Sie sich doch bekennen, sage ich Ihnen: Sie lästern Gott und tun ihm unendlich weh mit dem, was Sie tun. Jedes Kind, jede Frau, jeder Soldat, der durch Ihren Krieg sein Leben verliert, ist ein Kind unseres Gottes. Und Jesus ist nicht gegen die Ukrainer gestorben, sondern für uns alle, auch für Sie.“
III.
Zurück auf die Gerade Straße in Damaskus. Das erste Wort, das Ananias nach seinem Eintreffen dort zu Saulus spricht, ist die erstaunliche Anrede: „Lieber Bruder Saul!“ Darin liegt mehr als dass Ananias ein höflicher Mensch ist. Diese Anrede ist wie eine Absolution, gesprochen auf dem Grund dessen, was Jesus selbst vor drei Tagen dem Saulus mitgeteilt hat. Damit, dass der Erzfeind mit dem Brudernamen angeredet wird, ist dessen Vergangenheit für erledigt erklärt. Was gewesen ist, was Saulus getan hat, ist durch Christus selbst beseitigt. Das kann Saulus sich nicht selber sagen - dafür muss ihm durch jemand anderen der Blick geöffnet werden. „Und sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf und ließ sich taufen und nahm Speise zu sich“. Das heißt ganz grundsätzlich: Unsere Annahme durch Gott und unsere Aufnahme in die Gemeinde seiner Kinder sind nicht zwei verschiedene Dinge, sondern das zweite folgt unmittelbar aus dem ersten. Und das ohne Wenn und Aber, ohne Bewährungszeit. Es ist ja schon schwierig sich vorzustellen, was einer wie Saulus - das Auftragspapier der Jerusalemer Hohepriester wahrscheinlich noch in der Tasche - empfinden muss, wenn er von denen, die er unschädlich machen sollte, so als einer der ihren aufgenommen wird.
Aber eben das ist gelebtes Evangelium. Evangelium, das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt Frohe Nachricht. Ihr Inhalt: Gott holt Dich und mich, er holt seine Gemeinde weg von allem Kleinteiligen, von aller Durchschnittlichkeit und Ängstlichkeit. Gott lässt seine Gemeinde nicht als unbrauchbar links liegen, weil sie so ängstlich, so unansehnlich ist. Er belässt uns nicht in der Verdruckstheit, wo wir nur unsere Defizite sehen und feststellen, dass wir als Christ*innen immer weniger werden, eine kleine Minderheit in einer Gesellschaft, die ganz anderen Lebenszielen nachrennt. Das Interesse der vielen, vielen im an der Kirche im Wendeherbst 1989 war ja nur ein Strohfeuer du gar nicht echt. Aber nein, Gott lässt solchen Kleinmut nicht gelten. Er macht aus Leuten mit eingezogenen Köpfen solche mit aufrechtem Gang, er bringt seine Gemeinde auf den Weg, damit sie sich von seiner Sache packen und von Grund auf verändern lässt.
IV.
Es bleibt noch die Frage: Wie war das damals bei Saulus? Was dort vor den Toren von Damaskus geschah, bleibt geheimnisvoll. „Ich bin Jesus“, vernimmt der verstörte Saulus auf seine Frage „Herr, wer bist du?“ In dieser Antwort ist verdichtet das ganze Evangelium enthalten, wie es für Martin Luther bei seiner großen Wende im Kloster so entscheidend wurde, die er ja auch als eine Bekehrung erlebt hat. Jesus rechnet mit Saulus nicht ab, hält ihm kein Sündenregister vor. Bei uns geht es ja oft nach dem notorischen Mechanismus: Die eine richten, die anderen rechtfertigen sich, und alles bleibt beim Alten. Neuanfänge werden so nicht möglich. Hier in der direkten Konfrontation mit Saulus nennt Jesus seinen Namen: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“. Darin steckt, dass er seinem Erzfeind in diesem Augenblick sein ganzes Interesse, seien Hingabe, sei Heimweh nach ihm spürbar machen will. Er bringt neuen Glanz, ein Aufatmen in ein Leben, das vor lauter Hass und Fanatismus finster und hart geworden war. Es ist, wenn mir jemand, den ich vot lauter Antipathie nur mit Misstrauen und Vorbehalten behandelt habe, rundheraus sagt: „Sag Du zu mir! Ich will mit dir zusammengehören. Ich bin nicht derjenige, für den du mich hältst!“
Liebe Gemeinde,
es sind nicht unsere Überzeugungsversuche oder unsere bitteren Anklagen, die Menschen eine wirkliche Wende erfahren lassen. Da spielen immer zu viele subkutane Vorurteile oder Verletzungen mit. Jesus Christus ist es, der Menschen ganz neu auf den Weg bringen kann. Weil er nicht mit einer Abrechnung beginnt, sondern weile er seine überwältigende, zupackende, uneingeschränkte Liebe spüren lässt. Wie auch immer – es fällt auf, dass Lukas im Fortgang seiner Apostelgeschichte kein einziges Wort mehr über die dunkle Vergangenheit des nun ohne weitere Erklärung zum Paulus gewordenen Saulus verliert. Und es ist wirklich nicht einzusehen, dass Vergleichbares nicht auch heute geschehen kann. Der auf seinem Weg durch diese Welt immer wieder die aufgesucht hat, um die andere einen Bogen gemacht haben, der wird auch heute, wie damals vor Damaskus, Mittel und Wege finden, die Fernen zu erreichen und zu Nahen zu machen. Und er möchte, dass wir uns, wie damals Ananias, da mit einspannen lassen.
AMEN.
Sich klein machen ist Sünde
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Als unser Herr auf Erden
in Sprüchen sich erging,
da hieß er uns bewerten
den Wucher nicht gering.
Er riet all den Besuchern,
die er bei sich empfing,
mit ihrem Pfund zu wuchern,
so gut es irgend ging.
Und dass er Ihm gefalle,
strengt sich ja jeder an!
So wucherten denn alle,
die’s vordem auch getan.
Und sieht man denn nicht stündlich
auf Erden weit und breit,
dass Gott dem, der nicht gründlich
mitwuchert, nicht verzeiht?
Nur, die kein Pfündlein haben,
was machen denn dann die?
Die lass‘n sich wohl begraben
und es geht ohne sie?
Nein, nein, wenn die nicht wären,
dann gäb’s ja gar kein Pfund.
Denn ohn‘ ihr’ Schwielen und Schwären
macht keiner sich gesund.
Diese bittersarkastischen Reime, liebe Gemeinde, hat sich einer der großen Dichter deutscher Sprache auf das eben gehörte Gleichnis Jesu von den anvertrauten Zentnern gemacht: Bertold Brecht, mit der „Ballade vom Pfund“ aus seinem Dreigroschenroman. Der Marxist Brecht las dieses Gleichnis als eine Rechtfertigung von Ausbeutung und Profit durch Jesus höchstpersönlich. Gott erschien ihm hier als ein Gott der Kapitalisten, nicht der Armen.
I.
Der erste Blick scheint ihm Recht zu geben. Dass Geld arbeiten muss, dafür spricht nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch unsere Lebenserfahrung. Anlegen, Riestern, Investieren Verzinsen: das betrifft uns alle. Zugleich wissen wir, dass sich Geld nur selten zum Nutzen aller vermehrt. Wir wissen um die Effekte von Aktienhandel und Weltmarktpreisen, wir haben davon gehört, dass Nahrungsmittelspekulationen zu Hungerkrisen führen, der Ausverkauf von Land wie in Brasilien oder Indien Menschen die Existenzgrundlage entzieht. Insofern hätten wir von Jesus ein Gleichnis ausgerechnet aus dieser kapitalistischen Sphäre wohl nicht erwartet. Es wirkt schräg, von ihm belehrt zu werden, dass und wie man Geld vermehrt. Er selbst hatte ja keines. Die Jünger mussten am Sabbat vor Hunger auf fremden Feldern Ähren raufen. Eine ordentliche Mahlzeit bekamen sie nur, wenn Jesus sich bei einem reichen Zöllner oder anderen Sympathisanten zum Essen einlud. Von Geld keine Spur. Deshalb gehört die Besitzlosigkeit, neben der Keuschheit und dem Gehorsam, ja auch zu den sog. Evangelischen Räten, nach denen die leben, die sich als Mitglieder eines Ordens auf eine besonders konsequente Form der Nachfolge Jesu einlassen.
Aber nun das hier: Jesus redet von Riesensummen. In Zentnern Silbergeld wird gerechnet. Ein Zentner, das ist ein riesiger Barren Silber. So viel, wie ein Mensch gerade noch tragen kann. 30 bis 40 Kilogramm. Ein Zentner, das waren in der Zeit Jesu so um die 17 Jahreseinkommen einer armen Familie. Die acht Zentner eines Investors entsprechen also etwa 140 Jahreseinkommen. Gelobt wird der, der das ihm anvertraute Vermögen in kurzer Zeit verdoppelt. Zu dem, der auf diese Weise zehn Zentner Silbergeld abliefern kann, sagt der von seiner Reise zurückkehrende Herr: „Du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen.“ Da wirkt es fast schon zynisch, in so einem Zusammenhang von „wenig“ zu reden.
Jedenfalls hat nicht nur Bert Brecht in diesem Gleichnis einen durch Gott höchstpersönlich abgesegneten Lobpreis der Kapitalvermehrung gesehen. Dieses kleine Gleichnis hat eine enorme ideengeschichtliche Wirkung entfaltet. Der große Soziologe Max Weber hat vor gut 100 Jahren diese Wirkung analysiert, besonders auf die Reformation. Er kam zu der berühmten These, dass Texte wie dieses Gleichnis die protestantische Arbeitsethik hervorgebracht haben, die wiederum einen entscheidenden Nährboden für das Aufkommen des Kapitalismus bereitet habe. Da ist schon etwas dran. In protestantisch geprägten Ländern war und ist die kapitalistische Wirtschaft besonders dominant und erfolgreich. Blick in die USA genügt. Himmlischer Segen wurde und wird dort in etlichen protestantischen Kirchen mit irdischen, materiellen Segnungen identifiziert. Je mehr Wohlstand, desto fleißiger und gottgefälliger lebt einer, desto mehr Segen von oben muss auf ihm ruhen. Dieses sog. Wohlstandsevangelium lässt seit Jahren im ursprünglich katholischen Lateinamerika die protestantischen Freikirchen immer mehr anwachsen.
II.
Aber all die Auswüchse des Kapitalismus bitte ich Sie jetzt einmal ad acta zu legen. Denn dieses Gleichnis ist keine Anleitung zur ökonomischen Geldanlage heute. Es ist ein sog. Endzeitgleichnis. Der Herr, der hier verreist: für die Gemeinde des Matthäus war das Christus selbst, der nach seiner Himmelfahrt nicht mehr irdisch da war. Umso intensiver haben sich die Menschen auf seine Wiederkunft vorbereitet und damit die Endzeit, das letzte Gericht verbunden. Wenn Christus in Herrlichkeit wieder für alle sichtbar auf die Erde kommt, dann wird alles ans Licht kommen, alle Ungerechtigkeit und alle Schuld, aber auch Liebe und alle Gerechtigkeit.
Durch die maßlose Übertreibung, mit der dieses Gleichnis arbeitet, will es unsere Aufmerksamkeit ganz woanders hin lenken. Ein verreisender Herr hätte ja, realistisch betrachtet, bessere Wege, sein Vermögen vermehrend arbeiten zu lassen als dass er es einfach den Sklaven überlässt. Da kann er kaum mit Wachstumsraten rechnen, wie wir sie nicht einmal vor 30 Jahren beim Boom der New Economy erlebt haben. Vor allem aber wird er von seinen Sklaven nicht erwarten, dass die gegen das geltende Recht verstoßen. Denn Wucher war damals vom rabbinischen Recht strikt verboten. Vorhandenes Vermögen konservativ zu sichern, war die einzig legale Verhaltensweise. Es zu vergraben, war durchaus üblich. Dieses Vorgehen war keineswegs so befremdlich, wie es heute auf uns wirkt. Also, das ist zunächst ein wichtiges Zwischenfazit: Nicht die beiden ersten Knechte, die sich der wunderbaren Geldvermehrung rühmen, haben sich korrekt verhalten. Sondern der dritte Knecht ist der Einzige, der sich an die üblichen Gepflogenheiten gehalten hat. Nicht nur deshalb hat er meine Sympathie. Die beiden ersten brauchen die gar nicht. Sie wurden reichlich ausgestattet mit fünf und mit zwei Zentnern Silbergeld. Die Art, wie sie damit gewirtschaftet haben, findet das Wohlwollen ihres Herrn. Sie sollen sowieso eingehen „zu ihres Herrn Freude“; unsere Empathie brauchen sie nicht. Den dritten Knecht dagegen benachteiligt der Herr ganz offensichtlich. Nur ein Zentner Silbergeld wird ihm anvertraut. Wie er dieses Vermögen hütet, stößt auf die scharfe Kritik seines Herrn. Er verwünscht ihn sogar, indem er ihm ewiges „Heulen und Zähneklappern“ in Aussicht stellt. Dabei hat dieser Knecht doch nur getan, wozu er verpflichtet war. Auf die Härte und Unerbittlichkeit des Herrn, die ihm ohnehin schon lange einschüchtert und Angst macht, bräuchte er sich dafür gar nicht berufen. Der Hinweis auf die Klarheit der Regeln hätte genügt.
III.
Aber warum nur gibt ihm Jesus nicht Recht? Warum stellt er ihn so in den Senkel? Jetzt wird wichtig, dass wir es hier mit einem Gleichnis zu tun haben. Ein Gleichnis Jesu hat immer zwei Ebenen: eine sog. Bildhälfte und eine sog. Sachhälfte (A. Jülicher). Die sind nicht identisch. Die Bildhälfte ist in Jesu Gleichnissen immer aus dem prallen diesseitigen Leben gegriffen. Sie soll illustrieren, anschaulich machen, was die Botschaft ist, die Jesus mit Hilfe des Gleichnisses rüberbringen will. Diese selbst ist aber die Sachhälfte. Und die Botschaft dieses Gleichnisses ist: Um den Umgang mit dem Geld geht es gar nicht. Das ist nur die veranschaulichende Bildhälfte. Es geht um den Umgang mit den Gaben, die Gott uns geschenkt hat. Es geht um den Umgang mit der einen großen wunderbaren Gabe, die sich wirklich vermehrt, wenn wir sie verschwenderisch ausgeben, und die tatsächlich verkümmert, wenn wir sie vergraben: die Liebe, und, von ihr abgeleitet, die Versöhnung. Wer diese Gottesgabe versteckt, um sie unter Kontrolle zu halten, zerstört sie. Heulen und Zähneklappern sind die Folge. Ja, wer alles horten, unter Kontrolle behalten will, knirscht auch noch im Dunkeln mit den Zähnen. Er holt dann nachts all die Kontrolle auch noch nach, zu der es am Tag nicht gereicht hat. Anders gesagt: Wer Gottes Liebe so unter Kontrolle halten will, verliert alle Kontrolle. Es geht also nicht um kapitalistische Geldvermehrung als Norm. Das Geld, das sich vermehrt, wenn man nur kreativ genug damit umgeht, ist für Jesus nur ein - allerdings provozierendes - Bild für die Liebe, die sich nicht verausgabt, wenn man sie mit anderen teilt. Die zu einem großen Strom anschwillt, wenn man sie nur strömen lässt.
Deshalb ist es abwegig, wenn man Jesus mit einem düsteren Herrn gleichsetzt, der in die Ferne reist und bei der Rückkehr unerbittliche Rechenschaft fordert. Kann das derselbe sein, der von sich sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28)? Soll man sich von ihm vorstellen, er habe den Menschen Heulen und Zähneklappern in der Finsternis, also - die Hölle angekündigt? Freilich: dass Menschen durch die Angst, in der sie ihre Fähigkeit zu lieben vergraben, statt sie zu leben, sich selbst in eine unheimliche Einsamkeit und Dunkelheit bringen können, das ist so. Wir kennen solche Momente von uns selbst wie von anderen. Es ist aber genau diese Finsternis selbst, die Jesus auf sich genommen hat. Die Finsternis, in die der dritte Knecht sich gestoßen fühlt, ist dieselbe, in welcher der Gottesknecht, der wahre Herr aller Knechte starb: „Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde“, so heißt es beim selben Evangelisten Matthäus in der Passionsgeschichte, „und Jesus schrie mit lauter Stimme und starb“ (Mt 27,45.50). Dass Jesu Schrei diese Finsternis erreicht, ist der Grund der Hoffnung für alle, die sich selbst zu hoffnungslosen Figuren erklären. Ohne diese Verheißung könnten wir kaum leben. Es ist die Hoffnung auch für den dritten Knecht.
Deshalb stehen auf einer tieferen Ebene eben doch nicht Heulen und Zähneklappern am Ende dieser Geschichte. Denn Jesus ist für jeden hoffnungslosen Fall ans Kreuz gegangen - wodurch es uns schlicht verboten ist, einander oder gar uns selbst zu solchen Fällen zu erklären. Und darum steht etwas anderes am Ende dieser Geschichte: nämlich die Freiheit von der Angst, zu versagen. Die ist nicht mehr nötig. Denn keine unserer Gaben ist zu gering, als dass sie nicht im Licht der göttlichen Liebe strahlen könnte. Keine unserer Begabungen ist unnütz, keine braucht zu verkommen. In der göttlichen Haushaltsordnung hat jede unserer Gaben ihren Wert: die Gabe zu trösten ebenso wie die Fähigkeit zu planen, die Lust am Geschichtenerzählen ebenso wie die Durchhaltekraft bei der Arbeit. Denken Sie an das berühmte Kinderbuch von der Maus Frederick. Frederick sammelt nicht wie die anderen Mäuse essbare Vorräte für den Winter; Frederick bereitet sich darauf vor, in den kalten Wintermonaten die anderen durch seine Erzählungen zu erwärmen und zu erfreuen. Auch das ist ein Talent.
IV.
Haben wir ein Recht, die schönen Begabungen unter den Scheffel zu stellen, die Gott jeder von uns anvertraut hat? Jesu Gleichnis gibt uns dazu kein Recht. Übrigens: gäbe es dieses Gleichnis nicht, dann hätte das Allerweltwort Talent nie Eingang in unsere Sprache gefunden! Das Wort, das Luther hier mit „Zentner“ übersetzt hat, heißt nämlich im griechischen Urtext „Talent“. Wenn wir davon sprechen, dass einer Talent hat, dann gehört das auch zu der großen Wirkungsgeschichte dieses kleinen Gleichnisses von den anvertrauten Zentnern bzw. eben den anvertrauen Talenten. Es will uns mit auf den Weg geben, dass damit unser Glaube beginnt: dass wir die Talente suchen, die Gott so reichlich in dieser Welt und damit auch in jedem von uns versteckt hat. Wir sollen sie dankbar annehmen und verschwenderisch verschenken. Sie werden dadurch nur mehr.
Das ist christliche Freiheit. Nelson Mandela, der große erste Präsident des neuen Südafrika, hat vor 28 Jahren bei seiner Antrittsrede diese christliche Freiheit eindrücklich zur Sprache gebracht. Er sagte damals: „Unsere tiefste Angst ist es nicht, ungenügend zu sein. Unsere tiefste Angst ist es, dass wir über die Maßen kraftvoll sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das am meisten Angst macht. Wir fragen uns selbst, wer bin ich - von mir zu glauben, dass ich großartig, begabt und einzigartig bin? Aber in Wirklichkeit - warum solltest du es nicht sein? Du bist ein Kind Gottes. Dein Kleinmachen dient nicht der Welt. Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um dich herum nicht verunsichert fühlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen. Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem! Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unser Dasein auch die anderen.“
Berührende Worte eines Staatsmannes, der kein Theologe war, aber viel von der Freiheit eines Christenmenschen verstanden hat. Denn genau so ist es mit den Talenten, die Gott uns anvertraut.
AMEN.
Die vereinsamte Sünde
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
gerade haben wir mit den Taufen von Emma und Lydia das Wunder des von Gott geschenkten Lebens gefeiert. Aber jetzt haben wir einen Predigttext zum Thema Taufe gehört, wo fast in jedem Satz die Worte Tod oder Sterben vorkommen. Wie geht das zusammen mit dem, was uns die Taufe ist? Die ist uns doch die Geburtsstunde eines Christenmenschen. Dieser Paulustext aber wirkt prima vista eher wie eine Todesanzeige. Auf jeden Fall ist das eine ganz schön steile Tauftheologie! „In Christi Tod getauft“: Trauen wir Pfarrer*innen uns überhaupt noch, das in Taufgesprächen und -gottesdiensten anzusprechen? Wer kann das heute denn noch verstehen oder gar nachempfinden? Wir sagen ja gerne, dass wir im Namen des Gottes taufen, der sein großes Ja über dem Täufling spricht. Wir sprechen von der Hoffnung, dass er ihn oder sie begleiten und behüten möge.
I.
Indes: Wir Pfarrer*innen können bei der Taufe ja nur deshalb so vollmundig Segen, Schutz und Begleitung zusprechen, weil nicht wir dafür einstehen müssen, sondern weil Gott selbst uns gleichsam die Garantie dafür gegeben hat. Oder besser: uns eine Art Siegel dafür eingeprägt hat. Durch das Kreuz Jesu Christi. Und durch seine Auferstehung. Was wir im Namen Gottes zusprechen, ist nur die sichtbare Spitze eines geistlichen Eisbergs, der tief nach unten geht. Nur weil Gott in Jesus unsere menschlichen Abgründe nicht gescheut hat, kann er uns versprechen, in allen Tiefen und Dunkelheiten unseres Lebens bei uns zu sein. Das können wir doch gut nachvollziehen: Wenn es uns elend geht, dann tut es gut, wenn wir das jemand mitteilen können, von dem wir wissen, er ist durch ähnliches durch. Bei Jesus geht es noch weit darüber hinaus: Nur weil er die tiefsten Tiefen menschlicher Existenz durchmessen hat, kann er dann auch in die höchsten Höhen aufsteigen. In den Himmel. Zugespitzt könnte man sagen: der Tod, oder besser: das Sterben als notwendige Bedingung zum wirklichen Leben.
Paulus jedenfalls geht es hier nicht, wie wir es bei der Taufe so gern betonen, um Bestärkung des bereits existierenden Lebens, sondern um eine richtige Neuinszenierung. Aber das geht doch ziemlich seltsam vor sich, irgendwie unordentlich und turbulent. Paulus scheint die Taufe als ein geheimnisvolles Geschehen anzusehen, in dem ich, ganz real, zu Christus in seinen Tod gestoßen und mit ihm begraben werde – um dann aber auch mit ihm wie Phoenix aus der Asche wieder emporzusteigen aus der Gruft als ein quicklebendiger Springinsfeld. Das provoziert auf jeden Fall unseren gesunden Menschenverstand, unseren Ordnungssinn. Für den hat ja alles seinen festen Platz. Da kommt uns ein Drehbuch ziemlich absurd vor, das uns im ersten Akt sterben, im zweiten begraben werden und im dritten wieder ins Leben zurückkommen lässt. Für unser Lebensgefühl hat ja nicht der Tod das erste Wort und das Leben das zweite, sondern umgekehrt. Um auf den Anfang zurückzukommen: Paulus formuliert hier eine Todes- und eine Geburtsanzeige in einem! Oder noch genauer gesagt: Geburtsanzeige, weil Todesanzeige!
Liebe Gemeinde,
dahinter steht eine Erfahrung, die wir alle in unserem Leben machen, ob uns das bewusst ist oder nicht: Nur durch ein Stück Sterben hindurch geschieht wirkliches Zum-Leben-Kommen. Jesus hat nicht umsonst gesagt: „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und erstirbt, bringt es viel Frucht“ Einer Mutter muss man das nicht sagen: In jeder Geburt passiert immer auch ein Stück Sterben. Die kaum erträglichen Schmerzen, die eine Frau beim Gebären gegenüber dem paradiesischen Mutterleib, in dem es ihm an nichts fehlte, erstmal nur grell und angsterregend erscheinen kann. Das ist alles ein Bild und „Angeld“ dafür, wie einmal bei unserem letzten Sterben sein wird, das, so meint Paulus an anderer Stelle, „verschlungen ist in den Sieg“, d.h. in die Geburt zum neuen, ewigen Leben.
Aber was für ein Sterben ist es denn, von dem Paulus hier in so vielen Wendungen spricht? Im letzten Vers sagt er: „Haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid“. Und zwar deshalb, weil wir „mit Christus gestorben“ sind. Für mich heißt das: Das Dunkle und Abgründige in uns, von dem wir uns auch durch noch so große moralische Kraftakte nicht befreien können, das hat er ans Kreuz getragen, damit es dort mit ihm sterben und uns künftig nicht mehr quälen soll. Das, was unser Text „Sünde“ nennt, soll in uns abgetötet werden. Der „Alte Adam“ in uns wird, wie Luther gewohnt drastisch sagte, im Wasser der Taufe „ersäuft“.
Das klingt theologisch steil, aber es steckt für mich etwas sehr Verheißungsvolles dahinter. Es ist viel mehr, als was wir so mit dem Wort „Sünde“ verbinden. Wir wagen es nicht mehr, von „Sünde“ zu sprechen, weil dieses Wort so viel Ballast mit sich schleppt. Wir haben christlicherseits jahrhundertelang die Sünde moralisiert und damit eine Abwertung der Sexualität verbunden, die unbiblisch ist. Und wir haben sie weltlicherseits banalisiert, indem wir sie auf „Parksünden“ oder „Diätsünden“ reduzieren.
II.
Aber was ist Sünde denn nun wirklich? Unsere Gottesferne, das, was uns in der Tiefe von Gott trennt, heißt es schön korrekt in den theologischen Lehrbüchern. Aber was heißt das konkret? Ich versuche es so zu sagen: Sünde ist für mich das, was sich in mir sträubt und sperrt gegen das Leben. Wieviel Sperriges gibt es in mir, wie viel Widersprüchliches, wie viel Abgründiges, wie viel Angst. Wer von Ihnen gern Krimis liest, weiß, wie voll sie davon sind. Auch in meinem Alltag lässt mich dieses Unbereinigte, Chaotische in mir ungeduldig, ungerecht und aggressiv gegenüber anderen werden. Es ist das, was mich – mit Paulus im folgenden Kapitel zu sprechen – statt des Guten, das ich will, das Böse tun lässt, das ich eigentlich gar nicht will. Das, was mich selber quält und treibt und mein Leben bestimmen will. Diese inneren Sklaventreiber, die mir permanent einhämmern: Du musst dies noch machen, und jenes noch leisten! Oder die mir einflüstern wollen, dass ich die Zuneigung, die Liebe eines anderen Menschen eigentlich gar nicht „verdient“ haben kann, so wie ich mich selbst erlebe und mich deshalb dagegen sperre, obwohl ich mich doch nach nichts mehr sehne als geliebt zu werden. Das alles ist der „Alte Adam“ in Reinkultur, um mit Paulus und Luther zu sprechen.
Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort, das viel darüber aussagt, was Sünde eigentlich ist: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“. Das ist es: Sünde ist Hass gegen den, der mir helfen will. Biblisch gesprochen: Sünde ist Hass gegen den Sieg der Gnade. Den in sich eingesponnenen Menschen, der sich selbst zum Kokon wird, einen Betonwall errichtet gegen alles, was von außen her helfend auf ihn zukommt: So hat Martin Luther in einem ganz starken Bild den von Gott getrennten, sich gegen ihn abschottenden Menschen unter der Sünde beschrieben. Dass das keine „mittelalterliche“ Anschauung ist, sondern auch heute beklemmend aktuell, davon können die Psychotherapeuten ihre Lieder singen, und wir in unserer Seelsorge auch. Dietrich Bonhoeffer hat es einfach und einfach wahr so gesagt: „Die Sünde will mit dem Menschen allein sein“. Sünde ist der unheimliche Sog ins Alleinsein, in die Beziehungslosigkeit.
Und nun noch einmal zu dieser schwierigen Aussage des Paulus: „Wir sind mit Christus gestorben“. Am Schluss dieses großen Taufkapitels sagt Paulus lakonisch: „Der Tod ist der Sünde Sold“. Auch so eine steile, schwere Aussage. Aber eigentlich finde ich sie gar nicht so schwer zu fassen. Denn der Tod ist ja deshalb „der Sünde Sold“, weil er das Ereignis totaler Stummheit ist. Und so den Drang in die Beziehungslosigkeit, der die Sünde ist, auf die Spitze treibt. Deshalb ist das Sterben anderer, die wir liebhaben, so schmerzhaft: es beendet Gemeinschaft, es macht uns einsamer. So hat auch der Tod Jesu denen bitter weh getan, die Gemeinschaft mit ihm hatten. Aber nun stellt Paulus hier die verwegene Behauptung auf, dass dieser Tod Jesu noch in einem ganz anderen, hocherfreulichen Sinn Gemeinschaft zerstört hat: die unselige Gemeinschaft mit der Sünde. „Haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid“: Die Gemeinschaft mit der Sünde ist zerstört, und das heißt: Jetzt sind nicht mehr wir die Einsamen, die nur aus sich selbst und für sich selbst leben, sondern die Sünde wird einsam. Sie schafft es nicht mehr, sich an uns zu vergreifen.
III.
Aber klingt das nicht viel zu schön, um wahr zu sein? Wo wird das denn sichtbar, dass wir, wie Paulus hier so selbstverständlich behauptet, „in einem neuen Leben wandeln“? Ist es nicht vielmehr unsere Erfahrung, dass wir mit unseren Vorsätzen, uns zu ändern, etwas von diesem neuen Leben an uns aufscheinen zu lassen, immer wieder kläglich abstürzen? Ja, so ist es wohl. Aber eben, nicht zufällig spreche ich hier von den guten Vorsätzen. Die sind nämlich das Detail, in dem sich hier der Teufel versteckt. Denn mit guten Vorsätzen, so sagt das Sprichwort zu Recht, ist der Weg in die Hölle gepflastert. Also eben nicht der Weg in den Himmel und zum neuen Leben! Gerade Paulus konnte ein bitteres Lied davon singen: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht...“ Im Klartext: Von dem her, was vor Augen liegt, sind wir alle miteinander Gegenargumente gegen die kühne Behauptung des Paulus, wir seien „mit Christus der Sünde weggestorben“. Nein, bessere Menschen als die Nichtgetauften sind wir durch unsere Taufe nicht geworden. Ich sehe es so: Sünde ist dieser Wahn, das Leben habe das erste Wort, der Tod aber das letzte, entscheidende. So will sie uns einflüstern, die Sünde, der wir doch gestorben sind: Es ist alles umsonst, das Böse ist übermächtig in der Welt, das Evangelium kommt doch nicht dagegen an, lassen wir die Welt links liegen und sorgen uns nur um unser persönliches Wohlbefinden und Seelenheil!
Aber Gott sei Dank, dass es nicht so, dass es anders ist! Denn von ihm, von Gott her ist diese Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ – so sagt es Paulus hier – nicht mehr da, ist sie wirklich erledigt. Wenn wir mit Paulus durch unser Getauftsein „wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht mehr stirbt; der Tod kann hinfort nicht mehr über ihn herrschen“ – dann ist es eben so, dass die Sünde ihre Macht über uns verloren hat. Für Martin Luther war das Wissen um seine Taufe immer wieder Trost, wenn er seine depressiven Anwandlungen bekam und an seinem Leben verzweifeln wollte. Dann konnte er sich trotzig sagen: Bapticatus sum, Ich bin getauft! Das hat er sich auf seinen Schreibtisch geschrieben. Und wir sollten es uns hinter die Ohren schreiben: Ich bin getauft. Ich selbst kann mich zwar nicht daran erinnern, aber ich werde immer wieder daran erinnert: in jedem Gottesdienst, in dem mir nach dem Bekenntnis meiner Schuld Gottes Vergebung zugesprochen wird. Auch das ein Zeichen dafür: Mein Weg geht durch den Tod hindurch – ins Leben.
Paulus sagt es zwei Kapitel später auf dem Gipfel seines Römerbriefes so: Nichts und niemand, auch nicht der Tod, kann uns von Gottes unbeirrbarer Liebe trennen. Das ist das große Thema von Paulus: Wir sind auf Gedeih und Verderb – aber eigentlich muss es heißen: auf Verderb und Gedeih! – mit Jesus verbunden. In dem herrlichen Osterlied, das wir jetzt singen, hat Paul Gerhardt genau dies ins Wort gebracht: „Er reißet durch den Tod / durch Welt, durch Sünd, durch Not, / er reißet durch die Höll, / ich bin stets sein Gesell“ (112,6). „Ich bin stets sein Gesell“: Wer sich darauf stellt, der freut sich einfach über Gottes uneingeschränktes Ja zu sich und den anderen. Und dieses große Ja wartet auf ein kleines, aber leuchtendes Wörtchen, auf unser
AMEN.
»Weiß ich den Weg auch nicht ...«
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde!
Im Anfang war Abraham. Denkmal. Mythos. Methusalem. Erzvater. Heiliger. Zankapfel. Und weil Abraham im Anfang war, spricht man heute von den »Abrahamitischen Religionen«, wenn es um das Verbindende zwischen den drei großen monotheistischen Religionen geht. Abraham ist die Gestalt an ihrer Wiege; in allen drei Weltreligionen bis heute tief verehrt.
Der Predigttext dieses Sonntags führt uns genau zu dieser Wiege. Er ist kurz, aber randvoll an Bedeutung und Wirkung. Ein biblischer Großtext. Er ist es deshalb, weil er den Übergang darstellt von der sogenannten biblischen Urgeschichte in den ersten 11 Kapiteln der Genesis hin zur Menschheitsgeschichte. Ging es in dieser Urgeschichte nicht um Historie, um die Geschichte eines Ur-Menschen, sondern um die ur-menschliche Geschichte des Menschen, der wir alle sind, so geht es jetzt zur konkreten Historie, die Gott mit den Menschen schreibt, beginnend mit der Person Abrahams. Man kann auch sagen: nach der Urgeschichte beginnt mit Abraham die Heilsgeschichte. Aber lassen wir unser Wissen oder Halbwissen einfach mal beiseite und fragen Abraham selbst, über den Graben von vier Jahrtausenden.
Abram, in unserem Predigttext heute scheint Ihrem Namen eine Silbe zu fehlen. Wir kennen Sie als Abraham. Wie kommt das?
Nur keinen falschen Respekt, liebe Leute. Bei uns im alten Orient duzt man sich. Ihr könnt Abraham zu mir sagen. Gott hat mir diese eine Silber noch dazugegeben, als er mir nach meinem Auszug in die Fremde durch drei Boten die Wahnsinns-Mitteilung machte, dass ich in meinem hohen Alter doch noch Vater werden sollte. Abraham heißt in eurer Sprache so viel wie ‚Vater der Völker‘. Und als solchen sehe ich mir bis heute besonders gerne.
Könntest du uns das näher erklären, inwiefern du der Vater vieler Völker bist?
Nun ja, natürlich sehe ich mich zunächst einmal als Vater meines, des jüdischen Volkes. Es verehrt mich bis heute – nein, nicht als Begründer seiner Religion, der hieß Mose und kam erst viele Jahrhunderte nach mir. Aber als Begründer des Volkes. Übrigens ein Volk mit unglaublich vielfältigen DNA. Ihr würdet heute von einem Volk sprechen, das die Globalisierung im Blut hat. Ich selbst stamme ja ursprünglich aus dem Zweistromland, für Euch heute der Irak. Aber dann, an zweiter Stelle, sehe ich mich auch als Vater des arabischen Volkes. Auch in ihm werde ich bis heute als solcher in Ehren gehalten. Mein Sohn Ismael, den Hagar, meine Nebenfrau, mir noch vor Isaak geboren hatte, gilt ja als Stammvater des arabischen Volkes. Und dann ist mir noch eine Vaterschaft zugewachsen, eine ganz spezielle. Nicht direkt wie bei Isaak und Ismael und ihren Nachfahren. Ihr Christ*innen könnt mich über einige Ecken ja auch als Vater ansehen. Nicht im ethnischen Sinn, wie die Juden und Araber. Aber eben geistlich. Schließlich ist einer meiner fernen Nachkommen, Jesus von Nazareth, euer „Religionsstifter“, euer Zugang zu dem einen Gott. In seinem Stammbaum im Matthäusevangelium ist von ihm als „Sohn Davids und Sohn Abrahams“ die Rede. Und euer Apostel Paulus schreibt einmal: „Gehört ihr zu Christus, so seid ihr Abrahams Same“.
Das hört sich aber ein bisschen kompliziert an…
Nun ja, ist es auch ein bisschen, weil es sich eben um eine geistliche Vaterschaft handelt, keine genetische. Für mich bedeutet dieser große Satz, den Gott zu mir sagte: „In dir werden gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden“, dass ich sozusagen der Prototyp dafür bin, dass Gott den Menschen nicht verwirft, sondern in Liebe erwählt. Eine frühes Vorzeichen des Bundes, den er später einmal mit Mose am Sinai schließen sollte.
Aber bist du nicht doch viel mehr als nur ein Prototyp für uns alle? Für uns bist du doch der exemplarische Glaubende überhaupt. Das Beispiel für Glaubensgehorsam, an dem alle Glaubenden Maß nehmen sollen. Ich meine, Gott hat dir immerhin zugemutet, dein Land zu verlassen, also deine Heimat, die dich geprägt hat. Und damit deine Verwandtschaft, das Allermeiste von deinem Besitz - und einfach so ins Blaue hinein marschieren, nur auf dieses Wort eines Gottes hin, den du ja noch gar nicht wirklich kanntest. Und du hast tatsächlich alles stehen und liegen gelassen und bis losgezogen! Das ist doch total ungewöhnlich! Wer macht so etwas denn?
Naja. So flott und bruchlos ging das nun nicht vonstatten. Schließlich sind in diesen alttestamentlichen Versen nicht meine Tagebücher verewigt, sondern nur der äußerste Zeitraffer meiner Geschichte. Und auch diese Kurzversion war, bevor man sie aufgeschrieben hat, schon durch tausend Münder und Ohren gegangen, sie ist quasi glattgeschliffen. In Wirklichkeit war mein Auszug ein langer, zäher Prozess. Wie das eben so war damals, vor fast 4.000 Jahren, wo es große Wanderbewegungen von Beduinensippen zwischen dem Zweistromland und der arabischen Wüste gab. Gesegnet jedenfalls habe ich mich eigentlich erst Jahre später, in den Momenten, da ich meine Söhne Ismael und Isaak in Händen hielt.
Aber mit materiellen Gütern reich gesegnet warst du doch schon im fruchtbaren Zweistromland! Warum bist du denn überhaupt von dort weg?
Ach, das ist eine alte Geschichte, und eigentlich eine ewig junge. Wir lebten in Haran, ja, als eine reiche Beduinensippe. Viele Herden, viele Knechte, viel Ansehen. Aber wie das dann so ist, viel Rivalität, viel Neid, viele Intrigen. Hinzu kam, dass wir uns im Aussehen ein wenig von den angestammten Einwohnern dort unterschieden. Und irgendwie grassierte in unserer Sippe seit langer Zeit schon eine unbestimmte Sehnsucht nach einer neuen, andere Heimat. Nach einem Ziel. Und, ganz wichtig: Mit der Zeit hatten wir für uns einen Gott erfahren und kennengelernt, der anders war als die Götter der anderen. Ein naher Gott, der sich mit uns bewegte, der nicht gebunden war als feste Orte, wo man hinmusste, um ihn zu erfahren. Unseren Gott erfuhren wir eher als einen, der selbst Sehnsucht hatte: nach einem Weg, den er mitgehen kann, nach einem neuen Ziel, nach einem Volk, das er sich als Partner auserwählen würde.
Also kein allmächtiger Gott, der euch Anweisungen erteilt?
Also so würde ich das nicht sagen. Allmächtig war er schon, unser Gott. Schon deshalb, weil wir keinen Namen für ihn hatten – das wäre uns wie eine Begrenzung, eine Einschränkung seiner Gottheit erschienen. Und natürlich gab es einige feste Regeln, die wir für unseren Gott einhielten. Feste Opfer- und Gebetsregeln etwa. Und einen gewissen Verhaltenskodex, den wir auf den Willen unseres Gottes zurückführten. Aber über so Dinge wie sein Wesen, seine Eigenschaften, wie seine Allmacht zu verstehen ist, darüber haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Das scheint mir eher ein Problem von Euch zu sein.
Aber du hast doch die klare Anweisung bekommen zu gehen?!
Also, da muss ich doch mal in meinen langen Bart lächeln. Ja, ich habe diese Anweisung erhalten – aber sie galt meiner Familie schon immer. Es war die Anweisung zu suchen. Gott zu suchen, den Ort zu suchen, an dem er unser Herz erreicht. Und eben das, wenn Gott in deinem Herzen angekommen ist: das ist dann Segen. Wenn du das, was du an Gutem und Schönen siehst und um dich herum hast, annimmst als ein Geschenk, das du dir nicht verdient hast und dankbar dafür sein kannst. Und wenn das, was du auch siehst und erlebst und manchmal schier nicht mehr ertragen kannst, dein Herz trotzdem nicht verdunkelt, sondern du es abgeben kannst an Gott. Im Vertrauen, dass es bei ihm aufgehoben ist und er seine Wege hat, Übel und Leid zu bekämpfen. Das meint der Satz, den ich damals von oben vernommen hatte: „Ich will segnen, die dich segnen, und ich will verfluchen, die dich verfluchen“.
Aber wenn das so ist, warum dann dieser Auszug ins Unbekannte? Dann hättest du doch auch bleiben können, wo deine Heimat war?!
Nein. Dieser Auszug, der Aufbruch ins Ungesicherte war mein Weg Gott zu finden, in ein wirklich enges Verhältnis zu ihm zu kommen. Mich unter seinen Segen zu stellen, den er mir in seiner Aufforderung verheißen hatte, obwohl da zunächst noch nichts Greifbares war: das war die Herausforderung, die ich damals spürte. Wie es in einem Eurer Kirchenlieder heißt: »Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl …« Das war die Herausforderung an meinen Gottesglauben. Ich habe etliche Jahre und Stationen dafür gebraucht. Und ich habe auf dieser langen Reise gelernt, wie eng Wahrheit und Lüge beieinander liegen. Ich habe gelernt, dass menschliche Weisheit lächerlich gering ist – immer noch übrigens. Ich habe verstanden, dass es manchmal schwierige Zeiten braucht, um sich selbst näher zu kommen, sozusagen reiner zu werden im Herzen. Ich habe gelernt, dass Gottes Segen wirkt in vielen Varianten. Ich, Abraham, habe dafür diesen Weg gebraucht. Andere finden anders dorthin.
Zum Beispiel?
Oh, die Geschichte meines Volkes ist voller Beispiele. Denkt an Mose, auch so ein Prototyp des Suchens und Findens. Er wurde aus seiner behüteten Existenz als Findelkind am ägyptischen Königshof herausgerufen, erst in die Wüste, wo er im brennenden Dornbusch unserem Gott begegnete, und dann zum Pharao beordert, um schließlich sein Volk in neues, freies Land zu führen. Da wurde Saul von seinen Eselinnen, David von seiner Schafherde weggeholt, um Könige Israels zu werden. Amos rief Gott von seinen Maulbeeren fort, um ein gottvergessen gewordenes Volk als Prophet wieder zu Gott und seinem Wort zu rufen.
Und bei euch Christen war es dann ja nicht anders. Petrus und 11 weitere Familienväter ließen sich von Jesus von ihren Fischernetzen und Familien wegrufen, um ihr Leben ganz auf ihn und damit auf Gott zu setzen. Paulus wurde weggerissen von seinen Pharisäerfreunden, musste grundlegend umlernen und wurde der große Völkerapostel, ohne den es euch gar nicht gäbe. Da mussten Augustinus und Franz von Assisi, Zinzendorf und sogar euer modernen evangelischer Heiliger Dietrich Bonhoeffer Abschied nehmen von Haus, Nachbarschaft und Freundeskreis, weil die Sache Gottes, von der sie sich haben packen lassen, tiefer reicht als alle menschlichen Bindungen, die bis dahin ihr Leben bestimmt hatten. Das ging bei allen nicht bruchlos und ohne Schmerzen ab, klar. Aber sie erfuhren sich alle als von Gott geführt – auch wenn es dorthin ging, wohin sie eigentlich von sich aus nicht wollten. Sie erfuhren, was besagter Bonhoeffer so ausgedrückt hat: »Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen.« So ähnlich habe ich mir das damals auch zu sagen versucht, wenn mich die Angst in die Mangel nehmen wollte vor dem Unbekannten. Ich hatte ja keinen Fahrplan, keine Landkarte, auf der die einzelnen Wegstationen markiert gewesen wären.
Habe ich dich also richtig verstanden, verehrter Abraham, dass du uns allen auch einen Auszug empfiehlst? Nicht unbedingt den Exodus aus unserem Haus, Beruf und Heimat, aber doch aus unseren Gewohnheiten, aus manchen allzu selbstverständlichen Perspektiven? Zumindest ein innerlich aufbrechen, um die eigenen Herzen aufzubrechen? Und das, was uns da neu begegnet, annehmen als einen Weg näher zu Gott hin, und als Zeichen seines Segens?
Nun, das hast du ein bisschen europäisch-kompliziert ausgedrückt, aber ja, so in etwa meine ich’s. Wenn ihr wirklich aufbrecht, euch einlasst auf das, was das Leben von euch fordert, dann werdet ihr wachsen, euer Herz wird weit werden, so dass es zum Segensort werden kann. Denn glaubt mir: Der Segen ist die dichteste, dramatischste Stelle des Gottesglaubens. Dort nämlich wir konkret und erfahrbar, was Gnade ist: Nicht erringen und sichern müssen, wovon man wirklich in der Tiefe lebt. Sich nicht bannen und lähmen lassen durch die Zweifel und Zersplitterung des eigenen Lebens. Als Gesegnete muss ich nicht nur ich selbst sein. Als Gesegneter kann ich hinfallen, stürzen: in den Abgrund der Liebe Gottes. Dazu berufen seid ihr alle, durch mein Beispiel.
AMEN.
Das Recht der Gnade
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde!
Eine Szene wie der Schlussakt eines Theaterstücks, in dem sich alles zuspitzt. Da gibt es einen Konflikt buchstäblich auf Leben und Tod. Da gibt es aufgeheizte männliche Wutbürger. Da gibt es ein total verängstigtes Objekt ihrer Erregung. Und da gibt es eine auffällig unauffällige Gestalt, der auf sehr originelle Weise eine Auflösung der toxischen Gemengelage gelingt. Eine grausame Hinrichtung wird verhindert. Die aufgeladenen Moralisten kommen ins Nachdenken, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Der ins Zwielicht Geratenen wird zugetraut, dass sie ihr Leben ändert. Aus dem Drama scheint am Ende ein Lehrbeispiel gelungener Mediation zu werden.
I.
Aber so einfach ist das alles nicht mit dieser bekannten Geschichte. Bis heute ist umstritten, ob diese Szene, wie sie im Buche steht, überhaupt ins Buch der Bücher gehört. In den wichtigsten alten Handschriften nämlich sucht man diesen Text vergebens. Nur ausgesprochen fragwürdige, unsichere Zeugen haben ihn überliefert. Vielleicht hat das mit seinem Thema zu tun. In allen Bibeln, die ich im Regal habe, steht über dieser Geschichte die Überschrift: „Die Ehebrecherin“. Eigentlich müsste sie anders heißen: „Die Ankläger“. Denn die Aufmerksamkeit der Geschichte liegt nicht auf der Frau. Sie liegt auf den Männern, die eine Frau hergeschleppt haben. Der Grund ist das prickelnde „Thema Nr. 1“. Sie haben die Frau in flagranti erwischt, im Bett mit einem, der da nicht reingehört. Damit ist aus dem Objekt sexueller Begierde ein Objekt sozialer Erregung geworden. Ihre Lebenslust hat den sozialen Wertekodex verletzt – damit hat sie ihr Leben verwirkt. Sie muss gesteinigt werden. So verlangt es das Gesetz des Mose.
Aber es geht den frommen Männern noch um mehr als um Gesetz und Moral. Sie wollen den Fall dieser Frau zur Falle gegen den Mann aus Nazareth machen. Jesus könnte jetzt sagen: so ist das Gesetz. Dann würde die Frau sterben – und er seine eigene Predigt Lügen strafen, mit der er die Sünder annimmt. Oder Jesus könnte sagen: Mose hat in seinem Gesetz gesagt, ich aber sage euch… Dann werden sie mit Fingern auf ihn zeigen, ihn als Weichei, als laxen Liberalen outen und einen Gotteslästerer nennen. Gefühlt ein cooles Win-win-Szenario für die Frager. Sie reiben sich schon die Hände: Was immer er sagen wird, am Ende heißt es 1:0 für uns!
Wenn Jesus sich entscheiden würde, die Frau jetzt zu verteidigen, was würde er sagen? Vielleicht würde er die Not ansprechen, wenn junge Frauen nicht selbstbestimmt heiraten können, sondern verheiratet werden. In vielen orientalischen Ländern ist das ja immer noch so. Vielleicht würde er auch die himmelschreiende Ungerechtigkeit, beklagen dass da nur die Frau steht. Wo ist der Mann? Zu einer gestohlenen Nacht gehören zwei. Aber nur die Frau steht da. So sieht es die Logik der Männergesellschaft vor. Die Frau muss weg. Dass ihr Ehemann sein Gesicht nicht verliert, dass ihm Genugtuung widerfährt, ist wichtiger als ihre Lage.
Aber es kommt ganz anders. Jesus unterläuft beide elenden Alternativen auf souveräne, faszinierende Weise. Kein flammendes Plädoyer für Barmherzigkeit, für Menschenrechte oder die Emanzipation der Frau. Keine Gegenpredigt an die gnadenlosen Saubermänner. Nur ein paar kurze, unglaublich wirksame Sätze. Ein praktischer Vorschlag zur Durchführung der Hinrichtung: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der nehme die Sache in die Hand, werfe den ersten Stein auf sie“. Dann noch zwei überflüssige, rein rhetorische Fragen: „Wo sind sie geblieben? Hat dich niemand verdammt?“ Und zum Abschluss eine persönliche Erklärung und eine Aufforderung: „Dann verdamme ich dich auch nicht; geh und sündige in Zukunft nicht mehr“. C’est tout.
Was wird hier eigentlich gespielt? Ist es das bei uns so hochemotional behandelte Gender-Thema, der uralte Gegensatz zwischen den Geschlechtern? Oder sehen wir in dieser Szene, wie zwei Etappen in der Geschichte des Moralbewusstseins einander ablösen? Da ist die alte, normative Haltung, die auf das geschriebene Recht pocht und die Ahndung seiner Verletzung verlangt. Und da ist die neue Entdeckung, dass es vor dem Gesetz nicht einfach auf das äußere (Fehl)Verhalten, sondern vor allem auf die Gesinnung ankommt. Das ist ja ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates: Niemand darf für eine Tat, die er begangen hat, bestraft werden, wenn erwiesen ist, dass er subjektiv gar kein Unrechtsbewusstsein haben konnte.
Nun leben wir in einer Zeit, in der immer mehr Menschen sich immer weniger an moralischen und erst recht an religiösen Normen orientieren. Da fällt es schwer, die Radikalität dieser Szene noch nachzuvollziehen. Die einen wollen Gottes Gesetz anwenden, uneingeschränkt. Der andere stellt, ebenso uneingeschränkt, die Frage: Wer kann das denn wagen? Wer kann einen anderen schuldig sprechen, wenn er selbst nicht schuldlos ist? Vielleicht ist diese Geschichte auch deshalb so verdächtig gewesen, weil sie die Ordnung menschlichen Zusammenlebens letztlich unmöglich macht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“: nach diesem Grundsatz könnte kein Mensch je über einen anderen zu Gericht sitzen. Das aber hätte Chaos zur Folge. Schuld muss ja festgestellt und dann geahndet werden. Wenn nur noch der Recht sprechen kann, der selbst absolut schuldlos ist, dann würde alles zusammenbrechen. Hat Jesus die Anarchie proklamiert – er, der doch von sich sagte, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen (Mt 5,17)? Ja, es ist vertrackt mit diesem Text.
II.
Wir kommen seiner Wahrheit auf die Spur, wenn wir noch einmal einen Moment innehalten. Was ist es eigentlich mit diesem Konflikt? Keineswegs so harmlos, wie uns die Allerweltscausa Ehebruch glauben machen will. Hier, vordergründig, die „Libertinage“ – hinter der doch die tief menschliche Sehnsucht nach dem ungelebten Leben steckt. Dort die Repräsentanten sozialer Ordnung, beunruhigt vom Werteverlust, dass so vieles wegbricht, was über Jahrhunderte vermeintlich common sense war, beseelt davon, eine bedrohte Welt zu bewahren. Diese Grundkonstellation ist zeitlos. Sie bestimmt in vielen Varianten auch unser Leben. Und die Steine liegen meist in Griffweite, und oft genug fliegen sie. Im wörtlichen Sinne, bei so manchen Kundgebungen, die sich harmlos „Spaziergänge“ nennen. Vor allem aber fliegen die Steine als Worte in den Untiefen der Social media.
In dieser aufgeladenen Situation soll sich Jesus erklären. Und was tut er? Statt eine große Predigt über die Unmoral der reinen Moral zu halten, bückt er sich, wendet sich ab von den Streithanseln – und kritzelt im Sand herum. Sogar auf ein eigenes Urteil scheint er zu verzichten: „Hat dich niemand verdammt? – Dann tue ich’s auch nicht“. Ein fast surrealer Moment, in dem Jesus eigentümlich weltfremd, fast ängstlich wirkt. Aber gerade dadurch ist diese Handlung so wirkungsvoll. Die aufgeheizte Szene friert für Augenblicke ein. Da erhitzen sich die Sachwalter der überlieferten Ordnung – und einer macht nicht mit, fällt aber auch niemandem in den Arm, sondern treibt seltsame Kinkerlitzchen. Das ist so verblüffend, dass es zum Innehalten, zum Abstandnehmen von der eigenen Aufgeregtheit zwingt: Was soll das denn? Was macht der da?
Als Syrakus von Feinden belagert wurde, soll der berühmte Archimedes Figuren in den Sand gezeichnet haben, um den Gang der Schlacht zu beeinflussen. Betreibt Jesus hier esoterisches Mantra auf der Erde? Schade, die Bibel hat da eine echte Lücke! Es ist dies nämlich das einzige Mal, dass Jesus etwas geschrieben hat! Und ausgerechnet diese Worte hat keiner überliefert. Keine wissenschaftliche Theologie, keine kirchliche Organisation kann es rekonstruieren.
Aber die Atempause wird zur schöpferischen Pause erst durch das Wort, das Licht in die brisante Situation bringt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der soll als Erster auf sie werfen“. Das kommt noch unerwarteter als das Gekritzele im Sand. Das Häuflein Elend in seiner Todesangst – die zu allem entschlossenen Moralisten: Muss da nicht Klartext geredet werden? Diese tollen Entsorger des Weltschmutzes, mit ihrem hehren Kampf für das Rechte und Reine, gehören sie nicht mal so richtig in den Senkel gestellt? Aber nichts davon! Jesus denkt nicht im Schema „Moral contra Unmoral“. Ihm geht es nicht darum, die selbsternannten Söhne des Lichts als tatsächliche Söhne der Finsternis zu entlarven. Er greift viel höher: Er will ihnen die Finsternis verleiden!
„Wer unter euch ohne Sünde ist…“: wie gesagt, mit diesem Satz lässt sich kein Staat, schon gar kein Rechtsstaat machen. Aber seelsorgerlich ist er genial! Denn er spielt die Entscheidung den Saubermännern zu. Ganz schön riskant! Denn was, wenn sich jemand tatsächlich für porentief rein hält? Aber – wie Jesus diese Aufforderung formuliert, das hat etwas unglaublich Entlastendes! Lasst gut sein, kommt runter, eure Rolle ist ein paar Nummern zu groß für euch! Ihr braucht eurem Reinheitsideal nicht nachjagen. Ihr müsstet dann ja auch euch selber jagen! Ihr müsstet dann ja auch eure Umweltverschmutzung beseitigen! Aber hört: Eure Welt ist längst entsorgt, so wahr ich ihren Schmutz auf mich nehme. Dafür steht das Holz, an das ihr mich nageln werdet.
Und sieh an: es fliegt kein Stein. Sie gehen einfach nach Hause. Gegen die leise, bezwingende Macht der Liebe kommt der Lärm rigoroser Moral nicht an. Wenn wir meinen, wir müssten die Welt oder die Kirche blankputzen um der Ehre Gottes willen – dann müssten wir als erste uns selber wegputzen. Die Sorge aber um Gott und seine Sache können wir getrost Gott selbst überlassen. Wir sollen es uns einfach nur gefallen lassen, mit unseren Schatten und Abgründen von Gott geliebt zu sein. Wie könnten wir dann noch ernsthaft darauf aus sein, die Welt blankzuputzen mit Steinen aus Worten oder Kiesel?
III.
Und dann ist da noch die Frau. Die ist über dem ganzen Drama fast aus dem Blick geraten. Aber keine Sorge, sie kommt auch noch dran. Und zwar fast galant: „Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt? Dann tue ich’s auch nicht!“ Jesus fordert ihr weder ein Eingeständnis noch Reuebekundungen ab. Denn Gnade ist immer umsonst, sonst wäre sie nicht Gnade. Aber billig ist sie eben nicht: „Geh, und sündige hinfort nicht mehr!“ Liebe Gemeinde, fast denke ich, dieser Satz ist der wichtigste, auch schönste in der Geschichte, ihr eigentliches Happy End. Er ist deshalb so schön, weil er die Frau ernster nimmt, als sie sich selbst nahm, weil er ihr Würde zurückgibt und sie damit in einem tiefen Sinn schön macht. Sieh doch, die Moralisten sind ins Nachdenken gekommen! Da hat still und leise eine Verwandlung eingesetzt. Willst du da bleiben, wie du bist?
So bestrickend von der Liebe umworben, kann die Frau nicht mehr einfach ins alte, verworrene Leben zurück. In einer Welt, die von niemandem mehr für Gott blankgeputzt werden muss, sollte auch der Drang, sie zu verschmutzen, nicht mehr so leicht funktionieren. „Geh, und sündige nicht mehr“ – ich höre das so: Jesus traut uns zu, dass wir das manchmal als schicksalhaft und unveränderbar erlebte Verstricktsein in Lebenszusammenhänge, die uns und anderen nicht gut tun, auflösen können. Er nimmt uns nicht einfach an, „wie wir sind“, sondern er traut uns zu, dass wir noch andere sein, werden können. Jesus lässt nicht einfach „Gnade vor Recht“ ergehen (das wäre zu billig), sondern er setzt seine Gnade ins Recht. Er richtet das Recht der Gnade auf. Es ist das „Recht, ein anderer zu werden“. Auf diesen schönen Begriff hat Dorothee Sölle einmal die Freiheit eines Christenmenschen gebracht.
„Sündige hinfort nicht mehr.“ Sünde, das ist: am Leben vorbei, nur aus sich selbst und für sich selbst leben. Lebe nicht an dem vorbei, was dem Leben dient. Was das heißt? Das wirst du selbst herausfinden. Mit nur einem Satz gibt Jesus dem Gesetz seine Absicht, seine Würde, seinen Glanz zurück: dem Leben dienen. Er gibt die Frau dem Leben zurück.
AMEN.
Verbesserlichung: reale Möglichkeit
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde!
Zu dem Wenigen, das die Wende vor 32 Jahren, den Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus, erstaunlich unbeschadet überstanden hat, gehört das Foyer der Berliner Humboldt-Universität. Genauer gesagt, der berühmte Satz von Karl Marx, der dort immer noch an der Wand zwischen den Treppenaufgängen steht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Man kann über diesen Satz ausgiebig streiten. Aus Sicht der Bibel gibt es dazu aber keine zwei Meinungen. Die gibt dem Atheisten Karl Marx, man höre und staune, Recht. Darauf nämlich kommt es der Bibel von A bis Z an: dass diese Welt anders, besser wird. Nicht die Frage, wie die Welt zu verstehen ist, nicht das, was wir Weltanschauung nennen, ist das Entscheidende, sondern entscheidend ist die Verwandlung der Welt. Wie das geschieht – da indes scheiden sich dann die biblischen und die marxistischen Geister.
I.
Genau um diese die Menschen zu allen Zeiten aufwühlende Frage, ob die Welt unverbesserlich oder verbesserlich ist, dreht sich das Büchlein Jona, aus dem der heutige Predigttext kommt. Es ist eine kleine biblische Novelle aus gerade nur 4 Kapiteln, und ein Kabinettstück alttestamentlicher Erzählkunst. Ein literarisches Juwel, trotz seines ernsten Inhaltes mit viel Anmut und Leichtigkeit. Vor Jahrzehnten hat der Jenaer Theologe Klaus-Peter Hertzsch das Buch Jona poetisch nacherzählt. Eine Kostprobe vom Anfang:
Wie schön war aus der Fern und Näh, / wie schön war die Stadt Ninive.
Sie hatte Mauern, stark und dick, / die Wächter machten Blasmusik.
Und Gott sah aus von seiner Höh / und sah auf die Stadt Ninive.
Die schöne Stadt, sie macht’ ihm Sorgen, / die Bosheit blieb ihm nicht verborgen.
Da tranken sie. Da aßen sie / die Hungernden vergaßen sie.
Eine Humoreske ist das Jona-Buch aber nicht. Bei seiner Hauptperson bekommen wir es mit einem rätselhaften, starrsinnigen, alles andere als humorvollen Menschen zu tun. Jona ist ein hochkomplizierter Mensch, voller Widersprüche. Einer, der schwer am Leben und an sich selbst trägt. Mit den Leuten von Ninive, wohin er von Gott geschickt wird, will er nichts zu tun haben. Deren Niedertracht und ethische Verkommenheit ist bekannt. Er weigert sich, sie im Auftrag Gottes zur Umkehr zu rufen. Bei denen ist doch Hopfen und Malz verloren! Jona ist einer von den Leuten, die nicht an eine bessere Welt glauben, die ihren Mitmenschen nicht mehr zutrauen, dass sie sich ändern können. Ich kenne diese Versuchung, im Urteil über jemand, der mir irgendwie suspekt ist, mich ausschließlich auf negative Erfahrungen zu fixieren. Jona ist in dieser Einstellung so verbiestert, dass er nicht den von Gott gewiesenen Weg nach Ninive einschlägt, sondern ganz woanders hin. „Weit weg vom Herrn“, wie es im Text heißt. Er findet ein Schiff, um nach Tharsis zu fahren, das ist in Spanien, am äußersten Ende der damals bekannten Welt. Obwohl der Prophet Gott mit einem klaren, wichtigen Auftrag zu sich hat sprechen hören, will er von ihm nichts mehr hören. Wie es weitergeht, ist bekannt. Das Schiff gerät in Seenot, die Mannschaft ist verzweifelt. Jona bietet er sich als Opfer an, um das Meer zu beruhigen. Das ist noch einmal eine Steigerung seiner depressiven Stimmung. Nichts hält ihn mehr am Leben. Die Matrosen sehen keinen anderen Ausweg, sie werfen Jona ins Meer. Der große Fisch, den Gott dann schickt, um Jona zu verschlingen, ist ein Bild für die chaotische, verzweifelte Abgründigkeit, in die sich Jona hat hineinreißen lassen.
II.
„Der Herr sprach zu dem Fisch, und der spie Jona ans Land“. So heißt es unmittelbar vor unserem Predigttext. Gott hat seinen Auftrag nicht ad acta gelegt, er schickt Jona erneut nach Ninive. Damit setzt der Predigttext ein. Diesmal hört Jona auf Gott. Aber er tut es als derselbe Starrsinnige, Unverbesserliche, der von seiner alten Spur nicht loskommen will. Anderes als eine Drohbotschaft hat er für die Leute in Ninive nicht im Gepäck. Zunächst einmal kann man das nachempfinden. Ninive, diese riesige Metropole im Zweistromland, damals eine Mega-City, wird andernorts in der Bibel „Blutstadt“ genannt. Das klingt schauerlich. Nach Zone des Bösen, Unheilvollen. Lange nach der Zerstörung des historischen Ninive war der Name für die Juden des 4. Jahrhunderts, in dem das Buch Jona entstanden ist, ein Synonym für die Hölle auf Erden. Wenn sie das Wort Ninive hörten, fuhren sie zusammen wie die Israelis, wenn sie das Wort Auschwitz hören, oder die Tschechen beim Wort Lidice oder jetzt die Ukrainer beim Wort Butscha. Ninive ist für Jona der Inbegriff der unverbesserlichen Welt.
Über drei Tagesmärsche erstreckt sich die Stadt. Jona geht einen Tag lang, dann sagt er, was er zu sagen hat. Er geht also nicht bis ins Zentrum, er bleibt am Rand der Innenstadt stehen. Hat er Angst? Oder rechnet er da, wo die wohnen, die mutmaßlich am meisten von den Unrechtsstrukturen profitieren, sowieso nicht mit offenen Ohren? Wie Greta Thunberg, die sagte, Gespräche mit Trump oder Putin seien nur Zeitverschwendung? Fakt ist jedenfalls, Jona erlebt das das total Unerwartete, demgegenüber die Sache mit dem Fisch als ein Kinderspiel anmutet: er wird gehört! Und das noch größere Wunder: die Niniviten kehren um, ändern ihr Verhalten. Jonas Botschaft, die eigentlich eine Götterdämmerung angekündigt, keine Chance mehr gelassen hatte, setzt so etwas wie eine Bürgerbewegung in Gang: „Sie glaubten an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle den Sack zur Buße an“. Sie krempeln ihr Leben nicht auf irdische Anweisung von oben um, denn der König spring erst später auf den Umkehrzug auf. Sie tun es, weil sie tatsächlich anfangen, sich an Gott und seinen Geboten zu orientieren.
Das hebräische Wort, das dieses Kapitel beherrscht, meint die Wendung eines Menschen um 180 Grad. Nicht dass er ein bisschen menschlicher, ein bisschen liberaler wird, sondern er wird ganz neu. Es geht nicht einfach um eine religiöse Erweckungsbewegung, eine gewandelte Weltanschauung. Sondern es geht, im Weltzentrum der Menschenquälerei und der Völkervernichtung, um ein radikales Aufräumen mit dem Bösen. Aus Menschenverachtung wird Menschenfreundlichkeit. Die Konzentrationslager reißen ihre Stacheldrähte nieder, die Munitionsfabriken produzieren von nun an Kochtöpfe und Pflugscharen, sie arbeiten nicht mehr für die großen Bomben, sondern für den großen Krieg gegen den Hunger. Gemeint ist: Aus Auschwitz wird Bethel.
III.
Ja, liebe Gemeinde, so grotesk realitätsfremd erscheint uns, was diese Story erzählt von der Verbesserung des Unverbesserlichen als realer Möglichkeit. Was damit den Juden des 4. Jahrhunderts mit ihrem Bild von Ninive zugemutet wurde! Da muss man zu bizarren Vergleichen greifen. Stellen wir uns vor, man erzählte Juden heute, dass Adolf Eichmann ein frommer Jude oder zumindest ein großer Humanist geworden war. Oder man erzählte den Menschen in der Ukraine, wie Wladimir Putin als Krankenpfleger nach Kalkutta ging. Das ist ja nie geschehen – so wie nach allem, was man weiß, auch das historische Ninive unbekehrt zerstört wurde, 150 Jahre bevor das Jonabuch geschrieben wurde. Man würde den Erzähler solcher Geschichten für einen geschmacklosen Beleidiger der Opfer, einen unverbesserlichen Gutmenschen halten. Denn es wird den Hörern des Jonabuches, der jüdischen Gemeinde des 4. Jahrhunderts gesagt: Wenn ihr treue Juden sein wollt, dann müsst ihr an die Bekehrbarkeit Ninives glauben! Mehr noch, dann müsst ihr für die Umkehr Ninives aktiv werden, unter Einsatz eures Lebens wie Jona ja unter Einsatz seines Lebens nach Ninive gegangen war. Oder ihr seid keine echten Juden, nehmt euren Gott nicht ernst. Und da das Jonabuch auch Teil unserer Bibel ist, geht dieselbe Zumutung auch an uns. Verständlich, dass sich vieles in uns dagegen wehrt. Diese Geschichte erscheint utopisch, geschmacklos, sie verletzt unseren Realitätssinn. Aus Schwarz wird nicht weiß. Ninive ist unverbesserlich.
Ja, sagt der Autor des Jonabuches: Ninive wäre in der Tat unverbesserlich – wenn Gott unverbesserlich wäre. Die Umkehr, die Buße Ninives wäre eine sinnlose, gefährliche Utopie, wenn es nicht auch die Umkehr, die Buße Gottes gäbe. Zunächst heißt es in dem Edikt der Königs von Ninive: „Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben“. Und eben diese verwegene Hoffnung wird bestätigt: „Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Weg, reute ihn, was er ihnen angekündigt hatte und er tat’s nicht.“ Liebe Gemeinde, hier geht es um nicht weniger als dass Gott Buße tut. Und weil es diese Buße, diese Umkehr Gottes gibt, darum gibt es auch die Umkehr Ninives, gibt es wirklich die Verbesserung der unverbesserlichen Welt von innen heraus.
Auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als würde die Bußbewegung in Ninive erst die Umkehr Gottes in Gang setzen. Als sei Gott davon so gerührt und beeindruckt, dass er sich eines anderen besinnt. Aber auf einer tieferen Ebene zeigt sich: Von selbst kommt diese grundstürzende Bewegung nicht. Die Menschen in Ninive sind nicht einfach durch eigene Gewissenserforschung zur Umkehr gekommen. Der eigentliche Anstoß geht von Gott aus, davon, dass Gott offenbar einer ist, der sich selbst in die Speichen fallen, der seinem eigenen Zorn nicht das letzte Wort lassen will. Deshalb hatte er Jona überhaupt nach Ninive geschickt, deshalb hatte er ihn nicht fallen lassen, sondern war ihm hinterher gelaufen bei dessen Flucht vor ihm, bis in die abgrundtiefe Einsamkeit im Bauch des Fisches. Gott will einen Bußprediger, weil seine Liebe am Ende immer noch größer ist als sein Zorn. Und so gelangt Jona schließlich doch dorthin, wo er hinsoll, mitten in die Welt, mit deren Schrecken er nichts zu tun haben wollte, weil er sie für absolut unverbesserlich hielt. So bringt Gottes Umkehr die Umkehr des vermeintlich Bösen in Gang.
IV.
Am Ende bleibt aber eine entscheidende Frage: Was macht das mit uns? Ist unsere Welt, wo vom Klima bis zum Krieg das Alte, Zerstörerische seine Triumphe feiert, noch zu retten, ist sie verbesserlich? Die Vorstellung, es würde einer durch eine Megacity wie Bombay oder Shanghai laufen, den bevorstehenden Untergang ansagen und alle gehen dann in sich, ist ja ein Märchen, und kein wirklich gutes. Der Sound der Jonabotschaft „noch 40 Tage“ hat viele Resonanzen in unserer Zeit: „Es ist fünf vor 12“ (seit wieviel Jahrzehnten eigentlich??) – „Wir haben noch soundso viele Tage Zeit, die nächste Infektionswelle zu verhindern“ – „Nur noch dies Regierung hat Zeit für Maßnahmen, die Pariser Klimaziele evt. zu erreichen“ – „Ich will, dass ihr panisch werdet“ (Greta Thunberg). Kann man so Umkehrbereitschaft auslösen? Wohl eher nicht. Am Ende ist die Jona-Novelle ja auch mehr ein Gleichnis über Gott als eine Blaupause für die Menschen zur Weltrettung.
Mir kommt beim Hören dieser biblischen Erzählung eine Frau aus meiner früheren Gemeinde in Erinnerung. Ende 50, mehrfache Großmutter. Sie weiß: Wenn wir so weiterleben, ja, dann werden meine Enkelkinder, wenn sie einmal alt sind, kein Trinkwasser mehr finden, keine saubere Luft zum Atmen, keinen Erdboden mehr, der nicht vergiftet ist. Wenn es in unserer Gesellschaft mit ihren Spaltungen, dem tiefen Misstrauen gegen „die da oben“ so weitergeht, werden Hass und Gewalt irgendwann normale Kommunikationsformen sein. Sie engagiert sich bei den „Omas gegen rechts“, sie demonstriert mit bei den Jungen von „Fridays for future“, sie scheut sich nicht, unangenehme Wahrheiten immer wieder auszusprechen. Und gleichzeitig hofft und betet sie, dass ihre illusionslose Prophetie nicht Recht behält! Sie weiß, dass es nach allem menschlichen Ermessen stimmt, was sie befürchtet, aber sie gräbt sich nicht ein in der Resignation, dann das empfände sie als Verrat an ihren Enkeln und deren Kindern. Sie macht sich, wie die Leute in Ninive, sozusagen „fest an Gott“. Sie setzt ihr Vertrauen darauf, dass – gegen alle Realität – beim Thema Untergang das letzte Wort vielleicht doch noch nicht gesprochen ist. Dass es noch das „wer weiß“ gibt, auf das der König von Ninive gesetzt hatte: „Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut…“ Wer weiß! Diese Mutter und Großmutter weiß es auch nicht, aber sie weiß: Hoffen ist ein Tuwort! Und so tut sie, was sie mit ihren Möglichkeiten kann. Kleine Schritte, aber wer weiß. Vielleicht gelingt es doch noch diese Erde zu bewahren als guten Ort für ihre Enkel und alle Menschenkinder. Der sie geschaffen hat, ist ja auch kein Unverbesserlicher.
AMEN.
Einander (nicht) zur Hölle werden
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde!
Vor neun Jahren erregte ein Bischof einer anderen Landeskirche ziemliches Aufsehen. Auf seine Grußkarte zum Weihnachtsfest 2013 war nicht, wie man es bei diesem Genre kennt, eine erbauliche Darstellung Alter Meister von der Heiligen Familie abgebildet. Sondern darauf war ein Schock-Foto zu sehen: Menschen, die nachts vor Lampedusa von einem total überfrachteten Seelenfänger ins eiskalte Meer springen. Es wurde damals diskutiert, ob das geht auf der offiziellen Weihnachtskarte eines Bischofs, die doch besinnlich daherkommen und weihnachtlichen Frieden transportieren soll. Das mag man so oder so sehen. Keine zwei Meinungen aber kann es darüber geben, dass das, was im Mittelmeer und an der befestigten Außengrenze der EU geschieht, zum Himmel schreit. Darauf wollte jener Bischof (es war Ralf Meister aus Hannover) aufmerksam machen. Damals schon, zwei Jahre vor der sog. „Flüchtlingskrise“.
I.
Das Szenario, das der eben gehörte Predigttext entwirft, lässt sich mit bitterer Klarheit in die Lage an den Außengrenzen Europas eintragen. Die Geschichte handelt von zwei völlig ungleichen Menschen, die doch ganz nah nebeneinander existieren. Der eine im Luxus, Geld spielt keine Rolle, jeder Tag Friede, Freude, Fest. Der andere gelähmt vor seiner Tür liegend, hungernd, bedeckt von Geschwüren, an denen die streunenden Straßenhunde lecken. Die Chance, hineinzukommen ins Haus des Reichen ist gleich Null. Das höchste der Gefühle: die Reste der Brotfladen zu ergattern, an denen die Tafelnden da drinnen sich die Finger abgewischt und dann einfach zu Boden geworfen haben. Mehr down under geht nicht.
Wozu hat Jesus diese Geschichte erzählt? Hat er die Lazarusse aller Zeiten, die Leute an den Hintertüren des Lebens, die unter dem Strich existieren, hat er die aufrichten wollen, indem er sie auf ein jenseitiges Schlaraffenland vertröstete, das ihnen doppelt und dreifach zurückgibt, was ihnen auf Erden verweigert war? Ist diese Geschichte ein Musterbeispiel dafür, was die großen Religionskritiker – nicht selten zu Recht – gesagt haben: dass das Christentum den Leuten mit der Vertröstung auf bessere Zeiten in einer jenseitigen Welt Sand in die Augen streut, damit sie bloß nicht auf die Idee kommen, ihr Elend im Diesseits zu bekämpfen? Denn das hieße dann ja auch: diejenigen anzugreifen, die es sich auf ihre Kosten gut gehen lassen. Ja, wäre es so, dass Jesus zu diesem Zweck die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus erzählt hätte, dann hätte Karl Marx Recht gehabt: Religion, Christentum – das ist Opium fürs Volk!
Auf den ersten Blick, liebe Gemeinde, ist es bei diesem herben Text gar nicht so einfach, solche Vorwürfe zu widerlegen. Man fragt sich ja wirklich: Hätte Lazarus nicht aufgefordert werden müssen, sich mit seinesgleichen zusammenzutun und den kaltherzigen Reichen kurzerhand aus seinem Prunkpalast zu jagen? Aber es ist nun mal nicht zu bestreiten, dass Jesus mit seiner Botschaft vom nahenden Himmelreich kein Sozialrevolutionär war. Im Unterschied zur Sekte der Essener von Qumran hat er die Armut nicht zum allgemeinen Lebensgesetz erhoben. Vor allem aber gilt gerade bei dieser Geschichte: Trost und Vertröstung, das ist zweierlei! Es ist ein Unterschied, ob denen, die sich aus ihrem Elend selbst nicht raushelfen, die dem reichen Mann noch nicht einmal die Scheiben einschlagen können, weil das Regime vor dem Haus die Sicherheitskräfte postiert hat (s. die Befestigungen der Außengrenzen Europas!), ob denen vordoziert wird: Wenn ihr euch geduldig mit eurer Lage abfindet und kein Trouble macht, dann wird es euch dereinst gelohnt! Oder ob sie als tröstliche Botschaft zu hören bekommen: Ihr kommt nicht zu kurz! Auf euch wartet Gottes Reich – und seine Umrisse könnt ihr schon hier entdecken!
II.
Aber das ist im Grunde gar nicht die eigentliche Absicht dieser Erzählung. Ihre ersten, wichtigsten Adressaten, noch vor den Lazarussen aller Zeiten, die getröstet werden sollen, sind nämlich – wir. Wir, die wir fast alle in irgendeiner Weise reich sind. Jesus erzählt uns diese Geschichte, und das ist allerdings das Ernste, Beunruhigende an ihr, damit es uns nicht so geht wie dem reichen Mann. Der kommt ja erst zu neuen Einsichten, als es zu spät ist. Als sich zeigt, dass nichts mehr zu ändern ist, als unwiderruflich feststeht: Leben verfehlt, Chancen verpasst! Eine Wiederholungsprüfung findet nicht statt. – Für uns ist es noch nicht zu spät. Aber, und deshalb steht diese Geschichte in der Bibel, wir sind in der Gefahr, die der Reiche zu spät erkannt hat und die er nun verzweifelt wenigstens von seinen Brüdern abwenden will: nämlich einfach so weiterzumachen, wie wir leben. Also den Ruf Jesu: Tut Buße, macht nicht so weiter!, zu überhören und das mit der Umkehr immer wieder rauszuschieben, nach der Melodie: Erst mal sehen! So übel sieht’s doch gar nicht aus bei uns. So nach dem frohsinnigen Kölschen Lebensmotto: „Et hätt‘ noch immer jot jejange!“
Jesus lässt das nicht gelten. Er lässt uns hier unmissverständlich wissen: mehr als dieser Ruf zur Umkehr kommt nicht! Gott wird uns weder mit Brachialgewalt zwingen noch durch irgendwelche Sondermirakel nachhelfen, so wie es der arme Reiche aus der Hölle heraus für seine noch lebenden Brüder erfleht. Das ist gar nicht nötig, denn: „Sie haben Mose und die Propheten, die sollen sie hören!“ Das will uns sagen: Wir gehören auch zu den fünf Brüdern des reichen Mannes! Denkt nicht, es käme noch ein Extraberichterstatter aus dem Jenseits, der erst wirklich beglaubigen würde, was in „Mose und den Propheten“ steht. Wem es ein Leben lang wunderbar gelingt, um Gott und sein Wort einen großen Bogen zu machen, der wird wahrscheinlich auch eine Totenerscheinung für leeren Spuk halten. „Sie haben Mose und die Propheten“ – das heißt nicht weniger als die ganze damalige Bibel. Da kann man sich nicht so einfach rausreden.
Und nun kommt für uns hinzu, dass unsere Lage gegenüber derjenigen der fünf Brüder des Reichen noch um einiges vertrackter ist. Das Wort, das wir in dieser Geschichte hören, ist ja das Wort dessen, der tatsächlich von den Toten zurückgekommen ist. Das Wort des Auferstandenen also, dem sich nach der Meinung des Reichen ja keiner mehr entziehen kann. Wer hier nicht hinhört, dem ist wohl wirklich nicht mehr zu helfen. Was uns mit dieser Geschichte gesagt wird, lässt sich also auf den Nenner bringen: Schlagt Gott und sein Wort nicht in den Wind!
III.
Im Grunde ist das eine einfache Botschaft, die jeder verstehen kann. Er hätte es ja besser wissen können, der Reiche. Er hatte doch auch „Mose und die Propheten“. Und da steht ja genug drin. Zum Beispiel beim Propheten Jesaja: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die, die im Elend sind, führe ins Haus“. Das Verhängnis des reichen Mannes besteht also nicht in seinem gut gefüllten Geldbeutel, sondern in seinem (Nicht-)Verhältnis zu Gottes Wort. Anders gesagt: Nicht Reichtum an sich ist von Übel, wohl aber, wenn man davon keinen verantwortlichen Gebrauch macht. Gottes Wort weist uns an den armen, übersehenen Bruder. Es zeigt ihn uns, denn Lazarus hat heute so viele Gestalten. Dass es den hungernden, zerlumpten, schmutzigen Lazarus auf der südlichen Halbkugel dieser Erde millionenfach gibt, da ist in dieser globalisierten Welt ja jeder von uns mit unserem Lebensstil irgendwie hinein verstrickt. Wir schieben das gern von uns weg und beteuern, dass wir unser Auto doch meistens in der Garage stehen lassen, dass wir penibel unseren Müll trennen. Aber denken wir, um nur ein Beispiel zu nennen, beim Kauf einer preiswerten Textilie eigentlich daran, warum sie so günstig zu haben ist? Oder dass wir, wenn wir unsere Lebensmittel bei Billig-Discountern besorgen, die Klimakatastrophe mitverursachen, unter deren Folgen v.a. die südlichen Länder wirtschaftlich massiv leiden? So reihen wir uns unter die fünf Brüder des Reichen ein.
Keine Frage, Gott hat uns nicht zu Marionetten gemacht. Und so können wir den Umkehrruf seines Wortes, der immer ein Hinkehrruf zum armen Lazarus ist, lange in den Wind schlagen. Wir haben Zeit. Aber eben, wir haben Zeit – nicht Ewigkeit. Zeit ist im Unterschied zur Ewigkeit begrenzt. „Es begab sich aber, dass der Arme starb“ – „Der Reiche aber starb auch“ – da war es dann vorbei mit der Zeit. Während der andere „in Abrahams Schoß“, also in Gottes Ewigkeit gelangt, wird der Reiche einfach nur „begraben“, er landet also ganz unten, ganz weit weg von Gott. Jetzt zeigt sich, wie anders die Maße sind, mit denen Gott unser Leben misst. Der Reiche kommt dorthin, was durch das Wort bezeichnet ist, das heute ziemlich diskreditiert ist: in die Hölle. Darf man darüber noch reden und predigen, nach all dem, was die christliche Mission früher mit der Erzeugung von Höllenangst angerichtet hat? Ich denke, die Sache, für die dieses Wort steht, ist nicht überholt. Es gibt das berühmte Wort von Jean-Paul Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“ So sehen wir das. Jesus sagt etwas anderes: Die Hölle: das bin ich – und zwar ich ohne die anderen. Wo man nur mit sich allein ist, immer aufs Neue auf sich zurückgeworfen, eine Runde nach der anderen um sich selbst drehend, ohne Gott und ohne andere: das ist die Hölle. Der andere, dem ich die Hölle bereitet habe durch meine Gleichgültigkeit, der wird mir zur Hölle, wenn ich für alle Ewigkeit von der Freude ausgeschlossen bin, die er jetzt in alle Ewigkeit erfährt.
„In der Hölle sein“, das heißt letztlich nichts anderes als ganz weit weg von Gott sein. Aber doch nicht so weit, als dass man ihn nicht mehr sehen könnte. Was nach Meinung Jesu die Sache nur noch schlimmer macht. Wenn ich gar nicht weiß, was mir fehlt, dann ist der Leidensdruck ja geringer. Hier aber ist es so, dass der Reiche aus der Ferne Gott sieht – wie ein Verdurstender eine rettende Quelle, von der er aber nicht trinken darf. Auch wenn wir das nicht gern hören wollen: Aber ob das so kommt, das entscheidet sich auch hier, jenseits von Himmel und Hölle, wo wir vom Wort Jesu aufgefordert sind, unsere Augen auf den Bruder, die Schwester zu richten, für die die Hölle kein akademischer Begriff ist, sondern nackte Realität.
Ob damit dann definitiv, ein für alle Mal über uns entschieden ist, wie es diese Geschichte nahelegt? Ich kann es nicht sagen. Wir haben Gott als dem letzten Richter nicht über die Schultern zu schauen. So lange das Jüngste Gericht aussteht, möchte ich mich gerne an das Wort eines großen katholischen Theologen halten: „Es ist zwar kirchliches Dogma, dass es die Hölle gibt. Es ist aber kein kirchliches Dogma, das auch jemand in ihr ist“ (Hans Urs von Balthasar). Diese Hoffnung kann uns auch ein beunruhigender Text wie der heutige nicht nehmen lassen. Aber die Dringlichkeit des Rufes, die uns aus ihm anspringt: die sollen wir nicht überhören.
Es ist nun einmal so: Zwar kriegen wir Gottes Gnade umsonst, ohne dass wir sie uns verdienen müssen. Aber billig ist sie deshalb gerade nicht. Gott selber hat sich seine Gnade ja sein Teuerstes kosten lassen. Und: Die Gnade will gelebt sein – sonst ist sie nicht Gnade. Noch haben wir Zeit.
AMEN.
Auch der Geist kann fleischlich sein
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde!
Musikliebende haben eben beim Hören der Worte des Predigttextes sicherlich deren herrliche Vertonung durch Bach in seiner Motette „Jesu, meine Freude“ im Ohr gehabt. Sie sind der Auftakt zum 8. Römerbrief-Kapitel, einem Gipfelabschnitt in den Paulusbriefen. Seine Aussagen sind Schwarzbrot des Glaubens, an dem man lange kauen kann. Das macht ihr Verstehen nicht unbedingt einfach. Der Jubel über die mitreißende, nach vorn drängende Kraft des Heiligen Geistes, der doch am Pfingstfest laut werden soll, brandet hier nicht von selbst auf. Was ist das, wovon Paulus hier so akademisch-abstrakt redet? Was ist das für ein Geist, den wir im Glaubensbekenntnis bekennen, um dessen Kommen auch zu uns wir in Liedern und Gebeten bitten?
I.
Der hier bedachte Gegensatz von ‚Geist‘ und ‚Fleisch‘ ist als Thema ein Blockbuster in der Bibel. „Fleischlich gesinnt sein ist der Tod, aber geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede“: Wenn man das so hört, denkt man zunächst an den Gegensatz zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Zwischen dem Physisch-Naturhaften, dessen Gesetzmäßigkeiten man analysieren und präzise bestimmen kann, und dem Inwendig-Psychischen, das sich einer klaren Bestimmung entzieht. Aber wenn wir es so verstehen, haben wir bereits den Einstieg in diesen Text verfehlt und verheddern uns im abseitigen Gelände. Denn wenn die Bibel von Fleisch und Geist redet, dann meint sie nicht diesen Gegensatz zwischen Geist und Materie, wie wir ihn landläufig verstehen. Der entspringt dem idealistischen Denken der griechischen Philosophie, ist also heidnischen Ursprungs. Die Bibel interessiert dieser Gegensatz nicht. In ihr geht es nicht um abstrakte Ideen, sondern immer um konkrete Beziehungen: Die zwischen Gott und Mensch und, daraus folgend, die der Menschen untereinander. Für die Bibel entscheidet sich alles, was über uns zu sagen ist, daran wie es um unser Verhältnis zu Gott steht. Auch die Spannung Fleisch-Geist hat hier ihren Angelpunkt.
Fleisch: Das ist für die Bibel das von Gott losgelöste Dasein. Das ist die Welt, die aus sich selbst und für sich selbst sein will. Das meint ein Leben, das sich Gott gegenüber verschlossen hält, ihn außen vor, sich seine Gnade nicht gefallen lässt. Das Leben des bei sich selbst gefangenen Menschen, der nur aus dem Eigenen leben will. Der Mensch, der sich selbst zum Maß aller Dinge macht (auch ein Satz aus der griechischen Philosophie!), weil er einer ihm übergeordneten Macht nicht untertan, sondern selbst-herrlich sein will. Deshalb ist, so meint Paulus und mit ihm die ganze Bibel, letztlich die Feindschaft gegen Gott der eigentliche Kern seines „fleischlichen“ Wesens. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das ein Licht auf diesen abgründigen Sachverhalt wirft: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“ Das ist es: Sünde, ‚Fleisch‘, das ist Hass gegen den, der mir hilft. ‚Fleisch‘ ist Hass gegen Gottes Gnade.
Dieses ‚Fleischliche‘ steckt also keineswegs nur in unserer körperlichen Natur, in den Anlagen, die man so als niedere, sinnliche Triebe ansieht. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“: so bringt Jesus in der Nacht von Gethsemane seine Enttäuschung über die schlafenden Jünger zum Ausdruck. In unserem Sprech ist diese Aussage zur banalen Wendung verkommen, die man augenzwinkernd bemüht, wenn man bei der Abmagerungskur dem Stück Torte, oder überhaupt bei der Kur dem „Kurschatten“ nicht hat widerstehen können. Mit dem, was Paulus meint, hat das nichts zu tun. Für Paulus können nämlich unser Geist, unser Intellekt, unsere Innerlichkeit – also die Dimensionen, die uns über die nichtmenschliche Kreatur herausheben und uns zur „Krone der Schöpfung“ machen – genauso ‚fleischlich‘, gottwidrig sein wie die Organe und Triebe unseres Leibes. Nicht irgendwelche sinnlichen Laster, sondern die kultivierten Formen menschlicher Selbstüberhebung sind der wirklich gefährliche Ausdruck der ‚fleischlichen‘ Gesinnung. Wenn Paulus hier sagt: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt“, dann haben wir diese Aussage richtig verstanden, wenn wir sie einfach durch einen Satz ersetzen, den der Apostel einmal den Korinthern geschrieben hat: „Wir aber haben nicht den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott empfangen“ (1. Kor 2,12).
II.
Was aber ist dann der Geist, der dem Fleisch, wie Paulus sagt, kritisch gegenübersteht? Er ist zunächst einmal nicht unser, sondern Gottes Geist. Also der Geist, der nicht aus uns kommt, sondern der von außen in uns eingehen, in uns wohnen und uns prägen will. Und dann wird dieser Geist ohne jeden Abstand als Geist Jesu Christi bezeichnet. Erst durch Jesus wird der Gegensatz zwischen Geist und Fleisch in seiner ganzen Tiefe offenbar. Denn Jesus Christus ist eben keine „innerer Idee“, sondern konkrete leibhafte Wirklichkeit, eine Person. An ihn glauben wir, wenn wir an Gott glauben, und nicht an irgendeine „höhere Macht“, die in einem himmlischen Stellwerk sitzt und den einen Lebenszug gut durchkommen, den anderen entgleisen lässt.
Worum es dabei geht, führt uns eine berühmte Szene der deutschen Literatur vor: die Szene in Goethes Faust, wo das fromme Gretchen es nicht mehr aushält und von Faust endlich Klartext über sein Verhältnis zum Glauben hören will. Sie stellt die berühmte „Gretchenfrage“: „Heinrich, nun sag, wie hältst du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon“. Faust will (sich) das natürlich nicht eingestehen, und legt als Antwort ein „Glaubensbekenntnis“ ab, das in seiner wortreichen Angestrengtheit nur die Bestätigung der Ahnung Gretchens ist: „Wer darf ihn nennen, und wer bekennen? / Der Allumfasser, der Allerhalter. / Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / dafür! Gefühl ist alles, / Name ist Schall und Rauch, / umnebelnd Himmelsglut“. Gretchens lakonische Entgegnung auf diesen ergreifenden Wortschwall hat es in sich und ist eine hübsche Karikatur kirchlicher Predigten: „Das alles ist recht schön und gut, / ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / nur mit ein bisschen andern Worten“.
Ja, wenn es um den Glauben geht, ist der Name eben nicht Schall und Rauch, sondern im Gegenteil, er hilft zur Unterscheidung der Geister und entscheidet darüber, von welchem Geist wir erfüllt sind. Paulus stellt die forsche Behauptung auf: Von Jesus Christus geht ein Geist aus, der mich frei gemacht hat aus einem hoffnungslosen Leben. Hoffnungslos darum, weil es ein geknechtetes Leben war unter dem, wie er es nennt, „Gesetz der Sünde und des Todes“. Wieder so eine wuchtige Wendung. Aber ich glaube, jetzt können wir besser verstehen, was er damit meint:
„Gesetz der Sünde und des Todes“, oder eben „Geist der Welt“: Das ist das gnadenlose Dogma von der Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Unveränderbarkeit der Welt, das sich in dem resignierten Ausruf austobt: Da kann man nichts machen! Man muss mit den Wölfen heulen, sonst wird man untergebuttert!
„Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist die Meinung, wir sollten und dürften, was wir mit unserer Vernunft erreichen können, auch machen. Wir können aus dafür entsorgten Embryonen hochpotente Stammzellen gewinnen – was wiegt schon so ein Embryo gegen die Aussicht, „vollwertigen“ Menschen wirksam aus bisher unheilbaren Krankheiten zu helfen? Der Geist der Welt hat für alles und jedes eine plausibel klingende Begründung parat.
„Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist der offenbar unausrottbare Mechanismus, nach dem Schuld immer die Schuld der anderen ist. Und dass demokratisch gewählten Menschen in politischer Verantwortung grundsätzlich nicht zu trauen sei, weil sie, von geheimen weltumspannenden Kräften gelenkt, nur Böses gegen das eigene Volk im Schilde führten
„Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist das heimliche Dogma unserer Zeit, dass der Wert eines Menschen nicht durch sein pures Da-Sein gegeben ist, sondern sich an dem bemisst, was er leistet. Johannes Rau hat das als Bundespräsident einmal treffend kritisiert: Nicht was einer ist, sondern was er kann und in Folge seines Könnens hat, zählt heute meistens, sagte er. Ich breche hier ab. Jeder von uns könnte noch viele Paragraphen im Gesetz der Sünde und des Todes entdecken.
III.
Paulus setzt dagegen: „Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er auch eure sterblichen Leiber durch seinen Geist lebendig machen“. Gottes Geist kann also unser Leben von Grund auf erneuern, es in die Richtung Jesu bringen. Und die lautet für Paulus so: „Er erniedrigte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an“ (Phil 2,7). M.a.W.: Er wollte nicht hoch hinaus, sondern tief herunter. Der Geist Christi hat einen unverwechselbaren Zug nach unten. Das ist einzigartig, das gibt es so in keiner anderen Religion. Deshalb hat Jesus grenzenlos geliebt und ist so unbeirrt für das elementarste Menschenrecht eingetreten: ungeschmälert Mensch sein zu dürfen.
Gottes Geist, der Geist Christi: Das wirkt sich aus in der beharrlichen Hoffnung derer, die nicht mit den Wölfen heulen und unsere Welt nicht sich selbst überlassen, sondern mit vielen kleinen Schritten das ihnen Mögliche tun, in diese Welt Spuren des Reiches Gottes einzuzeichnen. Weil Gott es nicht auf die Vernichtung, sondern auf die Rettung unserer Welt abgesehen hat.
Gottes Geist, der Geist Christi: Das ist der Geist, der die Welt als Gottes Schöpfung erkennen lässt, die uns nicht zum Besitz übergeben, sondern nur treuhänderisch ausgeliehen ist. Der entscheidende Gesichtspunkt für ein von Gottes Geist geleitetes Denken ist nicht: Was bringt es für uns ein?, sondern: Dient es dem Leben des Menschen und seiner Mitgeschöpfe? Müssen wir es machen? Der Geist Christi ist ein Geist, der nicht will, dass wir, statt uns zu freuen, dass Gott Mensch wurde, daran arbeiten, dass der Mensch zum Gott wird.
Gottes Geist, der Geist Christi: Der bewirkt, dass – es war genau vor 20 Jahren, nach dem Massaker an der Schule in Erfurt, wenige Tage vor Pfingsten – 100.000 Menschen, von denen die wenigsten zur Kirche gehörten, still und konzentriert einen ökumenischen Trauergottesdienst mitvollzogen, auf einem Platz in Ostdeutschland, wo 13 Jahre vorher die Mächtigen noch das gesetzmäßige Aussterben des Christentums propagierten.
Gottes Geist, der Geist Christi: Der macht nicht mit, wenn jetzt (zuletzt durch eine führende Berliner Verteidigungspolitikerin) gefordert, die Bundesweht brauche, um eine effektive Armee zu werden, endlich wieder ein Feindbild. Und dieses Feindbild sei Russland. Der Geist Christi, der weder gegen Putin noch gegen Biden gestorben ist, sondern für uns alle, bewirkt, dass wir nicht vom Feindbild Putin und seiner schrecklichen Soldateska ein Feindbild „der Russen“ herleiten. Auch russische Menschen sind Geschöpfe und Kinder Gottes wie wir.
Liebe Gemeinde, wenn jeder von uns in diesem Geist Jesu anfinge, da, wo er lebt in dieser Welt, sich eines Menschen anzunehmen, ihm Beachtung und damit Achtung entgegenzubringen, ihn anzusehen und somit zu einem angesehenen Menschen zu machen, sich zu ihm zu stellen, Zeit für ihn zu haben – um den herum würde ein Stück Welt menschlicher. Gott sei Dank zeigt sich immer wieder: Es gibt solche Menschen. Es gibt viel mehr von ihnen, als wir oft meinen.
Sicher, wir können nicht alles, wir können nicht die Last der Welt auf unsere Schultern nehmen. Aber wir können eben auch nicht nichts, wie uns der Geist der Welt, das „Fleisch“ gerne einflüstert. Sondern wir können etwas – etwas im Geist Jesu. „Wenn du einen einzigen Menschen gerettet hast, so hast du die ganze Welt gerettet“, sagt ein altes Sprichwort aus dem Talmud. Das ist nicht „fleischlich“, nicht der Geist der Welt – der würde diesen Spruch sofort für aberwitzig und unlogisch erklären. Das ist „geistlich“, das ist Gottes Geist. – Lassen wir es uns also von niemandem ausreden: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn Gottes Geist in euch wohnt“.
AMEN.
„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Das 8. Kapitel des Römerbriefs, aus dem der eben gehörte Predigttext kommt, ist ein Königstext im neuen Testament. Es geht in ihm um den Heiligen Geist, und was er im Leben der Christen bewirkt. In unserem Abschnitt schlägt Paulus aber einen verhaltenen Ton an. Auf den ersten Blick jedenfalls. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; aber der Geist selbst vertritt uns bei Gott mit unaussprechlichem Seufzen“. Das sind wir also. So und nicht anders war die Christenheit von Anfang an, und so wird sie bleiben bis ans Ende: einerseits „voll des Heiligen Geistes“ – aber was andererseits dann dabei herauskommt, sind nichts als „unaussprechliche Seufzer“. Da erzählt die Bibel an vielen Stellen, wie Gottes Geist neue Ein- und Durchblicke schenkt, zu ungeahnter Klarheit führt, gebeugten Leuten aufrechten Gang ermöglicht – und die Christen antworten auf diese Gabe nicht anders als mit Seufzen und wissen nicht, was sie Gott sagen können. Da werden wir mit dem Reichtum von Gottes Geistesgegenwart beschenkt – und im gleichen Atemzug wird uns ein Armutszeugnis ausgestellt: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen.“
I.
Aber eben, das ist eine Grunderfahrung mit unserem Christsein, und deshalb auch (für uns oft schmerzlich) mit der Kirche: dass dieser Gegensatz zwischen dem, was wir durch unsere Taufe sein sollen, und dem, was wir persönlich an uns selbst und aneinander immer wieder erfahren, so heftig sein kann. „Der Geist hilft unserer Schwachheit“ auf“: Haben wir nun Gottes Geist? Oder sind wir von vielen guten Geistern verlassen? Wenn mich einer, wie das unter Christen gelegentlich so ist, direkt auf den Kopf zu fragte: Hast du den Geist aus Gott empfangen?, dann würde ich ihm schon so antworten: Ja, ich habe ihn empfangen. Aber nicht ein für alle mal. Sondern gerade so, dass ich immer aufs Neue um ihn bitten muss. Ich habe ihn also nicht so bekommen, dass ich ihn gleichsam auf Flaschen ziehen und mir einen Vorrat anlegen könnte, der mir jederzeit abrufbar zur Verfügung steht. Ich bleibe darauf angewiesen, um ihn zu bitten.
Kennen Sie das schöne Bonmot: ‚Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass die Kirche ein Auslaufmodell ist? Antwort: Im Prinzip ja – aber dem Heiligen Geist ist nicht zu trauen!‘ Das ist es, liebe Gemeinde! Gottes Geist ist in der Tat nicht zu trauen, jedenfalls nicht derart, dass er erwartbar und planbar ist. Er weht, wann, wo und wie er will. Man kann ihn nicht in eigene Regie nehmen. Aber er kommt. Und so hat er seither in fast 200 Jahren unberechenbar und eigenwillig über das dürre Kirchenfeld geweht. Oft da, wo man es am wenigsten erwartete. Totgeglaubte Gemeinden hat er wieder munter gemacht, müde gewordene Christen in Schwung gebracht, und Leute, die mit Gott gar nichts am Hut hatten, hat er Zugang finden lassen zu Evangelium. Vor allem aber: der Heilige Geist hat ganz normale Menschen im ganz normalen Gottesdienst aufgerichtet, getröstet, zum Leben ermutigt. Wenn uns Gottes Geist nie angerührt hätte, ob wir dann jetzt hier wären?
II.
„Du bist ein Geist der Freude, von Trauern hältst du nichts“ (EG 133,6) heißt es in einem Pfingstlied von Paul Gerhardt. Eine steile, aber schöne Aussage. Was für eine Freude ist es, die Gottes Geist schenkt? Es ist zuerst und zuletzt die Freude darüber, dass Gott uns Jesus Christus geschenkt hat. Jesus, der sich unseres von so vielen Spuren des Todes gezeichneten Lebens annimmt. Er hat all das, was wir Gott und einander schuldig geblieben sind, als seine eigene Schuld sich aufgeladen und es so aus der Welt geschafft. Nun steht nichts mehr zwischen uns und Gott. Nun gilt, was Paulus am Schluss dieses 8. Römerbriefkapitels geradezu stolz proklamiert: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“ (Röm 8,39). Wir sind und bleiben von Gott geliebt, und das ist das Beste und Wichtigste, was von uns zu sagen ist. Martin Luther hat das in einem seiner schönsten und tiefsten Sätze so auf den Punkt gebracht: „Gott liebt die Sünder, nicht weil sie schön sind, sondern sie werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“. Auch das ärmste, bedrohteste Leben ist in Gottes Augen schön und hat unendlichen Wert. Es gibt nichts schöneres, als geliebt zu sein. Der Theologe Helmut Gollwitzer hat das einmal in den einfachen Satz gebracht: Wir sind noch viel geliebter, als wir wissen! Das ist der Kern des christlichen Glaubens.
Wir sind geliebter, als wir wissen: Das mindestens zu erahnen und uns von daher nicht runterziehen zu lassen in die Abgründe von Routine und Traurigkeit, an deren Rand wir uns oft bewegen – das ist bereits eine stille, aber nachhaltige Wirkung des Geistes, den wir nicht aus uns selber haben, sondern der kommt und unserer Schwachheit aufhilft. Vielleicht ist dies das Schwierigste und zugleich Tiefste, was in einem Christenleben zu lernen ist: Die Überbrückung, oder jedenfalls das Zusammenhalten dieses schmerzhaften Gegensatzes zwischen dem, was wir von Gott her eigentlich sind, und dem, wie wir miteinander und mit uns selbst sind, wirklich dem Heiligen Geist überlassen zu können, anstatt uns selber sysiphushaft daran abzuarbeiten. „Der Geist selbst vertritt uns bei Gott mit unaussprechlichem Seufzen“. Er vertritt uns im Himmel besser, als auch der frömmste Mensch jemals seine Sache vor Gott vertreten könnte.
Aber auch der beste Stellvertreter taugt nichts, wenn er keine Vollmacht hat. Ein Stellvertreter, das liegt in der Natur der Sache, braucht immer eine Vollmacht, die ihn beglaubigt – das ist, denke ich mir, im Himmel auch nicht anders als auf Erden. Wer jemand glaubwürdig vertreten soll, der muss bejaht werden von dem, für den er eintreten soll. Wir kennen das aus der Diplomatie. Wenn eine Regierung kein wirkliches Vertrauen mehr in ihren Botschaften in einem anderen Land hat, wird der von seinem Posten abberufen. Anfang der Nuller Jahre kam das mal in Berlin vor. Der dortige Botschafter der Schweiz geriet wegen gewagter Auftritte seiner kapriziösen Gattin in der Berliner Nachtszene in die Schlagzeilen und drohte sein Land unmöglich zu machen - vorbei war’s dann bald mit der Stellvertreterrolle. So auch bei Gott: Da soll, wer sich bei ihm vertreten lassen will, auch Ja sagen zu diesem Stellvertreter. Er soll dem Heiligen Geist Vertrauen schenken, seine Sache bei ihm gut aufgehoben glauben. Gerade weil ihm laut Radio Eriwan nicht zu trauen ist, hat Gottes Geist unser Vertrauen verdient. Dass das geschah, dass Menschen - anfangs ganz wenige, und dann immer mehr – jemand, den sie nicht sehen konnten und der kein Gepränge entfaltet wie ein würdevoller Diplomat, ihr Vertrauen schenkten und ihre Sache ihm überließen: das ist das Geheimnis von Pfingsten und seither der Kirche.
III.
Der vor einigen Monaten verstorbene große Theologe Eberhard Jüngel hat mit Blick auf diesen Text gesagt: „Die Angst um die Welt und die Kirche, die auch der Christ nicht verliert, drückt sich aus in unaussprechlichen Seufzern. Seufzend gestehen wir uns und Gott unsere Angst ein. Ein solcher Seufzer ist das ehrlichste Gebet von der Welt“. Das ist steil ausgedrückt. Aber ich finde, es stimmt. Vielleicht haben Sie das auch schon mal so erlebt: dieses Ahnen, dass wir gerade dann, wenn wir gar nicht mehr wissen, was wir sagen und beten sollen, wenn wir nur noch eingestehen können, dass „wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus noch ein“, dass wir dann näher bei Gott sein können als in frommen und wohlformulierten Gebeten. Ich erinnere mich eines früheren Bischofs, der mal von seiner Beklommenheit vor einer weichenstellenden Sitzung seiner von inneren Konflikten zerrissenen Kirchenleitung sprach und seine Sorge vor dem Verlauf der Sitzung auf die sehr paulusmäßige Formel brachte: „Wenn morgen nicht der Heilige Geist mit Macht dazwischenfährt, dann können wir alle einpacken!“ Ein solcher aus der Tiefe kommender Stoßseufzer ist manchmal mehr wert als alle Gebete. Auch wenn es manchmal nur ein einziges seufzendes „Ach“ ist. Nein, wir brauchen uns unserer Gebetsunfähigkeit nicht zu schämen.
Aber nun ist und bleibt es die große Verheißung für unsere Seufzer, dass der Heilige Geist, der Dolmetscher unseres Lebens und Glaubens, sie nicht nur versteht, sondern sogar in sie einstimmt und sie so dahin transportiert, wo sie hingehören. Er liegt mit unseren „Achs“ Gott in den Ohren. Auf Pfingsten hin zu leben und von Pfingsten her miteinander Kirche sein, das heißt also beides: dem Heiligen Geist vertrauen, Ja zu ihm sagen - und zugleich: sich des seufzenden „Ach“ über die sichtbare, oft wenig ansehnliche Seite unseres Lebens nicht schämen. Karl Barth sagte einmal: „Ach ja – in diesen beiden Worten steckt das ganze Pfingstgeheimnis“.
Liebe Schwestern und Brüder, die Welt, in der wir leben, auch die Kirche, wie wir sie erfahren, nötigt uns gerade jetzt oft nur ein „Ach“ ab. Aber wir bleiben damit nicht uns selbst überlassen. Wir können mit diesem „Ach“ zu Gott kommen, wenn wir „Ja“ zu ihm sagen. „Auf Hoffnung“ hin, wie Paulus nicht müde wird, in Römer 8 zu sagen. So können diese beiden Wörtchen „Ach ja“ fast zu einer Art Summe eines Christenlebens werden - eine Summe, die sich von mathematischen Summen darin unterscheidet, dass sie nicht endgültig ist, sondern nach vorne offen bleibt. Damit Gott selbst, wann und wie es ihm gefällt, das Saldo feststellen kann.
Wie das aussehen wird? Wissen können wir’s nicht. Sonst hätte Paulus dieses Kapitel nicht schreiben müssen. Eins aber wissen wir, und das ist wie ein verhaltenes, aber unüberhörbares Echo auf das Eingeständnis, dass wir nicht wissen, was wir beten sollen. Paulus weiß wohl, warum er es gerade mal zwei Verse später uns zuruft: „Wir aber wissen, dass denen, die sich Gott öffnen, alle Dinge zum Besten dienen“.
AMEN.
„Regierungswechsel und Zeitenwende“
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Die Bibel ist ein unheimlich faszinierendes Buch. Im Fall des heutigen Predigttextes meine ich das wortwörtlich: die Bibel kann auch unheimlich sein; und oft ist sie faszinierend. Und manchmal ist sie beides zugleich. Vielleicht ist es Ihnen eben so gegangen beim Hören dieses total fremdartigen Textes. Seine bizarren Bilder, die mit Sprachgewalt entfaltet werden, erinnern Bibelleser an das letzte Bibelbuch, die Johannesapokalypse. Und in der Tat, Daniel, einer der jüngsten Propheten im Alten Testament, wird der sog. spätjüdischen Apokalyptik zugerechnet.
I.
Wer war dieser Daniel, von dem wir vermutlich nicht viel mehr wissen als die berühmte Episode von jener Löwengrube, in die man ihn irgendwann geworfen hatte, um den Gott auszutesten, den er verkündigte? In dem Buch, das nach ihm heißt, wird erzählt, wie Daniel schon als Teenager aus seiner Heimat Jerusalem nach der damaligen Supermacht Babylon verbracht wird. Er durchläuft eine Ausbildung zum höheren Verwaltungsdienst und findet einen exponierten Arbeitsplatz in der Kanzlei des damaligen Großkönigs Nebukadnezar. Solche Stellen an einem orientalischen Hof galten als Schleudersitze, aber Daniel arbeitet über Jahrzehnte offenbar hochkompetent, bis schließlich die Perser das babylonische Reich erobern. Daniel aber ist für den anstehenden Regimewechsel ein unentbehrlicher Fachmann, er bleibt auf hoher Ebene in der Verwaltung. Wir würden sagen, als Hauptabteilungsleiter im Ministerium, wo die echte Fachkompetenz sitzt, die auch bei jedem Regierungs- und Ministerwechsel im Haus bleiben muss.
Daniel kennt seinen jüdischen Glauben. Er weiß etwas von Gottes Gnade auch in Zeiten des Umbruchs und Nächten totaler Ungewissheit. Er hat sein Elternhaus, seine Heimat, seine Freiheit verloren. Aber auch in dieser entwurzelten Umgebung vertraut Daniel dem Gott seiner Mütter und Väter, Tag und Nacht, wach und im Traum. In seinen Träumen empfängt er von Gott Visionen. Sie drehen sich darum, wie es jetzt inmitten der Verwerfungen in der Welt mit dem kleinen Gottesvolk weitergeht. Die jüdische Hauptstadt Jerusalem und ihr Tempel sind zerstört, alles, worauf sie in der Theologie und in der Architektur einmal bauten, liegt in Trümmern. Ist da auch nur von ferne an einen Neuanfang zu hoffen?
Der heutige Predigttext enthält wie gesagt bizarre, aber auch großartige Bilder und Visionen. Es lohnt, sie zu meditieren und zu entschlüsseln, wie man das auch mit den unheimlichen Bildern machen muss, die die Johannesoffenbarung enthält. Das Meer in Daniels Traum steht für die Weite der Völkerwelt. Ihm entsteigen vier fürchterliche Raubtiere: ein Löwe, dann ein Bär, dann ein Panter und schließlich ein namenloses Tier, das die vorherigen an Bestialität übertrifft. Damit sind die Weltreiche der damaligen Zeit gemeint, die einander ablösen: die Babylonier, die Meder, die Perser und schließlich die Seleukiden. Sie sind gefährlich, unheimlich und teuflisch. Sie morden, fressen und treten alles nieder. Und sie entfalten drei große Themen, die nicht nur zeitlos wichtig sind, sondern gerade zur Jetztzeit aktuell wie lange nicht mehr: die Brutalisierung auf der Erde, einen Regierungswechsel im Himmel und schließlich eine Humanisierung im Himmel und auf Erden. Ein enormer Horizont, der da aufgemacht wird.
II.
Zunächst zur irdischen Brutalisierung. Was macht diese Tiere so gefährlich? Die Antwort ist auf den ersten Blick frappierend: dass sie Menschen sind, als Menschen dargestellt werden! Der Löwe wird „wie ein Mensch auf seine Füße gestellt, ihm wird Menschenverstand gegeben“. Das schaurige letzte Tier hat Augen wie Menschenaugen. Das will sagen: Menschen können zu schlimmeren Untieren werden als die Tiere in der Natur. Ein Löwe ist schon gefährlich genug. Aber ein Löwe mit der Intelligenz eines Menschen kann entsetzlich sein. Brutalität ist schlimm in sich. Aber Brutalität die intelligent geplant und technisch perfekt ins Werk gesetzt wird, ist teuflisch. Sicherlich haben manche von Ihnen vor einigen Monaten im Fernsehen den dokumentarischen Spielfilm über die sog. Wannseekonferenz gesehen. Genau das, die mit eiskalter technischer Intelligenz geplante sog. Endlösung der Judenfrage wurde da eindrucksvoll dargestellt.
Was macht diese Tiere so unheimlich? Zu Ihrer Brutalisierung gehört nicht nur Intelligenz, sondern auch Macht. Sie stehen zeichenhaft für die Macht der Imperien. Jener Weltreiche, die gewaltige Kriegsmaschinerien haben, mit denen sie kleineren, weniger starken Völkern brutal ihren Willen aufnötigen. Diese Macht, durch keinerlei rechtliche Rahmen begrenzt, brutalisiert unweigerlich. Hier ist dieser fremde ferne Text nun vollends in unserer Gegenwart angekommen.
Und was macht die Tiere so teuflisch? Die Tiere symbolisieren die alten Chaosmächte, die Gott bei der Schöpfung, jenem großen Gestaltwandel vom Chaos zum Kosmos, überwunden hatte. Die Weltmächte versprechen, Ordnung zu schaffen – „entnazifizieren“ heißt das aktuell –, aber in Wahrheit sind sie Teil des Chaos, das die Ordnung der Schöpfung zerstören will. So erscheinen die Weltmächte als ein großer Aufstand gegen Gott. Das ist das Schlimmste: wo Brutalität mit Intelligenz und politischer Macht auftritt und sich selbst absolut setzt, sich selbst zum Gott erklärt.
III.
Zweites Thema: der Regierungswechsel im Himmel. Daniel schaut Gott. Er sieht einen Greis, mit schlohweißen Haaren. Was für ein Kontrastprogramm zu den kraftstrotzenden Untieren. Man fragt sich sofort: Sind die Tage seiner Regierung gezählt? Wie lange wird er noch regieren? Dieser hochbetagte Alte überträgt nun seien Herrschaft einem, der wie ein Mensch aussieht, dessen Herrschaft aber unbegrenzt und ewig sein wird. Hinter solchen Visionen steht ein Mythos von der Ablösung eines alten Gottes durch einen jungen, durch einen, der wie ein Mensch aussieht. Es geht hier aber keineswegs darum, dass ein zu alt gewordener Herrscher die Amtsgeschäfte bei einem jungen Dynamiker besser aufgehoben sieht. Sondern das Problem sind die immer schrecklicheren Tiere. Ihre Bekämpfung und Ausschaltung überlässt der Alte nicht einem neuen Gott. Das wird noch unter ihm erledigt. Wenn der Menschenähnliche an die Macht kommt, soll das Problem der Macht gelöst sein. Er muss nicht erst noch einen schmutzigen Krieg führen. Er darf von Anfang an menschlich regieren. Ein himmlischer Regime Change, der anders als die meisten irdischen eine wirkliche Zeitenwende markiert.
IV.
Zum dritten Thema: die Humanisierung auf Erden und im Himmel. Beides geschieht zeitgleich. Im Himmel übernimmt ein Menschenähnlicher die Macht. Eine göttliche Gestalt wird mit einem Namen für Menschen bezeichnet. Er ist „der Menschensohn“. Auf der Erde wird die Schreckensherrschaft der Tiere abgelöst durch Menschen, die „Heilige des Höchsten“ genannt werden. So als bildeten sie auf Erden gewissermaßen die Filiale, den Hofstaat des höchsten Königs. Solche Parallelitäten sind aus der Alten Welt vertraut. Wenn die Völker Krieg gegeneinander führen, streiten sich auch die Götter. Hier aber, das ist das Aufregende, geht es nicht um die Parallelität von Kriegen in Himmel und auf Erden. Es geht um die Parallele zwischen einer Vermenschlichung in beiden Sphären und um ihre wechselseitige Durchdringung. Der göttliche Bereich wird menschlich, der menschliche zu einer Sphäre der Engel. Die Botschaft ist: die auf Kraftmeierei, Angst und Gewalt aufgebauten Weltreiche der Tiere werden abgelöst durch ein menschliches Reich. Menschlich in dem Sinne, dass der Mensch dort zu sich selbst kommt, zu der Bestimmung, die ihm Gott in seiner Schöpfung gegeben hat.
Faszinierend dabei ist: Daniel sagt hier in visionärer Form, dass der Mensch immer noch dabei ist, vom Tier zum Menschen zu werden. Das wirklich Menschliche, das dem Menschen und damit auch Gott Gemäße, das Gottes Idee über den Menschen Entsprechende: das muss sich erst noch durchsetzen. Als Christen glauben wir, dass dieser wirkliche Mensch in Jesus erschienen ist. In ihm wurde das Göttliche menschlich, und das Menschliche göttlich. Er offenbarte mitten in der Brutalität der Geschichte eine Gegenwirklichkeit: Es ist ein Leben möglich, in dem sich die Menschen nicht mit Intelligenz, Macht und Selbstüberschätzung gegenseitig kaputt machen und unterdrücken. Es ist es Leben möglich, in dem es menschlich zugeht. Statt dem evolutionsbiologischen Lehrsatz Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kann gelten: Homo homini frater, der Mensch ist dem Menschen ein Bruder, eine Schwester.
Naturwissenschaftlich wissen wir längst, dass der Mensch aus dem Tierreich stammt. Was indes immer noch nicht als überzeugend gelöst gilt, ist die berühmte Frage nach dem missing link, dem fehlenden Übergangsglied zwischen Tier und Mensch. Aber – nicht im naturwissenschaftlichen, aber in einem tieferen Sinn! – eigentlich sind wir selbst dieses missing link. Eigentlich sind wir selbst ein Übergang von tierischen Dasein zum wahren menschlichen Leben. In Jesus sind wir dieses wahren Lebens ansichtig geworden. In ihm ist erschienen, sichtbar geworden, was wir sein könnten. Was wir, Gott sei es geklagt, nicht sind – aber doch hoffen einmal zu sein. Erst wenn der Mensch wirklich menschlich ist, wird ihm Gott auch menschlich, neudeutsch gesagt: auf Augenhöhe begegnen. Solange Brutalität herrscht auf Erden – solange eine Großmacht, weil sie groß und mächtig ist, ein kleines, viel weniger mächtiges Land durch Krieg vernichten will; solange beim Missbrauch wehrloser Kinder der Ruf der Institution, aus der die Täter kommen, wichtiger ist als Gerechtigkeit und Hilfe für die Opfer; solange das und vieles andere zum Himmel schreit: solange leben wir noch im Zeichen der brutalen und bestialischen Tiere.
V.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf die Traumfigur aus Daniels Nachtgesicht, jenen geheimnisvollen „Menschensohn“, den der alte Gott zum Herrscher der Welten einsetzt. Nach dem Wort aus seinem eigenen Mund ist Jesus der geheimnisvolle Menschensohn. Auf die Frage des Hohepriesters beim Prozess gegen ihn: „Bist du der Christus, der Sohn Gottes?“ gibt der Angeklagte ruhig und klar die Antwort: „Ich bin’s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,62). Wir wissen, was diese Selbstaussage zur Folge hatte. Ganz unmittelbar, aus menschlicher Konsequenz, und das zeigt an, dass der Mensch noch nicht bei sich selbst angekommen ist, sondern tierisch tickt: deshalb der Karfreitag. Aber dann eben auch aus Gottes Konsequenz, der den einen wahren Menschen nicht unter der tierischen Brutalität belassen hat: deshalb kam Ostern. Was durch diesen Menschensohn geschehen ist, was Gott mit Jesus gemacht hat, wovon zuallererst Daniel geträumt hatte: das ist geschehen, damit es uns heute noch erreicht und zur Gnade gereicht. So wird der alttestamentliche Prophet, ohne es schon zu wissen, zum frühen Propheten des Erlösers Jesus Christus.
Und dann die Schlussszene. Jesus begegnet als Auferstandener in Galiläa seinen Jüngern. Er ist zwar noch auf der Erde, aber er lebt nicht mehr in dieser dreidimensionalen Welt, sondern schon in der vielfachen Dimension Gottes. Seine letzten Worte klingen wie eine Regierungserklärung: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Der Menschensohn ist wieder oben angekommen, nachdem er erst zu uns herab musste. Mir ist sie gegeben, das heißt: der ewige Gott hat sie ihm verliehen. Jesus holt sie sich nicht wie eines der kleinen und großen Raubtiere in der Geschichte, die eine Spur der Verwüstung hinterlassen, wohin sie sich in ihrer Macht- und Zerstörungslust auch wenden, verbal oder militärisch. Ein anderes Licht ist nun in der Welt, das wir dorthin weitertragen sollen, wo es noch nicht scheint. Wir können das beherzt angehen, denn wir haben das Versprechen, das Christus, der Menschensohn im Himmel, jener Regierungserklärung unmittelbar angefügt hat: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20).
AMEN.
Das Leichte schwer – das Schwere leicht. W.A. Mozart und Karl Barth
Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik
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Liebe Gemeinde,
„Ein kurzes 'Bekenntnis zu Mozart' soll ich ablegen? Ein 'Bekenntnis' zu einem Menschen und seinem Werk ist eine persönliche Sache. So bin ich froh, persönlich reden zu dürfen. Musiker oder Musikwissenschaftler bin ich ja nicht. Aber zu Mozart bekennen kann und muss ich mich wohl.“ – Mit diesen Sätzen beginnt ein längerer Text mit dem Titel „Bekenntnis zu Mozart“. Geschrieben hat ihn 1956, zum 200. Geburtstag des großen Komponisten, der berühmte Schweizer Theologe Karl Barth, den man auch den protestantischen Kirchenvater des 20. Jahrhunderts nennt.
Karl Barths grenzenlose Mozart-Liebe ist fast noch bekannter als seine Theologie, die immerhin eine gewaltige Dogmatik hervorgebracht hat, die trotz 13 Bänden und mehr als 10.000 Seiten unvollendet geblieben ist. Bilder des Genfer Reformators Calvin und von Mozart hingen in seinem Arbeitszimmer nebeneinander, auf gleicher Höhe. Mozart gehörte zu Barths Alltag. Seine erste Begegnung mit großer Musik – vor allem mit Mozarts Zauberflöte – hatte er schon im Alter von fünf Jahren, da in der Familie viel musiziert wurde. „Ich habe zu bekennen, dass ich seit Jahren und Jahren jeden Morgen zunächst Mozart höre und mich dann erst (von der Tageszeitung nicht zu reden) der Dogmatik zuwende. Ich habe sogar zu bekennen, dass ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas, nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde.“
Die Versuchung ist groß, diesem Punkt nachzugehen. Tatsächlich gibt es untergründige Beziehungen zwischen Mozarts Musik und Karl Barths Theologie, die man die sog. „Dialektische Theologie“ nennt. Diese war das Resultat der allgemeinen tiefen weltanschaulichen Erschütterung in den Wissenschaften und Künsten durch das Inferno des 1. Weltkriegs, und eines Aufbruchs, den dieses Empfinden einer Zeitenwende auslöste. Die dialektische Theologie brachte sowohl theologisch wie kirchlich eine starke Bewegung im deutschsprachigen Protestantismus zwischen 1920 und 1933 hervor.
Dialektik meint ein Erkennen der Wahrheit in Stufen. In einer These wird eine Behauptung auf-gestellt, in der Antithese wird diese in Frage gestellt, und in der Synthese der Gegensatz in eine neue und höhere Ebene gehoben, die dann wieder zur These wird, die eine neue Antithese herausfordert. So entsteht ein Wechselspiel zwischen Frage und Antwort, mit immer neuen Synthesen. Charakteristisch für das theologische Denken Karl Barths ist ein in der Theologie berühmt gewordener „Dreisatz“, den er 1922 aufgestellt hat. Er sagte in einem Vortrag: „Als Theologen sollen wir von Gott reden“ – das ist die These. Dann sagt er weiter: „Wir sind aber Menschen und können als solche gar nicht von Gott reden“ – das ist die Antithese. Und dann folgert er aus dieser Spannung: „Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben darin Gott die Ehre geben.“ – Das ist dann die Synthese. Etwas weniger formal und abstrakt formuliert: Der Mensch kann überhaupt nur deshalb von Gott reden, weil Gott selbst sich offenbart, und der Mensch nur deshalb überhaupt glauben kann.
In einem mit „Dankbrief an Mozart“ betitelten Text spricht Karl Barth von der Dialektik Mozarts: „Mit Ihrer musikalischen Dialektik im Ohr kann man jung sein und alt werden, arbeiten und ausruhen, vergnügt und traurig sein, kurz: leben.“ Auch in Mozarts musikalischer Dialektik sieht Karl Barth die Gegensätze nicht aufgehoben. „Er musizierte das wirkliche Leben in seiner Zwiespältigkeit, aber ihr zum Trotz auf dem Hintergrund der guten Schöpfung Gottes.“ Barth findet, dass bei Mozart „das Schwere schwebt und das Leichte unendlich schwer wiegt“.
Für Karl Barth ist Mozart der Musiker, der aus einer geheimnisvollen Mitte heraus musiziert. Er schreibt: „Mozart ist einer, der die Grenzen nach rechts und nach links, nach oben und nach unten kennt, wahrt und Maß hält. Da ist kein Licht, das nicht auch das Dunkel kennt, keine Freude, die nicht auch das Leid in sich schließt, aber auch umgekehrt.“ Barth fand in Mozarts Musik, was er auch selbst theologisch auszudrücken versuchte: dass alle Spannung, alles Schwere im Leben immer schon von ihrer Überwindung her gesehen werden kann. Für Barth lag diese in der bereits geschehenen Zuwendung Gottes zur Welt in Jesus Christus. Mozarts Musik war ihm dafür ein Gleichnis.
Und so sehr Karl Barth als reformierter Schweizer ein in der Wolle gefärbter Protestant war, mit der durch und durch katholischen Prägung Mozarts hatte er kein Problem. Er schreibt: „Wir Protestanten konnten Mozart darum nicht recht gefallen, weil wir unsere Religion nach seinem Geschmack zu sehr 'im Kopfe' hätten! (Zitat Mozart: „Kann etwas Wahres daran sein, das weiß ich nicht.“) Ich jedenfalls möchte Mozart einen jener besonderen, direkten Zugänge zum lieben Gott hin zubilligen, die es ja bei den erstaunlichsten Menschen geben soll. Mit einem besonderen, direkten Zugang des lieben Gottes zu diesem Menschen hin wird man auf alle Fälle rechnen müssen. Wer Ohren hat zu hören, der höre.“
AMEN.
Nein zur Vergeltung, Ja zur Vergebung.
Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
am 13. Februar, dem 77. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik (16 Uhr)
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Liebe Gemeinde,
in der Bergpredigt Jesu, die der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker „den humanistischsten Text der Weltliteratur“ genannt hat, begegnen wir der unglaublichen Aufforderung: „Liebet eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen“. Auf den ersten Blick spricht das allem gesunden Menschenverstand Hohn. Und doch ist der Gedanke der Feindesliebe ein ganz großes Geschenk Jesu an diese Welt. Er ist, so denke ich, der Schlüssel zu der neuen Welt, die Jesus das Himmelreich nennt. Diese Form der Liebe ist auch eine radikale Absage an den Zeitgeist der Christenheit seit der frühen Zeit des römischen Kaisers Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion machte. Kirchen aller Konfessionen, mit Ausnahme kleiner Minderheiten, haben die Feindesliebe zur irdischen Unmöglichkeit erklärt. Sie gelte nur fürs eigene fromme Herz, aber nicht für das organisierte Miteinander, also die Politik. Gute Protestanten von Bismarck bis Helmut Schmidt haben das ihrer Kirche entsprechend ins Stammbuch geschrieben. „Heilige Kriege“ gibt es nicht erst heute, im Zeichen des Islams. Mit religiösem Pathos haben auch die christlichen Ritter im Mittelalter im Namen Gottes tausendfach Muslime getötet, später haben Christen verschiedener Konfessionen mit ihren Religionskriegen Deutschland in Schutt und Asche gelegt. Bittere Ironie, dass all dies im Namen des Bergpredigers geschah.
Aber das muss nicht so sein. Sechs Wochen, nachdem deutsche Bomber die englische Stadt Coventry dem Erdboden gleich gemacht hatten, predigte zu Weihnachten 1940 der dortige Domprobst in der Ruine seiner Kathedrale: „Obwohl es uns schwer fällt, sagen wir Nein zur Vergeltung und Ja zur Vergebung“. Diese Aussage war eine radikale Abkehr von geltenden Vorstellungen. Keine Vergeltung? England und Amerika, die sich schon immer für christliche Nationen gehalten haben, antworteten darauf, indem sie deutsche Städte zu Trümmerwüsten machten. Heute vor 77 Jahren war unser Dresden an der Reihe. Die Ursachen dafür freilich haben wir nicht in der englischen oder amerikanischen Geschichte zu suchen, sondern in unserer.
Fast acht Jahrzehnte sind eine lange Zeit. Die es noch erlebt haben und nie werden vergessen können, werden immer weniger. Je länger das alles zurückliegt, desto abstrakter, ungreifbarer erscheint es. Und desto leichter verbreitet sich die Haltung: Was geht mich das noch an? Müssen wir etwa auf ewig in Sack und Asche laufen? Man wird ja wohl noch sagen dürfen… Vielleicht ist es das Beste, was wir überhaupt können, nichts anderes als die Fragen lebendig zu halten. Antworten, und seien sie noch so klug, die diese Vergangenheit „bewältigen“ könnten, die gibt es nicht. Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Was wir brauchen, ist nach wie vor solides historisches Wissen über die Vergangenheit. Wissen, das Fragen nicht glatt beantwortet, sondern überhaupt erst weckt und wach hält. Das ist weiß Gott nötig in einer Zeit, einflussreiche Politiker offen von einer Entsorgung der Schatten der deutschen Vergangenheit reden und Tage wie den heutigen missbrauchen, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen.
Feindesliebe: Der Feind ist nie nur der andere, sondern als Menschen Gottes Ebenbild und damit immer auch mein Ebenbild. Wir haben nicht nur Feinde, sondern wir sind auch selbst Feinde, manchmal auch Feinde Gottes, die immer wieder Vergebung brauchen - und Gottseidank auch erfahren. Wir kennen alle das sehr lebenskluge Jesuswort: „Wer ohne Schuld ist unter euch, der werfe den ersten Stein.“ Am heutigen Tag könnte das so gemeint sein: Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen vor dem Kreuz Jesu Christi für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig! Denn dieses Kreuz steht dafür, dass Jesus Christus nicht gegen Deutsche oder gegen Engländer und Amerikaner gestorben ist, sondern für uns alle.
AMEN.
Gott, sei uns Sündern gnädig!
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
am 13. Februar, dem 77. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Hauptgottesdienst (11 Uhr)
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Liebe Gemeinde,
ich erinnere noch, wie ich als Kind meinen Großvater einmal gefragt habe: „Großvater, hast du im Krieg einen Menschen erschossen?“ Ich spürte, er wollte darüber nicht reden. Es kam nicht mehr als die knappe Antwort: „Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht, mein Junge.“
Was für die New Yorker „9/11“ ist, ist für die Dresdner der 13. Februar. Ein Datum, das ohne Jahreszahl auskommt. Es gibt ein Davor und ein Danach. Jeder Dresdner weiß, dass heute vor 77 Jahren um 21:45 Uhr unter dem Codenamen „Operation Chevin“ die erste von mehreren fürchterlichen Angriffswellen über der Stadt zusammenschlug. Apokalyptische Reiter aus der Luft, die in wenigen Stunden eine apokalyptische Wirklichkeit schufen. Wie in so vielen Städten in jenen Monaten, die es ebenso verheerend traf: Hamburg, Köln, Stuttgart, Pforzheim u.v.a. Diese Unternehmungen hatten keine kriegsentscheidende Bedeutung im strategischen Sinn. Ihr Motiv war die Demoralisierung der Bevölkerung. Wie viele Dresdner am 13. Februar und in den Tagen danach ihr Leben verloren, ist seit Jahrzehnten Gegenstand erbitterter, ideologisch hocherhitzter Debatten, hinter denen oft fragwürdige Motiven stehen. Als Christen können wir nur sagen: Es macht den Schrecken und die Trauer über das, was damals geschah, nicht größer und nicht kleiner, wenn die Zahl der Opfer mehr oder weniger hoch veranschlagt wird. Schrecken und Trauer machen sich doch daran fest, was Menschen, als Ebenbilder Gottes geschaffen und wunderbar von ihm begabt, Böses ersinnen und einander antun können.
I.
„Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, dass nur diese Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen aber nicht?“ Eine eindringliche Frage Jesu in dem eben gehörten Text. Sie spricht eine bleibende Wahrheit über das aus, was der Krieg ist. Es hat nicht nur in Deutschland, genauso auch in England, den USA, Russland Kinder gegeben, die ihren Großvätern gegenübersaßen und sie gefragt haben: „Opa, hast du im Krieg einen Menschen getötet?“
Wir Christen glauben: Jeder Mensch ist in einem letzten Sinn anderen, aber auch sich selbst entzogen. Denn er ist ein Geschöpf Gottes. Jedem Menschen hat Gott seine Würde verliehen. Unverlierbar und unantastbar. Deshalb hat jeder Mensch ein Recht, dass am Ende seines Lebens in einem Gottesdienst seine eigene Lebensgeschichte Gott anvertraut wird: mit dem, was sein Leben für uns erkennbar gewesen ist, was gelungen ist darin, was sich sehen lassen kann, aber eben auch mit seinen Brüchen. Das ist der erste ganz wichtige Schritt zu einer gelingenden Trauerarbeit. - Wenn aber Leichnam an Leichnam liegt, wenn Tote für immer unter meterhohen Trümmern geblieben sind, dann sind sie dieses Rechts, unverwechselbar zu sein, und damit auch eines Teils ihrer Würde beraubt. Bei jedem Sterben schmerzt das Unwiderrufliche, Endgültige. Beim Sterben junger Menschen kommt der fast unerträgliche Schmerz hinzu, dass Leben, das sich erst entfalten möchte, abgebrochen, verstümmelt wird. - Zu den großen Errungenschaften unseres demokratischen Gemeinwesens gehört der einfache Satz, mit dem unsere Verfassung beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt den Lebenden. Aber es hat auch eine Geltung gegenüber den Toten. Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Toten wirkt zurück auf ihren Umgang mit den Lebenden. Auch jenseits des irdischen Lebens sind Ehre und Würde des Menschen zu schützen. Das ist ein Grundrecht schon in alten Kulturen. Auch deshalb begehen wir den 13. Februar, um die Toten jener Tage um ihrer Würde willen dem kollektiven Vergessen zu entreißen. Damit die Bitte des Dichters nicht ins Leere gesprochen bleibt: „Oh Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ (R.M. Rilke)
II.
Quälend ist die Frage nach dem Warum. Und zugleich unvermeidlich, ja verzweifelt notwendig. Auch wenn sie niemals abschließend und überzeugend beantwortbar sein wird. Klar und für denkende Menschen einsichtig ist: der Schrecken des 13. Februar hat seinen Ausgang nicht mit dem Start der britischen und amerikanischen Jagdflieger genommen. Auch nicht mit dem Beginn des 2. Weltkriegs. Ja, auch der 30. Januar 1933, der Tag der „Machtergreifung“ ist nicht als der historische Wurzelgrund anzusehen dafür, dass aus deutschen Städten Trümmerwüsten wurden. Man muss noch tiefer hinsehen.
Ich bin Theologe und will den vielen Deutungen der Historiker, wie es zu all dem kommen konnte, keine weitere hinzufügen. Ein - scheinbar – beiläufiger Aspekt ist mir aber wichtig geworden. Es gibt eine geradezu unheimliche Sukzession des Brennens. In einer sich abgründig steigernden Intensität. Am Anfang, schon lange vor 1933, im Kaiserreich, brannten die Herzen. Für den Kaiser und den preußischen Militarismus. Gegen die angeblich privilegierten und erfolgreichen Juden. Dann gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, die, so hieß es damals, der tapferen, „im Felde unbesiegt“ gebliebenen kaiserlichen Armee 1918 an der Heimatfront hinterrücks den Dolchstoß versetzt hatten. Dann brannten die Herzen gegen den Versailler Vertrag und die sog. „Verzichtspolitiker“, die ihn unterschrieben hatten. Und gegen die erste deutsche Demokratie, die eine Mehrheit des Volkes ablehnte, ja verachtete. Leider vor allem die Protestanten. Dann, am 30. Januar 1933, wurden aus den vielen brennenden Herzen die brennenden Fackeln der Tausende, die durchs Brandenburger Tor zogen, um dem Machtergreifer zu huldigen. Bald darauf brannten viele Bücher. Am 9. November 1938 brannten im ganzen Land die Synagogen. Das führte dann zu den brennenden Öfen in Auschwitz. Und wegen all dem brannten am Ende deutsche Städte.
Kürzlich kam in einer Fernsehsendung zum Wiederaufbau der Semperoper Gunter Emmerlich zu Wort, mit der Aussage, er habe von Erich Honecker ein einziges Mal einen klugen Satz gehört. Bei der feierlichen Wiedereinweihung Semperoper zum symbolträchtigen Datum des 13. Februar 1985, 40 Jahre nach dem Inferno habe er, Honecker, gesagt: „Die Fackeln, die von Deutschland ausgegangen waren, kamen am Ende auf uns zurück.“ Das war wohl wirklich ein bemerkenswerter Satz, weil die ideologische Position der DDR-Führung zur Zerstörung Dresdens über 40 Jahre ja in eine ganz andere Richtung gegangen war.
So war das damals natürlich nicht nur, aber auch eine Langzeitfolge der vielen brennenden Herzen. Schillers Wort „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären“ ist noch tiefer auszulegen: Das ist der Fluch des bösen Gedankens, des bösen Wortes, dass sie früher oder später böse Taten hervorbringen. Die Zeit, die wir aktuell durchleben, macht uns dafür wieder sensibel. Vielleicht ist es das Beste, was wir überhaupt tun können, nichts anderes als einfach die Fragen nach dem Warum lebendig zu halten. Antworten, und seien sie noch so klug, die diese Vergangenheit „bewältigen“ könnten, die gibt es nicht. Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Was wir brauchen, ist mehr denn je solides Wissen über die Vergangenheit. Wissen, das Fragen nicht glatt beantwortet und abräumt, sondern überhaupt erst weckt und wach hält. Das ist dringend nötig. Wie groß müssen Vergessen und Verdrängen sein, wenn bei vielen Leuten trotz gut informierender Schulbücher elementare Fakten aus unserer Vergangenheit kaum bekannt sind? Wenn Straßenzüge oder ganze Quartiere zu „ausländerfreien Zonen“ ausgerufen werden, in denen Migranten, sofern es dort überhaupt welche gibt, sich besser nicht mehr auf die Straße begeben?
III.
„Großvater, hast du einen Menschen erschossen?“ Das heißt: Bist du schuldig geworden? Du, mein Großvater, zu dem ich aufschaue und den ich lieb habe, hast du persönlich Schuld auf dich geladen? - Als Pontius Pilatus ohne ersichtlichen Grund Menschen hatte umbringen lassen, kommen die Leute zu Jesus und wollen wissen, was die Schuld der Ermordeten war. Anders konnten sie sich nicht erklären, dass Gott sie diesen grausamen Tod erleiden ließ. Jesus lässt sich auf eine solche Sicht aber gar nicht ein. Er sagt ihnen: „Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Im Gegenteil: Ihr werdet genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt.“ Meine Generation ist nicht mehr dazu angehalten worden, auf Feinde zu schießen. Wir konnten aus der Gnade der späten Geburt leben. Aber unsere Enkel könnten uns eines Tages die Frage nach unserer Schuld stellen: Warum habt ihr so lange gezögert, als eine Volksgruppe die andere zu eliminieren versuchte, vor den Augen der Welt - in Ruanda damals, dann in Darfur, aktuell in China an den Uiguren? Warum hatte eure Weltgemeinschaft so wenig Interesse am Schicksal dieser Menschen? Und wie steht es gerade jetzt um das Land unweit von unserer Haustüre? Wie ist den Menschen der Ukraine in deren aktueller Bedrohung zu helfen? Ich habe großes Verständnis für die Zurückhaltung unserer Regierung, Waffen dorthin zu liefern. Wenn es um Waffen geht, zumal in Richtung der früheren Sowjetunion, muss äußerste Zurückhaltung geradezu ein Teil unserer Staatsräson sein und bleiben. Aber - ich frage das nur, ohne selbst eine Antwort zu haben - kann es manchmal auch Situationen geben, die eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigen? Es gibt mir jedenfalls zu denken, wenn namhafte Schriftsteller*innen, die von ihrem Selbstverständnis her alles andere als kriegsaffin sind, diese Zurückhaltung jetzt im Blick auf die Ukraine deutlich kritisieren.
Mein Großvater hatte blutjung noch im 1. Weltkrieg gekämpft. Wir wussten, dass er, wie so viele seiner Generation, mit Begeisterung für Kaiser und Vaterland damals an die Front gezogen war. Aber darüber gesprochen hatte er mit der Familie nie. Nach seinem Tod sichteten meine Eltern die Schubladen seines Schreibtisches. Zwischen Zeugnissen, Urkunden und Photographien stießen sie auf ein Eisernes Kreuz zweiter Klasse. Seine vier Kinder, sie wussten alle nichts von dieser Auszeichnung für besondere „Tapferkeit vot dem Feind“. Die Frage: „Opa, hast du im Krieg einen Menschen erschossen?“ - er hätte sie mir wohl mit Ja beantworten müssen.
IV.
„Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Im Gegenteil: Ihr werdet genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt“. Die Zahl aller Toten aus dem letzten Weltkrieg wird auf über 60 Millionen Menschen geschätzt. Eine Zahl, so unvorstellbar, dass sie furchtbar abstrakt bleibt. Gar nicht abstrakt, sondern anschaulich und tief schmerzhaft sind die Erinnerungen, die sich in unserer Stadt mit heute vor 77 Jahren verbinden. Wir trauern heute um sie, um Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer. Noch sind Menschen unter uns, die damals Geschwister, Eltern, Großeltern, Klassenkameraden oder Freunde verloren haben. Die Bilder der brennenden Stadt, auch dieser niederbrennenden Kirche, der Anblick der Toten haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
In den Monaten und Jahren nach Kriegsende kamen die überlebenden Soldaten nach Hause. Auch sie hatten vor ihrem inneren Auge die Bilder der Zerstörung und Verwüstung. Auch sie mussten damit weiterleben. Was sie in diesem Krieg erlebt hatten, schob sich auf immer zwischen sie und ihre Familien. Das war ihre Last. Damit waren auch sie für ihr Leben gezeichnet. Sie fühlten sich auf ihre Weise als die „Draußen vor der Tür“, wie das berühmte Stück von Wolfgang Borchert heißt, das ihr Schicksal zum Inhalt hat.
Zum Schluss noch einmal unser Jesuswort: „Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Nein, im Gegenteil!“ - Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Gott wird jeden einzelnen von ihnen fragen: „Hast du einen Menschen getötet?“ Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen - vor dem Kreuz Jesu Christi - für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig!
AMEN.
Gottes Herrlichkeit
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
uns ist das von vielen Darstellungen der Weihnachtskrippe vertraut: Vom göttlichen Kind geht ein Licht aus, das sich in den Gesichtern derer um die Krippe herum spiegelt. Bei Rembrandts berühmter „Anbetung der Hirten“ etwa. Und unsere Sprache kennt die Wendung vom „Strahlen über das ganze Gesicht“. Etwa wenn man frisch verliebt ist. „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“, trällerte vor 50 Jahren ein Schlager. Trivial, und doch einfach wahr. „Du bist verliebt.“ - „Wie kommst du darauf?“ - Man sieht es dir an, 10 Meter gegen den Wind! Du strahlst so. Bist sogar nachmittags noch gut drauf. Hast du jemand kennengelernt?“
Auch Mose glänzt. Er strahlt über das ganze Gesicht. Zum zweiten Mal kommt er vom Berg Sinai herab. Diesmal nicht einem hochglänzenden Goldenen Kalb entgegen, das ihn verstört und verdüstert. Sondern mit einem überirdisch strahlenden Gesicht, das nach seiner erneuten Gottesbegegnung den Glanz der Herrlichkeit und Nähe Gottes spiegelt. Heute, am letzten Sonntag des weihnachtlichen Festkreises, zwei Tage vor „Mariae Lichtmess“, ist der Glanz von Weihnachten verblasst und fast nur noch Erinnerung. Ein Christbaum strahlt anders an Heiligabend als Ende Januar (wo die allermeisten Christbäume eh längst entsorgt sind). Aber eigentlich ist das gut so, und soll auch so sein. Nur so kann es in 11 Monaten wieder diesen kostbaren Moment geben, wenn wir die verborgenen Schachteln mit den Sternen, Kugeln und Räuchermännchen wieder herholen und öffnen. Denn das Kostbare ist auch das Besondere, das sich nicht zu sehr in die Länge ziehen lässt. Davon erzählt auch dieser verrätselte Predigttext.
I.
40 Tage und Nächte war Mose weg gewesen von seinen Leuten, allein da oben auf dem Sina-Berg. Ganz nah bei Gott. Im Kapitel davor hatte er Gott angefleht: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“. Da hatte Gott ihm diese Bitte verwehrt und ihn in eine dunkle Felsspalte verwiesen, an der er dann nicht sichtbar vorüberzog. Jetzt zeigt sich Gott zugänglicher. Und Mose wird damit zu einem anderen Menschen. Stolz trägt er die neuen Tafeln mit den Zehn Geboten vor sich her, deren Originale er damals aus Zorn über das Goldene Kalb zertrümmert hatte. Ein sichtbares Zeichen, dass Gott diesen Treuebruch nicht seinerseits mit einem Bruch quittiert, sondern den gebrochenen Bund mit Israel erneuert hat. Was wird Mose ihnen nach ihrer Untreue gegenüber ihrem Befreier von Gott ausrichten? Nach dem Text sind es zuerst Aaron und die Fürsten Israels, die sich Mose in seinem Strahlenglanz zu nähern wagen. Auch sie hatten in der Krise kläglich versagt. Aaron hatte dem Verlangen des Volkes nach einer sichtbaren, glänzenden Darstellung der Gottheit nachgegeben und das Goldene Kalb entworfen. Die Befriedigung von erhitzten religiösen Bedürfnissen war ihm wichtiger als die Frage nach der Wahrheit Gottes. Würde er jetzt sein Strafurteil erhalten? Als nichts dergleichen geschieht, wagt auch das Volk, dem himmlischen Abgesandten näherzutreten. Und der hält keine Strafpredigt, sondern richtet ihm freundlich aus, was Gott ihm auf dem Berg Sinai gesagt hatte. Und auch zukünftig, wenn Mose dem Volk Botschaften von Gott überbringt, wird sein Gesicht von der göttlichen Begegnung widerstrahlen - während er sonst eine Decke, einen Schleier über dem Gesicht tragen wird, damit die Gotteserscheinung, die er erlebt, nicht banal wird. Sie soll nicht popularisiert werden - und vielleicht spielt auch mit, dass die Israeliten vor diesem überirdischen Glanz geschützt werden müssen, weil sie ihn nicht ertragen können. Wenn der große unendliche Gott allzu direkt kleinen endlichen Menschen erscheint, kann es auch ein Zuviel an Gott und seiner Herrlichkeit geben.
Liebe Gemeinde, was diese erneute Gottesbegegnung auf dem Sinai mit dem Mose macht, versteht man erst dann wirklich, wenn man sich seine Rollen in der bisherigen Geschichte vor Augen hält. Im Auftrag Gottes hatte er Israel aus der Sklaverei in Ägypten rausgeführt. Als Vermittler der Gebote Gottes hatte er das Volk in einen Bund mit seinem göttlichen Befreier hineingeführt. Doch schon als Mose auf dem Berg die beiden Gesetzestafeln zur Beurkundung dieses Bundes in Empfang nahm, fühlte sich das Volk unten in der trostlosen Wüste von Gott und der Welt verlassen. Es schuf sich ein Substitut, jenes Goldene Kalb, betete es an und ließ so seinen göttlichen Befreier einen guten Mann sein. Damit übertrat es das erste und das zweite Gebot. Genauso wie Gott, war Mose über den Götzendienst des Volkes empört; er zerschlug die Gebotstafeln zur Demonstration des zerbrochenen Bundes. Aber je länger je mehr stellte er sich doch solidarisch auf die Seite des Volkes, legte beherzt Fürbitte für es ein und rang mit Gott, dass er dieses flattrige Volk nicht ein für alle Mal abschreibt. Nach einigem Zögern erklärte sich Gott bereit, den gebrochenen Bund mit seinem Volk Israel zu erneuern. Er rief Mose zu sich auf den Berg und offenbarte ihm sein barmherziges Wesen, nachdem der ihn so leidenschaftlich bedrängt hatte, Gnade vor Recht walten zu lassen. Es war diese intensive Begegnung mit dem von Herzen gütigen Gott, die Moses Gesicht, ohne dass er selbst es merkte, so zum Strahlen brachte. Wenn er darauf mit diesem strahlenden Antlitz vom Berg hinabsteigt, dann spiegelt er in seiner Person die Barmherzigkeit Gottes wider, die die Erneuerung des Bundes ermöglichte. Ihn, der sich so selbstlos für das Überleben des Volkes eingesetzt hatte, ihn hat Gott zu seinem Heilsmittler bestimmt. Mose soll von nun an mit seinem verklärten Antlitz eine gütige, eine schonende Form der Gottesnähe verkörpern, in der jeder, auch der an schwerer Schuld tragende, auf Vergebung hoffen darf. Und solange sich das Volk an Mose und seine Botschaft erinnert, kann es der Treue Gottes zu seinem erneuerten Bund gewiss sein.
II.
„Weißt Du noch, wie, als wir von Gott sprachen in unserem Haus, der goldene Schimmer auf der Wand stand?“ So hat es Paul Celan als junger Mann in einem Brief an seine damalige Freundin Ingeborg Bachmann geschrieben. So von Gott reden können, dass goldener Schimmer aufglänzt: wenn wir das doch in diesem Jahr manchmal erleben könnten! Manchmal nur, denn wie gesagt, das Kostbare muss das Besondere, Seltene bleiben. Wie bekommen wir Zugang zu diesem Glanz der Nähe Gottes? In dieser Unmittelbarkeit, wie Mose es hier erlebt, ist uns das nicht verheißen. Da blieb Mose ein Solitär - auch davon zeugt jene seltsame Decke, von der unser Text berichtet. Wir begegnen Gott nur indirekt, gebrochen sozusagen, und gewissermaßen nur einem Abglanz seines Glanzes. In so einem „Schimmer, der an der Wand aufglänzt“. Durch menschliche Begegnungen manchmal, die uns unendlich gut tun. Und durch sein Wort, wie es uns in der Bibel geschenkt ist. Wie zum Beispiel durch das Evangelium dieses Sonntages, diesem auch sehr geheimnisvollen Bericht von der „Verklärung“ Jesu, der wie ein neutestamentliches Echo auf unseren Predigttext anmutet. Wir haben es vorhin gehört: Drei Jüngern Jesu wird auf einem hohen Berg ein kurzer Blick in die himmlische Welt gewährt, aus der Jesus stammt. Sein Gesicht strahlt plötzlich in einem blendenden Glanz, und seine Kleider gleißen in einem überirdischen Licht. Und aus einer Wolke tönt eine Stimme, mit der sich Gott, wie schon bei der Taufe Jesu, ganz und gar mit diesem einen Menschen, der bereit ist, sich für die Seinen aufzuopfern, identifiziert: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“.
Seltsamerweise ist Jesus in diesem besonderen Augenblick nicht allein. Denn die drei Jünger erblicken zwei weitere wichtige Mittlergestalten aus der Geschichte Gottes mit seinem Volk: Elia, der wie kein anderer Prophet Israel zu Gott zurückgerufen hatte und der darum zu Gott in den Himmel auffuhr - und eben Mose. Die Jünger sehen den verklärten Jesus mit Mose und Elia im trauten Gespräch, so als kennten sie sich lange. Das Bild der drei Gottesmänner wirkt so harmonisch, dass Petrus, wie immer initiativ und vornedran, spontan vorschlägt: „Hier ist gut sein, lasst uns drei Hütten bauen!“ Er will diesen einzigartigen Moment auf Dauer stellen. Sich da oben, wo alles schön und leicht erscheint und die Mühen der Ebene weit weg sind, häuslich einrichten, aus drei Hütten quasi ein kleines Tagungszentrum errichten, in dem die drei in aller nicht enden wollender Beschaulichkeit ihre religiösen Erfahrungen austauschen könnten. Aber das bleibt ein frommer Wunsch. Gott lässt sich, solange wir in dieser Welt sind, nicht einfach nur genießen. Es gibt ein Zuviel an göttlicher Herrlichkeit. Der Glaube an ihn ist kein religiöser Wellness-Event. Es geht wieder runter ins Tal, in den Alltag. Auf die frohen Feste folgen immer wieder die sauren Wochen.
III.
Liebe Gemeinde, wir sind gewohnt, Mose und Jesus zueinander in Kontrast zu stellen und wir können uns dabei durchaus auf Sätze aus dem Neuen Testament berufen, etwa den aus dem Johannesevangelium: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ (Joh 1,17). Aber Moses Rolle beschränkt sich nicht auf die des strengen Gesetzgebers. Er vermittelt in seiner Person auch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. So ist er zumindest ein Vorläufer von Jesus Christus, so wie das die Verklärungsgeschichte im Matthäusevangelium darstellt. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Rollen der beiden ähneln: Noch viel mehr als Mose steht Jesus einerseits auf der Seite Gottes, er ist ja Gottes Sohn. Zugleich solidarisiert er sich wie Mose mit den Menschen. Zuerst mit den schwachen, kranken, ausgestoßenen und sündigen Menschen in Israel, die er heilt, dann aber auch mit allen Menschen darüber hinaus, die ihn um Hilfe oder um Vergebung angehen. Noch viel konsequenter als Mose opfert sich Jesus für uns Menschen auf, nimmt stellvertretend in seinem Tod unsere Schuld auf sich, damit wir überleben, ja neu leben können. Und noch realer und folgenreicher als in der Verklärung des Mose bezeugt Gott in der Verklärung und Auferstehung Jesu seine Liebe und Treue zu uns Menschen im Neuen Bund, weil er mit uns Gemeinschaft haben will, auch über den Tod hinaus. Letztlich überbietet Gottes Identifikation mit Jesus diejenige mit Mose - so wie mit dem Erscheinen der Wolke und dem Ertönen der Stimme Gottes bei der Verklärung Jesu Mose und Elia in den Hintergrund gestellt werden. Nachdem Gott seinem Volk immer wieder Mittler wie Mose gesandt hat, um die gefährdete Beziehung zu ihm neu auszurichten, hat er am Ende selbst die Mittlerrolle auf sich genommen, ist uns in Christus selbst zum Heilsmittler geworden. Auf ihn können wir unsere Hoffnung richten, selbst wenn wir seine Macht und Größe als Schöpfer des Universums und Herr der Geschichte zuweilen kaum ertragen können und nicht verstehen. Da bleibt immer etwas Ambivalentes. Es bleibt Gott gegenüber auch eine Fremdheit, die sich nicht einfach in die kleine Münze vom netten, kumpelhaften „lieben Gott“ wechseln lässt. Gott ist heilsam und unerträglich.
Liebe Gemeinde, wenn aber Jesus Christus Ziel- und Höhepunkt einer langen Geschichte menschlicher Mittlergestalten Gottes ist, dann versteht es sich von selbst, dass wir als Christen in diese Geschichte mit einbezogen sind. „Das ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören!“: so setzt Gott seinen neuen Impuls, der die Geschichte der Kirche begründet. Der auferstandene Jesus wird zu seinen Jüngern sagen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Joh 20,21). Eine ungeheuerliche, zugleich eine unglaublich tröstliche, ermutigende Zusage. Wir alle werden somit von dem einen großen Heilsmittler Christus als seine Mitarbeiter, seine kleinen Mittler in die Welt gesandt, um in ihr Zeugen der Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes zu sein.
Und dabei spielt nun all das, was wir von Moses und Jesu Mittlerschaft lernen konnten, eine wichtige Rolle: Die Solidarität mit in Not und Schuld geratenen Mitmenschen, unsere intensive, nicht nachlassende Fürbitte für sie bei Gott und auch das strahlende Angesicht, mit dem wir ihnen gegenübertreten. Vor Weihnachten sah ich mal wieder den Film vom „Kleinen Lord“. Es ist einfach anrührend, wie hier ein kleiner Junge, der sich beharrlich weigert, die Bosheit und die Not seiner Mitmenschen zu akzeptieren, mit seinem strahlenden Kindergesicht das Misstrauen, den Dünkel und die Einsamkeit seines Großvaters hinwegschmelzen lässt und ihn wieder zu einem sozialen, barmherzigen und versöhnungsbereiten Wesen macht. Es ist wirklich kein Zufall, dass im Zentrum des Feindesliebegebots die Fürbitte für diejenigen steht, die uns verfolgen (Mt 5,44). Ja, die Fürbitte hat eine große entfeindende und solidarisierende Kraft! Sie öffnet, wie es schon Mose erlebt hat, den Zugang zu Gottes gütigem Herzen. Auch Mose hatte, als er von Gott herab stieg, seinen bitteren Konflikt mit dem Volk schlichtweg vergessen. Gebe Gott, dass etwas von dieser seiner wunderbaren Vergesslichkeit Gottes auch auf uns abstrahlt in diesem noch frischen Jahr.
AMEN.
Heilsame Ohrfeigen
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Paulus ist mit seiner Weisheit am Ende. In der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth sind tiefe Spaltungen entstanden. Die eine Gruppe sagte: Petrus, der ist eine echte, durch seinen Lebensweg an der Seite des Herrn beglaubigte Autorität. Ein echter Leader, der uns sagt, wo’s lang geht. So einen brauchen wir! - Die andere Gruppe propagierte: Nein, den können wir gar nicht hören. Viel zu konservativ und eng. Aber dieser Apollos, ein mitreißender Redner, charismatisch und intellektuell auf der Höhe der Zeit, mit dem haben wir Zukunft! - Und Paulus? Naja. Auch er ist zwar gebildet, aber sein rhetorisches Talent findet er selbst überschaubar. Lieber greift er in der Studierstube zur Feder und schreibt gelehrte Briefe. Zum Beispiel, was uns in diesem Predigttext überliefert ist: „Worum geht es hier eigentlich? Um unsere Weisheit? Wer am klügsten rüberkommt, in den Dialog mit den geistigen Größen der Zeit gehen kann? Oder geht es um Gottes Weisheit?“ - Für Paulus ist die Antwort klar. Es geht um das - wie er es nennt - tiefe Geheimnis, dass in dem Schrecken einer Hinrichtung am Kreuz höchste Weisheit verborgen ist. Gottes Weisheit eben. Mit seiner Weisheit, wie gesagt, ist Paulus am Ende. Aber über dieser Erkenntnis gerät er wieder und wieder ins Staunen.
I.
Direkt vor diesem Abschnitt erklärt Paulus der in die genannten Fraktionen gespaltenen Gemeinde in Korinth ganz klar: Die Botschaft vom gekreuzigten Christus, der gerade durch die Ohnmacht am Kreuz sich als Sieger, als Erlöser der Welt erweist, ist ein Ärgernis, eine Torheit. Ein Skandal und ein Rätsel für den gesunden Menschenverstand. Stellen wir uns einmal vor, das stünde nicht in der Bibel, wäre nicht vom großen Paulus gesagt: wir würden abwinken! Die Predigt vom Gekreuzigten, von dem, der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, ein Skandal und eine Torheit? Das verstehe, wer will! Wir hätten’s gerne andersrum: Das Evangelium als mitreißende Botschaft. Keine Torheit, sondern höchste Weisheit, von keiner Weisheit dieser Welt zu erreichen.
Aber wir feiern Gottesdienst nicht, um unsere Wünsche an Gott in den Mittelpunkt zu stellen, sondern um darauf zu hören, was er uns durch sein Wort in der Bibel sagen will. Wenn man so liest im Neuen Testament, dann merkt man, dass es schon den frühen Christen zugesetzt hat, dass ihr Herr kein strahlendes Alphatier war - sondern ein Gekreuzigter, ein am Galgen als Verbrecher zwischen zwei anderen Verbrechern Gehenkter. Ein Erhängter ist ein grauenhaftes Bild. Der allmächtige Gott, grausam hingerichtet: wenn das nicht wirklich ein Skandal ist! Man muss sich einmal klar machen, was mit einem Todesurteil ausgesagt ist: Du bist nicht mehr wert, in der Welt zu leben; aus unserem System von Normen, Werten und Idealen hast du dich definitiv und für immer verabschiedet. Wo kämen wir hin, wenn wir gelten ließen, was du bist!
Paulus hat nichts getan, um diesen Skandal abzumildern. Dass er das, was menschlich verständlich wäre, um keinen Preis tun wollte, dass er sich vehement dagegen wehrte, die Sache irgendwie zu beschönigen - das meint er, wenn er hier sagt: „Ich beschloss, nichts unter euch zu wissen als allein Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten“. Liebe Gemeinde, wir führen in unseren Liedern und Gebeten den Gekreuzigten zwar sehr selbstverständlich im Mund. Aber angesichts dessen, was der Apostel uns hier ins Stammbuch schreibt, sollten auch wir uns ehrlich machen und einfach zugeben, dass der gekreuzigte Jesus uns auch irgendwie peinlich, unangenehm ist. Ich denke dabei weniger an viele Bilder, in denen man das schreckliche Leiden Jesu ins Süßliche, Sentimentale gezogen hat - die „Christliche Kunst“, manchmal auch die Musik („Ruhe sanfte, sanfte Ruh“) hat da so allerhand angerichtet. Aber das ist nicht das eigentliche Ärgernis. Zu den schlimmen Erinnerungen an den Krieg gehört der Anblick derer, die die Nazis noch in den letzten Tagen vor dem Untergang an Bäumen und Laternen aufgehängt haben. Anna Seghers hat das in ihrem großen Roman „Das siebte Kreuz“ erschütternd dargestellt. Mitleid kam kaum auf, weil stärker das Grauen war: da waren Menschen gezeichnet, gestempelt von etwas Unsagbaren, das Paulus den „Fluch“ genannt hat. „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“, sagt er im Galaterbrief. Man erlebte damals nicht nur den Tod unschuldiger Menschen. Vielen war es, als sei Gott selbst gestorben. Das ist der wahre Skandal, den Paulus hier meint: Am Kreuz hängt nicht einfach ein großer, unschuldiger Mensch. Vom Kreuz Jesu geht der Geruch der Verwesung Gottes aus.
II.
Handfertiger, billiger ist das „Geheimnis Gottes“, das Paulus verkündigen wollte, nicht zu haben. Gestorben, hilflos verendet ist der Gott, von dem die Menschen träumen, von dem sie sich die Erfüllung ihrer Wünsche erwarten, den sie über den Sternen oder in der Tiefe ihrer eigenen Seele suchen. Den sogenannten „lieben Gott“ gibt es nicht mehr, den man beschwören, für politische Zwecke vereinnahmen oder dessen Gunst man sich durch Opfer erkaufen wollte. Leer ist der Platz eines Gottes, den man zum Zentrum einer Weltanschauung machen will, sei sie kapitalistisch, sozialistisch, kirchlich oder wie auch immer. Das alles sind ja sehr menschliche Sehnsüchte. Wir alle tragen sie in uns. Und darum ist es verständlich, wenn die Botschaft von einem Gott, der so anders ist, der so quer steht zu unseren Bedürfnissen, für uns ein Ärgernis, ein Skandal ist. Martin Luther King hat einmal gesagt: „Wer sich im Angesicht des Kreuzes noch nicht geohrfeigt gefühlt hat, dass ihm die Backen glühten, der hat das Kreuz noch nicht verstanden“.
Aber, und darauf kommt es nun an: das Wort vom Kreuz soll ein produktives Ärgernis sein! Ein Skandal, der - anders als die vielen Skandale in unserer Welt - uns nicht in Strudel und Abgründe an Peinlichkeit reißt, sondern der für uns, um unseretwillen geschieht. Denn das ist jene „heimliche, verborgene Weisheit Gottes“, wie Paulus sie nennt, die so anders ist als unsere Weisheiten: Gott hat sich den Schrecken der Welt ausgesetzt und sich das alles nicht erspart. Ihnen hat er sich selbst preisgegeben, und eben damit hat er ihnen ihre Macht genommen. Da, wo Menschen ganz schwach und klein, mit ihrer Weisheit am Ende sind, da ist der Boden, wo Gottes Kraft und Weisheit wächst. Da, wo Menschen, anstatt sich auf der Suche nach persönlichem Glück und Selbstverwirklichung aufzureiben, der Welt ungeschminkt ins Auge sehen, wie sie ist, und bereit sind, im Leiden Gott zu begegnen anstatt ihn zu bestreiten, da werden sie auch erfahren, dass Gott da ist. Denn seit dem Kreuz, diesem furchtbaren Werkzeug, mit dem er zu Tode gefoltert wurde, gibt es keine Schrecken mehr, in denen Gott nicht wäre. Mir ist unvergesslich, wie vor Jahrzehnten ein alter Pastor, der wegen seines Widerstandes gegen die Nazis Jahre im Gefängnis zubrachte, von dem Grauen dort erzählte. Ich konnte das nur ertragen, sagte er, weil ich wusste, dass auch das getragen war, dass auch das zu der Finsternis gehörte, in der Jesus umkam.
Paulus hat in Korinth keine Antrittsbesuche bei den Oligarchen und Honoratioren gemacht. Er ging zu den kleinen Leuten, ins Hafenviertel. Den dort in prekären Umständen lebenden Menschen hat er den nahegebracht, der am tiefsten im Elend steckte. Obwohl er aus ausgebildeter Rabbiner ein Intellektueller aus dem Lehrbuch war, hatte er jedes Mal Angst, wenn er den Mund aufmachte, weil er wusste: alle meine Worte sind umsonst, wenn nicht Gott selbst sie bestätigt. Und das hieß für Paulus: jeder macht sich verdächtig, der den Gekreuzigten anders predigt als mit Furcht und Zittern. Er wollte kein gefeierter Kanzelredner sein. Das hat er denen überlassen, die einen Christus verkündigten, der jedem wohl und keinem weh tut. Zu denen zu gehen, um die andere einen weiten Bogen machte war für Paulus ein Erweis von Gottes Kraft: weil es für Gott keine hoffnungslosen Fälle gibt. Am Kreuz hat Gott ja alle Hoffnungslosigkeiten der Welt sich aufgeladen.
III.
Wenn aber keiner unter uns für Gott ein hoffnungsloser Fall ist, dann ist es uns schlichtweg verboten, andere, oder uns selbst, zu hoffnungslosen Fällen zu stempeln. Dann gilt: Schluss damit, Schuld immer nur die der anderen sein zu lassen. Der Gekreuzigte verbittet sich das und sagt uns: Lass es sein, auf andere zu zeigen! Das ist ein Gift, das sich nicht erst seit Corona, aber seitdem in einem schrecklichen Ausmaß als Gift in unser Gemeinwesen eingeträufelt hat. Gott sagt uns: Lass es sein! Du kriegst davon ein hartes Herz und dein Gesicht wird auch nicht schöner. Und drei Finger deiner Hand zeigen ja auf dich selbst zurück. Sicher haben die anderen auch ihre Schuld. Aber um die habe ich mich schon gekümmert und sie ihnen abgenommen. Deine übrigens auch. Also lass das meine Sache sein! Und hör mit dem Krieg auf. Du wirst sehen: es ist viel schöner so.
Wer hat also Recht, das Kreuz oder wir? Jesus, der sich dahingab, oder wir, die wir uns selbst behaupten, unser Prestige, unsere Überzeugungen? Paulus ist sich da seiner Sache sicher - nein, nicht seiner, sondern Gottes Sache. „Uns aber, die wir gerettet werden, ist’s eine Gotteskraft“. Eine Kraft, die uns entdecken lässt: wir alle sind voreinander und erst Recht vor Gott im Unrecht. Wir alle wüssten nicht mehr aus noch ein, wenn wir nicht das wüssten: so viel können wir gar nicht falsch machen, wie Jesus am Kreuz wieder gut macht.
AMEN.
Gottes Logik der Erwählung
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
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Liebe Gemeinde,
Von einem unbekannten sog. Gottesknecht ist hier im zweiten Teil des Jesajabuchs die Rede. Was hier von ihm gesagt ist, soll auch für alle die gelten, die es nicht als Herabsetzung, sondern als Auszeichnung nehmen, wenn man sie „Knechte“ nennt: Gottes Knechte wohlgemerkt. Paulus jedenfalls hat sich selbst mit allem Selbstbewusstsein „Knecht Jesu Christi“ genannt (Röm 1,1).
I.
Dass Knecht genannt zu werden eine Auszeichnung ist, das ist uns allerdings fern wie nur was. Für uns ist dieses Wort negativ besetzt. Wir denken an den geknechteten, unfreien Menschen, der nicht frei sein kann, nicht frei sein soll. Im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es deshalb keine Knechte mehr - außer als Schimpfwort. „Folterknecht“, Henkersknecht“ etc. In den Monarchien gibt es Untertanen, bei uns gibt es Beschäftigte, Weisungsgebundene, es gibt Bedienstete und im schlimmsten Fall Abhängige.
Knechte - die gibt es nur noch inkognito. Aber so, verschwiegen und uneingestanden, gibt es sie reichlich: überall da nämlich, wo ein Mensch seine Macht über andere Menschen missbraucht, wo er die Abhängigkeit anderer ausnutzt. Da werden Menschen, um das Bild unseres Textes zu nehmen, wie Rohre geknickt, damit sie sich nicht mehr aufrecht halten können und dadurch erst recht abhängig sind von dem, der sie dann stützt und aufrecht hält - solange er will. Er kann sie jederzeit auch fallen lassen. In diesem üblen Sinn gibt es wohl viele äußerlich freie Menschen, die in Wahrheit moderne Knechte sind. Die Zahl derer ist riesig, die in den Beratungsstellen Hilfe suchen wegen Mobbing am Arbeitsplatz, dem sie sich ausgeliefert fühlen, weil sie um den Verlust ihrer Stelle fürchten. Oder man denke an die vielen Frauen, die von ihren Männern immer wieder mit physischer Gewalt klein gehalten werden. In Lockdown-Zeiten hat das, wie man immer wieder lesen kann, beängstigend zugenommen. In früheren Zeiten war das anders. Da musste Knecht kein Schimpfwort sein. Ein guter und treuer Knecht hielt etwas auf sich und konnte von seiner Herrschaft durchaus mit Achtung behandelt werden. Aber er blieb, und war er noch so gut und treu, eben ein Knecht. Er war nicht sein eigener Herr, er blieb abhängig.
Nicht so der „Gottesknecht“ aus dem Jesajabuch. Vielleicht ist Ihnen bei der Textverlesung aufgefallen, dass Gott in unserem Text den Knecht, auf den er sich stützen will, als den Erwählten vorstellt: „Siehe, das ist mein Knecht..., mein Erwählter“. Eine seltsame Kombination. Das passt doch nicht zusammen: Knecht und Erwählter! Einen Knecht ließ man arbeiten. Er hatte seine Pflicht zu tun. Hatte er die eine Aufgabe erledigt, dann wartete schon die nächste. Anders gesagt: Ein Knecht bringt seine Schuldigkeit niemals hinter sich. Meint er, sie jemals getan zu haben, kann er gehen, wie Shakespeares Mohr, weil er entbehrlich, ersetzbar ist. Ein anderer Knecht tut’s auch. - Einen Erwählten aber lässt man nicht gehen. An einem erwählten Menschen hat der Erwählende Gefallen - nicht weil er etwas für ihn tut, sondern weil er etwas für ihn ist. Deshalb will er nicht, dass er geht. Im Gegenteil: wo du hingehst, will ich auch hingehen - das ist die Sprache von Menschen, die sich erwählt haben. Die Sprache der Liebe. Sie wollen zusammenbleiben, weil sie füreinander unersetzbar geworden sind. - Knecht und Erwählter: zwei Welten prallen da aufeinander. Und dennoch heißt es: „Siehe, das ist mein Knecht, auf den ich mich stütze, mein Erwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat“. Wie geht das zusammen?
II.
Der unbekannte „Gottesknecht“ aus unserem Predigttext gehört zu den großen, umrätselten Gestalten in der Bibel. Seit über 100 Jahren arbeiten sich die gelehrten Ausleger daran ab, wer oder was sich hinter dieser Gestalt verbirgt. Manche meinen sogar, es sei gar keine Einzelperson gewesen, sondern der „Gottesknecht“ sei ein typologischer Ausdruck für das ganze Gottesvolk und seine besondere Sendung. Andere sagen wiederum ganz anderes. Sicher ist nur, dass er in der schweren Zeit der Verbannung des Gottesvolks in Babylon gelebt hat. Er konnte also noch nichts von dem gekreuzigten und auferstandenen Christus wissen. Dennoch hat die Kirche die Worte Gottes über ihn - man nennt sie in der Fachsprache „Gottesknechtslieder“ - von Anfang an auf Jesus Christus bezogen und in diesem „Gottesknecht“ einen geheimnisvollen Herold, einen Vorläufer des Gottessohnes gesehen. Des einen ewig Erwählten also, von dem Paulus in einem Hymnus gesagt hat: Er nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,7+8). Denn hier wie dort stimmt zusammen, was sonst nur als schroffer Gegensatz erscheint: erwählt, geliebt - und dennoch Knecht. Und darüber hinaus sagt nun die Kirche, seit es sie gibt, dass das auch für alle Mitarbeiter Gottes zutrifft. Also auch für uns. Wir alle sind erwählt und Knechte zugleich. Luther hat das genial in einen berühmten Doppelsatz gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Damit wir das wirklich verstehen, müssen wir darauf achten, was das für ein Herr ist, der sich einen Knecht in bedingungslosem Gehorsam hält - und ihn zugleich voller Liebe erwählt hat. Was es mit einem solchen Herrn auf sich hat, das kommt an dem heraus, was sein Knecht tut. Er bringt, so heißt es in unserem Text, Gottes Recht unter die Völker. Und er tut das, so wird hier weiter gesagt, ohne dabei das geknickte Rohr zu zerbrechen und den glimmenden Docht auszulöschen. Er bringt auf andere, nämlich auf Gottes Weise Recht in die Welt. Was bedeutet das?
Recht unter die Völker zu bringen, das war seit jeher eine große Sache. Mehr Achtung konnten die Völker früher ihren Herrschern nicht zollen, als wenn sie sie als gerecht bezeichneten. Der Kühne, der Große, selbst der Weise war nicht so geschätzt bei seinen Untertanen wie der Gerechte. Recht unter die Völker zu bringen, bis zu den entferntesten Inseln, wie es hier in einem schönen Bild ausgedrückt ist: das war und ist ein so heiß ersehntes wie immer noch weit entferntes Ziel der Menschheit. In der großen Mehrheit der Staaten dieser Erde ist Korruption an der Tagesordnung. Auch in mancher der westlichen Demokratien, die eigentlich als Vorbilder eines Rechtsstaats gelten. Erst dann, wenn überall auf Erden gerecht Recht gesprochen wird, kann man von der Menschheit sagen, dass sie menschlich ist. Deshalb lohnt es sich nie aufzuhören, für das Recht zu streiten und zu arbeiten. Und deshalb beeindrucken Menschen wie etwa der vor zwei Wochen verstorbene Desmond Tutu so sehr, die das ein Leben lang getan haben.
Der „Gottesknecht“ ist ein solcher Streiter und Arbeiter für das Recht. Indem er Recht unter die Völker bringt, bringt er Gott unter die Völker. Vor allem aber ist wichtig, wie er das tut. Dem Recht Geltung zu verschaffen, das geht in dieser Welt nicht ohne Gericht und Rechtsspruch. Die irdische Gerechtigkeit verlangt, dass Schuldige entsprechend der Schwere ihrer Schuld verurteilt werden. Suum cuique, jedem das Seine: Der alte römische Rechtsgrundsatz, nach dem jeder ohne Ansehen seiner Person strikt nach dem Maß seiner Tat zu beurteilen ist, ist bis heute ein Fundament aller Rechtsstaatlichkeit. Das antike Recht kannte das Ritual, über dem schuldig Gesprochenen einen Stab zu brechen. Und man hat damals auch ein für den Angeklagten brennendes Licht gelöscht, wenn man ihn für schuldig erkannt hatte.
Der „Gottesknecht“ spricht anders Recht. Das „geknickte Rohr“, also den schon angebrochenen Stab zerbricht er nicht, und den „glimmenden Docht“ löscht er nicht aus. Die für die Welt schon sichtbar Gerichteten - er richtet sie nicht hin, sondern begnadigt sie. Der Gottesknecht bringt also das Recht der Gnade unter die Völker. Und so bringt er Gott, bringt er einen gnädigen Gott unter die Menschen: der gerade mit denen unter uns, mit denen wir nichts mehr anfangen können oder wollen, wieder anfangen will. Wo bei uns verurteilt und hoffentlich gerecht verurteilt wird, bricht er den Stab nicht. Gott steht dafür ein, dass jeder Mensch nicht nur Täter, sondern zuerst und zuletzt Person ist, und dass er als Person noch mehr und anderes ist als seine Tat. Kein Mensch darf mit seinem Tun, und sei es noch so grauenhaft, ganz und gar identifiziert werden. „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch“: diesen einfachen, und einfach wahren Satz hat vor 21 Jahren der damalige Bundespräsident Johannes Rau auf dem Erfurter Domplatz gesagt, bei der Trauerfeier für die von einem Mitschüler umgebrachten Schüler und Lehrer eines Gymnasiums. Ein in der Situation damals auch mutiger Satz. Einfacher, klarer kann man kaum ausdrücken, was in der Politik gerne „das christliche Menschenbild“ genannt wird. Deshalb können Menschen, die an diesen Gott glauben, nicht für die Todesstrafe sein. Und deshalb ist es mir rätselhaft, dass in einem so christlich geprägten Land wie den USA eine große Mehrheit der Leute, die sonntags treu in die Kirche gehen, so entschiedene Anhänger der Todesstrafe sind.
III.
Unser Text weiß es besser: Wenn wir mit einem Menschen nichts mehr anzufangen wissen, aber auch wenn jemand mit sich selbst nichts mehr anfangen kann, wenn er am Ende ist - dann ist da immer noch der Gott, der mit ihm nicht am Ende ist. Den glimmenden Docht, dem jedes menschliche Leben gleicht, solange noch ein Herz in ihm schlägt, wird er nicht auslöschen. Und nun, liebe Gemeinde, fangen wir vielleicht an zu verstehen, was es heißt, dass wir Gottes Knechte und zugleich Gottes Erwählte sind. Jemanden erwählen, wie gesagt, heißt Gefallen an ihm haben, bei ihm bleiben und mit ihm immer etwas anfangen wollen. Gott kann und will in jeder, auch in der aussichtslosesten Lage noch etwas anfangen mit uns.
Sicher, nach dem Schema der Welt geht es anders zu. Recht muss durch Macht durchgesetzt werden. Immer wieder gab es auch solche, die unter Berufung auf Jesus die Welt mit Gewalt verbessern wollten. Jesus, der Gottesknecht, sieht das anders. Als ihm der Großinquisitor in Dostojewskis berühmter Legende erklärt, dass die Kirche Gewalt anwenden muss, weil sonst alles aus den Fugen gerät, antwortet Jesus ihm, indem er kein Wort sagt, sondern ihn küsst. Er hat die weltlichen Mittel abgelehnt. Immer wieder ist seine Kirche von ihm abgefallen, indem sie es auf „weltliche“ Weise versucht hat: mit Prunk und Pomp, mit Kreuzzügen und Scheiterhaufen, mit moralischem und gesellschaftlichem Druck. Jesus aber geht unaufdringlich durch die Welt. Er weiß, dass man mit Zwang die Menschen nicht für Gott zurückgewinnen kann. Druck schafft nur Gegendruck. Wo ein Mensch sich in aller Freiheit von Jesus anrühren und verändern lässt, da setzt sich Gottes Herrschaft durch - und damit sein Recht. So arbeitet Jesus, der erwählte Gottesknecht, für die Erwählung der Menschheit. Und so sind auch wir durch unsere Taufe erwählt.
Das ist allerdings wirklich eine Arbeit mit geknickten Rohren und glimmenden Dochten. Nach dem Leistungsprinzip, nach dem Motto: Du bist das, was du kannst und hast, haben sie wenig Wert. Ein geknicktes Rohr, ein angebrochener Stock geben nichts her. Man kann sich darauf weder stützen noch damit schlagen. Man zerbricht ihn besser und wirft ihn weg. Das ist unsere Logik des Verbrauchs. Die Logik der Erwählung hingegen gilt den geknickten Menschen, den angeknacksten Existenzen. Sie dürfen um Gottes willen nicht zerbrochen werden.
Genauso mit dem glimmenden Docht. Ein nur noch glimmendes Teelicht wärmt keine Kanne mehr. Man löscht es besser und ersetzt es durch eine neues. Aber ein glimmendes Lebenslicht, ein mühsam sich aufrecht haltendes Menschenleben, die vielen traurigen Gesichter, aus denen nur Hoffnungslosigkeit spricht - die fallen unter die Logik der Erwählung. Da gilt es, den glimmenden Docht ja nicht auszulöschen, sondern mit ihm in Gottes Namen wieder etwas anzufangen.
Gottes Knechte müssen nicht groß von sich reden machen. Nicht wir sind interessant. Interessant ist der Gott, der das erwählt, was vor der Welt schwach, unansehnlich und verachtet ist: eben glimmende Dochte und geknickte Rohre. Das ist dann die Arbeit der Liebe. Die Liebe hat keine Gewalt, sie ist wehrlos, das weiß eine Mutter, und wer das Schicksal einer Ehe vor Augen hat, der weiß es auch. Wer am meisten liebt, kann sich am wenigsten wehren. Das Kreuz zeigt uns: auch Gottes Liebe ist wehrlos. Man kann sie verlachen, wie damals, als er am Kreuz hing. Man kann sie vergessen und mit Füßen treten. Aber man kann sich in ihr auch bergen. Sie hat keine Gewalt, aber sie hat Kraft. Das ist ein Unterschied, und man kann sich noch daran halten, wenn die Gewalten vergangen sind.
AMEN.
Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des ZDF-Neujahrsgottesdienstes aus der Frauenkirche
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Liebe Gemeinde an den Bildschirmen,
zu meinen Kindheitserinnerungen gehört, dass meine Eltern eine Zeitlang großen Wert darauf legten, dass wir Kinder Sonntags zum familiären Kirchgang ein weißes Hemd tragen. Ich fand das natürlich doof. Aber ich weiß noch gut, wie sich mit der Zeit dann doch so eine Vorstellung in mir breit machte, dass man nicht einfach so zu Gott kommen kann. Man muss sich schon fein machen. Also ein weißes Hemd - eine weiße Weste? -, um bei ihm wirklich willkommen zu sein.
I.
Mehr als 50 Jahre ist das her. Die Losung für das neue Jahr hat mich daran denken lassen. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Ein schönes, warmes Bibelwort. Ein klares, einfaches Versprechen. An der Schwelle zum neuen Jahr tut es mir gut zu hören: Vor der Tür zu Gott steht keiner und kontrolliert meine Performance. Da geht es anders zu als vor der Disco, wo der Türsteher nach Gutdünken den Daumen hebt oder senkt, wer reinkommen darf. Es tut mir auch deshalb gut, dass Gott keine Einlassbedingungen aufstellt, weil ich weiß, dass das für viele, die darum ringen, einen Zugang zu Gott zu bekommen, gar nicht so selbstverständlich ist.
Denn wenn man genauer hinschaut, dann könnte man dieses Jesuswort ja auch so hören, dass sein schönes Versprechen fragwürdig erscheint. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Der erste Teil des Satzes „Wer zu mir kommt“ sagt ja ziemlich klar: ich muss erst einmal den Weg zu ihm gefunden, es dahin geschafft haben. Den ersten Schritt muss ich machen. Scheint es jedenfalls. Du musst schon glauben, dich ernsthaft bemühen, sonst erfährst du Gottes Liebe und Barmherzigkeit nicht. Über Jahrhunderte haben solche Mahn- und Moralpredigten Übles angerichtet. Bei manchen Christ*innen wirkt das bis heute nach. Zwar sagt Jesus von sich „Ich bin die Tür“. Aber er sagt eben auch: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“. Bin ich auserwählt? Oder droht mir am Ende das Nichts, lande ich bei denen, von denen es heißt: „Die im Dunkeln sieht man nicht“? Für nicht wenige Menschen ist das bitter erfahrene Wirklichkeit. Ersehnte, lange gesuchte Türen bleiben verschlossen. Ich komme nicht da rein, wo die anderen sind, die im Licht. Ich bleibe buchstäblich „draußen vor der Tür“. Gewogen und zu leicht befunden.
Gibt uns diese Jahreslosung also doch nicht nur eine schöne Einladung, sondern durch die Hintertür auch das mit: Gott wird nur den nicht abweisen, der zu ihm gekommen ist, der wirklich etwas von ihm will!? Gilt bei Gott tatsächlich die schöne Devise: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit? Oder ist die Angst berechtigt, dass die Tür bei Gott auch verrammelt bleiben kann? Das dann auch alles Rütteln an der Klinke, alles Rufen „Ich will da rein!“ nichts nützt?
Bei mir hat es damals schon seine Zeit gebraucht, bis mir aufgegangen ist: Nein, Gott schaut nicht auf die porentief reine Weste. Bei ihm geht es nicht so, dass ich mir einhämmern muss: Ich bin okay, alles okay! Gott heißt mich anders willkommen: Nein, manchmal bist du gar nicht so okay, ich sehe auch die Schatten und Peinlichkeiten bei dir - denn du bist ja ein Mensch. Aber gerade so habe ich dich unendlich lieb! Deshalb steht meine Tür sperrangelweit offen für dich.
Das war ja schon die weihnachtliche Erfahrung der Hirten in der Heiligen Nacht. Die kitschige Idylle, die die Weihnachtstradition um sie herum aufgebaut hat, hat mit dieser Berufsgruppe in Wahrheit wenig zu tun. Selbst wenn einer von ihnen die Idee gehabt hätte, für die Begrüßung des Krippenkinds wäre ein weißes Hemd angemessen - sie hätten gar keins gehabt! Ausgerechnet die sind nicht nur die ersten irdischen Adressaten der unglaublichen himmlischen Botschaft von der Geburt des Erlösers. Sie sind auch die ersten, die nach hektischem Gerenne den Viehstall vor den Toren der Stadt erreichen - und dort ganz persönlich erfahren, was dieses Baby in der Futterkrippe 30 Jahre später von sich sagen wird: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Fassen, begreifen, was das für sie bedeutet, können sie das jetzt noch nicht. Sie können jetzt erstmal nur zur Ruhe kommen und staunen: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“
II.
Ganz anders, aber doch irgendwie ähnlich wie bei den Hirten ist es mit dem Zollbeamten Zachäus, dessen erstaunliche Geschichte wir vorhin gehört haben. Als Geldabpresser ist auch er eine finstere Figur. Dieser neureiche Parvenü klettert wie ein Schuljunge auf einen Baum. Ein unmöglicher Mensch in einer unmöglichen Situation. Kaum hat Zachäus sich da oben in den Ästen eingerichtet, macht er die Erfahrung, dass Jesus alle Klimmzüge, die Zachäus unternommen hat, um ihn zu sehen oder selbst gesehen zu werden, souverän unterläuft. „Zachäus, komm schnell da oben runter, heute Nacht muss ich bei dir bleiben!“ sagt Jesus zu dem tragikomischen Mann im Baum. Er lädt sich, ganz unkonventionell, als Gast bei Zachäus ein.
Und, das ist auch wichtig: Jesus redet ihn mit seinem Namen an. Zachäus, das heißt wörtlich übersetzt: Gott gedenkt deiner. Darin steckt: Du, Zachäus, bist nicht nur einer, der es abgezockt zu Reichtum gebracht hat, du bist auch nicht nur einer, dessen Geschichte von geheimer Tragik umweht ist. Nein, zuerst bist du ein Mensch. Das heißt: Gott hat schon an dich gedacht, als an dich noch gar nicht zu denken war, ehe du davon wusstest. Und jetzt ist der Moment, wo du erfahren sollst: Gott meint jetzt dich, gerade dich, der du diesen Namen trägst, mit dir hat er etwas vor, was dein Leben verändern kann. Deshalb, schnell runter von deiner unmöglichen Lage auf diesem Baum. „Heute muss ich in deinem Haus einkehren“: Heute, nicht morgen oder in zwei Wochen. Und ich komme zu dir, du musst dir nicht den Kopf zerbrechen, wie du zu mir kommst! Weil ich immer schon an dich gedacht habe, immer schon da war, auch wenn du es gar nicht gemerkt hast.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“: so ist das also auch mit unserer Jahreslosung. Zu Gott kommen, mich zu ihm in Bewegung setzen, das kann ich überhaupt nur, weil er sich längst zu mir aufgemacht hat, weil er zu mir gekommen, immer schon da ist in meinem Leben. Irgendwie ist das so wie in der alten Legende von den beiden Mönchen. Die geht so:
Zwei Mönche lasen in einem Buch, am Ende der Welt gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. Sie beschlossen loszuziehen und den Ort zu suchen. Sie durchwanderten die Welt, bestanden Gefahren, erlitten Entbehrungen. Sie suchten den Ort - eine Tür sei dort, man brauche nur anzuklopfen und befinde sich bei Gott. Schließlich, nach Jahren des Wanderns, fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür. Bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete. Als sie eintraten, standen sie - daheim in ihrer Klosterzelle. Da begriffen sie: Der Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren, ist auf dieser Erde, an dem Ort, den Gott uns zugewiesen hat. (Nach Ernst Lange)
Ich komme nochmal aufs weiße Hemd meiner Kindheit zurück. Kennen Sie das Bestattungsritual der gekrönten Habsburger Häupter? Zuletzt vor 30 Jahren in Wien zu erleben, als die letzte Habsburgische Kaiserin Zita gestorben war. Vor dem Portal zur Kapuzinergruft steht der Zeremonienmeister mit dem Sarg und klopft. „Wer begehrt Einlass?“ ruft von drinnen ein Mönch. Der Zeremonienmeister antwortet protokollarisch korrekt mit einer Kaskade von Titeln: „Ihre Majestät, Zita, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, Königin von Böhmen, Dalmatien, Kroatien, Slavonien, Galizien,“ und und und. Der Mönch lässt dazu knapp verlauten: „Ich kenne sie nicht.“ - Wieder klopft der Zeremonienmeister. Wieder die Frage von innen: „Wer begehrt Einlass?“ Der Zeremonienmeister fährt mit noch mehr Titeln der Verstorbenen auf. Und wieder dieselbe lapidare Antwort von innen. - Dann wir ein drittes Mal angeklopft. „Wer begehrt Einlass?“ - „Zita, ein sterblicher, sündiger Mensch“, heißt es dieses Mal vom Zeremonienmeister. Darauf der Kapuzinermönch: „So komme sie herein!“ Dann öffnet er die Flügeltüren.
Eigentlich sind wir ja alle gekrönte Häupter. Gekrönt mit Gottes unendlicher Liebe. Sie wird uns auch durch das annus domini, das Jahr des Herrn 2022 tragen. Garantiert.
AMEN.